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Zur Krönung nach Königsberg befohlen, freute er sich über die Festigkeit, mit der König Wilhelm sich selber die Krone aufs Haupt setzte, um sein Gottesgnadenrecht zu betonen, bei damaligen Umständen nicht nur ein praktisch nötiger, sondern auch ein mutiger Akt. Die Thronrede schlug schon kräftige Töne an. Es sei nicht Preußens Bestimmung, dem Genuß erworbener Güter zu leben, in Anspannung seiner geistigen und sittlichen Kräfte, in der Vereinung von Gehorsam und Freiheit liege die Bedingung seiner Macht. »Meine Pflichten für Preußen fallen mit denen für Deutschland zusammen.« Ein vieldeutiges Wort, mit dem sich etwas machen ließ. Otto wußte, daß der Monarch selber solche Reden und Schriftstücke verfaßte, ein Meister mündlicher Ansprachen und voll Kraft und Schwung des Stils mit der Feder, mochten auch kleine Inkorrektheiten im Sprachlichen mit unterlaufen. Dieser außerordentliche Herrscher hatte immer etwas Herzbezwingendes und Begeisterndes, wenn er zugleich als König und Mensch sprach. Er war nun schon ein Greis von vierundsechzig Jahren, doch in seiner männlich aufrechten Haltung spürte man davon so wenig wie in seinem klaren, durchdringenden Verstand. Eher könnte man sagen, daß seine ritterliche Ergebenheit an seine Gemahlin eine gewisse Bequemlichkeit und seine Nachsicht eine gewisse Milde des Alters verrieten, wenn er nicht in allen anderen Punkten die straffeste Tätigkeit und die mutigste Entschlossenheit gezeigt hätte. Die zweifellos seltenen Geistesgaben der Königin schätzend, überhaupt wie jeder männliche Mann dem Zauber weiblicher Klugheit zugetan, hatte die Gattin für ihn den doppelten Nimbus der Frau und gekrönten Königin. Wie wenig er aber ihr blindlings sich unterwarf, bewies sein unvermindertes Wohlwollen für den Schönhauser, den er ja auch nun manches Jährchen kannte. Zeit zum Aussprechen war hier nicht, auch kein Anlaß dazu, aber die Ernennung zur Exzellenz ließ erkennen, daß Otto keineswegs außer Gnade sei. In Frankfurt hatte er die Bundesexzellenz gehabt, weil jeder Gesandte laut Bundestagsbeschluß sich so betitelte, in Rußland hieß er so als selbstverständlich nach russischem Brauch, jetzt durfte er sich als wirkliche Exzellenz in Preußen sehen lassen.
Im Gedränge der herumstolzierenden Würdenträger stand einen Augenblick neben ihm ein zwerghafter Gnom in Frack ohne Orden mit einem breitgewölbten Kahlkopf. Auf seine Frage, wer das sei, erhielt er die gleichgültige Aufklärung: Maler Menzel, der ein Zeremonienbild der Feier anfertigen solle. Otto kannte die Zeichnungen aus dem Zeitalter des Alten Fritz, an denen er sich erbaute, doch für einen völligen Laien wie ihn bestand natürlich zwischen dem Malermeister Becker in Frankfurt und dem Menzel aus Berlin kein Unterschied. Es hätte ihn die Prophezeiung baß verwundert, daß dieser Knirps das Gewimmel von Prinzen, Militärs, Staatsmännern recht dauerhaft überleben werde und um Haupteslänge über sie emporrage. Doch wer wußte damals von Menzel und außer beschränkten Staatskreisen von dem Koloß, der an ihm vorbeischritt! Der kleinste und der ziemlich längste Mensch in dieser erlauchten Versammlung bildeten einen Augenblick eine historische Gruppe für Kodak und Kino, die es leider noch nicht gab.
»Det is eene jiftige kleine Kröte«, schnarrte der alte Wrangel, indem er Otto leutselig grüßte. »Der Malehr, der Pinselehr! Ik habe ihm in meene populäre Art ufn Zahn jefühlt. Wird das Kerleken grob gegen mir, den ollen Papa Wrangel. Det gemeine Volk sind allens Rote. Keen Respekt nich! Nu, mein Sohn, dir jeht es jut? Kann mir denken, die Herrn Diplomatiker dinieren ihr janzes Riesenjehalt oder, wie der Berliner sagt, verfressen die Moneten.«
»So schlimm wird's wohl nicht sein, Herr Feldmarschall.« Otto reckte sich gemessen auf.
»Nanu, ne! Es schlägt dir ja jut an, mein Sohn. Du wärst'n schneidiger Kürassier geworden. Als ich bei Etoges die berühmte Attacke kommandierte –« Und nun stieg wieder die alte Geschichte, die hundertmal gehörte. Otto dachte bedenklich: Wenn das unsere höchsten Führer sind! Gottlob höre ich von Roon andere Dinge. Der kleine Oberst Blumenthal, den der Prinz von Preußen sich als Stabschef ausbat, und ein gewisser Moltke sollen Grütze im Kopf haben, auch Prinz Friedrich Karl hat Grips. –
Der neue Minister Graf Bernstorff hatte etwas Gräfliches und sich in London eine steife Korrektheit angewöhnt. »Ich kenne Ihre Meinungen, Exzellenz. Doch man ist in London so sehr gegen Rußland eingenommen.«
»Wen interessiert denn das? England will uns nicht nützen und kann uns nicht schaden.«
»Aber ich bitte Sie! Bei der nahen Verschwägerung beider Fürstenhäuser.«
»Woraufhin England uns als seine kontinentale Filiale betrachten möchte. Übrigens weiß es selber nicht, was es will, es sei denn das nämliche wie immer: einen Kontinentalen gegen den andern hetzen. Das ist sein Geschäft.«
Bernstorff blies sich auf. »Ich sah diese Dinge mehr aus der Nähe. Die englische Politik hat einen weiten Horizont.«
»Sicher. Soweit seine Kolonien reichen. Alles übrige ist ihm eitel Dunst. Jetzt will es Österreich gegen Rußland, Frankreich gegen Österreich und womöglich auch gegen uns ausspielen, möchte in Italien als Schirmherr gepriesen werden und ist eifersüchtig, daß Napoleon ihm diese Schüssel wegnahm, wird aber deshalb auch nie eine Hand für Österreich rühren.«
»Man ist über Napoleon schon deshalb ungehalten, weil er geflissentlich seine Seemacht vermehrt und in seinen Häfen Truppen zusammenzieht, um England zu terrorisieren.«
»Das alles zeigt nur den allgemeinen Dissens der Mächte. Uns liegt ob, davon Vorteil zu ziehen.«
»Ich hatte neulich die Ehre, von Ihrer Königlichen Hoheit der Kronprinzessin einer politischen Unterhaltung gewürdigt zu werden. Englands Wohlwollen wird uns sicher Früchte tragen.«
»Ich danke für Obst und ähnliche Südfrüchte, sagt der Berliner. Englands Freundschaft hat noch keinem etwas eingetragen, siehe Friedrich den Großen und Blücher-Waterloo. Ich für mein Teil fühle kein Bedürfnis, ihm die Taschen zu füllen und nach dem Munde zu reden. Wir haben einen Freund, Rußland, und einen möglichen Associé, Frankreich.«
»Österreich schalten Sie völlig aus?«
»O ja, ich schalte es aus.« Bernstorff verstand nicht das etwas unheimliche Lächeln. Er rang nach Worten, er rang nach irgendeiner eigenen Anschauung, um diesem allzu burschikosen Untergebenen entgegenzutreten. Doch es fiel ihm nichts ein. Nur bemerkte er mißtrauisch: »Ihre Majestät die Königin zeichnen Sie in auffälliger – ich meine, auffallender Weise aus.« Offenbar hatte er selber nicht das Glück, der hohen Frau zu gefallen. Diese hatte Otto schon in überaus huldvoller Weise gegrüßt und blieb jetzt bei einem Rundgang, als sie am Arme des Königs heranschwebte, vor ihm stehen.
»Sieht man Sie mal wieder, mein lieber Bismarck? Ich bedaure, daß ich schon lange nicht das Vergnügen hatte, mit Ihnen über deutsche Dinge zu plaudern. Manche Ihrer Ansichten sind mir nähergekommen.«
»Erlaube, hier ist wohl nicht der Ort –« suchte der König abzubrechen. Sie fuhr jedoch mit erhobener Stimme fort: »Die Stimme der Nation muß gehört werden. Sie haben wohl recht, Preußens Mission muß schärfer erkannt werden.« Sie verbreitete sich über unser geliebtes gemeinsames deutsches Vaterland und zitierte Goethe. Der König machte dem Gespräch, das alle Umstehenden, ein dichter Haufe, belauschen konnten, mit Würde ein Ende und nickte Otto ernst zu. Er legte Wert darauf, nicht den Eindruck zu erwecken, als ob er mit diesem fanatischen Reaktionär oder intriganten Bonapartisten, wie die zwei Versionen über den immer noch wütend verhaßten »Junker« lauteten, auf irgendwie vertrautem Fuße stände. Das huldvolle Benehmen der Königin ging weit über die Linie hinaus, die er sich vorgezeichnet hatte. Ob die hohe Frau einer großmütigen Wallung gegen einen Verkannten oder bloß der Abneigung gegen Bernstorff oder plötzlicher Entrüstung über die Anmaßung der Liberalen und irgendeine geheime Verfehlung Österreichs gehorchte, blieb ein Rätsel. Anscheinend lag ein häuslicher Meinungszwist über Behandlung der deutschen Frage vor. –
Er war seelensfroh, daß er in seine intrigenfreie Häuslichkeitsluft an der eisigen Newa zurückkehren konnte. So ging ein neuer Frühling ins Land, ihm aber war nicht frühlingsfreudig zumute.
»Ich gratuliere dir zu meinem Geburtstag«, schrieb er früher mit Humor an Malle. Sich selbst gratulierte er nicht mehr und kam sich vor wie ein Kunstreiter, der ein Bein brach. In Berlin schimpfen sie wieder? Das wäre mir leid, denn am Ende versetzen sie mich irgendwohin, Paris und London sind wieder vakant. Meine geistige Ermattung schaudert vor bewegten Verhältnissen, vor Ministerwerden bekomme ich eine Gänsehaut, wie ein zages Kind vor eiskalter Dusche. Ob ich in Paris bin oder hier, das macht für niemand den Kohl fetter, denn geschmaust wird doch nicht an Preußens politischer Hungertafel. Ich würde selbst mit Bern vorliebnehmen, langweilig, aber ruhig, wie sich's für alte Leute schickt. Leider keine Jagd, denn nach Gemsen klettern kann ich nicht. Hier faulenzt sich's gut, aber das Klima! Ich werde Schnupfen nie los, außer auf der Jagd. Johanna hustet zum Erbarmen, Bill hat die Bräune, die Gouvernante galoppierende Schwindsucht. Ein solches Lazarett muß man anderswohin verlegen.
Im Mai mußte er seine Lenden gürten, während Johanna nach Reinfeld reiste, und wieder den Schlagbaum der Grenze bei Eydtkuhnen passieren. Wie freudig hatte er früher das Schwarz-Weiß begrüßt! Jetzt befiel ihn eine unheimliche Vorahnung, als ob dies vielleicht das letztemal sei, wo er diese Grenze berühre, und als ob ein schweres Verhängnis heranrücke. Im März übernahm Prinz Adolf Hohenlohe nach Rücktritt des Ministeriums Hohenzollern das Ministerpräsidium, hatte aber schon genug davon. Der König hatte notgedrungen die widerspenstigen Kammern auflösen müssen, doch die Neuwahlen stärkten nur die Fortschrittspartei, schwächten empfindlich die Alt-Liberalen (Gemäßigten) und zertrümmerten die so lange ihrer Tyrannis frohe Kreuzzeitungs-Rechte. Otto sah wohl ein, daß man jetzt ernstlich ihn als Minister ins Auge fasse, sträubte sich aber dagegen mit Händen und Füßen aus gleichen Gründen, wie damals unter dem verflossenen König. Die Hoffnungen, die er allezeit auf Wilhelm I. setzte, schienen ihm jetzt übereilt. Er glaubte nicht mehr an dessen Festigkeit, wenn die Königin ihren Einfluß ausspielte, täuschte sich auch nicht über die Verschlimmerung der Gegensätze, die ihn ohne Unterstützung oben und unten lassen würde. Nein, er wollte den Botschafterposten in Paris oder London annehmen, wo er wirkliche auswärtige Politik aus freier Hand zu machen hoffte wie in Petersburg. Sein Selbstgefühl wehrte sich gegen die Zumutung wieder im Gasthof vor Anker zu liegen wie ein Stellenjäger, um auf Beute zu lauern, auf eine gute Prise, die er gar nicht haben wollte. Bernstorff würde wohl aufatmen, ihn loszuwerden als beerbenden Nebenbuhler, und ihm das gewünschte Gesandtenamt oder seine Entlassung verschaffen können. Vorsorglich ließ er den größten Teil seiner Möbel nach Schönhausen schaffen, weil er sich entweder sogleich oder nach wenigen Monaten dorthin in stillen Hafen verziehen wollte, denn ließe er sich breitschlagen, in Ermangelung eines anderweitig vergebenen Gesandtenpostens doch noch Minister zu werden, so würde es ja nur kurze Zeit dauern.
Der König war sehr gnädig. »Es tut mir wohl, Sie wieder zu haben.« Er sprach von vielem, nur nichts vom Gesandtschaftsposten. »Übermorgen wird die Statue des Grafen Brandenburg am Leipziger Platz enthüllt, da treffen wir uns wieder.« Das wohlgelungene Bronzestandbild des wackeren alten Kämpen, als die Hülle fiel, bewegte Otto mit alten Erinnerungen. Der Hohenfriedberger Marsch erscholl. O wann wird er endlich wieder vor preußischen Schlachthaufen zum Sturme schmettern! In diesen Augenblick trat Prinz Karl an ihn heran, ergriff seine Hand und rief mit besonderer Betonung: »Guten Morgen, Bismarck!« Sensation. Moritz Blanckenburg flüsterte freudig bewegt dem früheren Minister Rudolf Auerswald zu: »Grüßen Sie den neuen Ministerpräsidenten!« Auerswald, der Otto sehr gewogen war und schon früher seine Ernennung empfahl, seufzte:
»Wenn's nur so weit wäre!« Eine Fanfare der Gardekürassiere und der Zuruf »Es lebe der König!« schienen ein Omen der Beistimmung. –
Doch eine Zwiesprache mit dem König verlief keineswegs befriedigend und etwas stürmisch. »Ich fürchte, Sie sind deutschen Verhältnissen schon ganz entwöhnt«, begann der Monarch zögernd.
»In der Tat sehne ich mich nach dem Newa-Eis. Das beruhigt die Fieberstöße im Blut, denen man sich hier aussetzt.« »Mir scheint doch eine gesundere Anschauung platzzugreifen, besonders bei den deutschen Souveränen, die sich mehr und mehr um ein nationales Banner scharen.«
»Da sind Eure Majestät falsch berichtet. Ich kenne diese Herrschaften zu gut. Sie möchten gern europäische Macht spielen, indem sie unser Bundesverhältnis als Fußschemel ihrer statuarischen Pose benutzen.«
»Aber auf dem Programm Ihrer Parteigenossen steht doch heut Schutz der Kleinstaaten.«
»Nebst Wischwaschi gegen eine deutsche Republik, von der heut kein Mensch mehr etwas wissen will. Lag irgendein Bedürfnis zu solch veraltetem Parteikniff vor? Die Liberalen sind ehrliche, konstitutionelle Monarchisten.«
»Das wird sich bei der Heeresorganisation zeigen, die wir nötig haben wie das tägliche Brot.«
»Unbedingt. Doch außer straffer Zusammenfassung der ganzen deutschen Wehrkraft brauchen wir auch andere gemeinsame Einrichtungen. Warum zum Beispiel keine parlamentarische Volksvertretung am Bundestag oder einem Zollparlament?«
Der König trat einen Schritt zurück. »Das ist ja revolutionär.«
»Warum denn? Hat man nicht in ganz Deutschland die Landtage und Kammern legitimiert? Möchten wir sie in Preußen entbehren? Eine volkstümliche Nationalvertretung könnte recht gemäßigt ausfallen, und die radikalsten Liberalen würden uns Dank wissen. Jede solche Konzession würde uns vor der Nation hochstellen und uns das Heft in die Hand geben.«
»Das hat doch viel Bedenkliches. Wenn solche Volksvertretung zum Beispiel Depossedierung der kleineren Souveräne beschlösse!«
»Das wäre auch kein Unglück. Dieser gottlose rechtlose Souveränitätsschwindel der deutschen Partikularisten mag sie zum Schoßkind überspannter Kreuzzeitungsschwätzer machen. Doktrinäre wie Stahl und Gerlach möchten uns den Schutz jedes ausländischen Legitimismus aufbürden, diese sonderbaren Schwärmer erhitzen sich für alle italienischen Kronvasallen Österreichs und schimpfen das uralte Haus Savoyen illegitim, weil es sich mit der Revolution verbrüdert habe. Solidarität der konservativen Interessen in aller Herren Länder ist ein politischer Wahnwitz, und was unsere deutschen Kleinfürsten betrifft, so erwartet nur ein Narr von ihnen Gegenseitigkeit. Sie sind von Napoleon kreiert, von Metternich sanktioniert, das sagt alles. Der Rheinbund steckt ihnen im Blute, ob nun unter der Trikolore oder dem Doppeladler. Und solche unhistorischen Kronrechte sollen wir sorgsam hüten wie exotische Pflanzen im Treibhaus, beharrlicher als unsere eigenen im Freien blühenden, auf Gottes Erde organisch gewachsenen Blumen!«
Der König hörte schweigend zu. »Aber das ist ja ... fast ungeheuerlich, was Sie da sagen. Der röteste Revolutionär kann es nicht besser. Das sind doch immerhin von Gott eingesetzte, auf altererbtem Recht thronende Fürstenhäuser.«
»Als Glieder des alten Deutschen Reiches, ganz recht, und da taste ich ihr Bestehen nicht an. Doch es ist bare Donquichotterie, wenn Preußen sich von solch untergeordneten Gliedern ausschmarotzen läßt, während es Haupt und Arm Deutschlands sein soll und ist. Was hat Gott der Krone Preußen übertragen? Zuerst den Schutz Preußens gegen Ungebühr, die seine ihm von Gott vorgezeichnete Aufgabe lähmt.«
Diese Worte machten Eindruck auf den König. »Ich gebe zu, daß man sich allseits nicht schön gegen uns benahm. Aber man kann doch deshalb nicht deutsche Fürsten in die Acht erklären, wie alte deutsche Kaiser dies vermochten.«
»Ist auch nicht nötig. Wir können offen erklären, daß wir gewisse Grenzen der Sicherheit aller nicht überschreiten wollen, daß wir aber den Unsinn des sogenannten Deutschen Bundes recht- und gesetzmäßig korrigieren und ihn unserem Ideal anpassen wollen.«
» Ihrem Ideal, meinen Sie. Ich werde selber bestimmen, wie weit wir zu gehen haben. Sie sind im Ausland noch hitziger geworden, nicht als Reaktionär, wie ich von Ihrer Russenbegeisterung fürchtete, sondern in einem anderen Sinne. Nun, wir reden noch darüber.«
Der König sah ihm kopfschüttelnd nach, als Otto hocherhobenen Hauptes nach der zeremoniellen Verbeugung von dannen ging. Ein hochbegabter, charaktervoller Mensch, aber noch so jung! Kaum anders wie als Jüngling. Das könnte ein unbequemer Minister werden, der uns in schwere Gefahren brächte. Er hat gut reden. Wie soll man große Politik machen, wenn man sich nicht auf Kriegsfuß setzen kann! Ehe ich nicht die Heeresreform habe, ist das alles müßige Träumerei. –
Der Prinz von Preußen hatte früher dem Dichter Scherenberg als »bescheidene Gegengabe« sein gedrucktes Memorandum über die Heeresreform geschenkt, von dem jede Zeile wichtiger war als das ganze Waterloo-Epos in Streckversen, das der verflossene Romantiker auf dem Thron am Hofe einer Tafelrunde als Rhetorikübung hochtönend vorlas. Zwischen Größe und Bombast schwankend, hatte der patriotische Dichter, weil er trotzalledem ein wirklicher Dichter war, seine Anstaunung des korsischen Riesen nicht verborgen. Es bezeichnete den allezeit überragenden Hochstand preußischer Bildung, während das übrige Deutschland sich in albernen Schmähungen der Borussen und Wenden erging und seine pseudoästhetischen Neigungen dem angeblichen Junkermilitarismus entgegenzustellen die Dreistigkeit hatte, daß kein Mensch an dieser Verherrlichung Napoleons Anstoß nahm. Der mit jährlichem Ehrensold belohnte Scherenberg (eine gleiche Gabe, mit preußischer knapper Sparsamkeit bemessen, flog dem Lübecker Epigonen Geibel zu, der im Münchener »Krokodil« Einheitsästhetik trieb) ist heut längst verschollen. Auch er gehörte zu jenen, die unsterblich sind, solange sie leben, während die wahren Unsterblichen verkannt und unerkannt durchs Leben zu schreiten pflegen. Aber damals fand ein genialer Mensch, der eine neue Note anschlug, Ferdinand Lasalle, die so bedeutend, daß er in der Spenerschen Zeitung Scherenbergs Epos und Bleibtreus vaterländische Bilder aus den Befreiungskriegen, die gleichfalls dem demokratischen Cäsar huldigten, in einer aufsehenerregenden Rezension zusammenfaßte. Auch der Historiker der Befreiungskriege, Major Beitzke, nahm auf beides Bezug. Dessen schon vor sieben Jahren begonnene und neu fortgeführte Geschichte der Befreiungskriege wandte sich an das edelste aufgeklärte Vaterlandsempfinden, und es war ein Zeichen der Zeit, daß dieser Militär a. D. zur Fortschrittspartei gehörte und von ihr, die ganz Berlin regierte, mit einem Ehrenpokal ausgezeichnet wurde, dessen Überreichung man sehr törichterweise einem Grafen York von Wartenburg übertrug. Der alte, erzfeudale York, lebenslanger Hasser Scharnhorsts und Gneisenaus, an der Tauroggener Konvention höchst unschuldig, die ihm der vielverkannte König befahl, hätte sich im Grabe umgedreht. Doch daß die Radikal-Liberalen alle Helden der Befreiungskriege inbrünstig ins Herz schlossen, hatte eine tiefe Bedeutung. Ob der König und Otto diese Zeichen der Zeit verstanden? Kein Dokument spricht dafür, es bleibt zweifelhaft. So völlig bleibt der Mensch von seinem Milieu abhängig, daß beide sich zwar völlig von der Kreuzzeitungsklique lossagten, aber kaum ahnten, daß ihre wahren Freunde im anderen Lager standen. –
Prinz Hohenlohe-Ingolfingen schüttete Otto sein Herz aus: »Ein Martyrium! Die Flut der Parlamentswirtschaft steigt, meine Kollegen sind machtlos, Seine Majestät schwankend. Die neue Fortschrittspartei ist gefährlicher als alle 48er. Man will mit Gewalt die Heeresreform scheitern machen, patriotische Phrasen verhüllen kaum die böse Absicht. Durch Gerede über Zurücksetzung der Landwehr wiegeln sie das Land wider uns auf. Erlösen Sie mich von dieser Bürde, ich beschwöre Sie. Ich bin alt und gebrechlich. Sie sind noch so jung und stark. Sie werden's besser tragen.«
»Meine Gesundheit war sehr erschüttert«, sagte Otto düster. »Heut bin ich zwar wieder auf dem Posten, doch mein Sinn steht nach Ruhe.«
»Dem Befehl Seiner Majestät werden Sie sich doch nicht entziehen?«
»Das nicht. Aber ich müßte Garantien haben. Nie und nimmer übernehme ich das Innere allein. Und Bernstorff will nicht gehen. Auch hat v. d. Heydt selber den Ehrgeiz, Ministerpräsident zu werden.«
»Als Finanzminister? Das geht doch nicht.«
»Bei uns geht alles. Freuen sich Durchlaucht nicht zu früh! Ich hoffe immer noch, nach Paris zu kommen.« –
Er fuhr nach Sanssouci hinaus, das er seit vielen Jahren nicht wiedersah, um der verwitweten Königin sein Beileid auszudrücken. Sie hatte alles vergeben und vergessen und tauschte wehmütige Erinnerungen mit ihm aus. In den vollbelaubten schattigen Eichen und breitgewölbten Kastanien rauschte es wie ein Klagelied der Vergangenheit. Die schöne und edle Frau in ihrer Trauertracht saß wie eine Niobe über den Leichen ihrer Hoffnungen. Doch wandelte hier nicht der Geist des Alten Fritz durch seine Gemächer? Gibt es nicht Menschen und Dinge, die niemals sterben? Noch ist Preußen keine Leiche, sondern ein schlafender Recke wie der alte Herr im Kyffhäuser. Die Raben kreischen lauter und lauter, und Wodans Raben tuscheln ihm ins Ohr: Wecke den Schlafenden, du Gott der Deutschen, und gib ihm sein Schwert in die Hand! –
Auf einer Parade begrüßte ihn der König vom Sattel aus: »Guten Tag, Herr Major!« Die militärische Rangerhöhung freute ihn, die neue weiße Uniform seines Halberstädter Kürassierregiments stand ihm gut. Mit 46 Jahren haben wir's also zum Major und zur Exzellenz gebracht, nach preußischen Begriffen früh genug. Es sind mir noch nicht mal die Zähne ausgefallen, bloß die Haare. In meinem Alter haben viele große Dichter und Künstler längst ihr Werk vollbracht, und trat Napoleon von der Bühne ab. Der große König begann den Siebenjährigen Krieg, Cromwell schwang sich zwar erst als Vierziger in den Sattel, aber dann gings auch schnell. Und was kann ich vom weiteren Leben erwarten? Als wohlbestallter Gesandter a. D. mich zur Ruhe zu setzen, auch ein Ministerium von höchstens halbjähriger Dauer wird eine unangenehme Erinnerung sein. So halte ich's nicht länger aus, ich explodiere. – Er lief Sturm bei Bernstorff: Entlassung oder ein Amt! Er hatte es binnen drei Stunden, und packte seine Koffer nach Paris. Nanne sollte nachkommen, sobald er dort Quartier geschafft. Der König hatte sich's also doch anders überlegt. Er wollte mit dieser Mischung von angeblichem Reaktionär und entschiedenem Revolutionär nichts zu tun haben vorderhand.
*
Nun saß er also wieder glücklich in Paris, von wo sein Vorgänger Pourtalès schon verschwand, hatte aber keine Sicherheit, ob er bleiben oder nicht nach London übertragen werden würde. Auch die Möglichkeit der Ministerschaft stand immer noch als Schreckbild im Hintergrund. Das Gesandtschaftspalais roch kloakig und hatte zwar schöne, aber düstere Räume. Den Koch mußte er wegen Veruntreuung entlassen und auswärts essen. Jenseits blinkte die Seine, Hummeln brummten über Rosen hin, Spatzen hüpften auf dem Rasen und sagten sich Injurien wie echte Franzosen, ein lauer Wind strich von den Tuilerien her, wo der Schiedsrichter Europas allerlei Ränke spann. Welche? Nitschewo!
Napoleon nahm seine Beglaubigung freundlich entgegen. Nach feierlicher Auffahrt in Hofequipage und zeremoniellem Aufmarsch von Hofbeamten des »Kaiserlichen Hauses« verlief die Audienz sehr kurz. »Auf Wiedersehen, mein lieber Herr Gesandter! Die leidige Politik auf ein andermal in diesen Tagen!«
In der folgenden Privataudienz berührte man allerlei schwebende Fragen, die immerfort schwebende blieben. In Holstein spukte es schon wieder, die Dänen wurden täglich übermütiger im Umgehen oder Brechen der eingegangenen Verpflichtung. »Ich würdige die Mißbilligung in Deutschland. An mir werden Sie stets einen freundlichen Vermittler finden, Frankreich ist der natürliche Protektor aller Rechte und Freiheiten der Schwächeren.«
Vermittler der Schweiz und Protektor des Rheinbunds! summte der alte Napoleonstitel ihm durch den Kopf, laut aber versetzte der Preuße: »Wie Eure Majestät es in Italien bewiesen.«
»Es erhob mein Gemüt, daß Ihr Minister Schleinitz in einer Note die Gründung des Königreichs Italien willkommen hieß und mit der Genugtuung nicht zurückhielt, ein freies, starkes Italien werde Europa wohlgefällig sein.« Napoleon lächelte gutmütig und strich seinen langen Knebelbart. Ein Kater schnurrt ja auch so gemütlich und samtpfotig, nur muß man keine Maus oder kein Vöglein in seine Nähe bringen, dann merkt man seine Krallen. »Auch für Deutschland bricht vielleicht eine schöne Zeit an, wo manche Ideale sich verwirklichen.«
»Doch wohl in anderem Sinne, Sire. Die Umstände sind zu verschieden. Uns taugen weder Garibaldi und Mazzini, noch ein Cavour.«
»Ein Cavour wäre doch wohl möglich?« Doch Otto machte den Dummen und konnte durchaus nicht einsehen, daß für Preußen eine ähnliche Politik möglich sei wie für Piemont. Letzteres verdanke ja sein Aufsteigen auch nur der Großmut und Macht des Kaisers der Franzosen. Einen so uneigennützigen Menschenfreund werde aber Preußen nie gewinnen. Sein Ton fiel ins Elegische. Napoleon schmunzelte.
»Wer weiß! Es kann noch manche Überraschung kommen. Jede bestehende Dynastie in Deutschland ist mir sympathisch, aber vor allem Preußen, dem ich meinen Beifall nicht versagen werde. Sowohl mein Vertrauen als das Ihrer Parteien im Inneren wird sich heben, wenn Ihr Souverän, mein Herr Bruder und Freund, sich der deutschen Frage annimmt.« Lauter dunkle, aber schöne Redensarten. »Jedenfalls ist mir angenehm, Sie hier zu wissen. Ich fasse Ihre Ernennung als ein Entgegenkommen Ihres illustren Souveräns und als ein Wahrzeichen auf, daß die Freundschaft unserer Regierungen nie mehr getrübt werden wird. Mir blieb natürlich nicht unbekannt, daß Sie in Ihrem Vaterland bei Übelgesinnten als Parteigänger Frankreichs gelten. Mein Botschafter in Petersburg meldete mir auch Schönes. Seien Sie versichert, daß wir Ihnen Ihren Aufenthalt soviel wie möglich versüßen werden. Frankreich kennt seine Freunde und ist ihnen erkenntlich.«
»Ihre Gnade, Sire, überhäuft mich mit Güte. Was an mir ist, geschieht gewiß, unsere Verbindungen so eng wie möglich zu gestalten.«
»Sehr hübsch. Nur sagt man mir, Sie würden vielleicht bald anderen Bestimmungen folgen?« Er schoß wieder einen seiner lauernden Blicke ab, die so plötzlich die katzenhafte Sanftmut seiner verschleierten Augen änderten. »Das könnte freilich unseren politischen Beziehungen nur vorteilhaft sein.«
»Das ist sehr unsicher, Sire. Mein Wunsch steht nicht dahin.«
Napoleon lächelte gutmütig. Daß der Mann mir mit solchen Scherzen kommt! Noch kein Ministerkandidat sprach anders. Als ob es Menschen gebe, die nicht Ministerpräsident werden wollen! »Stellen Sie sich auch der Kaiserin vor! Sie ist Ihnen gewogen.« Louis sah wohlgenährt und behäbig aus. Die Karikaturen im Kladderadatsch, wo er nur immer »Er« hieß, stellten ihn fälschlich als dicken Alten dar. –
Die Kaiserin, etwas stärker geworden, blendete noch mehr als früher durch ihre gebietende Schönheit. Er hatte in ihr die reizendste Tischnachbarin, die ihn klug und heiter unterhielt über Oper, Theater, die Damen von Petersburg, nach denen sie ihn ausfragte, und andere schöne Dinge. »Wieviel Visiten machten Sie schon?«
»Gestern nur achtundsechzig, Majestät.«
Sie lachte. »Solch ein armer Gesandter führt doch ein geplagtes Leben! Erst muß er amtlich seine Vollmacht präsentieren und nachher sich selber sämtlichen Bekannten, was bei einem Diplomaten die halbe Welt bedeutet. Viele Russen hier, nicht? Daß diese armen Leute nicht erfrieren! Wir Südländer haben es besser bei unserem milden Klima.«
»Sehr milde«, bekräftige Otto trocken. »Ich bewundere die Abhärtung der Pariser.«
Es regnete nämlich auf Tod und Leben, Tag und Nacht, dazu abscheulicher Wind, und das im Juni! Dabei ließ man Türen und Fenster offen, heizte nicht mal die räucherigen Kamine, und hielt pour l'honneur de la France an der Behauptung fest, daß Paris ungefähr auf gleichem Breitegrad mit Neapel liege. Ein konsequentes Völkchen! Ihre Eitelkeit erstreckt sich sogar noch auf das Klima.
»Ach, der gesunde Regen! Das macht uns nichts. Den schickt der gute Gott extra für unser schönes Frankreich, besonders die Touraine. Ich höre, Sie waren krank. Ach, da werden wir Sie schon pflegen mit der französischen Küche. Wie Sie wissen, ißt man nirgends so gut wie in Paris.« Auch diese fixe Idee läßt sich den Parisern nicht austreiben. Und dabei fühlte Otto schon Magenbeschwerden von dem vielen Fett und Gewürz der Ragouts.
»Noch immer keine Zitation aus Berlin, mein werter Herr Gesandter?« fragte der Kaiser über den Tisch. »Wenn Ihre Feinde nun den Sieg davontragen?«
»Das wünsche ich ihnen von Herzen. Unsere Wilhelmstraße, die Ihrem Quai d'Orsay entspricht, flößt mir keine Sehnsucht ein.«
»Ach, wirklich? Und dann werden wir Sie hier behalten? Um so besser! Ja, ich vernahm mit Bedauern, daß Sie kränkeln, und da werden Sie wohl vorziehen, einer so schweren Verantwortlichkeit aus dem Wege zu gehen.«
»O nein, Sire. Wenn es sein müßte, so würde ich meinen König und Herrn nicht im Stiche lassen. Das wäre weder Treue noch Mut.«
»Ah bravo!« Der Kaiser erhob seinen Champagnerkelch. »Diese wackere deutsche Nation war immer berühmt wegen ihrer Treue. Wohl dem Souverän, der solche Diener hat, die immer bereitstehen, sich seinem Willen hinzugeben!«
Dieser Stich ging natürlich auf unterschiedliche Würdenträger an der kaiserlichen Tafel. Der österreichische Gesandte horchte angestrengt hinüber. Otto war sicher, daß jeder Anwesende seine ablehnende Haltung als die bekannte Zierereiposse auffassen und der Österreicher spornstreichs nach Wien berichten werde, der böse Bismarck wolle mit aller Gewalt Ministerpräsident sein. Der jetzige Leiter der österreichischen Politik wäre sonst imstande gewesen, aus purer Privatbosheit seine Festlegung in Berlin zu befürworten. Dies war nämlich kein anderer als Graf Rechberg, sein alter Kollege, dem er so viele schlaflose Nächte verdankte, und den seine Galle in dauernder Erinnerung hielt. Bei den geheimen Verbindungen Österreichs am Berliner Hofe tat Rechberg natürlich alles, um ein Ministerium Bismarck zu hintertreiben. –
Der sächsische Gesandte lud ihn zu einem zwanglosen Herrendiner in der »Kleinen roten Mühle« ein, zu Ehren des sächsischen Premierministers Beust. Otto kannte diesen gefährlichen Intriganten schon von Begegnungen in Frankfurt her und beschloß, ihn möglichst hinters Licht zu führen. Sie hatten eine längere Unterredung und gingen als ziemlich gute Freunde auseinander. »Natürlich bin ich um Preußens Würde besorgt. Aber die Absichten, die man mir gegen Österreich unterschiebt, waren nie vorhanden. Wir möchten so gern mit dem Kaiserstaat in Frieden leben! Überhaupt tut uns allen der Frieden not. Jeder Krieg entfesselt nur umstürzlerische Elemente, Sie sehen es an Italien. Diese niederzuhalten wird meine vornehmste Sorge sein.«
»Das ist es, was ich begrüße. Alle deutschen Dynastien haben nur den einen gleichen Feind, die Demokratie. Mit dem Ausland werden wir uns schon vertragen. Freilich, Ihre Hinneigung zu Rußland –«
»Kann sehr wohl mit bundesfreundlicher Gesinnung für Österreich Hand in Hand gehen. Wenn man uns nur etwas freien Atem schöpfen läßt! Was ich vor allem wünsche, ist festere Konsolidierung des Zollverbandes wenigstens in Norddeutschland. Ich denke, mit der Quote des Nettogewinns könnten Sie zufrieden sein.«
»In der Tat. Ich glaube, sagen zu dürfen, Sachsen wird Ihren Wünschen in dieser Hinsicht Rechnung tragen. Überhaupt würden wohl alle deutschen Regierungen gern Anschluß an Preußen suchen, wenn nur nicht dabei die Verbindung mit Österreich gelockert wird.« Wasch mir den Pelz und mach' mich nicht naß! Otto zeigte sich hochbefriedigt, und Beust beteuerte nachher dem österreichischen Gesandten, der Teufel sei nie so schlimm, wie man ihn an die Wand male. –
Roon hielt ihn auf dem Laufenden. Bernstorff wollte noch immer nicht gehen, dabei wanderte Schleinitz noch im Ministerium als einflußreicher Schatten umher und schien nicht übel Lust zu haben, selbst das Präsidium zu übernehmen. Hohenlohe ging auf Urlaub und würde wohl nicht wiederkommen. Bernstorff aber stand mit einem Fuß in Berlin, mit dem anderen in London, wohin er sich zurücksehnte. Alle Patrioten wünschten Ottos Rückkehr. Doch dieser wußte wohl, daß Roon damit nur das Häuflein der Konservativen in der Kammer meinte, nur fünfzehn Stück, dazu die Offiziere und Landjunker, denen jede politische Bedeutung fehlte. Er schrieb an Roon, er denke nicht an Zaudern und Manöverieren, aber man nehme in Berlin die Scheingefechte mit Platzpatronen zu ernst. Vor seinen drei Attachés, Prinz Reuß, Hatzfeld dem Jüngeren und Nostiz, führte er das Gleichnis noch weiter aus als im Brief an Roon: »Diese Parlamentsschwätzer glauben gottweißwas ersiegt haben, wenn sie der Regierung eine Grobheit sagten. Und dabei fochten sie gegen einen markierten Feind, der nirgendwo steht und nicht zurückschießen kann. Denn die Regierung als bloßer Begriff ist eine harmlose Vogelscheuche, die aber verteufelt lebendig wird, wenn das Abstraktum die konkrete Gestalt der bewaffneten Regierungsgewalt annimmt. Nun könnten die naiven Scheinfechter sich einfallen lassen, als Marodeure auf dem Rechtsboden des Staates zu plündern. Dann würde der markierte Feind plötzlich ins Leben treten und scharf schießen. Jede revolutionäre Bewegung, die mit Papierkugeln um sich wirft, hat nicht die geringste Aussicht. Die Fortschrittspartei hat die Verfassung, und der König hat die Kanonen.«
»Wenn sie aber alle Regierungsvorlagen ablehnen und das Budget verweigern?«
»Dann ignoriert man sie einfach. Ihre legale Gewalt ist Null, und selbst wenn sie recht hätten, Macht geht vor Recht.« –
Auf einmal tauchte wieder der unvermeidliche Harry Arnim auf, den, wie einst in Frankfurt, zufällig sein Urlaub zu seinem Jugendfreunde führte, dessen Einfluß man sich warmhalten mußte. Der kundige Ödipus wollte durchaus das Rätsel lösen: wird er's oder wird er's nicht? fand aber die Sphinx undurchdringlich, weil er natürlich Ottos gelassener Wahrheitsliebe nicht traute. Als der Graf von einer Reise noch London schwärmte, stimmte der Gesandte bei: »Warum nicht? Irgendwelche Geschäfte gibt es hier nicht, da könnte ich mir wohl England noch einmal ansehen. Denn wenn ich Pech habe und Minister werde, sitze ich nächstes Jahr für immer in Schönhausen als Pensionierter, und dann kann ich keine kostspieligen Reisen mehr machen als Sparer für die Familie. Topp! Ich fahre mit.«
Dahinter steckt wieder eine verteufelte Schläue! grübelte Graf Harry. Wahrscheinlich eine Erpressung auf den Londoner Posten, oder er will sich rar machen und tut so, als ob er nicht fieberhaft täglich auf Telegramme aus Berlin warte! –
Vor seiner Abfahrt genoß Otto jedoch noch eine eigentümliche Enthüllung. Zur Hirschjagd nach Fontainebleau eingeladen, erhielt er vom Kaiser die Aufforderung: »Kommen Sie, mein Herr Gesandter, und machen wir eine Waldpromenade! Ich werde Sie führen.« Auf verstohlenem Waldweg (Blätter haben keine Ohren) blieb Louis nach längerem Hin- und Hertasten plötzlich stehen und sah den Preußen scharf an. »Glauben Sie, Ihr König wird jetzt eine Allianz mit mir schließen?«
Mit Geistesgegenwart erwiderte er, ohne eine Miene zu verziehen: »Sire, mein Herr hat wahre Freundschaft für Eure Majestät, und die Vorurteile gegen französische Einmischung schwanden. Aber was ist eine Allianz? Die Konsequenz eines Bedürfnisses. Ich sage nichts gegen die Möglichkeit, doch wo läge der bestimmte Zweck?«
»Aber nein! Sie gehen von irriger Prämisse aus. Steht man nicht zu einer Macht freundlich und zur anderen ... weniger freundlich? Die Zukunft bleibt immer ungewiß, und da sieht man sich um, wen man am liebsten vertraut. Abenteuerliche weitausschweifende Projekte überlasse ich anderen, für mich ist das nichts.« Das sagte der Mann, der sich Staatsstreich, Krimkrieg, Solferino geleistet hatte. »Preußen und Frankreich haben gleichlaufende Interessen, das genügt für eine Entente cordiale. Verstehen Sie? Es handelt sich nur um eine diplomatische Allianz, innerhalb welcher man sich sozusagen aneinander gewöhnt und aufeinander rechnet, sollten besondere Schwierigkeiten die Interessengemeinschaft verschärfen.«
»Aber wenn nun der eine Teil etwa gewaltsam diese Verschärfung herbeiführt und den anderen darin verkettet?«
Mit Nachdruck stieß der Kaiser seinen Spazierstock auf den Waldboden. »Ereignisse schaffen wollen, ist immer ein Fehler, in den kein philosophischer Kopf verfallen wird. Ihnen brauche ich das nicht zu sagen. Wer kann die Richtung einer Weltbewegung vorausberechnen, und gar ihre Stärke! Aber man kann sich vorsehen, sich rüsten, ihr zu begegnen und sie zu benutzen.«
»Das ist unleugbar wahr. Doch seien wir lieber offen, Sire: unsere Gemeinsamkeit würde einen sehr bestimmten Zweck verfolgen, gegen Österreich.«
Napoleon, der wieder einige Schritte vorausging, blieb nochmals stehen und legte ihm die Hand auf den Arm.
»Kennen Sie Fürst Metternich?«
»Den hiesigen Botschafter? Aber gewiß, ihn und seine interessante Frau Gemahlin. Wir unterhalten gesellschaftlich guten Verkehr, da sein in Gott ruhender Vater, der berühmte Metternich, mich mit seinem Vertrauen beehrte.«
»Sie kannten den Papa Metternich? Wie interessant! Ich gäbe etwas darum, wenn ich dies ehrwürdige Überbleibsel je besichtigt hätte. Kam Ihnen das nicht vor wie ein fossiles Skelett aus der Saurierzeit? Indessen ist hier nicht die Rede von jener alten Zelebrität, noch von der neuen unserer originellen Fürstin Pauline, sondern von dem jetzigen Träger des Namens, den mir Österreich als Vertreter schickte. Um es kurz und deutlich zu sagen: man hat mir vor einigen Tagen die seltsamsten Anerbietungen gemacht. Ihre Ernennung hierher und die Ankunft des Herrn v. Budberg russischerseits scheinen eine Panik in Wien verursacht zu haben. Graf Rechberg träumt von einer französisch-russisch-preußischen Verschwörung zur Vernichtung Österreichs. Fürst Metternich hat weitgehendste Instruktion mit unbegrenzter Vollmacht erhalten, man wolle sich mit mir verständigen um jeden, ja, um jeden Preis.«
Otto blieb ruhig. »Und was antworteten Sie, Sire?«
»Ich war wirklich in Verlegenheit, wie ich höflich bekunden sollte, daß unsere Interessen ganz unverträglich seien. Natürlich lehnte ich ab. Sie werden mein Vertrauen nicht mißbrauchen.«
Der Preuße verneigte sich. »Wir sind Eurer Majestät zu Dank verbunden. Übrigens ist mir nicht neu, daß Österreich zu jedem Opfer bereit ist, wenn es nur uns einen Possen spielen kann.«
»O, ich werde mich wohl hüten, mich mit solchen Leuten einzulassen. Wissen Sie,« das Gesicht des Kaisers nahm einen düsteren, mystischen Zug an, der seinem Inneren nicht fremd war, »lächeln Sie nicht über meinen Aberglauben, aber dies Österreich bringt Frankreich immer Unglück. Anna von Österreich, Marie Antoniette, Marie-Luise, alle drei Töchter der Cäsaren, brachten uns Umwälzung und Unheil. Ich habe die dunkle Ahnung, daß Frankreich allemal Verderben droht, wenn es sich mit Österreich verbindet.« –
Man bot ihm womöglich Venetien und das linke Rheinufer, dachte Otto grimmig. Er mag übertreiben, doch fähig sind sie zu allem. Er schlägt das aus, weil er als kluger Lotse berechnet, daß der Wind konträr für Österreich weht, weil es unmöglich den zeitgemäßen Kurs der Nationalitätenfrage innehalten kann.
Die wahrscheinlich absichtliche Unvorsichtigkeit Napoleons verwertete er zu einem Schriftstück an den König. Hier sei der Beweis, daß wir nie auf Bundestreue Österreichs und nie auf Einwilligung zu unseren deutschen Plänen rechnen dürften. Dies machte auf die Rechtlichkeit und deutsche Gesinnung des treuen ritterlichen Königs gewiß einen Eindruck.