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Aus dem süßen Traume, die perfiden Übergriffe des schändlichen Bismarck besänftigt zu haben, erwachte Napoleon bald durch die Kunde, daß der Böse, ehe er in den Zug nach Paris stieg, die Berufung eines allgemeinen Zollparlaments unterzeichnete. Den am 14. Juli feierlich zum Bundeskanzler Ernannten belästigte er jetzt mit einer neuen Attacke über Artikel V des Prager Friedens, wonach die Nordschleswiger ein Plebiszit veranstalten sollten über die Wahl ihrer Zugehörigkeit. Französische Journalisten ließen sich in Kopenhagen feiern und toasteten auf das dänische Heldenvolk. Antwort: Preußen verbittet sich jede Einrede in einen Vertrag, der nur mit Österreich geschlossen, übrigens besteht eine Geheimklausel, wonach das Optieren erst 1870 stattfinden darf. Außerdem wird man von Dänemark bindende Garantie verlangen, daß die Deutschen in Nordschleswig nicht später von den Dänen molestiert werden. Erneut abgeblitzt! Benedetti hatte wohlweislich nur eine Depesche verlesen, ohne eine Kopie zu hinterlassen, also leugnete der Moniteur, daß je eine amtliche Note an Preußen die heikle Sache berührte. Doch während am 15. August die erste Sitzung des Norddeutschen Bundesrates stattfand, ergötzte sich der Empereur an einer Rundreise durch Süddeutschland zur Zusammenkunft mit Kaiser Franz Josef in Salzburg, um diesem sein Beileid über das unzeitige Ableben seines Herrn Bruders auszusprechen. Kaiser Maximilian war am 19. Juni standrechtlich erschossen worden, nachdem der Marschall Bazaine, ein Schurke mit Eichenlaub, ihn im Stiche ließ und ans Messer lieferte.

»Es gehört doch eine eiserne Stirn dazu, für ein Verbrechen zu kondolieren, dessen Mitschuldiger man ist,« zürnte der ehrliche alte Direktor Bonnel, der bei Bismarck zu Gaste war. »Und dabei plant er neue Bosheit. Die Stimmung im ganzen deutschen Vaterland scheint sehr erregt, vielleicht noch erregter als bei der Luxemburger Frage. Ehrlich heraus, durfte man damals nicht den Krieg wagen?«

Das Gesicht des Kanzlers überzog ein finsterer Ernst. »Verlust von 30 000 braven Soldaten und kein mutmaßlicher Gewinn! Glauben Sie mir, meine Herren, wer nur einmal in brechende Augen auf dem Schlachtfelde blickte, der wird sich wohl lange besinnen, ehe er eiserne Würfel wirft.« Nachher im Garten mit Bonnel spazierend, wies er auf einen runden Rasenplatz: »Dort bin ich in der Nacht vor Ausbruch des großes Krieges lange auf und ab gegangen. Wenn die Welt ahnte, wie einem dabei zumute ist!« Er brach heiter ab: »Louis hatte nicht viel Freude an seiner Reise. Auf allen Bahnhöfen kalte Höflichkeit, eisiges Schweigen der Menge, in Augsburg ein paar Vive l'Empereur, sofort ersäuft von Zischen und Lärmen. Der Großherzog von Baden erschien nur ein paar Minuten, der König von Württemberg, Schwager des Zaren, sah ihn nur eine Minute in Ulm, beim Verlassen der Grenze. Ich schäme mich zu sagen, daß der Großherzog von Hessen sich persönlich in Salzburg einstellte. Der König von Bayern begleitete den Kaiser im Extrazuge von München bis zur Grenze, eine unnötige Höflichkeit, die ihm verdacht wurde. Die süddeutsche Presse schart sich diesmal um Preußen wie ein Mann. Die Stuttgarter Blätter sind am heftigsten gegen den ›fremden Tyrannen‹. Er hat wieder Pech, der arme Teufel. Seine Triumphfahrt durch Süddeutschland wurde beinahe ein Kalvarienweg. Er hat nichts erreicht, als erneut alle Deutschen in Harnisch bringen.«

»Aber in Salzburg, wo er vier Tage war, werden die Kaiser sich wohl nicht begnügt haben, an ihre beidseitigen schönen Kaiserinnen Komplimente auszutauschen.«

»Mir schwant Böses. Der bayrische klerikale Adel und die Württemberger Noten werden beide die Annäherung von Nord und Süd erschweren. Im allgemeinen dient aber Napoleons feindliche Demonstration nur dazu, die Einheitsbewegung zu beschleunigen. In Bayern kann ich mich auch auf den jetzigen Premier Fürst Hohenlohe verlassen. Und auf den jetzigen Minister des Auswärtigen in Paris, meinen alten Bekannten Moustier, verlasse ich mich auch, daß er Berlin und mich zu gut kennt, um nicht auf halbem Wege umzukehren.« –

Richtig prophezeit. Zirkulardepesche beschwichtigt. Doch Ottos Antwortzirkular goß eher Öl ins Feuer der deutschen Erregung. Er nahm Kenntnis von der befriedigenden Erklärung, um so mehr sich wieder erwiesen habe, daß Deutschland den Gedanken nicht ertrage, unter fremder Vormundschaft zu stehen. Da trat Napoleons üblicher Spezialgesandter auf die Bühne, General Fleury machte Otto eine Drohvisite. »Ich bin beauftragt, Herr Minister, vertraulich mitzuteilen, daß mehr Noten von der Art, die wir sarkastisch nennen wollen, im französischen Publikum eine Kriegsstimmung erzeugen könnten, die unser Gouvernement kaum dämpfen dürfte.«

»Das wäre, mein General, eine uns unerträgliche Anmaßung dieses Publikums. Unsere häuslichen Angelegenheiten gehen niemanden draußen etwas an, und mir ist nicht bekannt, daß Europa sonst sich ähnliches erlaubt.«

»Europa sind wir«, warf sich der Franzose in die Brust.

»Dies Schlagwort las ich schon mal in Ihrer Presse. Ich zweifle, ob Europa sich davon geschmeichelt fühlt. Was wünschen Sie eigentlich?«

»Preußen übt einen Druck auf süddeutsche Mächte aus, die uns um Schutz anrufen.«

»Das deutsche Volk würde dies als Landesverrat betrachten. Meine Note vom 7. September überläßt es dem Ermessen unserer süddeutschen › Verbündeten‹,« er betonte dies Wort, »in welchem Grade sie sich uns nähern wollen.«

»Baden soll gewaltsam in Ihren Bund gezogen werden.«

»Unsinn! Wir schöpfen nicht den Rahm ab, damit die sonstige süddeutsche Milch sauer werde. Wir sind die Hürde für die deutsche Herde, und wenn verirrte Schafe sich draußen herumtreiben, so mögen sie selbst den Weg finden.«

Fleury trat sofort den Rückzug an. »Ich danke Eurer Exzellenz für die beruhigende Versicherung, die ich unverzüglich nach Paris tragen werde, daß kein Attentat auf Badens Freiheit geplant wird. Meine Mission hatte also schönen Erfolg.« Aus Niederlagen Siege zu machen verstand die französische Rabulistik ja immer.

Das politisch so ereignisreiche Jahr ging ohne weiteren Zwischenfall zu Ende, im Frühjahre des neuen Jahres trat das Zollparlament zusammen. Dieser große historische Akt brachte aber noch nicht die erhofften Früchte. Die süddeutschen Abgeordneten setzten als Separatisten den Unionisten einen oft pöbelhaften Widerstand entgegen. »Kein Reiter kann immer galoppieren«, beruhigte Otto entrüstete Unionisten, doch er litt heimlich bitter unter einer Halsstarrigkeit, die mit »Zur Sache!« »Zur Ordnung« jede deutschnationale Gesinnung niederbrüllte, wenn man über bloße Zollfragen hinausging. Der Realpolitiker mußte es übers Herz bringen, selber die Unionisten an Nichtkompetenz des Zollparlamentes bezüglich rein politischer Fragen zu erinnern. »Sonst könnte dies die Lawine ins Rollen bringen, die so lange drohend am Berge hing.« Der Obstruktion versicherte er ironisch, man werde sie zu nationalen Segnungen nicht zwingen, die Norddeutschen seien gar nicht so »empressioniert«, reckte sich aber zugleich zu dem Donnerworte auf: »Ein Appel an die Furcht fand nie ein Echo in deutschen Herzen.« Aber zu Keudell und anderen Vertrauten verwies er auf diesen Beweis, wie sehr jede Überstürzung wie in der Luxemburger Frage verfrüht gewesen wäre. »Man muß manchmal den Kunktator spielen, nicht immer ist Vernichtungsstrategie am Platze, politische Ermattungstaktik hat auch ihr Gutes. Der Stein ist im Rollen, doch ihm einen Fußtritt zu geben, könnte die Beschleunigung zum Rollen in den Abgrund machen. Mit eigenem freien Willen müssen die Süddeutschen sich ins Vaterhaus zurückfinden, Zwang würde alles zerstören.«

»In Württemberg empfiehlt sich Barnbüler den Wählern als Schafzüchter, Kultusminister Golther als Inquisitor alldeutscher Tübinger Professoren,« warf Keudell ein. »Die deutsche Partei wird unterliegen und der abscheuliche Ultramontane Probst den Ton angeben.«

»Wenn der Wicht, wie ich ihn kenne, zu verstehen gibt, ein ungenannter Irgendjemand passe auf deutsche Zwietracht, so werde ich ihn niederdonnern.« –

Seine eigene Persönlichkeit wirkte indessen gewaltig auf alle süddeutschen Mitglieder, die sich von Voreingenommenheit freimachten. »Das ist ein ganz anderer als wir dachten«, bekannte ein tüchtiger Bayer Völk dem ins Zollparlament gewählten Ministerpräsidenten Fürst Chlodwig Hohenlohe. »Jede Zeit hat ihren Mann, und wir sahen jetzt alle, daß die zweite Hälfte des Jahrhunderts für Deutschland einen solchen Mann hat. Was immer einige Württemberger Kollegen einwenden, ich erblicke diesen Mann in Bismarck.« Hohenlohe, dessen Andenken jeder Deutsche ehren soll, ein sehr gebildeter Grandseigneur, nur mit liebenswürdiger Schwäche für das weibliche Geschlecht, doch fest und stark in echter Vaterlandsliebe, drückte ihm die Hand. Langsam verstummte die Opposition. Niemand widersprach, als ein Abgeordneter die schönen Worte sprach: »Jetzt ist Frühling in Deutschland, und obwohl einige von uns nacheinander mit Schneebällen schmeißen, so wird der Lenz sie bald des Materiales für diesen Zeitvertreib berauben.« Am 21. Mai gab die Berliner Kaufmannschaft im Börsengebäude dem scheidenden Zollparlament ein Frühstück. Dessen Präsident Simson toastete in schönen Worten auf das »große und gute Berlin«. Niemand könne weissagen, wann das Zollparlament sich zu einem Reichstage des Gesamtstaates deutscher Nation entwickeln werde, doch wir warten darauf. Da erhob sich der Kanzler und rief den süddeutschen Brüdern einen Scheidegruß zu. Der schnell vergangene Frühlingstag gemeinsamer Tagung möge nachwirken wie der Frühling auf künftige Zeit. Mögen die Süddeutschen die Überzeugung mit nach Hause nehmen, daß sie hier Bruderherzen und Bruderhände finden für jegliche Lage des Lebens. Kaum verklang der begeisterte jubelnde Beifall, als Hohenlohe, ein schmächtiger unansehnlicher Herr mit einer feurigen Seele, ein Hoch ausbrachte auf die Vereinigung aller deutschen Stämme.

*

So ging die Saat denn herrlich auf. Auch bewiesen mancherlei Zeichen, daß in Preußen selber das Vertrauen zum Bundeskanzler immer höher stieg. Das ehrsame Städtchen Bütow überreichte ihm ein Ehrenbürgerdiplom, und die Deputation erzählte nachher von der Leutseligkeit des großen Mannes, der ihnen sogar ein Nachtquartier bei sich anbot. Doch die biederen Bürger versprachen ihren Eheliebsten, vor Mitternacht deren Neugier zu stillen, und so mußten sie eiligst zur Bahn. Worauf Frau Gräfin ihren Mann anlächelte: »Da du jetzt auch Bürger von Bütow bist, so mußt du fortan auch diesem guten Beispiel deiner Mitbürger folgen, das wäre mir sehr lieb.« Otto zuckte lachend die Achseln und arbeitete wie gewöhnlich die ganze Nacht.

Für den Antipartikularismus in deutschen Landen zeugte es, daß die Kammern sich gegen die Generosität empörten, mit der König Wilhelm auf Bismarcks Rat die Depossedierten aus ihren früheren Revenuen unterstützte. Gegen den blinden Welfen richtete sich der heftigste Haß, der in Hietzing unterm Schatten der Wiener Hofburg weiterintrigierte. Bezüglich der Vorgänge bei Langensalza kann man juridisch verschiedener Meinung sein, da verstockte Welfische behaupten, der arme Blinde habe damals zu Preußen übertreten wollen und auch vorher nicht unbedingt Neutralität abgelehnt, der fürchterliche machiavellische Bismarck aber habe aus guten Gründen dies zuschanden gemacht. Doch was galten solche Rekriminationen vor dem geschichtlichen Forum, da die höhere Moral alldeutschen Nutzens einzig auf seiner Seite stand! Er setzte jetzt dem König auseinander, daß er aus wohlerwogenen Gründen dem Entthronten so große pekuniäre Vorteile zugestehe, obschon dieser außerdem noch sechs Millionen Taler in der Bank von England und vier Millionen aus Herrenhausen mitgenommen hatte. »Die früheren Untertanen könnten sentimentale Klagen führen, der Letzte eines so alten Herrscherhauses sei in Bedürftigkeit versetzt. Ferner können wir England in diesem Punkte verpflichten. Drittens wird König Georg sich bound in honour fühlen, wie das Londoner Kabinett sagt, von jeder Feindseligkeit abzustehen, obschon er keinen Abdankungsakt unterzeichnen will.« Er blieb so fest, daß er der Kammer mit seiner Demission drohte, und so gewaltig wuchs sein Ansehen, daß sie diese Drohung ebenso einschüchterte wie den dankbaren König. Dabei rechnete er aber genau, daß der hochmutverrückte und jedes Deutschgefühls, das er beständig im Munde führte, bare Dynast sich selbst ins Unrecht setzen würde. Das tat dieser in überraschender Weise. Er entblödete sich nicht, eine Welfenlegion zu bilden, die ihm jährlich 300 000 Taler kostete und die schamlos nach verschiedenen Irrfahrten in Frankreich landete, um sich dem Landesfeind gegen das Vaterland anzuschließen. In Hietzing drängten sich Deputationen von Strolchen auf des Blinden Kosten, die auf Wiederherstellung seiner Herrschaft tranken. Leider nahm ein begabter und angenehmer Mensch, der sogenannte Hofrat Meding, ein Romanschriftsteller von entschiedenem Talent, der unter dem Namen Gregor Samarow später hohe Honorare aus seiner Preisgabe diplomatischer Geheimnisse zog und damit seine leichtlebige Viveur-Selbstsucht speiste, an diesem landesverräterischen Feldzug hervorragenden Anteil. Jeder, der ihn persönlich kannte und der vorurteilslos seine heute verschollenen zahlreichen Romane las, wird ihm zugestehen, daß er in seiner Weise eine Kraft war und persönlicher Liebenswürdigkeit nicht entbehrte. Doch daß der Verschwender seine vortrefflichen Töchter (bei den Frauen bildet sich die Vererbung vom Vater immer nach der edleren Seite aus) im Elend zurückließ trotz seiner einst überaus hohen Einnahmen, bricht über den Selbstling den Stab. Obschon er nachher mit Preußen Frieden schloß und sich unterwarf, darf ein gerechter Deutscher seine vormalige Tätigkeit nie verzeihen. Der charmante Herr, der in seinem einer höheren Bedeutung gegenüber zugleich bescheidenen und vornehmen Auftreten den gewiegten Höfling erkennen ließ, hatte eine viel größere Rolle gespielt als man glaubt. Für König Georg, obschon auch diesem die immer über den geistigen Durchschnitt wegragende Fürstenbegabung nicht fehlte, lies immer Meding. Es fällt heute schwer, sich in die Selbstentschuldigung dieses gemeinen Landesverrates zu versetzen. Nur das stammverwandte Italien (»lateinische Rasse«, o weh!) hatte die gleiche zentrifugale Richtung, ein Brite oder Franzose muß ins Mittelalter zurückgreifen, um gleichen Wahnsinn des Landesverrates zu finden, der sich noch mit Rechtsgründen drapiert.

Sobald die Intransigenz des Welfen entschiedene Formen annahm, schwenkte der alles vorausschauende Staatsmann plötzlich ab und fand bei dem Ehrgefühl seines Monarchen sofort Gehör. » A tempo« wurden die bewilligten Revenuen der »depossedierten« Tyrannen (der Kurfürst von Hessen benahm sich ähnlich zum Gelächter seiner früheren mißhandelten Untertanen) »sequestiert«. Auch diese undeutschen Ausdrücke lassen sich durch keine besseren deutschen ersetzen, und dies mag den »Puristen« – auch hierfür gibt »Sprachreiniger« nicht den besseren Sinn – zu denken geben. So wurde denn auch der »Reptilienfond« unsterblich, den nunmehr Otto empfahl.

*

»Nichts von Spion ist in meiner Natur«, sagte er der Kammer, was gewiß niemand bestritt, »doch wir werden Ihren Dank verdienen, wenn wir die Verfolgung der scheußlichen Reptile bis in ihre Schlupflöcher aufnehmen.« Er wolle die gestoppten Revenuen zu einer Gegenspionage verwenden. Seinen genialen Dezentralisationswunsch, die Zinsen von 12 Millionen Talern als Provinzialfonds für Hannover zu verwerten, verwässerten die Konservativen, wofür Otto ihnen eine saftige Levitenpredigt las. Längst hinausgewachsen über das »engere Vaterland« betrachtete er schon jetzt jeden Stockpreußen als Deutschfeind. Um die süddeutschen Liberalen zu gewinnen, bekehrte er sich zu Laskers Antrag, die Immunität der Reichstagsabgeordneten auf alle Landtage zu übertragen. Wenn der Bundesrat und das Herrenhaus ihr Veto einlegten, was konnte er dafür? In der Flottenfrage, wo man ihm das diktatorische Recht der ihm verliehenen völlig absoluten Kanzlerschaft beschneiden wollte, brachte er die Nationalliberalen auf seine Seite. Die schwarzweißrote Flagge wird fortan einer deutschen Flotte voranwehen, die zugleich eine preußische ist. Im nächsten Jahre hatte er den Versuch zurückzuweisen, ein ordentliches Bundesministerium, dem Reichstage verantwortlich, an die Stelle der verfassungsmäßigen Einseitigkeit der Kanzlerherrschaft zu setzen. Der Kanzler des Norddeutschen Bundes hatte wesentlich das Auswärtige zu leiten, für alles sonstige hatten ja die Landtage ihre Rechte, und hier müsse Einheit der Handlung herrschen. Bundesministerium würde Zentralisierung bedeuten, aber partikulare Freiheit im engeren Vaterlande sei das Ideal aller Deutschen, und die liberalen Doktrinen würden hier nur den Main verbreitern. Mit überlegener Weisheit belehrte er die starren Unionisten: »Stellt man gewaltsam den Zeiger vor, beschleunigt man damit nicht den Marsch der Zeit.« »Wenn man eine Laterne unter einen Birnbaum stellt, so reift man damit nicht die Birne.«

Roon stellte vor: »Dem Herrenhause gefällt die entschieden liberale Wendung der Dinge nicht.« Otto wollte mit dem Kernspruche des Götz v. Berlichingen antworten, besann sich aber und urteilte ernst: »Ich begrüße alle Bestrebungen auf nationalem Gebiete, die Ansage volkswirtschaftlicher Handels-, Handwerker-, Juristentage. Strohdrescherei ist besser als Nichtstun.«

»Die Gründung eines Protestantenvereins aller Schattierungen gegen die Strenggläubigen kann Sie doch nicht befriedigen.« »Das ist nebensächlich.« Er hütete sich wohl, zu bekennen, daß er sich innerlich längst von der Orthodoxie freimachte. »Die Agitationen in der Arbeiterwelt führen nur zur Zersetzung der verschiedenen Koterien Bebel, Liebknecht, Schweitzer. Und was Schulze-Delitzsch vorhat, die Erwerbsgenossenschaften – sie wollen im August tagen –, ist eher staatsfreundlich.« Er griff nach der Brust und mußte sich setzen.

»Was ist Ihnen?« fragte Roon besorgt.

»Eine Wiederkehr des alten Übels. Ich muß ausspannen, fürchte ich. Die vereidigten Ministerialbäume in Varzin werden nicht ausplaudern, was ich dort denke.« Auch nicht, wie schwer er dort litt, als er schon im Juni auf Urlaub sich schwer erkrankt unter ihren Schatten flüchtete. Und als er dort Ende August mit Keudell und Blanckenburg ausritt, tat sein Pferd einen Fehltritt in ein Maulwurfsloch, stürzte über ihn und verschlimmerte seinen bösen Gesundheitszustand. Maulwurfslöcher sind immer Großen gefährlich. Von seinem Krankenlager beobachtete sein rastloser Geist das Aufwärtsstreben der Nation. Die Einweihung des Lutherdenkmals in Worms war ihm geradeso willkommen wie die katholische Versammlung in Bamberg, die trotz allem ihr Deutschtum bekundete. Das Geheul der Konservativen über sozialistische Kundgebungen, daß »umfassende Organisation der Arbeiterschaft« den »Fortschritt vermittels Arbeitseinstellung« (Generalstreik) suche, belächelte er. »Kinderkrankheit und Machtfrage. Lassalle war einmal bei mir, ein bedeutender Mensch, obschon sehr eitel. Was praktisch durchführbar und gerecht am Sozialismus, wird an mir stets einen Förderer finden. Lassalle war ein gutdeutscher Patriot, der arme Kerl fiel ja im Duell in Genf, wie man hört, wegen eines Frauenzimmers. Wie kann man nur so dumm sein! Seine Rede zu Fichtes Gedächtnis im Hotel de Rome las ich mit Vergnügen. Ein feiner gelehrter Kopf, nicht ohne Verständnis für hohe Politik. Die Juden zeichnen sich überhaupt in der Nationalbewegung aus. Wohl ihr praktischer Sinn, der lieber ein großes als ein kleines Vaterland aus wirtschaftlichen Gründen erstrebt. Sie sollen mir willkommen sein, Vorurteile sind stets schädlicher Ballast. Lassalle brauchte in seiner Verteidigungsrede gegen Staatsanwalt Schelling – ›den kleinen Sohn des großen Vaters‹, na, mir wurde von des alten Schelling Pantheismus übel, und die Hegelei des Herrn Lassalle ist auch nicht nach meinem Geschmack – das Gleichnis: ›Die Griechen nannten jeden, der ihre Sprache nicht verstand, einen Barbaren. Der Herr Staatsanwalt und ich, wir sind für einander ... Barbaren.‹ Geistreich! Da fällt mir ein, daß unser Justizminister Lippe jetzt fällig wird. Solche antidiluvianische Überreste kann ich nicht brauchen. Er muß weg, die Kammer wird jauchzen.«

Lassalle, der ihn bewunderte, nahm er nicht ganz richtig das Maß, indem er ihn später herablassend als einen liebenswürdigen gescheiten Kerl öffentlich anerkannte. Das Tagebuch des Gymnasiasten hat Stellen, wo man singt: Haben Sie nich den kleinen Cohn gesehn? Die Eitelkeit des schönen blonden Mannes, der vor seiner adeligen Liebsten prahlte, er werde noch mit vier Pferden lang durchs Brandenburger Tor als Präsident der deutschen Republik fahren und dabei die kümmerliche Person eines Co-Israeliten Levi aus Rodenberg brutal verspottete, der das große Wort gelassen sprach: »Ich hasse nichts so wie Juden und Literaten, leider bin ich beides«, der für Platens frostige Didaktik schwärmte, nachdem er Heine in Paris sich in Lachkrämpfen über seine Ideologie winden sah, hatte etwas Abstoßendes. Doch die echte Genialität und der wahre deutsche Idealismus dieser begeisterungsfähigen Natur, deren »aristokratische« Genußsucht doch kein Opfer für seine Ideale scheute und nie den kleinsten Gewinn von seinem Eintreten für die Enterbten zog – ließ er davon ab, stand ihm jede Laufbahn offen, sei es als Führer der Liberalen, sei es als Mitarbeiter Bismarcks – rechtfertigen es, daß auch er in die Unsterblichkeit einging. »So gehen wir den Pfad, den uns geführt Lassalle«, die Arbeitermarseillaise verewigt sein Gedächtnis. Daß er vorzeitig einen törichten Tod fand, mochte für ihn ein Glück sein nach dem Gesetze des Karma. Daß Bismarck einen wertvollen Bundesgenossen verlor, war aber sicher kein Glück. –

Ms der endlich Geheilte Anfang Dezember nach Berlin zurückkehrte, atmete alles auf. Im Norddeutschen Reichstage erschien er stets im blauen Rocke des Königs. Seine Gebärden kannte jeder, sein Umherspähen mit der Lorgnette, sein Drehen und Wenden eines langen Bleistiftes. Beim Reden drehte er auch manchmal die Daumen ineinander, seine Stimm« klang trocken und eintönig, seine Zunge löste sich nicht zur üblichen seichten Beredsamkeit, selbst sein unruhiges Vor- und Rückwärtstreten verriet, wie schwer er mit der Fülle seiner Gedanken rang. Doch wer aufmerksam zuhörte, ob der Gewaltige da oben auch zögerte, stockte, stammelte, sich versprach, der war betroffen von der kernigen saftigen Aussprache tiefer gesunder Urteile, dem Reichtum packender Gleichnisse, die eine dichterisch-bildnerische Plastik boten. Ähnlich wie der Korse sah er immer das Ding an sich, die innerste Natur eines Dinges, das begriff selbst der Widerstrebendste. Und wenn er vom »deutschen Volke« sprach, hatte seine einfache schmucklose Rede eine stille Wärme, der sich niemand in der Kammer entzog. Dieser schlechte Redner elektrisierte oft die ganze Versammlung zu rauschendem einstimmigem Beifallruf.

Wer ihn am inneren Ausbau so emsig wirken sah, bedachte kaum, daß die Last des Auswärtigen auf seinen Schultern ruhte. Die Abrechnung mit Frankreich verschieben blieb seine Hauptsorge. Ende März hatte man einen hohen Gast, Prinz Jerome Napoleon, der schon wieder mal festes Zusammengehen mit Frankreich aufs Tapet brachte, diesmal wegen Wirren in der Türkei. Otto war die Verbindlichkeit selbst, ließ aber sofort durchblicken, daß er passives Zuschauen vorziehe, wenn hinten weit in der Türkei die Völker aufeinander schlagen. Preußen habe dort keinerlei Interessen. Dem Militärattaché Colonel de Stoffel empfahl er zutraulich, die Berichte des Generals Moltke zu studieren, der einst in Militärmission die Türkei bereiste. »Dieser Essai, in klassischem Stile geschrieben, verdient Übersetzung ins Französische.« Innig erkundigte er sich, ob die herrliche Cäsarbiographie, deren Anfänge schon um sieben Jahre zurückgingen, vom fränkischen Cäsar vollendet sei, der einem Tribunal von Gelehrten mit gleicher Würde vorstand wie dem europäischen Areopag. Aber von Bündnis keine Spur.

»Er will uns mit Rußland brouillieren«, lachte er sich vor Keudell aus. »Dieser vielschlaue Ulysses, dieser erfinderische Macher! Ich will mir den Zaren warm halten, solange es irgend geht. Armer Louis! Bei jeder Gelegenheit läßt er durch Benedetti beteuern: Tu was du willst mit Deutschland, ich halte still. Er will sich nicht schlagen, ich auch nicht, wenn ich nicht muß. Doch seine Senatoren und Deputierten erheben ja ein nie endendes Geheul, bei dem man nicht unterscheidet, ob es von Tigern oder Schakalen stammt.«

»Die so gemäßigte Nationalzeitung sagte neulich, daß nur Deutsche so freche Provokationen ertragen, nur Franzosen eine solche prahlerisch beleidigende Sprache führen könnten. Diese Presse zeige, daß die Gallier noch nicht zivilisiert seien.«

»Das trifft zu, falls man äußere Zivilisierung von höherer Kultur trennt. Ihr Charakter ändert sich nie. Endlich erlebe ich, daß die Deutschen von ihrer elenden Affenliebe für dies kokette Schlangengewürm geheilt sind. Doch nächstens fangen sie wieder an, und wenn sie die Schlange unter den Fuß treten, zertreten sie ihr nicht den Kopf, sondern singen wehmutvoll: Wenn ich dich liebe, was geht's dich an!«

Trotz seiner Abgeschlossenheit empfing er im Juni einen französischen Journalisten, der ihn geistreich über den Widerspruch interpellierte, er wolle Deutschlands Verfassung auf allgemeines Stimmrecht gründen, dagegen die preußische Kammer selbstherrlich regieren. »Man hält Ihr geplantes Nationalparlament in Paris für eine bloße Kriegsmaschine, die Sie zerbrechen würden, nachdem Sie sich ihrer bedienten.«

»Ah, Sie gehen der Sache auf den Grund. Bei Ihnen erfreue ich mich der gleichen Unpopularität wie daheim. Ich bin der Sündenbock der öffentlichen Meinung, doch verfolge mit ruhigem Gewissen mein Ziel. Man macht mich allein verantwortlich, und doch habe ich die mir auferlegte politische Situation nicht geschaffen, sondern mich ihr anbequemt.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»In Frankreich wird der gesellschaftliche Körper von gleichem Gefühle belebt, in Deutschland und besonders in Preußen herrscht die Individualität, die alles persönlich beurteilt, nie sich der Masse unterordnet. Der Deutsche hat das Bedürfnis der Kritik und Opposition. Man zeigt ihm eine offene Tür, die verschmäht er und bricht ein Loch in die Mauer. Eine Regierung stelle an, was sie will, sie wird nie populär sein. Selbst bei Friedrich des Großen Tod rieb man sich die Hände, und doch verehrte man ihn, wie überhaupt die Hohenzollern. Ruft der König gegen das Ausland, gehorcht alles wie ein Mann.«

»Wirklich? Man behauptet, Herr Minister, auch bei Ihnen könne Unzufriedenheit zu offener Empörung führen.«

»Unsinn! Ich allein bin in den Augen solcher Leute der böse Mann, ich ertrage es gern, weil alle den König ehren und achten. Ein Preuße, der von der Barrikade nach Hause käme, würde von seiner Frau eine nette Gardinenpredigt erleben, doch als Soldat schlägt er sich wie ein Löwe für sein Vaterland. Die Armee ist die einzige disziplinierte Gewalt, und sie paßt wunderbar zum deutschen Charakter. Denn der gleiche Individualismus, der ihn zu einem Raunzer macht, wie die Wiener es nennen, und der doch nur eine Folge seiner nachdenklichen Geisteskraft ist, befähigt ihn zu verständnisvoller Unterwerfung unter das Gesamtwohl.«

»Sie sind der erklärte Feind Österreichs?«

»Nicht mehr. Ich habe jetzt, was ich wollte.«

»Die Einigung Deutschlands unter preußischer Ägide?«

»Norddeutschlands. Nur darum handelt es sich. Ich habe viele feindselige Einflüsse zu bekämpfen. Doch ich setze Leib und Seele ein, um mein Ziel zu erreichen, Exil und Schafott haben keinen Schrecken für mich.«

»Doch das allgemeine Stimmrecht, ein ganz demokratisches Prinzip, widerspricht doch dem Standpunkte des Königs von Gottes Gnaden.«

»Sie verkennen den König. Daß ich von Natur der geborene Feind nationaler Volksvertretung sei und Deutschland mystifizieren wolle, ist eine willkürliche Verleumdung.«

*

Sylvesternacht zum neunten Jahre des sechzigsten Jahrzehnts. Otto befand sich zur Jagd in Holstein bei einem Grafen Schimmelmann in Ahrensburg, als just vor seiner Abreise 200 Pechfackeln hell im Schloßhofe flackerten. Viele Hunderte Holsteiner wogten heran, 60 Berittene begleiteten ein Musikkorps. So bezeugten die Holsteiner ihrem Befreier, daß sie ihn verstanden und nicht nur Deutsche, sondern Preußen bleiben wollten. Hocherfreut hielt er eine Ansprache. »Ich sehe darin den Beweis, daß das Gefühl des Zusammengehörens mehr und mehr zur Wahrheit wird. Zusammengehört als Deutsche haben wir ja immer, wir waren stets Brüder, wir wußten es nur nicht. Gemeinsam ist uns allen im Norden das liebe Plattdeutsch von Holland bis zur Weichsel. Wir sind es uns auch bewußt, haben es früher nur nicht gesagt, daß wir alle deutsche Brüder sind.« Dreimaliges Hoch, und der ganze Zug geleitete ihn zum Bahnhofe, die Bauernvögte der Reiterschar schwenkten den Hut zu begeistertem Heilrufe, als der Gefeierte abfuhr. Solche freiwilligen Huldigungen verständnisvoller Würdigung trösteten ihn über vieles, schlossen die Wunde vergangenen Leides und erfüllten ihn mit frischer Kraft. Die kerndeutschen Holsteiner empfanden, daß dies lebhaft bewegte Gesicht mit der hohen breiten Stirn gerade das ausprägte, was ihrer Stammesart entspricht: zähe Beharrlichkeit, verbunden mit sehr viel Wohlwollen.

Die Union hatte, wie bei ihr üblich, als Botschafter einen Gelehrten nach Berlin geschickt, den trefflichen Historiker Bancroft, bei dem bald die geistige Elite Berlins ein und aus ging. Am 4. März fand bei ihm ein Festessen statt, um den Präsidentschaftsantritt des Generals Grant zu feiern. Der Kanzler unterließ nicht, in einem zündenden Trinkspruch die Bedeutung der alten herzlichen Beziehungen der Vereinigten Staaten zu Preußen hervorzuheben. Friedrich der Große habe zuerst deren Unabhängigkeit anerkannt. (Wie er selbst zuerst der Union im Bürgerkriege seine Freundschaft ausdrückte.) Bancroft führte ihn und die anderen Gäste ins Rauchzimmer, da prangten die Büsten des großen Königs und Washingtons, umrahmt von den Nationalfarben. Eine Musikkapelle spielte Hail Columbia und Heil dir im Siegeskranz, das Sternenbanner grüßte preußische Fahnen. Otto dachte bei der Zigarre heimlich nach, ob man Amerika wohl gegen England ausspielen könne. Doch schlimmer Zweifel beschlich ihn. Blut ist dicker als Wasser, Sprache und gemeinsame Abkunft knüpfte die Anglo-Amerikaner doch stets ans Mutterland und der Ausdruck »going home« für Reise nach England sagte viel. –

Ottos Gesundheitswiederherstellung hatte im Februar einen leichten Stoß erlitten durch kurze Entfremdung mit dem König, den er wie einen Vater liebte, dem er aber die Günstlingschaft des unmöglichen Gesandten Usedom in Florenz nicht nachsehen konnte.

»Ich beantrage die Abberufung eines so unbrauchbaren Beamten, um nichts Schlimmeres zu sagen. Schon vor dem großen Kriege hat der nur Dummheiten und Pflichtwidrigkeiten begangen, jetzt ist das Maß voll. Er schwänzt den Dienst ganze Wochen und Monate und läßt seine Sekretäre auf Blanketts mit seiner Unterschrift Unterredungen mit Ministern protokollieren, die er nie sprach. Das ist geradezu Fälschung. Solche bedenkliche Aufführung kann ich im Interesse des Dienstes nicht länger dulden und ersuche Eure Majestät, den Herrn zur Disposition zu stellen.«

Der König geriet in große Verlegenheit. Wie durfte er gegen einen hohen Freimaurer seine geradezu religiöse Bruderpflicht verletzen! Er lehnte ab, worauf Otto unverzüglich die Geschäfte niederlegte und seine Entlassung forderte. »Meine persönliche Liebe zu Eurer Majestät muß ich dem Staate opfern, das ist meine Pflicht.«

Sehr bald erschien Kabinettsrat Woermann mit einem Handschreiben des liebenswürdigen edlen Greises, der ihn freilich auch in einer anderen Angelegenheit gekränkt hatte. Der Magistrat von Frankfurt a. M. hatte sich nämlich Anfang Februar an den König herangemacht, um eine Ausführung zu strenger Maßregeln zu hintertreiben. Seine grenzenlose Gutmütigkeit und Großmut hatten sich breitschlagen lassen, an die so preußenfeindliche Stadt 200 000 Gulden für angebliche Ansprüche aus der Staatskasse zu überweisen. Wenn alle Schädlinge so fortfuhren, sich hinter den Monarchen zu stecken und zu verkriechen, schien ein gedeihliches Fortwirken des Ministeriums gefährdet.

»Mein größtes Glück ist es ja, mit Ihnen zu leben und fest verbunden zu sein! ... Ihr Name steht in Preußens Geschichte schöner als der irgendeines Staatsmannes. Das soll ich lassen? Niemals. Ihr treuester Freund W.« Wann schrieb je ein Monarch von selbst festem Willen und klarer Einsicht so an einen Minister! Nur ein Elender kann darin Schwäche erblicken, diese zärtlichen Worte duften von Blüte hohen Menschentums.

Gleich darauf langte ein Brief Roons an, der am Abend zuvor mit Otto Rücksprache nahm und ihm zurief: »Fassen Sie Ihre Antwort so, daß Einlenken möglich bleibt. Sie dürfen nicht die Schiffe hinter sich verbrennen. Ganz Europa würde Sie auslachen, daß Sie Ihr Werk einer noch so berechtigten Empfindlichkeit opfern. Man wird schadenfroh jubeln: er verzweifelte an Vollendung, darum ging er.«

»Ob man meine Motive würdigt, kümmert mich nicht. Sie verweisen auf dies treuherzig zärtliche Billett. Doch ist es Wahrhaftigkeit?«

»Es macht den Anspruch darauf. Das dem vollgültigen Golde beigemischte Kupfer der falschen Scham ist auch nicht falsche Münze. Verehrter Freund, Sie kennen meine unwandelbare treue Ergebenheit und Anhänglichkeit für Ihr Wirken und Ihre Person. Seien Sie vernünftig! Die Stellung des hohen Schreibenden erlaubte ihm nicht, ohne weiteres zu bekennen – er will und kann es nicht –, daß er sehr unrecht tat und sich bessern wolle.« In diesem mehr als offenen Tone sprach sich Roon auch schriftlich über die Sache aus. Diese wahrhaft patriotischen starken Männer kannten eben nie Byzantinismus, für sie war ihr König nur der Staat, das Vaterland, und wenn dem letzteren durch ersteren ein Schaden zu kommen drohte, nahmen sie nie ein Blatt vor den Mund.

Otto zog seine Demission zurück, der König aber erwies aufs neue sein echtes Gold. »Dank, herzlichen Dank, daß Sie meine Erwartung nicht täuschten,« daß der grollende Achilleus »meinen Vorstellungen Gehör geben würde«. Er verteidigte und entschuldigte sein Verhalten wie unter Gleichgestellten, und sein ausführlicher Brief nimmt entschieden für die Auffassung ein, daß keineswegs, wie die beiden Minister es auslegten, Eigenmächtigkeit und irgendwelche Zweideutigkeit vorlagen. Wenn Otto die Amtsenthebung des Unterstaatsekretärs Sulzer und des Usedom forderte, so fiel es dem König allerdings schwer, letzteren zu entfernen, aber daß er dabei sich zu spröde gezeigt habe, war Übertreibung. Er bewies sich sorglich darauf bedacht, Ottos Arbeitsüberbürdung zu mildern. Er begreife, daß dieser sich müde und erschöpft fühle. Er fühle es ja selber nach, »kann und darf ich deshalb daran denken, mein Amt niederzulegen? Ebensowenig dürfen Sie es. Sie gehören sich nicht allein sich selbst an, Ihre Existenz ist mit Preußens, Deutschlands, Europas Geschichte zu eng verbunden, als daß Sie sich von einem Schauplatz zurückziehen dürfen, den Sie mit schaffen halfen. Vor allem zweifeln Sie nicht an meiner unauslöschlichen Dankbarkeit! Ihr Wilhelm.«

Der abgesägt Usedom wurde ohne Disziplinaruntersuchung zur Disposition gestellt. Otto bekam seinen Willen. Da stieg ihm die Reue auf, daß er dem lieben alten Herrn, den im Grunde nur seine Gewissenhaftigkeit bestimmte, solche Ungelegenheiten machte. Selbst in dieser Episode offenbart sich Wilhelm der Gerechte nicht nur als Mustergentleman, sondern auch als wahrhaft weiser Regent.


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