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Es war am 7. Mai nachmittags 5 Uhr, als Otto vom Vortrage beim König zu Fuß auf der Mittelallee durch die Linden heimkehrte, als gegenüber der russischen Gesandtschaft plötzlich drei Schüsse fielen. Ein junger, schmächtiger Mensch hatte sie auf den Ministerpräsidenten abgegeben. Die letzte Kugel streifte ihn an der Rippe, vorübergehend das Rückgrat erschütternd. Rasch packte Ottos eiserne Faust den Missetäter an Handgelenk und Kehle. Dieser warf jedoch den Revolver in die Linke und feuerte aus nächster Nähe. Soeben kam eine Kompagnie vom 1. Garderegiment die Straße herunter und bemächtigte sich des Festgenommenen. »Sind Exzellenz verletzt?« »Keine Spur. Nur der Rock ist verbrannt.« Otto schritt gleichmütig mit gemessenem Schritt die Wilhelmstraße hinauf und trat sehr gelassen in die bei ihm versammelte Tafelrunde ein. Diese sollte um 5 Uhr das Diner beginnen, und Johanna wunderte sich erst, ängstigte sich dann, als eine halbe Stunde darüber verging. Doch man redete ihr zu: »Es kam schon öfters vor, daß er länger beim König blieb.« Da erschien er auch schon und grüßte besonders freundlich: »Welch liebe Gesellschaft! Entschuldigen Sie mich einen Augenblick!« Er ging in sein Arbeitszimmer und teilte schriftlich dem König mit, was geschehen. Dann kam er zurück und spaßte vorwurfsvoll: »Essen wir denn heute gar nicht?« Indem er einer Dame den Arm bot und zu Tische ging, streifte er die Gattin, küßte sie auf die Stirn und murmelte: »Mein Kind, sie haben auf mich geschossen, doch es ist nichts.« Man hörte es doch, nachdem man zuvor weder Unruhe noch Aufregung bei ihm wahrnahm, alles drängte sich mit erschreckten Gesichtern um ihn. Er setzte sich jedoch lachend zu Tisch und ließ sich die Suppe munden. »Was ist da zu verwundern! Wer als öffentliche Zielscheibe dasteht, wird eben beschossen.« Johanna hatte sofort nach dem Arzt geschickt, und dieser untersuchte den Tatbefund. »Wie ist nur möglich, daß drei Kugeln aus solcher Nähe fehlgingen und die eine, die traf, so unschädlich abplattete!« rief einer der Gäste. Der Arzt erwiderte ernst: »Gott hatte seine Hand dazwischen, sonst war es unmöglich.«

Kaum sagte er's, als ein Diener hereinstürzte: »Seine Majestät der König.«

Der greise Monarch hatte sein eigenes Essen verlassen, ließ anspannen und fuhr beim Ministerpalais vor. Otto ging ihm bis zur Treppe entgegen und empfing einen herzlichen Händedruck. Der König war tiefbewegt. »Mein lieber Bismarck,« seine Stimme bebte, »ich danke Gott aus tiefster Seele für die Gnade, daß Sie mir erhalten blieben. Welch ein Verlust für das Vaterland, wenn Sie uns genommen wären! Jetzt erst fühlt man so recht, wie unersetzlich Sie sind!« Otto küßte ihm die Hand. Bald darauf erschienen die Prinzen, ihr Beileid und ihren Glückwunsch zur Errettung auszusprechen. Sie leerten ein Glas auf sein Wohl. Die Zahl der Besucher nahm bis zur Nacht kein Ende, die ihre Namen in die ausgelegte Liste eintrugen. Den Reigen eröffnete übrigens Wrangel, der sich mit dem Ministerpräsidenten seit lange auf besten Fuß stellte, küßte ihn auf beide Wangen und rief pathetisch: »Mein Sohn, ick preise den lieben Gott. Du bist unsere olle Jarde, die niemals stirbt.« Es sprach sich bald herum, daß der Attentäter, Ferdinand Cohen, ein Stiefsohn des badischen Demokratenführers Karl Blind sei, der als Verbannter in London seinen Sprachstudien lebte. Das Wahnsinnlallen württembergischer Demagogen, bei denen Preußenhaß und Freiheitswut zu einem dampfenden Brei unkenntlich zusammenflossen, hatte ihm den schwachen Kopf erhitzt. Auch dürfte seine jüdische Eitelkeit einen Herostratenruhm gesucht haben. Er entzog sich dem Gericht durch Öffnen der Pulsader.

»Wär' ich im Himmel und der Schurke stände auf der Leiter zwischen Himmel und Hölle,« rief Johanna mit erhobener Stimme, »ich würde die Leiter umwerfen, daß er in die Hölle purzelte, wo er hingehört!« Aber als dies drastische Gleichnis ein beifälliges Murmeln hervorrief, klopfte sie Otto von hinten auf die Schulter und flüsterte sanft: »Pst, mein Herz! Mit solcher Gesinnung wärst du selbst nicht im Himmel!«

Als die Gäste gingen und kein konservativer Bezirksverein mehr die stille Wilhelmstraße mit Ovationen füllte, fiel Johanna ihrem Ottochen weinend um den Hals. »O der schändliche Mordbube! Solche Teufel in Menschengestalt sollte man umbringen wie wilde Tiere.«

Doch er schüttelte den Kopf. »Vielleicht ein armer junger Mensch von reinen Sitten, wie einst der Student Sand, der jenen Ekel Kotzebue abwürgte. Kotzebue und ich sind ein edles Paar, die Dioskuren der Verworfenheit, die Verräter und Vergifter Deutschlands!« Eine unsägliche Bitterkeit übermannte ihn. Ja, 15 Arbeitsjahre Tag und Nacht in Deutschlands Dienst und dies der Lohn! Und noch grausamer schnitt ihm der verblendete Haß ins Herz, als die nächsten Tage einen Taumel schandbarer Verherrlichung des dummen Bengels sehen ließen. Mit dessen Leichnam einen ehrlosen Kultus treibend, kränzten ihn mit Blumen und Lorbeer allen voran die Damen der Professorenwelt. Die Polizei schritt gegen vielfachen Unfug nicht ein, denn die Schutzleute wußten ja, daß viele vornehme Kreise damit sympathisierten. Ein Straßenjunge sang vor Ottos Balkon bedeutungsvoll das alte, schöne Bänkelsängerlied:

War wohl je ein Mensch so frech,
Wie der Bürgermeister Zech!
Dieser schoß die Landesmutter
Durch das werte Unterfutter.

Und ein Chorus, der vorüberpilgerte, wiederholte fortwährend: »Schade, schade!« Doch der stolze Mann fand sich wieder in gewaltiger Fassung. »Dein Haß, mein Lieb, ist kleinlich wie der meiner Feinde. Nichts soll uns hier erschüttern als die ewige Gerechtigkeit des ewigen Gottes. Er, der Allwissende, weiß, daß ich solchen Tod nicht verdiene, gerade jetzt, wo ich mein Werk tun soll, und siehe da, seine allmächtige Hand lenkt unsichtbar die Todeskugel beiseite. Nun bin ich doppelt erhoben und gestählt. Die Toren, denen das All nur bewegte Materie ist, mögen es Zufall nennen. Ich aber, der weiß, daß Gott lebt, beuge mich ehrfürchtig vor diesem Zeichen, daß ich in der Gnade bin und daß ich tun soll, was ich muß, zur Ehre deutscher Nation.«

*

Am 24. Mai fand sich abends bei ihm der neuernannte Stabschef der II. Armee ein, General v. Blumenthal, ein kleiner, schmächtiger Herr, der allen Kommißidealen äußerer »Turnüre« hohnsprach. Auch diesen entdeckte einzig und allein der große Herrscherverstand König Wilhelms, der ihn schon als Prinz von Preußen an sich fesselte.

»Seine Majestät sagte huldvoll in der Kabinettsorder: ›Ich erweise Ihnen durch Verleihung dieser Stellung ein großes Vertrauen und hoffe, daß Sie demselben entsprechen werden.‹ Nun, ich hoffe es. Der frische Sinn des Kronprinzen liegt mir besser als der Ernst des Prinzen Friedrich Karl.«

»Der Krieg ist aber doch etwas sehr Ernstes.«

»Leichtes Blut gehört dazu, sonst hat man zu viel Bedenklichkeiten. Ich meldete mich vorvorgestern bei Seiner Majestät. Der König sprach sich bitter über die Kleinstaaten aus, deren Neutralität ja über Krieg und Frieden entscheide. Er baut auf besondere Wirkung der II. Armee in Schlesien und geruhte zu betonen, er habe mich ausgesucht, um seinen Sohn zu leiten. Wozu der Mensch nicht kommt! Ich hielt mich nie für einen Feldherrn. Daß der König mich dafür hält, begreife ich nicht.«

»Sie werden gewiß das allerhöchste Vertrauen rechtfertigen.« Otto erkannte sogleich, daß der kleine Herr ziemlich eitel und selbstbewußt von ganz hervorragender Tüchtigkeit sei. »Setzten Sie sich mit Moltke in Verbindung?«

»Wir sind ganz d'accord, nur scheint mir Herr v. Moltke seine Neigung für exzentrische Unternehmungen zu übertreiben. Er will auch aus Oberschlesien eine Diversion machen, während ich selbst Breslau preisgeben würde, um nur zur Entscheidungsschlacht alle Kraft zu vereinen.«

»Und wie stehen Sie, unter uns gesagt, mit Ihrem neuen Chef? Ich weiß, Sie werden ehrlich antworten, meiner Diskretion gewiß.«

»Seine Königl. Hoheit empfing mich mit seiner immergleichen Freundlichkeit, gestand mir aber offen, er habe Goeben gewünscht, Seine Majestät jedoch mir den Vorzug gegeben.« Einen schlagenderen Beweis für den geradezu genialen Instinkt des in seiner Weise großen Herrschers kann man sich nicht denken. Übrigens wollte er auch dem kränklichen Brillenträger Goeben sehr wohl, der gleiche, stramme Soldat, dem eine lächerliche Verkennungslegende den Kommißbegriff eines Unteroffiziers zusprach. An alledem ist kein wahres Wort, nur die maßlose Bescheidenheit des Königs verwischte, daß er eine sehr scharfe Einsicht in die höchsten Gebiete der Strategie besah. »Ich kann nicht sagen, wie wohltuend das offene, fröhliche Wesen des hohen Herrn auf mich wirkt.«

»Er möchte aber den Krieg vermeiden.«

»Mag sein, doch jetzt, wo es ernst wird, erwacht in ihm der kampffreudige Hohenzoller.« Blumenthal lächelte. »Eure Exzellenz sind eigentlich der erste, der ins Feuer ging. Ich gratuliere zu Ihrer wunderbaren Errettung.«

»Ich habe eben starke Rippen, auf denen die Kugel federte und nicht durchging,« brach Otto gleichgültig ab. »Übermorgen ist Kriegsrat im Schlosse.« –

Dabei ging es nicht ganz einhellig her. Der König beschwichtigte: »Vielleicht erhalten wir noch den Frieden. Ihren Angriff würden die Österreicher wohl längs der Elbe auf Berlin richten. Deshalb wird der Kronprinz mit dem Hauptquartier noch nicht nach Schlesien abgehen. Man kann nie wissen.«

Sofort erhob sich als Sprachrohr Friedrich Karls sein Stabschef Voigts-Rhetz, ein ziemlich häßlicher, fettleibiger Herr von hoher Geistesstärke und kreuzbraver Gesinnung: »Ich möchte mir erlauben, die übergroße Ausdehnung des ersten Aufmarsches von Zeitz bis Neiße bedenklich zu finden, das sind 60 Meilen, selbst für 280 000 Mann, die wir dort wohl aufbringen, gar zu viel.«

»Das geschieht wegen Abhängigkeit vom Bahntransport«, fiel Moltke lebhaft ein. »Es ist dies ein neues, hochwichtiges Element der Kriegführung. Im amerikanischen Bürgerkrieg kam es zuerst zur Geltung, man konnte viel davon lernen. Nur Ausnutzung sämtlicher Bahnlinien auf weitem Radius bringt größtmögliche Schnelligkeit der Mobilisierung. Später kann man sich ja immer konzentrieren.«

»Das wird schwer halten,« verneinte Voigts-Rhetz. »Solange die Heere in ihrer Trennung zwischen Schlesien und Lausitz beharren, hat der Feind den Vorteil der inneren Linie.«

»Der durch unsere überlegene Bewaffnung ausgeglichen wird,« versicherte Moltke. »Jedes unserer Einzelheere hat Kraft genug, den Feind so lange aufzuhalten, bis das andere eingreift.«

Eine erregte Erörterung fand statt. Der schweigende Blumenthal empfand, daß allgemein gegenteilige Ansicht bestand. »Die Hauptmasse hätte bei Görlitz aufgestellt sein müssen, da dorthin die feindliche Offensive einsetzen wird,« murrte Friedrich Karl.

»Wenn wir ihr nicht zuvorkommen.«

»Gestatten Sie mir, mich an der militärischen Diskussion als Laie zu beteiligen!« Otto las einen Rapport aus Oberschlesien vor. »Er scheint zuverlässig. Danach sammelt sich der Feind an der oberschlesischen Grenze, will durch die Pässe bei Waldenburg und Landshut eindringen, Eroberung Schlesiens brächte großen moralischen Erfolg. Mich däucht, wir könnten das vorerst nicht hindern, die II. Arme müßte nach Norden ausweichen und erst nach Ankunft der I. Armee – Linksabmarsch – die Schlacht liefern.«

»Uns fehlt ja auch noch das Ostpreußische Korps«, bemerkte der Kronprinz.

»Unter solchen Umständen wäre wohl längeres Zuwarten empfehlenswert. Noch besteht Möglichkeit einer Verständigung, wahrscheinlich ist es freilich nicht.« (Und nicht erwünscht, ergänzte er in Gedanken, doch das darf ich nicht äußern.) »Die Kleinstaaten bleiben wohl vorläufig neutral, vor Frankreich haben wir Sicherheit. Allerdings schreibt mir unser Gesandter Usedom aus Florenz – Major v. d. Burg überbrachte das Schreiben, den wir in militärischer Mission dorthin schickten –, Napoleon träume von Kompensationen. Doch das ist Chimäre, Zukunftspolitik, die uns nichts angeht. Im übrigen berichtet Burg, die Italiener wollen nach Dalmatien übersetzen, durch Garibaldi die Kroaten insurgieren, dann in Trient einfallen. In Ungarn sei der Aufstand schon organisiert. Die heißblütigen Sanguiniker schreien, das Haus Habsburg werde in zwei Monaten aufgehört haben zu regieren.« König und Kronprinz runzelten die Stirn. »Ich schmeichele mir, daß wir selber solchen Mißgriff verhüten würden. Denn Österreichs Bestehen wollen wir in keiner Weise antasten, sofern es nur in der deutschen Frage nachgibt.« Der schweigend zuhörende Blumenthal bewunderte die hinreißende Einfachheit und Klarheit der Darlegung. Der Kriegsrat trennte sich mit der Hoffnung des Kronprinzen auf einen europäischen Friedenskongreß. Otto lächelte etwas unheimlich. – –

»Können Sie mir reinen Wein einschenken, ob es zum Kriege kommt?« Der britische Gesandte zog auf einem offiziellen Diner zum Geburtstage der Königin Viktoria den Ministerpräsidenten beiseite. Lord Augustus Loftus, ein kühler Unparteilicher, fühlte weder für Preußen noch für Österreich besondere Neigung.

»Das weiß ich so wenig wie irgendwer. Man glaubt zu schieben und man wird geschoben. Uns Diplomaten setzt der Krieg sofort aus unserer vorragenden Stellung ab, das Militär allein hat dann das Wort.«

»Falls nicht Militär und Staatsmann vereint wie beim Herzog von Wellington.«

»Ach, da haben Sie's! Der lebt in der Geschichte fort als großer Krieger, nicht als Staatschef, der im Grunde den Frieden liebte und aufrechterhielt. Nur das Schwert erwirbt Lorbeer bei der Menge, dem großen Publikum. Attila und Dschinghiskhan kennt jeder Schuljunge, von weisen Staatsmännern hat er nie gehört. War denn Attila wirklich größer als z. B. Ihr tüchtiger Reformer John Bright? Schwerlich, und doch grub er seine Spur für ewig der Geschichte ein, indes Bright selbst im eigenen Lande bald vergessen sein wird. Es ist ein undankbarer Beruf, sich um die Wohlfahrt der Nebenmenschen zu bemühen. Sie zu quälen imponiert ihnen mehr.«

»Darf ich daraus Ihre aufrichtige Friedensliebe entnehmen?«

»Das dürfen Sie. Es ist der Krieg ein roh gewaltsam Handwerk, hoffen wir das beste, daß die Schwerter in der Scheide bleiben.«

Als er ging, bemerkte der französische Gesandte mit vielsagendem Lächeln zu Loftus: »Hat er seine Friedensliebe beteuert? Das ist ein schlechtes Zeichen.«

»Er war ziemlich elegisch. Ich glaube an den Frieden, die Friedenspartei ist zu stark. Die kronprinzlichen Herrschaften sprachen mir noch gestern ihr Mißfallen über seine gewaltsame Politik aus.«

»Das sind erklärte Gegner, ich weiß. Wer so parlamentarisch denkt wie Seine Königl. Hoheit, muß sich natürlich einem Kabinettskriege widersetzen, mit dem die Nation nicht harmoniert.«

»Sehr richtig«, bekräftigte Lord Loftus. »Auch Ihre Majestät die Königin schreibt täglich aus Baden-Baden an Seine Majestät, um von jedem Bruch mit Österreich abzuraten. Und die Königin-Witwe weilt zurzeit in Pillnitz bei dem sächsischen Königspaar und fädelt an allgemeinem Frieden. Wenn es so am Hofe steht, wie will Herr v. Bismarck vollends die allgemeine Opposition im Lande überdauern! Sie werden sehen, der König schwankt in einem fort, und am Ende wird er den unbequemen Ratgeber über Bord werfen.«

Der Franzose schüttelte den Kopf mit feinem Lächeln. »Sind Sie dessen so sicher? Dieser Mann hat eine unbeugsame Hartnäckigkeit und bekämpft täglich die Unschlüssigkeit des Monarchen. Kennen Sie das Bonmot, das darüber umläuft?«

»Nicht daß ich wüßte!« Loftus spitzte die Ohren. So etwas hören Diplomaten für ihr Leben gern, um ihre saftlosen Berichte damit zu schmücken.

»Man sagt, der Minister sei ein fleißiger Uhrmacher. Jeden Morgen zieht er die abgelaufene Uhr wieder auf.« –

Inzwischen suchte Freund Louis die Uhr nach Pariser Zeit zu stellen. Er und Thiers überboten sich in widerstreitenden Phrasen. Das erhabene französische Volk wolle »selber die glorreiche Last seiner Geschicke tragen«. Aber natürlich, »Fortschritt, Stabilität, Freiheit, Intelligenz, hochherzige Gesinnung, edle Bestrebungen, Arbeit –«, Herz, was willst du noch mehr als kaiserliche Antwort auf eine Adresse? Seine Gemeinplätze klingelten in der Thronrede herrlich, ob auch wunderbar: »Die moralische wie die physische Welt gehorcht allgemeinen Gesetzen, nicht durch tägliche Erschütterung der Grundlagen beschleunigt man die Krönung des Gebäudes.« Thiers, nicht faul, warf sich jetzt auf das Auswärtige und kritisierte die Schlaffheit des Empereurs, der noch immer nicht etwas Leckeres geraubt hatte, wie es französischer Ritterlichkeit schmeckt. Die Sterne stehen günstig über dir, o Cäsar, um einen nächtlichen Einbruch zu verüben, was der Genius dieser wahrhaft großen Nation so gut versteht. Dies Preußen scheint im besten Zuge, ein Attentat gegen deutsche Freiheit und Unabhänglichkeit zu begehen. Nimmermehr! Solche deutsche Einheit wäre Erniedrigung Frankreichs. Vor allem müsse man Italien verbieten, sich mit Preußen zu verbünden.

»Diesem Verbot wird der Re Galantuomo sicher gehorchen,« bemerkte Otto mit spottfunkelndem Blick, als der französische Gesandte Graf Benedetti auf dem Sofa neben ihm saß. Dieser nahm jedoch eine sehr ernste feierliche Miene an. »Eure Exzellenz belieben in fröhlicher Laune zu sein. Ich könnte nicht das gleiche von mir behaupten. Lasen Sie den Brief Seiner Majestät des Kaisers an Minister Rouher, verlesen im gesetzgebenden Körper? Die Ideen des Herrn Thiers sind veraltet, gehen auf den Wiener Kongreß zurück. Der Kaiser mit dem Adlerflug seiner Seele hat weitere Horizonte. Er möchte ein Plebiszit in Schleswig-Holstein, denn die Selbstbestimmung der Völker ist sein Ideal. Dies Bestimmungsrecht wird auch für Venetien anerkannt. Vielleicht verlangen auch einige Grenzgebiete ihre Vereinung mit Frankreich, solchem heiligen Rufe wird man nicht widerstehen können. Indessen wünschen Seine Majestät die Kräftigung Preußens sowohl als die Aufrechterhaltung der Stellung Österreichs. Die anderen deutschen Staaten müssen eine intimere Union gewinnen. Das europäische Gleichgewicht, über das wir wachen, verlangt aufmerksame Neutralität. Ohne unsere Zustimmung wird der Frieden nach etwaigem Kriege nicht geschlossen werden.«

»Diese klaren, bündigen Ausführungen kann ich nur loben,« versetzte Otto trocken. »Wie der Kaiser mit Recht in der letzten Thronrede hervorhob: nur seine Liebe zum Guten gibt ihm die Kraft, die hohen Geschicke der Großen Nation auf seinen Schultern zu tragen. So sei es!«

»Ihr Vertrag mit Italien, den wir kennen –«

»Ei, Ihren Vertrag mit Österreich über Venetien-Schlesien kennen wir auch.« Benedetti erbleichte nervös. »Warum schon jetzt über ungelegte Eier zanken! Wir werden uns gewiß verständigen. Zurzeit dürften die so sehr trüben Nachrichten aus Mexiko den Sinn des Kaisers wohl auf andere Gegenstände lenken.« (oder auch, merkst de was, das überseeische Krächzen ihn zu einer Bravouraria am Rheine reizen.) Benedetti erhob sich.

»Es kommt also wirklich zum Kriege? Der Telegraph bringt die Kunde, daß die Österreicher aus Holstein abziehen, weil General Manteuffel einrückte. Darauf wird Österreich wohl am Bundestag klagen.«

»Mag es! Diese Frage ist eine nationale und nicht partikulare. Wir wollen sie gern vor eine wirkliche Nationalversammlung bringen in Verbindung mit der Bundesreform. Was wir wollen? Einheit von Münze, Maß, Gewicht, von Patenten, Zivilprozeß, Heimatsrecht, Zoll, Handel, Konsular- und Verkehrswesen, gemeinsame Flagge, Marine und Häfen, Herresorganisation.«

»Ein gigantischer Plan!« staunte Benedetti. »So würden Sie ja ein einiges Bundesreich schaffen. Und wenn der Bund und Österreich sich weigern?«

»Dann werden Sie einen historischen Moment erfahren.«

Der Franzose schwieg einen Augenblick. »Ich muß nachträglich Eurer Exzellenz meine Gratulation darbringen zu Ihrer wunderbaren Errettung aus Mörderhand! Das muß Sie und Seine Majestät tief erschüttert haben.«

»So sehr, daß am anderen Morgen darauf die Mobilisationsorder an die noch übrigen drei Korps und die ganze Landwehr erging.« Otto stand hochaufgerichtet. Der Franzose wollte etwas sagen, verbiß es aber, empfahl sich liebenswürdig und ging langsam hinaus. –

»Gibt es wirklich gar keinen Ausweg aus der Klemme Krieg oder Frieden?« Der König ging unruhig hin und her. Die hohen Damen lagen ihm wieder in den Ohren, dachte Otto, der in ehrerbietiger Haltung am Arbeitstische des Monarchen stand.

»Ich werde noch eins versuchen und dem Grafen Karolyi sofort vorschlagen Allianz mit Österreich gegen die französische Einmischung, die norddeutschen Truppen unter Preußens, die süddeutschen unter Österreichs Befehl. Gemeinsame Eroberung des Elsaß, geradeso überrumpelnd, wie Frankreich es einst uns stahl. Es kann unserem Doppelstoß nicht widerstehen, und wir würden dann als wahre Mehrer des Reiches deutscher Nation zusammen leichter als sonst einen deutschen Bund unter uns, zu gleichen Teilen dominierend, gründen und festigen.«

Der König blieb erstaunt vor ihm stehen. »Wenn Sie das durchsetzen könnten! Das wäre herrlich. Ja gewiß, wir kämen dann mit leeren Händen nicht, würden der Nation ihr altes Reichsland zurückschenken. Das ist ein großer nationaler Plan. Straßburg und Elsaß!«

»Fehlt nur eins dazu, die nationale Gesinnung Österreichs. Majestät, ich bekenne offen: ich hoffe wenig davon. Doch da werden Sie recht mit Händen greifen, daß Österreich sich in keiner Weise um Deutschland selber kümmert, sondern nur um seine eigene Vorherrschaft.«

»Gut, machen Sie diese letzte Probe. Und bekommt Napoleon Wind davon?«

»Ich werde mich auf nichts Schriftliches einlassen. Napoleon ist nicht gerüstet und würde überhaupt für keinen von uns eintreten. Österreichs Niederlage wäre ihm so lieb wie die unsere. Daß wir uns beide schwächen, ist sein einziges Ziel.«

»Wenn ich daran denke, daß man Sie als Franzosenfreund verschrie! Wie kamen Sie überhaupt auf diesen neuen Einfall?«

»Weil ich voraussehe, daß nur Kampf mit Frankreich uns die rechte Einheit bringt. Gegen den Erbfeind wären auch die zu haben, die nicht mit Österreich anbinden wollen.« Er wußte, daß der Vorschlag dem deutschen Empfinden des Königs entgegenkam und er die Ablehnung, an der Otto keinen Augenblick zweifelte, als mißglückte Feuerprobe österreichischen Deutschtums aufs Kerbholz setzen werde. Mit allen Mitteln mußte dem tapferen Greis die völlige Undeutschheit des Donaustaates vor Augen gerückt werden.

Karolyi stierte den Minister betroffen an, als sei er nicht bei Sinnen. Daß er nicht laut herauslachte, war alles. Elsaß! Was ist uns Hekuba! »Ich werde mein Möglichstes tun und sofort depeschieren ...«

Die Antwort kam sehr bald. »Ein glatter Refus!« berichtete Otto dem König, der finster die Stirn runzelte. Der Gedanke an Straßburg, die wunderschöne Stadt, hatte einen poetischen Reiz, und er fühlte bitter, welche Kluft ihn von Österreichs Hauspolitik trennte. Er brauchte nicht Bismarcks Brille, wie man ihm vorwarf, sondern hatte seine eigenen scharfen Augen und sah jetzt dem Unvermeidlichen tapfer ins Auge. Freilich wühlten Bethmann-Hollweg und seine Clique, Schleinitz als Hausminister der Königin und der ganze kronprinzliche Hof immer noch unverdrossen gegen die einsame Säule, die nicht wankte.

»Gottlob, unser Langer steht inmitten all der Bösgesinnten wie ein Kolossus!« rief Moritz Blanckenburg, der sich jetzt ehrlich für seinen Freund begeisterte und überhaupt langsam über seine ursprüngliche Beschränktheit hinauswuchs. Nach ihrer schlimmen Vergangenheit und Zusammenbruch ihrer Schreckensherrschaft, nach den vielen Schlingen und Fußangeln, die ihre reaktionäre Verranntheit ihrem einstmaligen Genossen in den Weg legte, den sie als abtrünnigen Schildknappen betrachtete, rang sich die Kreuzzeitung zur Würdigung Bismarckischer Ziele allmählich durch. Sie verleugnete ihre Vorliebe für Österreich, wenngleich matt und zaudernd, und es soll ihr nicht vergessen werden, daß sie von da an eine ehrlich nationale Politik betrieb. Einige von ihrer Partei, wie der im Grunde hochgemute vortreffliche Graf Eberhard Stolberg, obschon auch er junkerliche Entgleisungen hinter sich hatte, oder Graf Fred Frankenberg, Ordonnanzoffizier im schlesischen Armeekorps, trugen eine großdeutsche Stimmung zur Schau, die wohltuend von der verbissenen Regierung der Fortschrittler abstach. Sie empfanden schönen edelmännischen Vaterlandsstolz dem Ausland gegenüber, nicht länger als bloße Preußen, sondern als deutsche Ritter. Etwas von dem Geist des alten Blücher lebte in ihnen, der 1809 zornig seinen Abschied forderte, »sintemal ich nicht bloß preußischer Militär, sondern deutscher Edelmann bin«. Das ganze Deutschland soll es sein! So hatte der Odem des Genius deutscher Nation weithin die Stickluft gereinigt, seine eigenen Kreise, die ihm ursprünglich am fernsten standen, mit wahrer vaterländischer Gesinnung angesteckt.

In Berlin befand sich der französische Publizist Vilbort, den Otto für sich einzunehmen wußte. Bei seiner beschränkten Zeit gewährte er ihm erst spät abends zum Tee eine lange Unterredung, die erst um Mitternacht endete. Beim Abschied bat er ihn, morgen bei ihm zu essen. »Das ist die einzige Stunde, die mir selbst gehört. Jetzt muß ich wieder arbeiten, bis die Sonne meine Lampe löscht. Napoleon hat gesagt, er sei der geplagteste Sklave, er gehorche einem strengen Herrn, der Natur der Dinge. La nature des choses, wie unheimlich bedeutungsvoll das klingt! Nun, auch ich diene in meiner bescheideneren Sphäre den gleichen unerbittlichen Gewalten.«

Als Vilbort am anderen Tage zu Tische kam, fand er den Hausherrn scheinbar in der heitersten Laune. Er streute attisches Salz mit vollen Händen aus und plauderte ununterbrochen über Paris, als spaziere er noch auf dem Boulevard des Italiens. Sogar der Ball Mabille entging nicht seinen satirischen Späßen. Auf seiner breiten Stirn verriet nicht die kleinste Falte, daß er sich in ungeheurer Spannung befand. Vilbort suchte ihn mit einer Anspielung anzubohren: »Haben Exzellenz die Pariser Zeitungen gelesen, die heute morgen hier anlangten?«

»Flüchtig. Es stand nichts Wesentliches darin.«

»Ich dächte doch. Vielleicht entging Ihnen, daß das ›Journal des Debats‹ die Existenz des deutsch-italienischen Bündnisses bezweifelt.«

»Suchet so werdet ihr finden! Wir leben im Zeitalter des Zweifels.«

»In der ›Revue des deux Mondes‹ stand eine Notiz, die Bedingungen seien jedenfalls nicht die gleichen für beide Parteien.«

Otto antwortete nicht und sprach mit einem anderen Tischnachbar über etwas anderes. Aha, er stellt sich taub! dachte Vilbort, der darauf brannte, diese hochwichtige Information nach Paris mitzunehmen, ob etwas daran sei oder nicht. Aber als man sich vom Tische erhob, wandte sich der Wirt lächelnd an ihn: »Ich möchte Ihnen noch ein besonderes Dessert anbieten.« Auf einen Wink trat Vilbort in des Ministers Arbeitszimmer, der einer Schublade ein Aktenstück entnahm und ihm hinreichte. »Hier haben Sie das Original des Vertrages, Sie können die einzelnen Klauseln lesen.«

Vilbort empfand eine tiefe Bewunderung für dies ungezwungene Sichgehenlassen. Denn er ahnte recht wohl, daß der joviale Hüne vor ihm seine Bärenkraft in unaufhörlichen Kämpfen aufrieb. Er machte sich einige Notizen: »Nicht wahr, am 12. forderte Graf Karolyi seine Pässe, am 14. legte der preußische Gesandte die Akte des neuen Bundes auf den Tisch des Bundestages nieder, wonach Österreich ausgeschlossen und der alte Vertrag erloschen sei?«

»Stimmt auffallend. Die Einheit Deutschlands, über alle äußeren Formen erhaben, ist unser einziges Ziel, das der Feinde die Zerschmetterung Preußens. Lesen Sie nur die ›Wiener Presse‹ und die ›Augsburger Allgemeine‹! Da gehen einem die Augen über.«

»Ich weiß. Eure Exzellenz täuschen sich wohl darüber nicht, daß man in ganz Europa an Ihre Niederlage glaubt. Sie ziehen in einen ungleichen Kampf. Ich vernahm, daß der Ihnen so wohlgesinnte Zar beim Auszug preußischer Reservisten aus Petersburg wehmütig und nassen Auges rief, ›Ihr werdet euer Vaterland auch nicht mehr retten.‹ Auch er wie Frankreich versuchten noch am 23. Mai, den zum Schwertschlag Ausholenden in den Arm zu fallen.«

»Worauf Österreich am 1. Juni den Streit an den Bundestag verwies, also den Gasteiner Vertrag zerriß. Juridisch und moralisch sind wir allein im Recht.«

»Ach, Exzellenz sagen ja selber: Macht geht vor Recht. Österreich hat 800 000 Mann, Bayern allein 200 000, Württemberg 40 000.«

Otto lachte aus vollem Halse. »Auf dem Papiere. Wenn das Ihre Schmerzen sind! Unser Generalstab weiß es besser. Österreich hat keine 500 000, der Bund 185 000 Sollstärke, in Wahrheit noch nicht mal so viel. Wir werden 650 000 aufbieten, wovon 400 000 in erster Linie. Und da Bayern nur 42 000, Württemberg kaum 14 000 hat, so werden eine Handvoll Preußen gegen den Bund genügen. Denn hier macht zweimal zwei nicht vier, qualitativ sind wir so ungeheuer überlegen. Nur die Unwissenden gehen zage in diesen Kampf hinein, ich weiß, daß Preußen siegt wie noch nie. Übrigens gehen 100 000 Österreicher gegen Italien ab, das doppelt so viel aufbietet.«

»Eine recht geringe Meinung scheint man also in Wien von italienischer Wehrkraft zu haben. Die Enthüllungen Eurer Exzellenz sind mir sehr wertvoll.«

Nachdem der Franzose sich verabschiedete, lief Otto unruhig im Garten umher. Ja, wenn es nur so weit wäre! Aus dem Schlosse sollte die Kunde eintreffen, daß der König sein Kriegsmanifest an sein Volk unterzeichnet habe. Auf besondere Kriegserklärung ließen sich beide Parteien nicht ein, da man schon seit einem Monat kriegsbereit gegeneinander stand. Erst jetzt kam aus hundert militärischen und politischen Gründen der richtige Augenblick, es mußte auch erst der napoleonische Friedenskongreß abgeblitzt sein. Vor allem handelte es sich um Genehmigung der Sommation an die Höfe von Dresden, Hannover, Kassel, binnen zwölf Stunden die Neutralität zu erklären oder die Folgen zu tragen. Doch immer noch blieb der Feldjäger aus dem Palais unsichtbar. Noch in letzter Stunde werden sie den König zu umgarnen suchen. Ich höre Streber wie Bethmann-Hollweg munkeln über meine lebensgefährlichen Widersprüche ohne Folgerichtigkeit, und derlei Geschwätz, über ränkevolle Tücke, die allem Ausland das Vertrauen raubte und dennoch das Vertrauen des Königs besitze.

»Hast du schlimme Nachrichten?« fragte Nanne besorgt.

»Nein, aber keine, was schlimmer ist.« Da schellte es an der Haustür – der Feldjäger – hurra, der Würfel ist gefallen!

*

Am Morgen fand er Moltke im Salon Johannas warten. »Sie regten an, ob wir 24 Stunden früher die Feindseligkeiten eröffnen können? Wegen Sachsen und Hannover? Topp, es soll geschehen.« In der Tür wandte der Hagere sich um und schmunzelte: »Die Sachsen haben die Dresdener Brücke gesprengt!« »Schade!« »Aber nur mit Wasser, wegen Staub.« Wenn der alte Herr so schlechte Scherze macht, muß unsere Sache gut stehen. –

Er fuhr schon vorher mittags beim Erbprinzen Friedrich Wilhelm von Kurhessen vor, der sich in Berlin befand, um die Dinge aus der Nähe zu beobachten.

»Ich rate Eure Hoheit dringend, sofort per Extrazug sich nach Kassel zu begeben, um Ihre Neutralität zu sichern, entweder indem Sie dem Kurfürsten die Lage im rechten Lichte zeigen oder auf Ihre eigene Verantwortlichkeit.«

»Wie käme ich dazu und warum Extrazug?« Der Erbprinz steckte eine verdrossene süffisante Miene auf.

»Weil es sonst zu spät wäre, die Besetzung Hessens durch unsere Truppen rückgängig zu machen. Division Beyer steht vor Wetzlar und wird sofort in Kassel einrücken, die anderen unserer Streitkräfte kommen durch Hannover.«

»Ah, das soll auch vergewaltigt werden?«

»Wenn Sie es so nennen wollen. Ich bedauere es tief. Bis zum Frühjahr schien dieser Staat vernünftigen Erwägungen Gehör zu geben. Der Minister, Graf Platen, ein alter Freund von mir, war noch Ende Januar in Berlin.«

»Um ein Verlöbnis zwischen Ihrem Prinz Albrecht und der Prinzeß Friederike von Hannover zustande zu bringen. Doch Sie sehen,« sein Lächeln entbehrte nicht einer gewissen Schadenfreude, »die schönsten Pläne können zu Wasser werden.«

»Ich möchte Eurer Hoheit gehorsamst empfehlen, die Dinge nicht auf die leichte Achsel zu nehmen. Der österreichische General, Graf Solens, ein Stiefbruder des Königs Georg, hat die berühmten 800 000 Österreicher ins Treffen geführt und so den armen blinden Herrscher noch mehr verblendet. Daß er seit April rüstet und meine Anfrage nach dem Warum mit dem Witze beantwortete, die Herbstmanöver würden aus ökonomischen Gründen diesmal im Frühjahr abgehalten, wird ihm vielleicht den Thron kosten.«

»Oho!« brauste der Erbprinz auf. »Sie verfügen zwanglos über deutsche Souveräne. Der Kaiser ist auch noch da, und es wird uns wohl erlaubt sein, uns zu wehren.«

»Soviel Sie können«, versetzte Otto eiskalt. »Diesmal wird es überall heißen Vae victis. Die elenden Schwätzer im Süden, wie mein Bekannter Varnbüler, der als württembergischer Premier völlig den Verstand verlor, zitieren diesen Spruch gegen uns, doch sie werden bald inne werden, daß Hochmut vor den Fall kommt. Wollen Eure Hoheit den Fortbestand Kurhessens ermöglichen oder nicht?«

Der Prinz hatte eine unbestimmte Erinnerung aus der Geschichtsstunde, als ob so ein römischer Prokonsul mit dem historischen Togazipfel zu hantieren pflegte: Krieg oder Frieden?! Das erbitterte ihn noch mehr. Preußen ist doch nicht Rom! »Ich werde mir die unnützen Kosten eines Extrazuges sparen und mit dem fahrplanmäßigen gewöhnlichen Zuge reisen.«

»Ist Ihnen der hessische Thron keinen Extrazug wert? Wenn Sie Neutralität verweigern, so wird nach unserem Siege Kurhessen verschwinden, das zeige ich Ihnen an. Siegt aber Österreich, so können Sie sich mit force majeure entschuldigen und man wird Ihnen vielleicht noch preußische Landesteile zuschanzen. Droht man doch schon, es sei viel für Deutschlands Zukunft gewonnen, wenn Sachsen und Hannover ums Doppelte vergrößert werden. An letzteres hat man den Regierungsbezirk Minden versprochen. Nach solcher erst zweideutigen und dann offenkundigen Feindseligkeit werden wir keine Rücksicht nehmen. Bedenken Sie jedoch, daß es uns gar nicht ums Depossedieren von Einzelfürsten und territoriale Bereicherung zu tun ist, sondern um den neuen Deutschen Bund unter Preußens Leitung. Ich warne Eure Hoheit, uns nicht zu schärferer Auffassung zu zwingen. Denn der Existenz von Feinden in Norddeutschland werden wir ein Ende machen.«

»Wie Sie schon Holstein durch Ihren General Manteuffel sich aneigneten, möchten Sie dies anderswo auch. Ich habe die Ehre, die Unterredung zu schließen. Wir sehen uns ja wohl noch mal im Leben, und Österreich wird ein Wort mitreden.«

Als Otto ging, flüsterte er freudig: Gott sei Dank! Wen Gott verderben will, den blendet er. Ich muß natürlich mich friedfertig anstellen und die Hand hinstrecken, um die Abneigung des Königs gegen Entthronung Schritt für Schritt zu dämpfen, durch Empörung über schnöde Abweisung unserer Versöhnlichkeit, habe ich nicht noch vor vier Wochen Hannover erklärt, daß die Pflicht der Selbsterhaltung für uns allen vorgehe? Doch ich wußte vorher, daß man verstockt bleiben werde. –

Jetzt gingen Telegramme und Boten hin und her, der Chef des Großen Generalstabs wußte jeden Tag etwas Neues, was des Menschen Herz erfreute. Am 15. Manteuffel über die Elbe, Vogel v. Falkenstein von Minden auf Hannover, am 17. Division Goeben dort, aus Göttingen die hannoversche kleine Armee mit dem König in Marsch auf Eisenach. Die sächsische mit König Johann nach Böhmen abmarschiert. Am 18., 19. Dresden und Leipzig besetzt. Ganz Hessen überrannt wie Hannover, ganz Norddeutschland am 20. in preußischen Händen.

»Den Kurfürsten hätten wir nun. Der eigensinnige Narr blieb in Wilhelmshöhe sitzen, als werde sich niemand an seine geheiligte Person wagen, Seine Majestät wird ihn als Festungsgefangenen internieren. Wie steht es mit der hannoverschen Armee?« fragte Otto bei Moltke an.

»Ich fürchte, sie entkommt uns, es sei denn, daß die Bayern ihnen nicht rechtzeitig die Hand reichen. Die stehen in Bamberg aufmarschiert, doch ich zweifle an ihrer Marschfähigkeit. Wir werden binnen einer Woche 50 000 Mann als Mainarmee versammelt haben, doch vorher stehen nur Detachements nahe genug, um den Durchbruch aufzufangen.«

»Dann muß ich Ihnen zu Hilfe kommen,« lächelte Otto. »Das Auswärtige Amt erhielt nämlich Depeschen von König Georg, er will unterhandeln, der Herzog von Koburg dient als Mittelsmann. Wir können mehrere Tage gewinnen, wenn Ihnen das recht ist.«

»O, zehnmal recht! Doch was höre ich? Er will nachträglich einlenken?«

»Vielleicht nur, um die Bayern herankommen zu lassen. Ich werde jedenfalls so verhandeln, als ob er uns täuschen wolle. Es soll ihm nichts nützen.«

»Wenn er auf die Großmut des Königs spekuliert –«

»Das ist meine größte Sorge. Jetzt redet er von Militärkonvention, Eintritt in unseren Bund, doch alles so verklausuliert und zögernd, daß die Halbheit wie böse Absicht wirkt. Vielleicht bekam er wirklich Angst und will sich salvieren. Doch sein Dünkel wird über Nacht erwachen, er wird zuletzt sich störrisch zeigen, und bis dahin haben Sie ihn in der Falle.«

»Nur bedingungslose Kapitulation oder Übertritt seiner Truppen unter unsere Fahnen! Doch mit letzteren könnte er sich politisch noch retten?«

»Fürchten Sie nichts, sein starrköpfiger Hochmut wird sich nie dazu verstehen, und das weiße Welfenroß seines Wappens schlägt immer nach hinten aus. Auch wird er von Österreichs Sieg seine Erlösung hoffen.«

»Da kann er lange warten.« Der große Schweiger, wie man ihn nannte, hatte schon zu viel gesprochen und kramte in seinen Karten, um anzuzeigen, daß er nichts mehr zu reden wünsche.

»Nur ein Wort noch! Der Feldzeugmeister Benedek?«

»Mir ein Rätsel. Steht bei Olmütz und scheint auf Josefstadt zu marschieren. Die Nachricht kann täuschen. Doch die nächsten Tage werden lehren, ob er wirklich die Grenzpässe nicht ordentlich verteidigt.«

»Will er uns nach Böhmen hineinlocken?«

»Möglich. Seine Stabschefs Henikstein und Krismanic sind gelehrte Theoretiker und sind wohl auf die innere Linie versessen. Sie ahnen nichts von unserer Beweglichkeit und überlegenen Bewaffnung, die uns erlaubt, auch in getrennten Aktionen den Stoß auszuhalten, indes unsere Einkreisung immer enger sich schließt.«

»Ich kenne Ihr Motto: Erst wägen, dann wagen! Daß Sie alles vorher überlegten, weiß ich.« Moltke brummte etwas und sah öde an ihm vorbei, als wolle er andeuten, er verschmähe strategische Vorträge vor einem Nichtfachmann.

»Nur noch eins. Die Italiener?«

»Werden wohl höllische Klopfe kriegen. Lamarmora hat weder Talent noch Charakter.«

»Ich habe das Meinige getan, schon am 19. durch Usedom eine Note überreichen lassen, die Ihre Ideen widergibt. Unser Unterhändler Theodor v. Bernhardi hatte dies schon erläutert. Also Vordringen durch Kärnten auf Ungarn, wohin wir ein fliegendes Korps aus Schlesien senden wollen, um eventuell dort Insurrektion zu entfesseln.«

»Davon verspreche ich mir nichts, aber auch nichts von Lamarmoras Befolgen der Vorschläge. Wer was kann, kann was lernen, wer nichts kann, kann auch nichts lernen. Wir werden die ebensowenig brauchen wie die Ungarn und werden allein fertig werden.« –

Plautz, da lag schon die Bescherung: schmähliche Niederlage der Italiener bei Custozza. Dort fing der Feldzug schlecht an. Doch in Berlin vergaß man plötzlich allen Parteihader. Der preußische Adler hatte seine Schwingen entfaltet und trug alles kleinliche mit sich davon. Podol, Münchengrätz, Nachod – die Namen Steinmetz und Division Horn waren in aller Munde – Schlesier und Thüringer hatten sich mit Ruhm bedeckt – fortwährend Gefangene und Trophäen. Zwar lief die Hiobspost von einer Schlappe bei Trautenau um, die der unfähige Bonin, sonst ein nobler Charakter und Freund des Königs, bei Trautenau erlitt. Doch in folgenden Tagen wußte man, daß die Garde diese Scharte bei Soor glänzend auswetzte und auf der anderen Seite die Brandenburger vordrangen. Jetzt gab es jeden Abend Serenaden vor dem Ministerium des Auswärtigen. Auch ein Mißerfolg von Landwehr gegen die doppelt so starken Hannoveraner bei Langensalza wurde richtig gewürdigt als strategisches Manöver. Die Treffen von Stalitz und Gitschin waren im Gange, die preußischen Fahnen wehten siegreich nach Böhmen hinein. Otto strahlte von Siegeslust, seine Tischgäste staunten über sein frisches Aussehen, seine neubelebte Kraft. »Die telegraphische Verbindung mit Italien ist unterbrochen«, kam die Meldung. Ohne sich im Gespräch stören zu lassen, wies Otto kurz den Legationsrat an: »Lieber Keudell, befehlen Sie, daß die Telegramme über London befördert werden!« Eine kurze Weile darauf hieß es: »Exzellenz v. Moltke wartet.« Mit einem Sprunge war Bismarck draußen, wo die lange hagere Gestalt des Generals an der Tür lehnte.

»Was bringen Sie? Geht die hannoversche Sache gut?«

»Wie am Schnürchen. Man hat soeben kapituliert. Es handelt sich jetzt darum, daß das große Hauptquartier nach Böhmen zur Armee verlegt werden muß. Seine Majestät muß sich zu den Truppen begeben, um ihre Stimmung zu heben.«

»Ich werde dafür sorgen und Majestät Vortrag halten, er wünscht sich nichts Lieberes. Natürlich begleite ich ihn.«

Moltke schien das nicht sonderlich gern zu hören. »Es wäre vielleicht gut, wenn Sie zurückblieben, um die politische Aktion zu überwachen.«

»Das tue ich weit besser, wenn ich den Ereignissen nahe bin. Ist eine Entscheidung bevorstehend?«

»Höchstwahrscheinlich. Jedenfalls naht sie sich bald.«

»Dann wird auch bald der Zeitpunkt eintreten, wo die Politik den Kriegserfolg ergänzen muß. Ich werde an Ort und Stelle sein.«

»Ganz wie Sie belieben. Ich bitte also, Seine Majestät sofort in Kenntnis zu setzen.« Moltke ging mit kurzem militärischem Gruß. Die Militärs möchten mich fernhalten! dachte Otto beunruhigt, daraus wird nichts. Er plauderte wieder mit größter Unbefangenheit und lud die Gäste ein, ihm in den Garten zu folgen. Kurze Besprechung mit General v. Werder unterbrach die Promenade, dann führte der Wirt sorglos seine Freunde im Garten herum, an dessen wohlgepflegtem Rasen er sich freute. »Wie das wohltut! Die Natur macht immer wieder frisch, die alte Mutter Erde. Die Sage vom Antäus, der stets neue Kraft beim Ringen erhielt, sobald er die Erde berührte, hat tiefen Sinn. Heute morgen war ich so übermüdet, daß ich im Vorzimmer des Königs auf einem Sofa einschlief. Wissen Sie was? Kommen Sie mit mir in meinen Eiskeller! Von dort blickt man ins Grüne der großen Gärten hinter der Wilhelmstraße. Man kann nie genug Grün und Laubwipfel sehen.«

Ein Gewitter zog herauf, zugleich mit ihm eine brausende Volksmenge, die aus den beflaggten Linden in die Wilhelmstraße lenkte. Skalitz, ein neuer Sieg, Depeschen soeben eingetroffen! Und damit nicht genug, erfuhr das jauchzende Berlin, daß das ganze hannoversche Heer mit König Georg bedingungslos die Waffen streckte. Teils seinem eigenen ritterlichen Sinn gehorchend, teils auf Ottos Rat hatte der König dem nach Berlin gesandten Parlamentär mildernde Zusätze gemacht, die für die Zukunft jeden Stachel gekränkter Waffenehre entfernten, und dabei blieb es, eine staatskluge Großmut. Die Hessen entzogen sich früher ähnlichem Schicksal durch Abmarsch nach Frankfurt zum Bundeskorps des Prinzen Alexander.

Da die Ovationen ihm keine Ruhe ließen, trat Otto auf den Balkon. Ein Blitz beleuchtete sein Gesicht, ein Donnerschlag rollte in den Lüften. Zum erstenmal im Leben in theatralisches Pathos verfallend, hob er die Hand und rief: »Der Himmel schießt mit Viktoria!« Unermeßlicher Jubel. Was noch von Haß, Neid, persönlicher und politischer Feindschaft umherschlich, wagte sich nicht ans Licht. Jetzt zum erstenmal in seinem langen mühevollen Leben hörte der Wiederaufrichter Preußens, der schon um ein Jahr das 50. Lebensjahr überschritt, den begeisterten Zuruf einer bewegten Volksmasse. Wer in Berlin hätte je geglaubt, daß die antikönigliche Hauptstadt, die Hochburg der Demokraten, den Heilruf hören werde, der überall gen Himmel stieg: »Hoch Bismarck, hoch, hoch, hoch!« Er seufzte leicht. Berlin war nicht Deutschland. Doch ein gut Stück Weges war gewonnen. Und vielleicht kam einst die Stunde, wo die ganze Nation rufen würde: Heil dem Retter Deutschlands!

»Ich kehre nie heim in einem geschlagenen Heere. Beim letzten Angriff falle ich, man stirbt nur einmal, sterben ist leichter als geschlagen werden!« verabschiedete er sich ernst vom englischen Gesandten. Der edle Lord dachte, daß man sich um deutsche Bagatellen doch nicht so viel aufregen solle. –

Auf der Fahrt zum Kriegsschauplatz nach Böhmen hatte natürlich Moltke das Wort und trat in den Vordergrund. Der alte Herr, mit Jahrhundertbeginn geboren, stand im sechsundsechzigsten Lebensjahre. Eine seltsame Schicksalsfügung, die jedem auffiel, der daran dachte. 66! Das Schicksalsjahr und der Mann, das Jahrhundert und der Führer! Bisher völlig unbekannt, außer in den höchsten Kreisen der Armee, nur vom König, der ihn entdeckte, von Bismarck und Roon gewürdigt, stand der Greis plötzlich in weltgeschichtlicher Glorie da. Denn daß der blitzschnelle Aufmarsch, das pünktliche Vordringen der getrennten Heere auf allen Grenzlinien, die Leitung des Ganzen auf beiden Teilen des gewaltigen Feldzuges im Westen und Südosten sein Werk sei, das verbreitete sich jetzt schon bei allen Heeresstäben, nicht aber bei den einzelnen Korps- und Divisionschefs, für welche Prinz Friedrich Karl der eigentliche Feldherr galt.

»Sie müssen eine hohe Befriedigung empfinden,« bemerkte Roon achtungsvoll.

»Und Sie auch. Denn daß die Armee ein so scharfgeschliffenes Schwert ist, das verdankt man Ihnen.«

Otto sann betroffen über diesen Wechsel nach, hier war einer, noch 15 Jahre älter als er, noch viel unbekannter durchs Leben gegangen, und nun plötzlich über Nacht in seiner Bedeutung erkannt. Ach, in Deutschland muß man das Talent haben, alt zu werden! hat ein anderer Großer gesagt, der auch erst jetzt eine zweifelhafte Berühmtheit errang und noch als Fünfziger nicht gewußt hatte, wohin sein Haupt legen. In Bayern saß jetzt bald der zweite Ludwig auf dem Throne, der an Ottos Sehwinkel so flüchtig als Kronprinz vorüberhuschte, und huldigte dem Meister der Töne, der einzigen erstrangigen Kunsterscheinung seit Goethes Tode. Es war, als ob die vulkanische Erschütterung des 48er Frühlings allenthalben in deutschen Gauen die Erde gelockert habe für überreiche Saat, die langsam reifend im blendenden Flor stand. Denn auch in den Wissenschaften sah sich das Geschlecht der Ehrenberg, Mitzscherlich, Raumer, Riebuhr, Gervinus, Dahlmann, unter dem der einzige Geniale, Robert Mayer, spurlos und verkannt durchs Leben schritt und der uralte Humboldt doch schon einer früheren Goetheschen Periode angehörte, durch weit Bedeutendere abgelöst, an deren Spitze der unsterbliche Helmholtz und in anderer Sphäre Ranke standen. Und alles alte Herren, alle in einem Alter, wo sonst bei gewöhnlichen Menschen jede Spannkraft erlahmt und jede Tätigkeit versiegt. Bei diesem Geschlecht von deutschen Greisen, die sich um einen weißbärtigen König gruppierten, wuchsen Schaffenslust und Schaffensmacht mit dem Alter, wie sie alle erst als betagte Reife ihre Namen der weiten Welt eingruben.

Moltke hielt einen längeren klaren Vortrag im Salonwagen des Königs. »Der Ausfall mit Italien kam nicht unerwartet, immerhin bleibt es eine merkliche Einbuße an Kraft. Die italienische Armee ist auf zwei Wochen lahmgelegt und wird wohl überhaupt nichts mehr leisten. Freilich wäre die Niederlage nicht so arg geworden, wenn nicht überraschenderweise der Erzherzog Albrecht sich als ein wirklicher Feldherr entpuppt hätte. Als Sohn des Erzherzogs Karl führt er dessen strategische Prinzipien mit entschieden mehr Entschlossenheit aus, als jenem zu Gebote stand. Wir können uns Glück wünschen, daß wir nicht ihn in Böhmen gegenüber haben.«

»Sie halten also nichts von Benedek?« fragte der König.

»Nach bisherigem kann ich unmöglich anders denken. Sein Vorschieben von nur drei Korps an die Grenze, indes er mit acht anderen weit zurück am Josefstädter Plateau auf dem Flecke stampfte und dann nur drei isolierte andere Korps viel zu spät gegen unsere zweite Armee vorstieß, könnte doch nur zu Teilniederlagen führen. So geschah es auch. Die Trennung unserer Armeen besteht schon jetzt kaum mehr. Eure Majestät haben Vereinung aller Kräfte auf Gitschin befohlen und die Ausführung steht in den nächsten Tagen bevor.« Die Fiktion, daß der König die strategischen Schachzüge befehle, wurde dienstlich durchweg festgehalten, jede Direktive Moltkes begann: Seine Majestät befehlen, was im Interesse des Dienstes schon deshalb geboten schien, um die sonst nicht unbedingt vorauszusetzende Unterordnung der verschiedenen Armeeführer zu erzwingen.

»Ich wünschte gern ein Resümee der einzelnen Aktionen«, forschte der König, der natürlich mit Sachverständnis die kriegerische Entwicklung verfolgte und oft die Karte zu Rate zog.

»Zu Befehl. Im Westen besitzen wir also so gut wie alles Land bis zur Mainlinie. Die Bayern stehen tatlos bei Bamberg, die übrigen bei Frankfurt. Es wird die Aufgabe des Generals Vogel v. Falckenstein sein, sie dauernd zu trennen und auf der inneren Linie zu operieren.«

»Es kam mir zu Ohren, daß sowohl Sie als Graf Bismarck keine günstige Meinung über diesen Heerführer haben. Er hat doch eine glänzende militärische Turnüre.«

Moltke lächelte nur inwendig. Er selbst sah gewissermaßen wie ein Schulmeister aus und hatte nicht das geringste an sich, was naiven Begriffen von martialischen Bramarbassen entspricht. Zwar deckte sich seine hohe überschlanke Gestalt nicht mit dem wahren historischen Bilder berühmter Feldherren (Napoleon, Friedrich der Große, Erzherzog Karl, Wellington, Nelson, Karl XII., Prinz Eugen von Savoyen, Bülow v. Dennevitz, Massena usw.), die sämtlich sehr klein und schmächtig oder höchstens mittelgroß und in manchen Fällen (Torstenson, Wallenstein usw.) sehr kränklich waren. Dies seltsame physische Gesetz, das wahrscheinlich auf der feurigen Nervosität und dem völligen Überwiegen des Gehirnlebens bei Feldherrnnaturen beruht (auch Moltkes eigentlicher Vorläufer im Generalstabsfach, Marschall Berthier, war ein kleiner untersetzter Mann), konnte in der hochgewachsenen norddeutschen Rasse kaum in die Erscheinung treten. Immerhin stellten der ruhmvolle Stabschef des Kronprinzen, der kleine schmächtige Blumenthal, und der hagere bebrillte Goeben einen solchen Typus dar, und im Zivil würde niemand den großen Kriegslehrer Moltke für einen Militär gehalten haben. Sein bleiches, scharfgeschnittenes Gesicht mit den weitgeöffneten Augen, die übrigens etwas Geisterhaftes hatten, verriet allerdings für jeden Verstehenden den Organisator des Sieges, den Kriegsindustriellen, der eine Armee leitete wie eine Kruppsche Fabrik, den Kriegswissenschaftler größten Stils. Die großen Kriegs künstler (Napoleon, Friedrich der Große, Hannibal) haben ein anderes Temperament, aber es wäre unziemlich zu leugnen, daß der dämonische Vernichtungstrieb, die feindliche Masse zu zerreiben, auch diesem anscheinend so kühlen und temperamentlosen Feldherrn innewohnte.

Am liebsten hätte er auf des Königs Frage den ungerechten Ausspruch Napoleons über Wellington zitiert: Er ist nur Soldat, er hat keinen Geist. Er begnügte sich jedoch zu erwidern: »General v. Falckenstein ist ein recht guter Militär, aber von seiner Wichtigkeit zu sehr durchdrungen und vielleicht nicht angemessen für größere Operation begabt. Wir werden ja sehen. Um so mehr verspreche ich mir von seinem Untergebenen, dem General v. Goeben.«

»Das freut mich sehr zu hören«, sagte der König lebhaft. Mit seinem nie irrenden wunderbaren Instinkt hatte er für diesen kränklichen Brillenträger eine Vorliebe. »Wenn ich Ihre Andeutung recht verstehe, läßt es der General v. Falckenstein an der nötigen strengen Subordination fehlen? Das werde ich niemals dulden.«

»Eure Majestät berühren den wunden Punkt«, fiel Otto ein. »In den ziemlich verwickelten Verhandlungen über die Kapitulation, wozu König Georgs schwankendes Hin und Her und seine Winkelzüge Anlaß gaben, hatte die Politik ein entscheidendes Wort. Ich fand jedoch bei General v. Falckenstein dafür kein Verständnis. Ich möchte überhaupt bemerken, daß laut Clausewitz der Krieg nur Fortsetzung der Politik sein soll und daß daher in allen Fragen, die auf das politische Endziel hinauslaufen, der Staatsmann den Vortritt haben muß.« Er warf einen heimlichen Seitenblick auf Moltke, der leicht die Stirn runzelte. Schon witterte er die Eifersüchtelei der Ressorts.

»Das versteht sich von selber«, sagte der König arglos. »Nun, die Dinge im Westen liegen zu klar. Dank unserer überlegenen Mobilisierung sind uns dort und auch in Sachsen reiche Vorräte in die Hände gefallen, und wir können fortan all diese Länder – Schleswig-Holstein, Hannover, Hessen, Sachsen – für Kriegswirtschaft ausnutzen. Was mich besonders erhebt, ist die Haltung der Bevölkerungen im Norden und Westen, die keinerlei feindselige Gesinnung gegen Preußen ausdrückten. In Hannover hatte ja sogar eine Adresse der Bürgerschaft den König beschworen, sich lieber Preußen anzuschließen.

»Was mich am meisten erhebt«, fiel Bismarck ein, »ist Eurer Majestät tiefe Einsicht in die wahren Untergründe dieses Nationalkrieges. Tatsächlich haben wir jetzt schon ganz Norddeutschland vereint in der Hand. Die sächsischen, mecklenburgischen, lippeschen Fürstentümer und die Hansastädte stellen vertragsmäßig jetzt ihr Kontingent zu unseren Fahnen. Übrigens erkenne ich dankbar an, daß Herzog Ernst von Koburg, dessen Regiment ja schon bei Langensalza rühmlich focht, diplomatisch uns in den Verhandlungen mit König Georg wertvolle Dienste leistete.«

Von welfischer Seite behauptete man später, daß Otto und Herzog Ernst dabei krumme Wege nicht gescheut und die Verhandlungen mit absichtlicher Täuschung bis zur Unvermeidlichkeit der Kapitulation hingezogen hätten. Etwas Wahres ist daran, aber man darf nicht vergessen, daß die fortwährenden Schwankungen des unglücklichen Blinden und das allzu großmütige Fühlen des Königs Wilhelm, das Otto anfangs die Hände band, ihn dazu zwangen, den Winkelzügen der hannoverschen Unterhändler, die ihrerseits auf bayrische Hilfe lauerten, mit gleicher Münze zu dienen.

»Was nun die Gefechte in Böhmen betrifft«, fuhr der König fort, »so wäre mir lieb, Genaues über die Verluste zu erfahren, da sich danach der Erfolg abschätzen läßt.«

»Damit kann ich Eurer Majestät dienen.« Moltke zog ein Notizbuch zu Rate. »Allenthalben hat unsere überlegene Bewaffnung und Fechtweise den Verlust des Gegners unverhältnismäßig erhöht und ihn so erschüttert, daß übermäßig viel Gefangene in unseren Händen blieben. Übrigens trat ein solches Mißverhältnis sogar bei Langensalza zutage, wo unsere Landwehren doch noch gar nicht mit dem Zündnadelgewehr bewaffnet und die Feinde an Zahl wie 20:8 waren. Selbst hier verloren wir nur 850, die Hannoveraner rund 1300. In Böhmen ergaben sich folgende Ziffern. Podol: das I. böhmische Korps Chlam, vornehmlich die berühmte ›eiserne‹ Brigade Poschacher, von Brigade Bose über die Iser geworfen, wobei nur vier Thüringer Bataillone und eine Kompagnie Jäger fochten. Verlust 130, österreichischer mindestens über 1000, wovon über 500 Gefangene. 27. Juni. Trautenau: Das X. Korps Gablentz fast völlig eingesetzt, unsererseits tadelnswerte Gefechtsleitung und zu weite Entfernung der Artillerie. Verlust unserer Ostpreußen, hauptsächlich Regimenter 4, 43, 44, rund 1350, dabei ein Oberst, zwei Oberstleutnants, fünf Majore tot und verwundet. Der Gegner soll 5800 nach ungefährer Schätzung eingebüßt haben. Daß unsere Truppen sich trotz alldem überlegen schlugen, beweist schon der Umstand, daß wie gemeldet wird, die Fahne des II. Bataillons Regiment Bamberg nur durch Aufopferung eines k. k. Oberleutnants gerettet wurde. Regiment Airoldi soll vernichtet sein. Die Einwohnerschaft von Trautenau beteiligte sich heimtückisch am Kampfe, die Rädelsführer erwartet dafür das Kriegsgericht.«

»So etwas ist besonders gräßlich!« klagte der König.

»Nachod: IV. Korps Ramming und Kürassierdivision Prinz Holstein gegen Korps Steinmetz. Die Österreicher fochten sehr brav, die Unseren unter bedeutenden Schwierigkeiten beim Überschreiten des Plateaudefilees. Erstere verloren wahrscheinlich 7500, wovon über 2000 unverwundete Gefangene, letztere über 1100, wobei zwei Generale, ein Oberst, ein Oberstleutnant, vier Majore tot und verwundet. Unsere schlesisch-westpreußische Kavallerie warf die österreichische völlig und nahm ihr zwei Standarten ab. Außerdem nahmen wir acht Geschütze. Die Obersten der Infanterieregimenter Gondrecourt und Kronprinz von Preußen fielen verwundet in Gefangenschaft, das berühmte Regiment Deutschmeister soll sehr gelitten haben und verlor eine Fahne. Am 28. Münchengrätz: Rheinische Truppen von der Elbarmee, Thüringer und Magdeburger der I. Armee, Verlust 340, der Feind ließ 1400 Gefangene zurück und wird Chlam-Gallas im ganzen 2000 verloren haben. Gleichzeitig Soor, Garde gegen Gablenz. Erstere, hauptsächlich Kaiser Franz, Füsilierregiment, 2. Garde, verlor 700. Da Gablenz allein 3000 Gefangene verlor (Brigade Grivicic vernichtet, ihr Kommandeur und zwei Oberste gefangen), wird er im ganzen 4000 nebst acht Geschützen verloren haben. Gleichzeitig Skalitz – VIII. Korps Erzherzog Leopold und Kürassierbrigade Schindlöcker gegen Steinmetz, unser Verlust betrug fast 1400. Der Feind schlug sich tapfer, besonders Brigaden Kreyßtern und Fragnern, deren Kommandeure fielen, und litt schwer, Regimenter Reischach und Salvator wurden teilweise aufgerieben. Wahrscheinlich 5000 bluteten oder wurden gefangen, sechs Geschütze gingen verloren. Wir haben also überall den doppelten Eindruck erstlich von der Überlegenheit unserer Truppen, die angriffsweise eine solche Übermacht über den Haufen warfen, und von der geringen Fähigkeit der feindlichen Führung, die ihre Übermacht nie auszunutzen verstand. Die Garde warf am 29. ein feindliches Detachement aus Königinhof, was uns nur 70, dem Gegner wohl 600 (zwei Drittel davon Gefangene) kostete. Und am gleichen Tage bei Schweinschädel trieb Steinmetz erneut das frisch angelangte IV. Korps Festetics vor sich her, ersterer verlor rund 400, letzterer vermutlich 1300, meist nur von einem Regiment, da der Feind von vornherein abzog und im Grunde nur ein Nachhutgefecht lieferte. Das Gesamtergebnis ist also, daß wir im ganzen 5000, die Feinde fast 30 000 verloren. Nur die gute Artillerie macht uns zu schaffen, die Infanterie kann nicht gegen unsere aufkommen.«

»Sehr schöne Aussichten! Doch der Block der Hauptmasse steht noch unversehrt. Glauben Sie an baldige Entscheidungsschlacht?«

»Ja, Benedek hat sich offenbar in die innere Linie verliebt und begreift nicht, daß sie nur offensiv ihre Stärke hat. Ursprünglich wollte er sich wohl auf den einen Teil unseres getrennten Vormarsches stürzen, doch mögen ihn zu langsame Mobilisierung und schlechte Verpflegung behindert haben. Jetzt ist es zu spät.«

»Warum denn?« warf Otto ein. »Der Kronprinz steht ihm so nahe, daß er immer noch mit versammelter Macht gegen ihn ausfallen könnte. Ich nehme an, daß er eine zentrale Stellung hat.«

Moltke blinzelte unangenehm. Ein Zivilist, und sei er zehnmal Ministerpräsident, hat nicht dreinzureden. Was der Mensch sich herausnahm!

Doch der König mit seinem gesunden Blick stimmte bei: »Das scheint mir auch so. Der Kronprinz befindet sich in schwieriger Lage.«

»Deshalb haben Eure Majestät ja heute nach Mittag, 12 Uhr 45 Minuten, meine telegraphische Direktive aus Kohlfurt genehmigt, einen Zusammenschluß der I. und II. Armee bei Königinhof zu bewirken. Die Elbarmee solle inzwischen jede Flankenbedrohung angriffsweise ablehnen und solche Flankenkräfte von der feindlichen Hauptarmee abdrängen.«

Es fiel Otto auf, wie sonderbar Moltke mit Voraussetzungen operierte. Die Elbarmee »soll« dies und »soll« das, aber wenn General Herwarth v. Bittenfeld nun weder will noch kann? Das »will« läßt sich später nicht genau feststellen, das »kann« noch weniger, Moltkes System setzte also lauter vorzügliche Armeeführer voraus. Napoleon sah aber hierin den wahren Fehler der äußeren Linien: weil man dabei mehrere gute Generale braucht, gewöhnlich hat man nur einen. Wußte denn Moltke so genau, daß Friedrich Karl und der Kronprinz (lies: General v. Blumenthal) wirkliche Feldherren waren? Er selber hatte (irrigerweise) keine übergroße Meinung von ihnen. Und der General Herwarth war ein braver Haudegen wie sein Ahne, der als Oberst der Mindener Füsiliere bei Kolin fiel, sonst nichts.

Als man am 30. abends in Reichenberg anlangte, bekam Bismarck freilich einen Vorgeschmack davon, wie durchaus selbständig die beiden Armeechefs handelten. Die Kunde von Schweinschädel und Königinhof empfing man schon früher, doch erst hier vernahm man, daß Friedrich Karl ein großes glänzendes Treffen bei Gitschin lieferte und selbständig in Richtung auf Königinhof vorrückte, obschon er von den Fortschritten der II. Armee nichts wußte. Die Verbindung war also hergestellt, nicht durch Verdienst Moltkes, sondern der Armeechefs. In Reichenberg lag der an der Hüfte schwer verwundete Divisionsgeneral Tümpling, der sich dorthin hatte bringen lassen, und berichtete dem König begeistert über seine Truppen bei Gitschin. Nähere Details und Aussagen von Gefangenen trafen ein, infolgedessen Moltke feststellte:

»Divisionen Tümpling und Werder gegen Chlam-Gallas und Sachsen nebst Kavalleriedivision Edelsheim. Unsere Brandenburger verloren etwa 1000, die Pommern 500. Die fünf österreichischen Brigaden, bei denen Ringelsheim und Piret vornehmlich gelitten zu haben scheinen, ließen 3300 Gefangene in unseren Händen, können aber schwerlich unter 6000 verloren haben. Die Sachsen brachten nur zwei Brigaden spärlich ins Feuer, können höchstens um 600 gelichtet sein. Von etwa 60 000 Feinden verwendete man nur 40 000 gegen unsere 24 000 Gewehre. Ein neuer Beweis unserer taktischen Überlegenheit.« Woran er übrigens herzlich unschuldig war. Er hatte höchst meisterhaft die Mobilisierung und den Aufmarsch geleitet, die taktischen Erfolge kamen jedoch einzig aufs Konto der Armeeführungen. (Die Zahlenangaben, wie sie nachher in seinem eigenen Generalstabswerk auftraten, übertrieben beiläufig etwas. Denn bei Nachod verloren die Österreicher nur 5700, wovon 2000 Gefangene, bei Skalitz 5600, wovon 2300 Gefangene, bei Gitschin 5500, wovon 2500 Gefangene, bei Trautenau 4800. Dafür wurde umgekehrt Benedeks Macht in der Hauptschlacht um 9000 zu niedrig geschätzt. Solche Irrtümer lassen sich nicht vermeiden, es bleibt nur bedauerlich, daß sie einmal amtlich festgelegt, sich einwurzeln, bis ein Kriegshistoriker sie ruhig den anderen nachschreibt. Jede Partei schreibt ihre eigene Kriegsgeschichte, und ein Forscher, der hineinkorrigiert, hat die unangenehmste Aufgabe, da das Publikum, unmündig wie immer, nur den sogenannten Berufenen glaubt, nämlich den amtlichen Legendenschmieden, deren Unfehlbarkeit meist auf Unwissenheit fußt.)

»Der alte Steinmetz hat sich besonders mit Ruhm bedeckt«, urteilte der König. Und das war auch wirklich so, man hat es später vergessen. Die taktische Leitung bei Nachod, Skalitz, Schweinschädel war mustergültig, während das ostpreußische und Gardekorps sehr ungenügend geführt wurden. Das glänzende Gefecht bei Soor verdeckte nachher, daß die Garde weder bei Trautenau noch bei Nachod eingriff, wie sie gekonnt hätte. General v. Blumenthal war wenig davon erbaut. Im preußischen Heere bürgerte sich noch nicht der unbedingte Gehorsam gegen den Chef des Armee-Generalstabes ein, obschon hier sogar der Name des Kronprinzen deckte. Bei Friedrich Karl hingegen gehorchte alles und tat das äußerste, weil man an sein Feldherrntum glaubte. Das Treffen von Gitschin bot den schlagendsten Beweis. Die Erfolge der II. Armee, daß sie so außerordentlich weit vorkam in bedrohliche Flankennähe des Feindes, waren taktisch nur Steinmetz zu verdanken, da der Marsch durchs Gebirge notwendig Stockungen verursachte, die der mit Moltke sehr unzufriedene Blumenthal voraussah. Steinmetz zeigte sich hier als einer der besten Korpschefs, die je gelebt. Die ganze Entschlußkraft und Zähigkeit dieses ausgezeichneten Generals zeigte sich darin, daß eine heftige Kanonade des frischen II. Korps Thun ihn nicht bewog, sein Biwak zu verlegen, obschon ein Gebäude, wo er selbst Quartier nahm, in Flammen aufging. Seine Artillerie antwortete mit gleicher Entschlossenheit. Ohne das unerschütterliche Festhalten des tapferen Greises hätte Blumenthal die neuen merkwürdigen Direktiven Moltkes überhaupt nicht ausführen können. So unglaublich es klingen mag, muß man Moltke in diesem Feldzug den Stempel eines ideologischen Phantasten aufdrücken. Denn nur bei größtmöglichster Leistung der Unterfeldherren bis zu den einzelnen Korpschefs herunter konnten seine Ideen möglich werden. Ja, Friedrich Karl, Blumenthal und der Korpschef Steinmetz, er täuschte sich nicht. Aber wußte er das? Erst wägen, dann wagen – und wenn Benedek zufällig ein Feldherr war? Setzten doch die naiven antipreußischen Zeitungsschreiber damals der »affenartigen Geschwindigkeit« der Preußen einen geheimnisvollen Plan Benedeks entgegen, der ursprünglich auch bestand und nur an seiner mangelnden Entschlossenheit scheiterte. Denn die furchtbare Überlegenheit des preußischen Gewehrs, die Moltke natürlich mit in sein Kalkül bezog, hob die Möglichkeit, ja Sicherheit schwerer Teilniederlagen nicht auf, wenn die ursprüngliche numerische Übermacht Benedeks die strategische Gunst der Lage benutzte und er auf vereinzelte Korps fiel. Noch am letzten Junitage hatte er nichts als Steinmetz vor sich nebst einem Detachement vom schlesischen Korps, das nur durch die Garde unterstützt werden konnte. Man hatte die Armee des Kronprinzen sehr viel stärker gemacht als die des Prinzen Friedrich Karl, nicht bloß aus dynastischen Gründen, sondern weil der König eine hohe Meinung von General Blumenthal hatte, ein neuer schlagender Beweis seiner geradezu genialen Erkenntnis für Menschen und Dinge. Aber Bonin hatte bei Trautenau die Dinge so verfahren, daß die kronprinzliche Armee noch immer nicht ihre richtige Stärke entfalten konnte. Und so sah sich denn Moltke genötigt, in seiner Direktive vom 29. früh zugegeben, daß der Kronprinz sich in schwieriger Lage befinde.

Etwas anderes, während alle solche Gedanken ihm durch den Kopf gingen, schnitt Otto in Reichenberg an. »Wie stark ist die hiesige Besatzung?«

»Hier? Das spielt doch gar keine Rolle. Etwa 1800 Trainsoldaten.«

»Nur mit alten Vorladern bewaffnet, ganz recht. Nur wenig entfernt bei Leitmeritz streift die sächsische Kavallerie. Der Telegraph hat schon ausgesagt, daß wir in Reichenberg Quartier haben. Man kann hier das Hauptquartier aufheben und, was noch wichtiger, den König. Ich erlaube mir, dies zu betonen.«

»Mein Gott, so mögen die Trainsoldaten nach dem Schloß abrücken, wo Seine Majestät sich aufhält,« schlug der Major Verdy du Vernois vor, ein Vertrauter Moltkes. »Dies Bangen für die persönliche Sicherheit ist übertrieben, es droht keine Gefahr.«

»Da ich nicht für mich fürchte«, erwiderte Otto aufgebracht, »so werde ich nicht im Schlosse, sondern in der Stadt Quartier nehmen.« Das kann gut werden! dachte er. Die Herren Militärs werden bei jeder Gelegenheit verstimmt, als ob ich in ihr Ressort übergriffe, sobald ich nur den Mund öffne, und platzen vor Eifersucht, als ob ich meine Stellung zum König zu steter Einmischung ausnutzen wolle. Nichts liegt mir ferner, doch man wird wohl noch sein eigenes Urteil haben dürfen.


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