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Die Generale Wimpfen und Faure als Vertreter der Armee, Castelnau als Vertreter des Kaisers saßen an einem mit roter Decke bedeckten viereckigen Tische Bismarck und Moltke gegenüber. Die anderen preußischen Militärs standen meist, der Protokollführer am Kamin, auf dessen Sims er schrieb, hinter Wimpfen lehnte an der Wand sein Adjutant Kürassierrittmeister d'Orcet. Ein Stahlstich Napoleons I. blickte auf den Tisch herunter, der Lichtschein der Lampe umspielte das Cäsarenantlitz. Es schien düster und erstaunt auf den germanischen Riesen herabzustarren, der hier mit Kanonenstiefeln und Kürassierpallasch breitbeinig sich anschickte, der Gloire für immer ihr Todesurteil zu schreiben. Ein kurzes Schweigen ging vorher. Moltke blieb unbeweglich. Blumenthal rechts von Bismarck krümmte spöttisch die Lippe, ein fanatischer Franzosenhasser. Das Blut seines tapferen Vaters, der bei Dennewitz fiel, jubilierte in ihm. Der Bittsteller und Besiegte hat zuerst zu reden, wenn er um Gnade bitten will.

»Es wäre mir lieb, die Bedingungen kennen zu lernen, die Seine Majestät der König von Preußen uns geneigtest bewilligen will.«

»Sie sind einfach genug«, kam Moltkes kalte Antwort. »Ihre Armee ist kriegsgefangen. Den Offizieren wird man in Anbetracht ihrer tapferen Haltung den Degen lassen.«

»Das ist zu hart. Den Platz und die Artillerie würden wir übergeben, indessen –«

Man merkte dem unbedeutenden Wimpfen die Befangenheit an. den zwei berühmtesten Männern der Gegenwart die Stange halten zu sollen. Doch sein französisches Hochgefühl ermannte sich. »Ich persönlich wollte den Kampf fortsetzen und habe den letzten Vorstoß bei Balan selber geleitet.« Noch niemand hat behauptet, daß es den Franzosen an Mut fehle, ihre Generalität erreichte heute eine beispiellose Ziffer von Toten und Verwundeten. Doch Wimpfens letzten Ausfall hat die beiderseitige Legende auch bis heute naiv vergrößert, tatsächlich hat nur ein Milizbataillon Moch nebst ein paar hundert Gesammelten den ganzen Spektakel verursacht. Entstellung überall in jeder Kriegsgeschichte. »Ich ergebe mich in die Beschlüsse meines Souveräns, erwarte aber ehrenvolle Bedingungen und erhebe Anspruch darauf.«

»Was verstehen Sie darunter?« frug Moltke trocken.

»Abzug mit Waffen und Gepäck unter Ehrenbezeugungen gegen Verpflichtung, nicht mehr im Kriege zu fechten.« Eine Bewegung ging durch die preußischen Offiziere angesichts so ungeheurer Unverschämtheit. Otto erwiderte jedoch ganz ruhig:

»Wir lassen Ihrer energischen Führung und der Bravour Ihrer Truppen, die einer großen Übermacht so lange widerstanden, Gerechtigkeit widerfahren. Doch handelt es sich hier nicht um die Armee, sondern um Frankreich, das uns den Krieg, erklärte. Deutschland will raschen Frieden, deshalb versäumen wir kein Mittel, den Kriegszustand abzukürzen. Ihre Offiziere könnten Cadres für neu zu bildende Heere abgeben. Schon deshalb entscheiden wir dahin: Ihre Armee geht kriegsgefangen nach Deutschland.«

»Das ist unannehmbar. Wir sind nicht so niedergeworfen wie Sie glauben. So appelliere ich nochmals an die Waffen.« »Völlig vergeblich«, fiel Moltke kurz und schneidend ein. »Keine Lebensmittel, keine Munition, dezimierte Kräfte, Artillerieumfassung von allen Seiten. Konzentrische Beschießung würde sie vernichten, ehe Sie eine Bewegung beginnen. Sie können durch einen Ihrer Offiziere sich von unseren Stellungen und meiner Genauigkeit überzeugen. Erfolgt nicht jetzt die Waffenstreckung, lasse ich das Bombardement bei Tagesanbruch eröffnen.«

»Mich däucht, nie gab es so harte Bedingungen. In Mainz, Genua, Ulm –«

»Diese Ihnen natürlich allein bekannten Vorfälle französischer Kriegsgeschichte interessieren uns hier nicht.«

»Sie, der Sie selbst Chefgeneral sind, versetzen Sie sich in meine persönliche Lage! Ich soll meinen bisher untadeligen Namen unter die schmachvollste Kapitulation setzen, als Ergebnis einer verfehlten Operation, die ich weder plante noch einleitete. Der Marschall Mac Mahon ist schwerverwundet, ich sage nichts weiter.« Er ging auf Einzelheiten ein, merkte aber an den gleichgültigen höflichen Mienen, daß die menschliche Teilnahme ihm nichts nützen konnte und brach ab. »Ich werde versuchen, mich durchzuschlagen oder Sedan zu verteidigen.«

»Eins so unmöglich wie das andere. Ich bin voll besonderer Hochachtung für Ihre Person, bedauere aber, Ihnen nicht entgegenkommen zu können. Ihre Elitetruppen sind ersten Ranges, doch ein großer Teil Ihrer Infanterie ist demoralisiert.« Das traf zu, viele Teile sind nach geringem Verluste kampflos bis Sedan zurückgeströmt, während die Artillerie heroisch bis zuletzt aushielt. Im ganzen aber hat die altgediente Troupierarmee Bazaines sich mit Unehre, die Armee von Chalons (meist Reservisten und Rekruten) mit Ruhm bedeckt. Die aus lauter Reservisten, die nicht mal ihr Chassepot handhaben konnten, bestehenden Brigaden Nicolas und Saurin fochten bei Beaumont bewunderungswürdig, die deutschen Angaben über 2000 (nämlich unverwundete) Gefangene sind ebenso falsch wie »42« eroberte Kanonen, es waren 27. »Sie haben noch 80 000, im Laufe des Tages fielen 20 000 unverwundete Gefangene in unsere Hände, wir stehen Ihnen mit 240 000 und 500 Geschützen gegenüber. Sie können nicht durch.« Jede dieser Ziffern war falsch, sogar zu unseren Ungunsten. Denn nur 121 000 Deutsche nahmen wirklich am Kampfe teil. Dagegen läßt sich nichts einwenden, wenn nur nicht die Irrtümer ins Generalstabswerk übergegangen wären.

»Ist die Zusage, nicht mehr gegen Deutschland zu dienen, nicht genügende Garantie?«

»Vielleicht«, nahm der Kanzler wieder das Wort, »ließe sich auf dieser Basis diskutieren, doch Sie haben keine dauerhafte Regierung. Vielleicht haben Sie morgen eine andere, die sich nicht besinnen würde, unsere Abmachung zu annullieren. Wir brauchen eine andere Sicherheit.«

»Keine Regierung würde französische Offiziere zum Bruche ihres Ehrenwortes bewegen können«, erwiderte Wimpfen mit stolzer Überzeugung. Er war halt selber germanischer Abkunft und hatte sich noch nicht in die gallische Psyche eingelebt. Bald genug sollte der Gefangene vernehmen, daß jeder Offizier, der irgend konnte, sein Ehrenwort brach, Ducrot obenan. La patrie en danger! lautete die Ausrede. Das auserwählte Volk der Franzosen, diese Säule des Universums, ist über kleinliche Ehrbegriffe erhaben. Gut, dann muß es eben mit auserwählt harten Mitteln bekämpft werden. Denn jetzt erhob sich Wimpfen zur wahren französischen Verlogenheit:

»Was uns vor allem auszeichnet, ist unsere hochherzige ritterliche Gesinnung. Sie ist erkenntlich für alle Akte des Edelmutes. Verfahren Sie umgekehrt, so werden Sie Haß und Zorn für immer erwecken. Sie geraten in nie endenden Kampf zwischen Preußen und Frankreich.«

»Zwischen Deutschland und Frankreich, meinen Sie.« Die Stimme Ottos hatte einen ehernen Klang. »Ihr Argument scheint ernst zu sein, doch es ist unhaltbar. An Dankbarkeit darf man wenig glauben, am wenigsten an Dankbarkeit eines Volkes, nun gar eines solchen, das seit 80 Jahren fortwährend seine Regierungsformen wechselte. Es wäre daher reiner Unverstand, auf dankbare Freundschaft einer französischen Regierung zu bauen. Außerdem aber wäre es törichte Einbildung, daß Sie je unseren Erfolg verziehen, eine so reizbare, eitle, hochmütige Nation. Seit zwei Jahrhunderten überzogen Sie dreißigmal Deutschland mit Krieg. Diesmal aus blinder Eifersucht, obschon ›Sadowa‹ dem Ruhme Frankreichs keinen Abbruch tat. Der Ruhm ist eine Ihnen allein vorbehaltene Apanage. Sie haben darauf ein Monopol. Man verzieh uns Sadowa nicht und sollte uns je Sedan verzeihen? Schlössen wir jetzt Frieden, in fünf Jahren hätten wir wieder Krieg. Das ist der Dank, den wir von Ihnen erwarten. Wir sind friedliebend und würden ewig den Frieden lieben, wenn ungereizt. Heute ist's genug. Frankreich muß für seine Eroberungssucht so gezüchtigt werden, daß wir und unsere Kinder ruhen können.«

Wimpfen begriff sehr wohl die Richtigkeit dieser eisernen Logik, wandte aber geschmeidig ein: »Sie haben das erste Empire im Auge. Wir wandelten uns sehr, persönliches Wohlleben bestimmt die Interessen, der industrielle Aufschwung, Vorliebe für die schönen Künste, wir wünschen Verbrüderung der Völker. Sind nicht unsere alten Feinde, die Engländer, jetzt in Entente cordiale mit uns? So hielten wir es auch mit Deutschland, wenn es sich edel zeigt.«

Otto hatte ungeduldig sich bewegt, als ob ihn das Geschwätz anekele, Blumenthal hatte eine Miene, als ob er vomieren wolle, Moltke regte sich nicht, eiskalt. Diese großen Deutschen waren keine deutschen Michel, ihre hohe Bildung befähigte sie, die elende Welschgängerei in sich zu überwinden. Mit erhobener Stimme äußerte sich der Kanzler:

»Ich gebe nicht zu, daß sich Ihr Nationalcharakter änderte, er wird immer der gleiche bleiben bis ans Ende aller Tage. Auch diesmal wollte Frankreich den Krieg, um der Gloiremanie Ihrer kindlich eitelen Nation zu schmeicheln. Wir wissen, daß ein Bruchteil, vernünftig und gesund, den Krieg nicht will, doch selbst diese ruhigen Elemente geben ohne sonderliches Widerstreben nach. Das wird immer so sein. Auch drängt bei Ihnen nicht allein die Armee zum Kriege, sondern die Advokaten, Journalisten und der Straßenpöbel, die bei Ihnen Regierungen gründen und stürzen. Diesem Gesindel, das seine eigene Haut nicht zu Markte trägt, doch mit schamlosen Verleumdungen und Fälschungen alle Unwissenden Europas vergiftet, wollen wir den Hals umdrehen. Deshalb müssen wir in Paris einziehen. Vielleicht bekommen Sie eine Regierung, die nichts respektiert und zum Äußersten schreitet. Wir müssen sie in die Unmöglichkeit versetzen, den Krieg zu verlängern.«

Hier verlautbarte sich Castelnau zögernd: »Der Kaiser habe seinen Degen nur angeboten, weil er ehrenhaftere Kapitulation davon erhoffte.«

»Ist das alles?« fragte Otto geringschätzig. »Wessen Degen ist das, bloß der des Kaisers oder Frankreichs?«

»Einfach der Degen des Kaisers.«

»Dann ändert es nichts«, schloß Moltke mit unverhohlener Freude. Kaltblütig fügte Otto den Genickfang hinzu: »Als Friedensgarantie brauchen wir Territorien und Festungen. Frankreich wird immer Revanche fordern, deshalb wollen wir Straßburg und Metz, die Ausfalltore, in Händen haben. Wir werden vier Milliarden nebst Elsaß und Lothringen verlangen.«

Hier fuhr Wimpfen vom Stuhle auf, wie von der Tarantel gestochen. »Nie! Die Pferde!« Und er rannte hinaus. Moltke aber beschwichtigte trocken: »Sitzenbleiben! Die sind wie die Pferdejuden! Die kommen wieder!«

Und sie kamen wieder. –

Um 5 Uhr früh, nachdem er einige Stunden schlief, weckte ihn Reille, das Käppi in der Hand. »Seine Majestät der Kaiser wünscht Eure Exzellenz sofort zu sprechen.« Auf der Stelle stieg er ungewaschen und ungefrühstückt in den Sattel und ritt der kaiserlichen Equipage entgegen, die auf der offenen Landstraße hielt. Drei Adjutanten trabten zu Pferde neben dem Kutschenschlage, Napoleon saß im Wagen, umgeben von drei anderen Offizieren. Otto saß ab und salutierte aufs ehrerbietigste, als stände er vor dem Cäsar in den Tuilerien: »Ich stehe Eurer Majestät zu Befehl. Darf ich mich nach Ihren Wünschen erkundigen, Sire?« Vorschriftswidrig nahm er den Helm ab, als der Empereur sein Käppi lüftete, so daß dieser eilig abwehrte: »Bedecken Sie sich doch!«

»Mein lieber Graf, ich möchte den König sehen.«

»Der liegt drei Meilen von hier im Quartier in Vandresse.«

»Wohin soll ich mich denn begeben?«

»Darf ich Eurer Majestät mein Quartier in Donchery bis auf weiteres abtreten?«

»Ich nehme dankend an.« Als aber der Wagen sich dem Orte näherte, wandte er unruhig ein: »Dort wird eine Menge sich sammeln. Ich möchte einsam sein, hier liegt ja eine Arbeiterhütte am Wege, dort will ich absteigen.«

»Es sieht aber unreinlich aus.«

»Was schadet das!« In der Kammer des verlassenen Häuschens saßen sich die beiden auf zwei Binsenstühlen gegenüber, mühsam eine Unterhaltung in Gang haltend, oft in Schweigen versinkend. Der hier so gebrochen dasaß, ein von höherer Hand Gefällter, ihn hatte Otto zuletzt gesehen, umgeben von blendendem Glänze. »Ich wünschte sehr, etwas Günstigeres für die Armee –«

»Diese rein militärische Frage«, unterbrach Otto rasch, »kümmert nur General v. Moltke. Dagegen mich, ob Eure Majestät zu Friedensverhandlungen geneigt sind?«

Der Kaiser besah sich seine Zigarette, die er in weißbehandschuhter Rechten hielt. »Als Gefangener kann ich nichts erledigen, ich verweise an meine Regierung in Paris.«

»Dann wird also nur ein praktisch militärisches Moment zu erledigen sein.«

»Kommen Sie mit mir ins Freie!« Der Kaiser setzte sich vor das gelbgestrichene Haus. Die Luft war kühl, trübselig und verdrossen rauschte in der Nähe die Maas vorüber. »Könnte die Armee in Belgien interniert werden?«

»Nach pflichtgemäßer Erwägung können wir auch diese Modalität nicht gestatten.«

Napoleon versank in düsteres Sinnen. »Ich wollte den Krieg nicht.«

»Ja, Sire, Sie gaben dem Drucke der Nation nach, und das ist gerade das Bedenklichste.«

Eine Eskorte von Leibkürassieren holte den gestürzten Weltbeweger nach dem Schlößchen Frénois ab, von wo er am folgenden Tage nach Kassel-Wilhelmshöhe abfuhr. Der Kronprinz sagte den Hessen, die Wahl dieses Asyls solle den Siegesanteil ihrer Waffen hervorheben.

»100 000 Mann und einen Kaiser« kostet dies Ereignis den Franzosen, schrieb Otto an Nanne, womit er wenigstens eine richtigere Ziffer angab als die später im Generalstabe gewaltig übertriebene. Aber er sagte sich, daß auch hier viel Glück gewaltet habe, besonderes Wohlwollen der Vorsehung. Deutschland hat so viel Unglück gehabt, daß ihm auch mal das Gegenteil blühen mag.

Wahrlich, der König drückte es richtig aus: Welche Wendung durch Gottes Fügung!

*

Schon lag man in Reims, der alten Krönungsstadt, deren herrliche Kathedrale den Kunstliebhaber Abeken in Ekstase brachte. Sein Chef hatte dafür jetzt kein Auge, der perlende Champagner der Witwe Cliquot feuerte ihn zum Entwurfe einer Zirkulardepesche an, Deutschland müsse als Schlüssel seines Hauses Straßburg und Metz in die Tasche stecken. Aus allen Ecken Deutschlands erhob sich der einstimmige Ruf nach Wiedervereinigung mit den einst gestohlenen Reichslanden.

Dann begab er sich zu Blumenthal, um ihn über die Stimmung am kronprinzlichen Hofe auszuholen. Er sprach sehr viel nach seiner Gewohnheit, wie der kluge General sich einen verschlossenen Staatsmann nie dachte. Doch machte er heimlich die Klausel: Der hat sich wohl so in der Gewalt, daß seine Redseligkeit am besten verschweigt und irreleitet. Otto ließ dunkel durchblicken, daß Annexion des Elsaß beschlossene Sache sei. Das genügte Blumenthal noch kaum. »Wir müssen die Bande so verhauen und demütigen, daß sie in hundert Jahren nicht wieder zu Atem kommen.«

»Daran würden uns auswärtige Mächte hindern.«

»Daran sollten wir uns nicht kehren, sondern die Franzosen gründlich als vernichtete Feinde behandeln.« Otto freute sich nicht wenig, daß er am Berater des Kronprinzen einen solchen Bundesgenossen habe, ließ es aber nicht merken, so daß der General beklagte: Der hat leider nicht ganz den allein notwendigen Gesichtspunkt. Uns fehlt Blücher mit seinem Franzosenhaß.

Der Sieger von Wörth und Sedan – denn beides war er – ärgerte sich nicht wenig über die langsam bedächtige Methodik, mit der Moltke auf Paris zuspazierte, statt in einem erneuten Eilmarsch möglichst früh vor der Stadt anzulangen, die man mit einem Handstreich hätte besetzen können. Otto aber äußerte vor seinen Getreuen: »Es ist eine Schande, daß die dummen Zeitungen nie diesen begabten Strategen nennen, obschon er nächst Moltke – manche schätzen noch anders – das größte Verdienst hat. Diese Presse ist doch immer nur da, um falsche Renommeen zu gründen und echte totzuschweigen. Das scheint mir bei der deutschen noch schlimmer als anderswo. Die allgemeine Urteilslosigkeit stützt sich auf solche Verfertiger von gewalkten Lumpen, vulgo Zeitungspapier, auf die Tinte von Leuten, die selbst kein Urteil haben.« Auch im offiziellen Berichte über Sedan hatte man das Kronprinzenheer nur obenhin erwähnt, obschon es die Hauptarbeit tat, wahrscheinlich, um den Kronprinzen von Sachsen besonders hervortreten zu lassen und jeden Schein von Nepotismus zu vermeiden. »Unser Fritz«, ohnehin volkstümlich genug, durfte auch nicht zu sehr gepriesen werden, um nicht die Eifersucht Friedrich Karls zu erwecken. So regiert das Allzumenschliche hinter den Kulissen der übermenschlichen Taten. Blumenthal tröstete sich bärbeißig: das wird wohl immer so bleiben, das hält mich nicht ab, meine Pflicht zu tun, aber später möchte ich Ruhe haben und dem Mordhandwerk entsagen.

Dieser Wunsch fand noch lange nicht Erfüllung. »Sie glauben alle, meine Herren, der Feldzug sei so gut wie beendet? Jetzt fängt er erst an. Sie alle kennen nicht die Franzosen wie ich, der als junger Mensch hier die Kampagne gegen Napoleon I. mitmachte. Überall Franktireurs! Und der Revolutionszeit gedenke ich auch. Die Proklamierung der Republik in Paris bedeutet für uns nichts Gutes.« Wer war's, der so sprach? Der greise König.

»Etwas Gutes hat's doch«, beschwichtigte der Kanzler. »Die Einmischung fremder Diplomaten rückt damit in weite Ferne. Erst müßte das Ausland diese neue Regierung anerkennen.«

Am 8. September lud er Sheridan zu einem Imbiß ein und klagte ihm absichtlich sein Leid, daß die Militärs jetzt wieder ganz alle Angelegenheiten in ihre Hand nähmen. »Man marschiert sofort auf Paris und kennt den französischen Charakter nicht. Das wird die Pariser erst recht rabiat machen.«

»Aber das übrige Frankreich braucht sich nicht zu fügen.«

»Paris ist Frankreich, so weit brachte es das zentralistische Prinzip. Ich fürchte die Wirkung des Namens Republik auf die Entflammbarkeit der Gallier. Diese folgen nie einer Idee, weil ihnen die geistige Fähigkeit dazu fehlt, wohl aber einem Worte. Man gaukle ihnen Worte vor, flugs fliegen die Schwerter aus der Scheide. Wir müßten jetzt gleich mit Napoleon Frieden schließen, damit möglichenfalls der kaiserliche Prinz Lulu unter Regentschaft Eugenies fortregiert. Der würde sein Lebtag eingedenk bleiben, daß er die Fortdauer der Dynastie uns verdankt, und ein gefügiger Nachbar werden.«

»Und warum marschiert man sofort auf Paris?«

»Um völlige militärische Niederwerfung zu erzielen. Die Herren täuschen sich. Niemand liebt die Welschen weniger als ich aber ihre patriotische Hartnäckigkeit kenne ich, sie speist sich aus ihrer persönlichen Eitelkeit und Unwissenheit, ihrer völligen Selbsttäuschung über die eigene und die gegnerische Macht, aber sie ist nun mal da, und man muß mit ihr rechnen. Die gallische Rauflust wird erwachen, ganz Frankreich sich erheben.«

»So werden Sie es niederschlagen. Ein reguläres Heer gibt es ja nicht mehr.«

»Das sagen Sie nach Ihrem Bürgerkrieg? Man merkt, daß Sie selbst Berufsoffizier waren. Deshalb legen Sie gewissen Dingen zu viel Wert bei, die an sich jedes stehende Heer gegenüber Milizen stärken, aber nicht die Wucht allgemeiner Volkserhebung vermindern. Diese stellt ungeahnte Massen ins Feld, hat einen besonders starken moralischen Faktor. Denken Sie an Carnots Levée en masse! Sie war lange nicht so groß wie die Legende prahlt, und doch genügte sie bei damaligen Zeitläuften. Dauert der Krieg lange, werden die Milizen eben durch Kriegserfahrung Veteranen wie bei Ihnen.«

»Dazu gehört ein bedeutender Organisator, wie Lincoln es war.«

»Wer sagt Ihnen, daß Frankreich nicht auch so einen hervorbringt! Darin liegt die Kraft wirklicher allgemeiner Revolutionen – nicht solcher lokalen Putsche wie unsere achtundvierziger Berlinerei –, daß sie Talente an die Spitze bringen, die sonst ewig im Verborgenen schlummern würden. War das bei Ihnen nicht auch der Fall? Lee war simpler Oberst, Stuart Rittmeister, Jackson Professor, Grant Lederhändler, Sherman Eisenbahndirektor, mochten sie auch in ihrer Jugend gedient haben. Und diese Leute führten die größten Heere, leiteten größte Operationen, zum Teil meisterhaft.«

»Das ist wahr. Doch wir brauchten lange Zeit.«

»Wegen der ungeheueren Dimensionen von Raum und Zeit. In Europa bei kleineren Verhältnissen geht es natürlich schneller, doch sechs Monate entsprechen hier sechs Jahren bei Ihnen. Ich sehe trübe in die Zukunft. Denken Sie an mich, noch zu Neujahr haben wir nicht Frieden.«

In Ferrières, dem Schlosse des Barons Rothschild, fand man trotz dessen Eigenschaft als preußischer Generalkonsul den ungastlichsten, frechsten Empfang durch dessen so beauftragten Haushofmeister. Er wollte den berühmten Weinkeller nicht aufsperren, obschon man alles bar bezahlte. Da erlebte er eine böse Viertelstunde durch den grimmigen Weinkenner, der sich an seinem wundesten Punkte getroffen fühlte. Hier war die Stelle, wo er sterblich war, und er lehrte dem dreisten Franzosen im Handumdrehen Mores, der dann kriechend in alles willigte. »So sind sie«, meinte er verächtlich. »Immer das große Maul und hintenach die Retirade, es sei denn, man stellt sie in Reih und Glied als Soldaten, da sind sie tapfer. Die geborenen Drillmenschen, alles nivelliert. Die Franktireurs machen sich schon mausig. Blumenthal fragt wütend, warum man sie nicht sofort nach Standrecht aufhänge. Unsere Leute sind gut wie kleine Kinder. Zum Danke dafür wird das Gesindel die Welt mit Lügen über unsere Hunnengreuel erfüllen. So waren sie und so werden sie sein, das verlogenste, grausamste, brutalste Volk der Welt. Aber gibt man ihnen einen Schlag aufs Lügenmaul, daß die Beißzähne herausfallen, dann kuschen sie auf einmal. Sobald man erst ein paar Dörfer niederbrennt und ein paar Dutzend Blusen-Tückebolde füsiliert, wird das Unwesen von selbst ein Ende nehmen und jeder Maire untertänig höflich sein.«

»Woher nehmen sie nur ihre naive Frechheit?« wunderte sich Keudell. »Ein Kapitel aus der Kleinkinderstube. Diese ungezogenen Lausbuben halten einfach nicht für möglich, daß sich jemand an der geheiligten Person eines Sohnes der großen Revolution vergreifen könne. Brandschatzen sie ein schwächeres Land, so ist dies ihr heiliges Gloirerecht, aber den heiligen Boden des unsterblichen Frankreich mit Fußtritten regalieren ist Totsünde an der gesamten Menschheit. Übrigens der Hofjude Rothschild hier ... plus royaliste que le roi, französischer als die Franzosen, das gehört zum Geschäft.« Er erging sich in antisemitischen Ausfällen. »Und wir Esel lassen uns von dem ganzen Schwindel imponieren. Majestät befahl bei Strafe, die Fasanen im Wildpark nicht anzurühren. Wozu denn das und wozu die Skrupel beim Requirieren, das Barzahlen ohne Ende! Ich möchte mal sehen, ob die Ausländer auf deutschem Boden auch so zimperlich wären. Alle Pariser Schmutzblätter – und das sind alle – malten mit Behagen die Bestialitäten aus, die sich ihre lieben Turkos leisten würden, der Geschäftsträger in Baden drohte: ›Die Frauen werden nicht geschont werden.‹ Zwischen einem Kosaken und einem Gallier besteht mehr Verwandtschaft als man glaubt, beide schämen sich nicht mal, wenn man ihnen ihre gigantischen Lügen und Gemeinheiten vors Gesicht hält, man muß sie wie die Hunde mit der Schnauze in ihren eigenen Unrat stoßen. Die Engländer als Germanen sind natürlich anständiger, sofern sie nicht besoffen sind, doch bei ihnen hat man den Genuß so faustdicker Heuchelei, daß sie jedes Erröten verlernte. Würde mal eine deutsche Granate einen John Bull töten, so wäre damit für immer Acht und Bann über uns Barbaren verhängt; doch würden englische Breitseiten ganz Hamburg in Asche legen, so führe die englische Humanität in feurigem Wagen gen Himmel.«

»Ich höre, ein englischer Attaché war heute bei Ihnen und faselte von Waffenstillstand im Namen der Humanität?« fragte Moltke ironisch.

»Das macht mich so grimmig. Morgen kommt Jules Favre aus Paris angetanzt. Larifari! Frieden gibt's nicht eher, als bis sie mürbe sind. Der König freut sich über ein Telegramm aus Petersburg, mein alter Bekannter Thiers habe seine Rundreise an die neutralen Höfe mit friedfertigster Absicht begonnen. Was die so nennen! Noch wird er Europa nicht zu Hause finden, aber später wird es sich nicht verleugnen lassen. Beust fängt schon an, Fühlhörner auszustrecken. Diesen alten Bekannten sollt' ich doch kennen. Beiläufig Vergangenheit ... hier in Ferrières habe ich 1856 auf einer Jagdvisite zwei Fasanen geschossen und sehr viel anderes Geflügel. Lesen Sie im Jagdbuche nach, das im Salon aufliegt, 3. November ... General Marquis de Gallifet war auch dabei, der Todesreiter von Sedan, ein kleiner schmächtiger Herr, damals Eskadronchef ... und der Teufel soll mich holen, wenn ich dem Federvieh des Rothschild nicht noch heute an den Kragen gehe. Kommen Sie, Moltke! Der König ist zur Truppenschau abgereist, mich kann man nicht arretieren, sonst kann man nicht Frieden machen ... versuchen wir ein paar Schüsse im Parke!«

Den englischen Attaché, einen dünnen, schwarzhaarigen Jüngling, hatte er nicht moralisch die Treppe hinunterwerfen können, da er sich mit Handschreiben von Lord Lyons als Sohn seines alten Jagdgenossen Sir Alexander Malet vorstellte. Er lud ihn zu einer Flasche Sherry-Brandy ein und gab nach, er wolle den sogenannten Minister der provisorischen Regierung empfangen. Es führte zu nichts. Der Franzose deklamierte sentimental und großspurig zugleich. Seinem halsstarrigen Gallierschädel konnte man unmöglich einpauken, daß Frankreichs Ehre genau die nämliche sei wie die jeder anderen Nation. Blasphemie! Als er von Abtreten des Elsaß hörte, meinte er herzig: »Sie scherzen.« »Schwerlich in Geschäften. Wir verlangen von Ihnen, was Sie von Deutschland so oft verlangten, die Pön des Besiegten. Mußten Sie nicht auch die Rheinlande und die Pfalz zurückgeben und Belgien, Holland, Italien, Spanien?«

»O, das ist etwas anderes. Die ungerechten Eroberungen des korsischen Tyrannen!«

»Die Ihre Revolutionsregierung schon zuvor begann. Worin sind sie aber ungerechter als die brutalen Eroberungen Ludwigs XIV.?«

Favre starrte den Preußen fassungslos an, diesen Geschichtsfälscher. »Wie? Die altfranzösischen Provinzen Elsaß und Lothringen?«

»Meinen Sie das wirklich im Ernste? Mir fällt es schwer, Ernst zu bewahren. Sie wissen am besten, daß ihr Franzosen die Elsässer deutsche Dickköpfe nennt und der Elsässer in eurer Komödie eine komische Rolle spielt.«

Verwirrt wich der Pariser aus und sprach von Waffenstillstand, um eine Nationalversammlung nach Paris zu berufen.

»Dann müssen Sie den Mont Valérien übergeben, um Paris zu überwachen, damit sich die Beratung in Ruhe ohne Tumulte vollzieht. Ferner haben Sie Straßburg zu übergeben.«

Favre sprang in die Höhe wie von neuralgischem Zucken befangen: »Sie vergessen, daß Sie mit einem Franzosen sprechen. Ich verspreche Ihnen, dies Ansinnen nicht dem Volke bekanntzugeben.«

»Ich zittere schon«, brummte Otto. »Zu beleidigen wünsche ich Sie nicht, doch handle korrekt nach Kriegsrecht.« Hier tat Favre, als ob er einer Ohnmacht nahe sei und in Tränen ausbreche, die abzuwischen er sich abwendete. Das tat dem »eisernen« Deutschen sehr leid, und er wollte gemütvoll trösten, als er bei näherem Zublicken merkte, daß gar keine Tränen vergossen waren und der Advokat ihn zu einer Theaterrührszene einlud wie bei seinen Plaidoyers vor Geschworenen. Der Mann war später auch grauer als bei dieser ersten Zusammenkunft, wahrscheinlich durch malerische Kunstmittel. »Gefühlsausbrüche sind in Politik nicht am Platze«, schloß er trocken die Unterredung. –

Das tobsüchtige Seinebabel bekam jetzt seine Irrenhausjacke mit stählernen Klammern. Man hätte am 19. September die Stadt mit Sturm nehmen können, die Franzosen zeigten sich entnervt und rannten in wilder Flucht bis in die Umwallung zurück, die Forts Issy und Vanves konnten nichts schaden, von der deutschen Artillerie überhöhend beherrscht, aber Moltkes peinliche Methodik verbot jede Überstürzung, die hier unter allen Umständen richtig gewesen wäre. In Versailles, wo der Kanzler und seine Leute in ein Haus der Rue de Province einzogen, wunderte sich Blumenthal: »Wie konnten Sie es übers Herz bringen, Herr Ministerpräsident, mit solch einem Demokraten zu verhandeln, der sich selbst zum Minister machte! Dem hätte ich nur erlaubt, mit meinem Bedienten zu reden.« Otto staunte seinerseits, wie selbst ein gebildeter Mann wie dieser Stratege so völlig in den Banden seiner Kaste lag. Der kleine Herr war vor Ärger ganz aufgeregt und schimpfte auf die Rasselbande von Demokraten wie jeder Krautjunker »Die Kanaille schwatzt sich in Patriotismus hinein, doch die Luft wird ihnen bald ausgehen, wenn sie immer eins auf die Nase bekommen. Heute bei der Parade stand unser Kronprinz an der Bildsäule Ludwig XIV. Das tat einem Preußenherzen wohl.« Dem deutschen Herzen Ottos auch, doch er sah Paris mit anderen Augen als ein königlich preußischer General, und fragte außerdem: »Ist unsere Zernierungslinie nicht etwas dünn?«

»So dünn, daß der Feind an irgendeinem Punkte durchbrechen könnte, wenn er seine ganze Macht konzentriert. Die Kerle von der provisorischen Regierung verstehen ihr Metier als Organisatoren, fast 500 000 Bewaffnete sollen sie formiert haben, sogenannte Mobil- und Nationalgarden, aber vom Kriegführen verstehen sie nichts. Sie sind mit Blindheit geschlagen.«

»Unsere Kunst besteht also jetzt darin, Paris und Metz gesondert zu belagern, hätten wir nicht die bessere Armee und ursprüngliche Übermacht, dürften wir uns dies nicht erlauben. Eine ähnliche Kriegslage war noch niemals da. Ich bin ganz konfus. Das kann ja noch endlos dauern, und wir brauchen schnellen Frieden, damit die Neutralen nicht doch noch ihr Maul aufreißen. Moltke wird ja alles wohl besser wissen, und mich schaltet man bei allen Beratungen aus, doch ich schwebe in Ängsten. Meine Zirkulardepesche, Paris verlängere verbrecherisch nutzlosen Widerstand, hatte gar keine Wirkung, weder auf Frankreich noch die Neutralen.«

»Ach, es währt ja höchstens noch einen Monat. In Metz werden die Lebensmittel seit lange rar, Paris wird Hunger nicht vertragen.«

»Hm! War denn gewaltsamer Angriff nicht möglich, ehe die Stadt gerüstet war?«

Blumenthal zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich. Warum Moltke uns solchen Schneckengang vorschrieb – wir konnten schon am 12. vor Paris sein – und am 19. jedes Nachstoßen untersagte, wissen die Götter. Die Halbgötter werden dies nachher als tiefe Weisheit auslegen. Sonderbar, manchmal sind wir überkühn, manchmal übervorsichtig, was beides der verdammte Korse, der doch nun mal unser aller Meister bleibt, am meisten haßte. Ein mißglückter Sturm hätte uns viel Menschen gekostet, und so was tut mir in der Seele weh. Doch selbst Mißglücken hätte die Panik in Paris vermehrt, und wer weiß, ob wir nicht mindestens die Forts Issy und Vanves in unsere Gewalt bekommen hätten, womit das Schicksal von Paris besiegelt! Je nun, unsere Zernierung wird hoffentlich auch den Fall herbeiführen ohne Menschenverlust.«

Doch mit riesigem Zeitverlust dachte Otto. Und dabei täuschte der gute General sich wohl, die Pariser sind zu allem fähig, wenn ihre Nationaleitelkeit, man nennt es Patriotismus, in die Schranken gerufen wird. Das wird eine lange Geschichte. Aushungerungstaktik ist immer zweifelhaft, wo es sich um einen großen Organismus handelt, der über ungewöhnliche Gesamtmittel verfügt. Die Herren kennen alle Paris nicht wie ich, der seine Augen offen hatte. Die »Hallen« strotzen von Lebensmitteln. Der Künstler Moltke legt wohl Wert darauf, daß seine pünktliche Einschließung von Paris auf allen Seiten am gleichen Tage nachher als Meisterstück in den Schulbüchern prangt. Das ist des Pudels Kern. Nicht aus persönlicher Eitelkeit, o nein, so was liegt hinter ihm in wesenlosem Scheine, sondern in majorem Generalstabiae gloriam. Übrigens merkt man Blumenthal an, wie unangenehm ihm Verlegung des Hauptquartiers in seine eigene Machtsphäre. Er wird sarkastisch und grob, weil er die vielen unverlangten Fragen und unbefugten Ratschläge der Halbgötter fürchtet. –

Ach Gott, so so, na na! Fängt das schon an? Der amerikanische General Burnside erschien, um Einlaß nach Paris zu erbitten, da er im Namen der Union die Franzosen zum Frieden bewegen wolle. Burnside war ihm als Besiegter von Fredericksburg bekannt, wofür man den gar nicht unbefähigten Zivilfeldherrn absichtlich von berufsmilitärischer Seite mit sehr übertriebenen Rügen überhäufte. Meinethalben! Burnside plauderte bei seiner Rückkehr aus, die Regierung wolle gern alles zugestehen, doch es sei unmöglich, weil die Populace sie sofort stürzen würde. »Das ist ein Irrenhaus, bevölkert von Affen,« rief er verzweifelt. Bald darauf tauchte das Gestirn Gambetta auf oder, genauer, es gondelte auf einem Luftballon über der Nationalverteidigung. In den folgenden Monaten wurde der Andrang von Prinzen, Ministern, Deputationen immer dichter, aus dem Hotel des Reservoirs pilgerte man ununterbrochen in die Rue de Province. Außer den Fürstlichkeiten erschien Delbrück, der als Minister viel zu sagen hatte, dann kamen Bennigsen, Simson, Bamberger als Delegierte der Nationalliberalen, auch Blanckenburg als Vertrauensmann der Konservativen stellte sich ein. Vor allem aber marschierten auf: Graf Bray und Lutz als bayrische, Mittnacht und Wachter als Württemberger, Roggenbach und Freydorf als badische Minister. Denn eine große Frage lag in der Luft, die Otto seit Wochen und Monaten kommen sah und die aus zarten Winken und unzarten Andeutungen immer greifbarere Gestalt gewann: wie Deutschland endgültig einen als gemeinsamen Staat, die Krönung seines Riesenwerkes?

*

Wo das Aas ist, da sammeln sich immer die Raben: als Vertreter Englands meldete sich Mister Odo Russel, ein sehr gebildeter kluger Herr. Mit der Erfolganbetung des echten John Bull bewunderte er den großen Realpolitiker, behielt sich aber reservatio mentalis in englischem Geiste vor. Später als Botschafter in Berlin ging er bei dem geistvollen Paul Lindau ein und aus, der ein großes Haus machte und dessen hohe Gemahlin, Tochter des jüdischen Possenwitzlings Kalisch, die besondere Huldigung des Grafen Bill Bismarck genoß. (Später ging sie mit einem gewissen Rosenthal durch, der sich St. Cère nannte). Zurzeit freundete sich Herr Odo Russel mit Georg Bleibtreu an und ging mit ihm im Parke von Trianon spazieren, um über die Stimmung im kronprinzlichen Hauptquartiere sich zu unterrichten. Später als Lord Odo Russel suchte er hingegen auf einem Berliner Hofballe eine höfische Schranke aufzurichten, denn in Wahrheit fing bei ihm der Mensch beim Lord an. So sind die »liberalen« Briten, die über deutsches Junkertum sich ergötzen.

Ein anderer Russel machte sich in Versailles sehr bemerkbar, der bekannte Timesvertreter William Russel, der durch seine berühmt gewordenen Berichte aus dem Krimkriege, seine wahrheitsgetreuen Aufhellungen aus dem Meutereikriege die edelsten Traditionen der englischen Rasse auffrischte. Wie wir ihn heute überschauen, ein ausgezeichneter Mann, dessen Geschichte des deutsch-französischen Feldzuges bei sonstiger Wertlosigkeit doch große Unbefangenheit und für Deutschland warme Gesinnung betätigt. Er und Skinner von der Daily News machten Georg Bleibtreu eine Staatsvisite im Versailler Museum, dessen Obhut ihm vom Kronprinzen übertragen war.

»Meine Herren, ich freue mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen, doch warum kamen Sie nicht früher?« fragte der bescheidene Künstler.

»Sie waren stets mit Ihrem Intimus Freytag zusammen, dessen Benehmen uns zu verstehen gab, daß englisches Federvieh geradeso wie deutsches unter seiner allerhöchsten Beachtung lag. Da waren wir es denn doch unserer Würde schuldig, weit aus, dem Wege zu gehen. Gestern ist er abgereist, heute sind wir hier.«

In jener Zeit sollen angeblich die vertrauten Szenen zwischen dem Kronprinzen und Herrn Hofrat Gustav Freytag stattgefunden haben, die letzterer in seinem Pamphlet nach Kaiser Friedrichs Tode mit giftigster Perfidie schilderte. Höchstwahrscheinlich die Hälfte davon erfunden. Dieser von Hochmut platzende Literat (der richtige Literat, dabei alle Literaten als Dreck behandelnd) saß oft zur Rechten des Kronprinzen im Hauptquartier, rächte sich nachher in seinem Pamphlet, worin er bezeichnenderweise Blumenthal, der ihn nicht ausstehen konnte und sich später Bleibtreu gegenüber in grimmigster Weise aussprach, ehrend anbiedert. Wofür rächte er sich denn? Davon erfuhr natürlich Deutschland nichts, das den infamen Eselstritt nach dem Tode des hohen Gönners als Zeichen erhabener objektiver Vaterlandsliebe auffaßte. Der Hofmarschall des Kronprinzen, v. Normann, ein Freund Freytags, schrieb wehklagend an Bleibtreu, er bitte ihn zum Diner, um die peinliche Lage »unseres Freundes Freytag« zu besprechen, den Kronprinzens entrüstet absägten. Warum? Beflecken wir nicht große historische Ereignisse durch Allzumenschliches im übelsten Sinne! Die Stinkbombe platzte und niemand wird es dem kronprinzlichen Paar verargen, daß es das Tischtuch zwischen sich und einem solchen Täuscher zerschnitt. (»Täuscher«, darauf liegt der Nachdruck, denn »sittliche« Verfehlungen sind zwar bei einem Sänger teutscher Keuschheit und Treue einigermaßen ärgerlich, aber es ist Fälschung, die Dinge nach dieser Richtung umzubiegen.) Ein solches Fallenlassen verwand der Klassiker (!) Freytag nie, und er rächte sich wie ein von Größenwahn Verzehrter. Eskapaden – Verdeutschung des Wortes würde den Sinn verwässern – verzeiht man Genies, aber keiner talentvollen Überheblichkeit. Sein Pamphlet inspirirte jemand, den er privatim als Hanswurst bezeichnete, öffentlich aber als seinen »gnädigsten Herrn«, den nämlichen, der sich vor Georg Bleibtreu auf vertrautem Spaziergange imposant aufreckte: »Herr, was denken Sie von mir! Ich bin der deutsche Staatsmann, alles, was Ihr bewunderter Bismarck leistet, ist von mir vorausgeschaut«, und der sich von seinem rot und bleich werdenden Adjutanten die Worte bestellen ließ: »Ihr Herr hat mir sein Wort gebrochen«, zu unendlichem Gaudium des Kronprinzen und Blumenthals. Dem deutschen Volke aber muß gesagt werden, daß neben zweifellosen Entgleisungen des Kronprinzen (denn als solcher »Unser Fritz«, nicht als der unselige Dulder Kaiser Friedrich lebt er im Volke), großartige Ausdrücke allervornehmlichster Menschlichkeit stehen. Er war im Grunde seines Herzens ein selten, guter fürstlicher Mensch, wie es vom Sohne eines solchen Vaters und einer solchen Mutter (mochte sie auch dem Genius deutscher Nation echt weiblich widerstreben) auch gar nicht anders zu erwarten. Für seine Mängel hat er überreich gebüßt, denn Gott ist gerecht, obwohl sehr strenge, seine Herzenstugenden stehen aber dankbar eingeschrieben in den Herzen, die ihn kannten. Man suche sich noch mal einen Fürsten, der nach einer Laune häßlicher Verkennung (infolge Einflüsterung eines bei der Gattin erfolgreichen Strebers) dem charaktervollen Zurückweiser auf öffentlicher Revue zurief: »So hart wollen Sie mich bestrafen?« Und die so viel verleumdete englische Gattin ließ sich auf ihre taktlose Bemerkung: »Wie kann ein Meister wie Sie sich mit eklen Schlachten beschäftigen!« die machtvolle Antwort gefallen: »Diese Schlachten gestatten mir, Sie als Kaiserliche Hoheit anzureden«, und bewies bei einer öffentlichen Gelegenheit ihre echt weibliche, verzeihende Objektivität. (Vornehme Frauen sind viel objektiver als Männer, das Gejohl von weiblicher Subjektivität gehört zur pièce de résistance des männlichen vollständigen Mangels an Objektivität.) So viel zur Steuer der historischen Wahrheit, da Deutschland mit tausend Lügen überschwemmt wird. Es war alles anders als die öffentliche Meinung glaubt.

*

»Der Kronprinz ladet mich zu Tische, um einen gewissen Sullivan zu treffen, der aus Paris kam. Erkundigen Sie sich nach seinen Antezedenzien!« beauftragte er den getreuen Moritz Busch. –

Also empfohlen durch den amerikanischen Gesandten an Sheridan! Der brave Washburne schwimmt ganz in französischem Fahrwasser. Man will den Kronprinzen bearbeiten.

An der Tafel hatte man den Fremdling neben den Kanzler gesetzt, der ganz freundlich auf das Gerede einging. Neutralität und das goldene Zeitalter des Friedens waren die Lieblingsthemen. »Sie waren Resident der Vereinigten Staaten in Lissabon?«

»Ich hatte die Ehre.« Sullivan zeigte sich betreten, daß der Gefürchtete so wohlunterrichtet war. »Schon damals –«

»Hatten Sie französische Sympathien, ganz recht. Habe ich recht verstanden, daß Sie Seiner Königlichen Hoheit Friedensvorschläge unterbreiten, die den status quo ante bezwecken?«

»Gewiß, die innige Aussöhnung beider Nationen.« Und so weiter.

Der Kanzler stand plötzlich auf und verabschiedete sich beim Kronprinzen. Indem er Sullivan die Hand reichte sagte er mit durchbohrendem Blicke: »Erfreut, Sie kennengelernt zu haben, Mr. Sullivan. Nur erlebe ich manchmal etwas Merkwürdiges. Nachmittags lerne ich einen recht angenehmen Herrn kennen und am anderen Morgen lasse ich ihn ausweisen.«

Der biedere Yankee verstand nicht. Doch als er ins Hotel ging, fand er eine Schildwache vor seiner Tür und den Ausweisungsbefehl. Vier Tage später, am 12. Oktober, erfolgte ein anderer diplomatischer Angriff. »Angel de Valleyo, Vizepräsident der spanischen Finanzkommission in Paris, Attaché der spanischen Gesandtschaft« stand auf der Visitenkarte eines aus Paris gekommenen Individuums. Er musterte den Herrn, dessen Brust der Stern des Isabellaordens und dessen Hals das Kreuz St. Johann von Jerusalem zierte, und bat, ihn auf kurze Zeit zu entschuldigen. »Botschaftsrat Graf Hatzfeld – Leutnant Graf Bismarck, mein Neffe! Bitte sich ungeniert zu Tisch zu setzen! Viel Beleuchtung haben wir nicht, wie Sie sehen.« Nur Kerzen in leeren Weinflaschen. Hatzfeld eröffnete die Unterhaltung: »Wir werden jetzt wohl bald in Paris einziehen. Bazaine kapituliert spätestens in acht Tagen, und die Loirearmee ist bei Orleans zersprengt.«

»Dies beurteilt man in Paris ziemlich anders.« Der Spanier lächelte höflich.

»Sind die Klubs noch offen und vornehme Leute da? Die können sich sicher nicht mit der Straßenherrschaft der Demagogen vertragen.«

»Sie irren, Herr Graf. Patriotismus verwischt alle Klassenunterschiede. Auch herrscht durchaus nicht Sansculottentum. Alle sind einfach Bürger, die sich gegen den Landesfeind wenden.«

»Das machen Sie uns nicht weiß. Wie können Legitimisten, Bonapartisten, Blanquisten, reine Jakobiner und Kommunisten miteinander auskommen!«

»Es ist doch so. Das Innerpolitische zu regeln und dort Differenzen wegzuräumen verspart man für später.«

Otto kam zurück, setzte sich dem Spanier gegenüber, schellte und befahl: »Burgunder!« Der Haushofmeister brachte zwei Flaschen. Die erste, rasch geprüft, befriedigte den Kenner nicht, von der zweiten hielt er ein Glas ans Kerzenlicht: »Bravo, ein richtiger Romanée.«

»Dies Haus hat gewiß einen vollen Keller, mit dem Herr Graf zufrieden sind,« warf der Spanier hin.

»Sie irren, dieser Wein stammt aus dem Hotel des Reservoirs. Wir requirieren nichts als das Nötigste. Alles kaufe ich, meine Kinder sollen nicht über mich erröten.« Das ungläubige Lächeln des Spaniolen bestimmte ihn, den Diener nach dem Preise zu fragen, den man bezahlte. Herr de Valleyo machte große Augen. »Nun, was macht das liebe Paris? Die Hilfsmittel sind erschöpft, nur die Herren des Stadthauses hindern das Volk an sofortiger Übergabe.«

»Da sind Sie falsch berichtet. Ganz Paris ist aufs äußerste entschlossen.«

»Aus Eitelkeit, diesen einzigen festen Kern der hohlen französischen Seele. Nur ein Narr glaubt, so etwas stärke für wirkliches Leiden. Übrigens, mögen sie heroisch sein oder scheinen, wir ziehen doch bald ein.«

»Höchstens, wenn Sie bombardieren und einen Sturm wagen, was Ihnen große Opfer kosten würde.«

»Nein, wir brauchen nur Geduld und unsere zwei Verbündeten: den General Hunger und die Hexe des roten Schreckens.«

»Die Roten zittern vor der Nationalgarde der bürgerlichen Viertel. Der Hunger muß noch lange draußen warten.«

»Wenn er nur endlich einzieht! Wir werden Monate auf ihn warten, wenn nötig.«

»Und die Hilfe der Provinzen? Und die Intervention Europas?«

»Kann ich Armeen aus dem Boden stampfen? fragt ein französischer König in einem deutschen Drama von Monsieur Schillère. Frankreich hat nur noch eine Armee, die in Metz, ein ausgehungertes Skelett. Das Ausland? Wird keine Kastanien aus dem Feuer holen, hätte es aber Anlage zum Mucius Scävola, sich zu verbrennen, so werden wir uns solche Scherze verbitten.«

»In Paris hofft man viel von der Rundreise Thiers' an die europäischen Höfe.«

»Der will ja nur die Thronfolge der Orleans sichern. Die Franzosen mißbilligen solche Politik. Man will aber Trochu doch noch lieber als den Diktator Gambetta, einen Winkeladvokaten ohne Klienten.«

»Ich glaube, Sie unterschätzen diese Herrn und verkennen die Absichten des Herrn Thiers. England und Rußland sollen zur Intervention sich verständigt haben.«

»Woher wissen Sie das im zernierten Paris? Was schwatzt man dort nicht täglich im Frieden und nun gar erst im Kriege! Ist das nicht komisch, Hatzfeld?« Er lachte laut. »Spanien wird wohl an diesem schaurigen Einverständnisse teilnehmen? Und doch sollten Sie unsere Verbündeten sein. Ich ließ schon bei Marschall Prim anfragen, wieviel Truppen er über die Pyrenäen schicken würde. Leider schrak er vor der Konsequenz zurück, die fremde Einmischung in die spanische Thronfolge zur Rechenschaft zu ziehen.«

Der Spanier bekam einen roten Kopf. »Spanien pflegt nicht zurückzuschrecken. Doch der Prinz von Hohenzollern verzichtete auf seine Kandidatur, da ging uns das Weitere nichts an.«

So weiß ich doch wenigstens, daß der Kerl wirklich ein Spanier ist! »Schade! Ihr schon so lange schlaftrunkenes Volk wäre zu neuem Aufschwung erwacht, hat Prim dies wohl bedacht?«

»Der Marschallpremier beehrt mich mit seinem Vertrauen nicht bis zu dem Grade, mir seine geheimsten Pläne zu verraten.«

»Sie wünschen Passierschein nach Ihrer Heimat? Werden also bald Ihren Vorgesetzten treffen? Nun, ich hasse Einmischung in fremde Angelegenheiten, doch ein deutscher Fürst wäre für Sie die Auferstehung. Jeder Vernünftige ist sich klar, daß die lateinische Rasse verbraucht ist. Ihre Bestimmung lag in der Vergangenheit, doch Gegenwart und Zukunft gehören den Germanen. Sprechen wir übrigens von der nächsten Gegenwart! Wird nicht die Dynastie Napoleon zurückkehren? Man kann ihm nur vorwerfen, daß er den Nationalwunsch erfüllen und den Rhein erobern wollte.«

»Man wirft ihm vor, einen unglücklichen Krieg geführt zu haben«, bekannte der Spanier naiv. »Ist es wahr, daß Sie Elsaß-Lothringen annektieren wollen? Das verbürgt keinen dauernden Frieden.«

»Es ist des Königs Wille. Welche Bedingungen wir auch stellen würden, es wäre immer nur ein Waffenstillstand.« Ein düsteres Schweigen folgte, das der Fremde mit dem gewagten Hinweise unterbrach:

»Herr Graf sprechen vom Willen des Königs, Europa erblickt aber in Ihnen den eigentlichen Motor.«

»Disziplinlose Franzosen mögen so denken, die sich zwar jedem Abenteurer unterwerfen, doch unsere Verehrung ererbter Hierarchie nicht begreifen. Bei uns hat nur der König das Recht zu wollen. Ich habe das Recht zu beraten, ihm zu raten, kein anderes. Augenblicklich bin ich nur ein untergeordnetes Werkzeug des militärischen Willens, der nicht immer der meine ist.«

Als der Spanier nach dreistündiger Unterhaltung ging, geleitete ihn der Kanzler höflich bis zur Tür. »Mein Neffe wird Ihnen ein Unterkommen verschaffen, morgen wird Ihnen der Passierschein ausgehändigt.« Kühl fügte er nachher hinzu, als Hatzfeld nach dem Eindruck fragte: »Das ist natürlich kein Spanier, er spricht mit Pariser Akzent. Ich gab Stieber Auftrag, ihn zu beobachten und auf der Tat zu ertappen. Ein Spion.«

Stiebers Rapport lautete: »Redakteur des ›Gaulois‹, Pseudonym Angel de Miranda, schreibt Hetzartikel, schimpft den König einen ›mystischen Korporal‹. Den hätten wir, haben auch einen Plan unserer Truppenaufstellung bei ihm abgefaßt. Sofort verhaftet, wird nach Mainz transportiert.«

Otto schmunzelte: »Es war doch eine anregende Plauderei.«

Wenn er nicht in der Präfektur beim König vorsprach, füllte sich sein Vorzimmer in der Rue de Province mit Besuchern. Sprach er nicht von Geschäften, so bevorzugte er seine Verachtung der Franzosen als Gesprächsthema. Da hätten die Pariser Journalisten Wut geschäumt, die auch ohne dies ihn als »Antichrist«, »Inkarnation des Bösen«, »blutbefleckten Oger«, »Ritter Blaubart«, der alle zehn Gebote brach und sogar Nonnen aus den zahlreichen Klöstern von Berlin entführte, ihren gläubigen Lesern vorführten. Gab es damals auch noch keinen »Matin«, so waren dessen Ahnen von gleicher Stärke. Jede nur erdenkliche Verleumdung floß durch die Kloake dieser Blätter, jede mögliche Lüge aus der offiziellen Filtriermaschine der Regierungsmanifeste. Die Preußen waren vernichtet, ihre süddeutschen Verbündeten an der Loire aufgerieben, in allen deutschen Gauen herrschten Hungertyphus und finanzieller Bankerott, alle Neutralen standen jeden Tag unmittelbar vor dem Losschlagen, die französische Flotte erzielte durchschlagende Erfolge gegen die deutsche Küste. Alle diese Lügen, eine lächerlicher als die andere, erfüllten ihren Zweck, fünf Monate lang verschlang sie das leichtgläubige Völkchen wie Bibelsprüche, die neutralen Zeitungen druckten den Dreck begeistert ab, besonders die Schweizer jubelten über die endlosen Siege der seelenverwandten Republik, in Genf und Zürich durfte sich kein Deutscher auf der Straße blicken lassen, aus Italien lief Löwe Garibaldi brüllend herbei, um den Kriegsknechten Wilhelms, diesen Ureinwohnern Sibiriens vom Schlage des Völkerstammes der Ulanen, die edle lateinische Kultur entgegenzusetzen. Groß und human wie immer stand England da. Anfangs freute sich's diebisch über die Bestrafung des diebischen Louis, als aber des deutschen Siegens zu viel ward, erwachte hochherziges Mitgefühl. Das schöne, edle Paris, wohin man jeden Sonnabend einen Holiday-Trip machen kann, um die moralische Erziehungsanstalt Moulin Rouge zu besuchen, soll in Ausübung seiner internationalen Amüsementindustrie gestört werden? Pfui darüber! Edel sei der Mensch, hilfreich und gut, besonders gut als Geschäftsmann. Ganz England fabrizierte Waffen und Munition für das arme überfallene Frankreich, außerdem noch eine Million Stiefel mit Papiersohlen und andere ersprießliche Erzeugnisse britischen Gewerbefleißes. Sollte man für möglich halten, daß die deutschen Emporkömmlinge an solcher humanen Tätigkeit Anstoß nahmen und sogar amtlich – wo macht dieser Bismarck halt! – Einspruch erhoben? Der Romancier und spätere Diplomat Lawrence Oliphant, als Kriegskorrespondent im Stabe des Großherzogs von Mecklenburg, entrüstete sich, daß man ihn nicht als Gentleman behandle und laut über England schimpfe, gegen dies majestätische Kulturvorbild abscheulichen Neid und respektlose Mißgunst bekunde!

Otto sparte seinen zornigen Spott für die Franzmänner auf. »Mit Apollo haben sie wenigstens eine Ähnlichkeit. Sie schießen zwar schlecht, sind so knirpsig, daß jede Landwehrkompagnie eine fünf Fuß längere Front hat als eine französische, ihre Weiber sind Vogelscheuchen, ich traf noch nie ein hübsches Landmädchen, aber die Kinder Niobes aus Neid erschießen und den Marsyas schinden, das wäre ihr Gusto, denn nur sie dürfen die erste Flöte spielen. Unreinlich sind sie innen und außen, sie kennen weder Seife noch gewisse andere Wasserreinigungen, und meine Frau schickte mir ein Psalmbuch, weil man in Frankreich keine Bibeln hat, und verweist auf eine Prophezeiung darin: Ich sage dir, die Gottlosen sollen ausgerottet werden.«

»Grausamkeiten begehen und sie dann uns aufbürden scheint ihr Hauptspaß,« meinte jemand. »Mobilgarden und Franktireurs plündern um die Mette, und nachher haben wir die Verwüstung angestellt!«

»Jawohl, die verlogenen Schufte! Streift ihnen die weiße Haut ab und ihr findet die Seele von Rothäuten! Ehre kennen sie nicht. O, ich sentimentaler Esel, daß ich den Sedan-Offizieren ihr frei Herumlaufen auf Ehrenwort gestattete! Fast alle brechen es, wo sie können. Da sitzt dieser Ducrot in Paris. Wenn man ihn fängt, sollte man ihn in seinen Rothosen aufhängen, auf dem einen Hosenbein die Inschrift ›Meineid‹, auf dem anderen ›Infamie‹. Die Franzosen sind bloße Ziffern, 30 000 000 gehorsamer Kaffern, sie würden sich peitschen lassen, wenn man ihnen dabei nur über die Würde der Menschheit deklamiert, so einer wie Gambetta paßt für sie. Natürlich, die Kelten sind das weibliche, die Germanen das männliche Blut, und wo es ausstirbt, da ade Freiheit und Fortschritt. Alles Theater, bei Nacht schlägt sich kein Franzose, während der Preuße auf seinem Posten denkt: Einer über mir sieht mich.« Wie Blumenthal tobte er darüber, daß nicht jeder Freischärler sofort niedergemacht werde, und fuhr eine Schar gefangener Blusenmänner im besten Französisch an: »Ihr schmutzigen tückischen Biester! Zappeln sollt ihr am höchsten Baume! Nicht wahr, ihr seid Unschuldsengel, keiner hat geschossen, und die deutschen Barbaren zünden grundlos Häuser an und töten Weiber und Kinder? Ihr verdammten Lügenbolde! Ihr werdet noch die ganze Welt verpesten und aufstiften mit eurer giftigen stinkenden Verleumdungssucht. Eure Oberen sind nicht anständiger als ihr, alle das gleiche Gesindel.« Einen verdächtigen Curé herrschte er an: »Falscher Priester, glaubst du, dein Amt schützt dich vor dem Tode eines Hundes? Nicht wahr, du hast mitgekreischt: Nach Berlin! als frommer Gottesmann, doch jetzt, wo's heißt: nach Paris, da flehst du Gottes Zorn auf die Gottlosen herab, die euch die Hosen strammziehen? Wir werden euch eure Tücken so austreiben, daß euch 50 Jahre der Hintere wehtut.« Dies alles im elegantesten Französisch von solch einem nordischen Kolossus zu hören, machte die armen Sünder halb tot, Entsetzen befiel sie, so hatten sie sich das Schießvergnügen nicht gedacht.

»Und diesen Lump Garibaldi, wenn er erst seine Keile weg hat, sollte man für Geld auf Jahrmärkten zeigen mit der Inschrift: Undankbarkeit. Die Italiener sind bloß Karikaturen der Franzosen, ebenso falsch und hinterlistig, geborene Traditori, aber schwächer und feiger, das ist der ganze Unterschied. Das nennen sie lateinische Brüderschaft. Das Trinkgeld Nizza-Savoyen mag das uneigennützige Frankreich einstecken, aber wir Barbaren dürfen nicht den Boden des heiligen Landes besudeln, sonst kommt Papa Garibaldi mit seinen Idioten. Es gibt so schöne Irrenhäuser in Italien, und so was läßt man frei herumlaufen. Zwei Bengel hat er, verdreht wie er selber, diese Dynastie wird sich fortsetzen, darauf wett' ich, und bei jeder nur möglichen Gelegenheit sich durch Abenteuer lächerlich machen, um Aufsehen zu erregen. Welche Welt trennt uns doch von diesen hysterischen Weibsvölkern!«


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