Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Der Fastentag Tischa'h B'ab

Ein heißer Sonnentag kurz danach – endlich einer, wenn auch der Gasse gerade heute unerwünscht. Die Blumen, nicht sehr viele, drängen mit verwelkten Blüten aus den Fenstern. In den wenigen, die sich hielten, giert der Griffel nach einem Lufthauch, der ihn die zarte Wolke Staub verlieren läßt. Über den Dächern liegt der Himmel, ein Stückchen Safran.

Viele Menschen verschlafen einen Teil des Tages. Wenige sind auf der Gasse. Übernächtigt schreiten zwei Greise, langschößig, am Rand der Häuserreihe hin. Behutsam setzen sie die Schritte, fast vierundzwanzig Stunden haben sie gefastet, Enthaltsamkeit nimmt mit, die Dinge verlieren ihr Gesicht, die Luft verglast. Ein Greis berührt des anderen Ärmel, der zuckt zusammen, sein Gesicht, sonst immer gelb, ist heute grau: nach Mittag ist er erwacht, im Munde einen Bissen. Nur eine Vorstellung – aber er leidet wie unter einer Todsünde, denn wir verantworten auch unsere Vorstellungen.

Bald wird das Licht in der Gasse weniger scharf sein, wird der Safran am Himmel hinschwinden, werden die Schatten die Häuserwand hinaufziehen, werden Juden aus den Häusern strömen.

Eine halbe Stunde später, und die Dämmerung sinkt herab. Die Juden überschwemmen Damm und Steige. Die Gasse gleicht einem dunkel aufgeregten Meer, die Häuser sind wie Schiffe, die wenigen Menschen in den Fenstern erinnern an Passagiere in den Bordluken.

In langen Röcken und Mänteln, geschlossen trotz der Wärme, gehen nun die Männer auf und ab, heute zum größten Teil auf Filzschuhen, in ihren Bewegungen 220 spärlicher als sonst, die Gesichter matt, Hunger um das Auge, der Mund verdüstert. Nicht gewaschen, nicht gekämmt, schlafsüchtig, schieben sie über das Pflaster, vom eigenen Gemurmel überschwollen, über sich die Wärme, um sich den Dunst von üblem Abraum. Die Gerüche haben die Deckel der Tonnen auf den Höfen hochgehoben, sich aus Kellern losgerungen, aus weggeworfenen Säcken freigemacht, unter Treppenstufen sich hervorgekämpft – vereint hängt alles als giftiger Schwaden über den Köpfen und verpestet die Luft.

Nichts mehr ist an den Menschen von dem frischen Zug, den sie am Morgen hatten. Am Morgen waren sie angetreten, als riefe die Trompete in die Schlacht, als seien sie die Besatzung der heiligen Stadt und sähen von den Zinnen römische Feldschlangen die Hälse gegen die Mauern recken. Jetzt brechen sie zusammen, und selbst die Alten, zäher als die Jungen, denken nur noch gewaltsam an das Ende der Belagerung, wenn auch mit solchem Schmerz, als seien nicht ihre Ahnen gefallen, sondern ihre leiblichen Väter, ihre Brüder. Vor drei Wochen haben sie um die Stadt getrauert, weil die zweite Ringmauer an diesem Tag vor 1858 Jahren fiel, heute trauern sie um die Einäscherung des Tempels. Aber Tempel und Stadt sind eines, man trauert heute auch um den Untergang der Stadt, um das Ende der Nation, um den Aufbruch aus der Heimat in die Fremde.

Die Frommen erlauben sich nicht, trotz der Nähe des Abends, das Ende des Tags herbeizusehnen. Solange er gilt, geben sie sich ihm hin, nicht dem Nachfolger. Nur unter der weniger starren Menge wird die Stimmung leichter, die entbehrten Genüsse winken, das menschliche Teil nimmt das heilige hin. Aber das ist die Ohnmacht der Kreatur – bis zu dieser Stunde haben auch sie aufs tiefste den Tag erlebt und immer wieder um die heilige Stadt gelitten mit einer Trauer, die sie schon in ihrer frühesten Jugend überflog und seitdem mit unergründlicher Schwere auf ihnen liegen geblieben ist. Vertraut mit der 221 Not ihres Volkes, haben sie herzzerreißend geweint am Tag und dumpf die uralten Klagelieder angestimmt. Wie viele von ihnen selbst sind mit eisernem Besen aus dem Osten gekehrt! Vor ihren dunkel glänzenden Augen tauchen die Riesenstädte auf, in deren Bevölkerung sie überwogen, die Städte, wo heute fünfzig- und hunderttausend um Jerusalem trauern und sich kasteien. Hier, in dem Wirbel dieser tollen Stadt, sind sie nur eine abgesprengte Schar, ein Fähnlein Aufrechter, im Quartier mit der Unzucht und dem Verbrechen, eine letzte Kompanie vor Gott. Sonst blasen sie auf Schalmeien zu Ihm, aber Er hat ihnen auch ein Horn verliehen: Armut, und eine Trompete: Not. Heute blasen sie Hörner und Trompeten und, wenn sie heute verstoßen sind, sie werden nicht verstoßen bleiben.

Noch auf der Gasse steigen die Töne der Klagelieder, ein Summton, von den Lippen. Namentlich die Alten wiederholen mit stiller Wehmut die Hymnen der Trauer, die ewigen, unzerstörbaren, wenn sie nicht stumm in sich hineinhorchen und sie dort vernehmen, in ihren aufgewühlten Herzen, als sängen andere aus ihnen. Den Bart zwischen den Fingern, gehen sie einher, wie die unverlierbaren Gestalten ihrer Väter, die dem gleichen Gotte gedient, nach denselben Melodien gebetet, um eben diese heilige Stadt getrauert und sich Speise und Trank wie sie versagt hatten. Ein Jahr schließt sich an das andere, zehn heften sich an zehn, was sind Väter, was sind Enkel? Wie die Hingegangenen voll Erwartung waren, so sind sie der Erwartung voll, und sie wird nicht zuschanden werden, selbst wenn noch tausend Jahre zuzuwarten ist. Gottes Entschluß steht fest, er setzt sein Volk wieder ein in unverwirktes Recht. An diesem Rechtskampf hängt die Welt, und dieser Kampf, sonst nichts, rechtfertigt die Abfolge der Geschlechter.

Für keinen bluten die Wunden der Erschlagenen so frisch, keinem schneidet das Todesstöhnen so ins Herz wie Eisenberg, dem armen, nicht mehr ganz seiner Sinne 222 sicheren Schwärmer. Als lebe er im unverlorenen Jerusalem, so lebt er in der Gasse. Für jeden, der Sehnsucht hat nach der Stadt der Herrlichkeiten, zeichnet er Pläne auf und Risse, ihr Abgesandter, ihr Kommissar. Wie ein Heidenmissionar steigt er in den Sauermannschen Keller und redet die Verbrecher an: »Wendet euch ab von dieser Stadt! Macht euch auf nach Jerusalem, der süßen!«

Viele sehen in den aufgerollten Plan, er zeigt ihnen Straßen und Anlagen, aber Blaustein nimmt ihn am Arm und führt den Ausgespotteten hinauf. Unbeirrt macht er sich an andere heran und rühmt die Wunder der stolzen Stadt hoch auf den Höhen. Jetzt steht er mit dem Gesicht zu einem Haus, der Bart backt ihm von Tränen, vertraut als Baumeister der neuen mit dem Umriß der alten Stadt, sieht er, wie der nächste Wall, der vorletzte Ring, der letzte Turm, wie alle umsinken und kein Aufenthalt die feindliche Belagerungskunst mehr hemmt – jede Steinkugel aus einem Katapult schlägt noch einmal gegen sein erschrockenes Herz.

 

Inzwischen nahm die Ungeduld der Menge zu. Eine schwangere Frau, die fastete, fiel um. Ein junger Mann füllte eilends unter einem Wasserhahn ein Glas und spritzte ihr das Wasser ins Gesicht.

In Finsternis gingen schon die Häuserkanten unter, aber die Mondsichellinie schimmerte noch nicht auf. Trotzdem zogen die Männer in das Bethaus, die Frauen in die Häuser.

Das Viertel war voll von Winkelbetschulen, an Bethäusern gab es zwei. Das Bethaus der Gasse wahrte die strengere Überlieferung und zog deshalb viele aus den Nachbargassen an. Man durchschritt den Flur von Joels Gasthaus und fand über dem Hof eine Art von großem Schuppen, gegen ein Haus gelehnt. Regengüsse hatten an den Wänden die Ziegel bunt- und den Mörtel ausgewaschen. Vielfach steckten die Ziegel locker in den Wänden, manche waren ausgehoben. Der Fuß trat auf löcherigen 223 Asphalt. Die Torflügel schwangen in ausgeleierten Angeln, immer auf die Stöße eines Fußes; niemand öffnete mit der Hand.

In der Mitte war eine Erhöhung angebracht, von hier wurde am Sabbat der Wochenabschnitt verlesen. Der Vorbeter sang vorn an einem Pult. Zwei kleine Treppen führten links und rechts zu einer Lade, die in die Wand eingelassen war; hier standen die heiligen Rollen, aufrecht oder gegen die Wand gelehnt, auch sie durften nicht umsinken im Exil.

In drei durch Gänge abgeteilten Zügen zogen sich Bänke und Betpulte bis nach vorn. Unnachgiebig gegen sich hatte hier eine Anzahl Männer den Vormittag über gebetet und die Klagelieder hervorgestöhnt und ‑geweint, jetzt waren sie, schon lange vor Beginn des Gottesdienstes, vor dem Bethaus erschienen, gingen auf dem Hof spazieren und warteten auf das Anzünden des Lichts als das Zeichen. Andere traten ein, gingen im Halbdunkel vor ihren Pulten auf und ab oder wanderten wieder auf den Hof zurück.

Noch wenige Minuten, und der Gottesdienst begann. Sofort verlor sich der Austausch durch die Tür. Jeder stellte sich an seinen Platz, die Torflügel blieben offen, da der Menschen zu viele wurden, sie standen bis auf den Hof. Unter vielen Hunderten von Blicken hatte ein Diener eine Kerze nach der anderen entzündet. Matt leuchtete dazu, von dem Gebälk der Decke, die dunkelrote ewige Lampe, Geschenk eines Stifters, den die Kunst der Ärzte einst gerettet.

In der herkömmlichen Weise ließen die Beter den Körper von dem vorgesetzten rechten Fuß auf den zurückgestellten linken schwingen. Die nicht abbrechende Bewegung sollte das Blut erregen und erregte es. Immer lauter wurden die Stimmen. Auf den innersten Pultplätzen der Reihen preßten die Männer die Stirnen gegen die Wand, wo der Anhauch des Atems in Wassertropfen niederrann, oder reckten die Arme an ihr empor und 224 schüttelten um Erbarmen abwechselnd die Rechte und die Linke. Als der Gottesdienst fortschritt zu dem Gebet von den achtzehn Lobpreisungen Gottes, schrien alle auf bei dem Bekenntnis ihrer Sünden und schlugen die Brust mit der geballten Faust. In Andacht schwoll eine Stimme über die andere hinaus, eine zweite jagte nach und riß sie herab. Eine dritte stieg in die Luft. Zu höchsten Höhen aufgestiegen, wurde sie ebenso heruntergeholt und zerfleischt. Wie anwälzende See rollten die Stimmen auf die Wände, entfesselten und ergossen sich bis in die Dachsparren, wogten durcheinander, überstürzten sich, schaurig in der Regellosigkeit des Wahnsinns. Auf einmal, als man erwartete, es müßten alle verzweifelt innehalten vor Erschöpfung, hoben sich zwei Männer in die zusammengenommenen Spitzen ihrer Füße, heulten mit aufgehobenen Händen und schleuderten den Gesang auf eine Art hinaus, als gelänge es jetzt, als liefe mit der heiser geschrienen Stimme die Seele aus dem Körper unmittelbar durch die Decke zum Firmament.

Am Schluß des großen Gebetes ist für den Beter Pflicht, drei Schritte zurückzugehen, sich zur Rechten, zur Linken und zur Mitte zu verneigen und dann die gleichen Schritte wieder nach vorn zu tun. Die Bänke mit ihrer Enge ließen die Ausführung nicht zu, man behalf sich mit Andeutungen und verneigte sich um so tiefer. Nur Jurkims Platz hatte einen freien Auslauf, Jurkim trat einen Schritt zurück, einen zweiten, jetzt den dritten, verbeugte sich links und rechts, sehr tief, die Samtmütze mußte fest sitzen, daß er sie nicht verlor, und sich aus der Unterwürfigkeit erhebend, schritt er langsam, bedeutend, aufrecht auf seinen Platz. Bei den ersten Anzeichen seines Vorhabens war auch der Vorbeter Monasch einen Schritt zurückgetreten, nach einem geheimnisvollen Gesetz in genau dem gleichen Augenblick das große Gebet beendend. Jetzt schritt er nach vorn und erhob die Stimme vom Pult.

Eine Anzahl Frommer, im Besitz von Eckplätzen, 225 erzwang sich Raum für die vorgeschriebenen Schritte. Sie traten aus der Bank in den Gang hinaus und drängten die gepreßt dort Stehenden zurück. Weit ausschreitend und sich verneigend, glichen sie dem vornehmen und zeremoniösen Hof eines erhabenen, aber unsichtbaren Königs.

Vergleichsweise bedeutungslose Gebete folgten. Die Männer bewegten nur noch unhörbar die Lippen. Die meisten wurden nicht mehr des gesprochenen Wortes inne, die Seele wiegte sich leicht auf dem innen vernommenen Laut. Vom Hofe spielten Kinder herein, Mädchen kollerten am Boden, zwischen ausgefransten Mänteln, zwischen ausgetretenen Filzschuhen. Eigentlich gehörten sie auf die luftige Holzempore an der Rückwand, deren Bänke den Frauen vorbehalten waren, aber Frauen besuchten das Bethaus nicht an diesem Tag. Hereinspielende Kinder, sich unterhaltende Männer – sofort mußte die Andacht aufhören, sofort der Fasttag beendet sein.

Während des Gebets der Männer standen die Frauen in den Küchen und bereiteten das Mahl. Vorher hatten sie in Massen eingekauft, hatten die Gemüsefrauen die Körbe umgestülpt und den kleinsten Kohlstrunk, die letzte Kirsche aus dem Flechtwerk geklopft. Bei den Bäckern wurde Brot um Brot über den Tisch geschoben, auf die Tischplatte trommelten die Semmeln. In kleinen Kolonialwarenhandlungen verteilte man den letzten Vorrat, und in die Körbe, die Taschen der Frauen wanderten für Heilige, die am Verschmachten waren, kleine Schiffsladungen Ware. Nur Schach, der Fleischer, konnte Kunden noch nicht bedienen. Nicht gegessen und getrunken hatten sie einen Tag, Fleisch neun Tage nicht genossen, dennoch stand dieser Genuß noch nicht frei – so tiefe Trauer durfte man nicht gleich in der ersten Stunde nach dem verbleichenden Tage abtun.

Von den Kindern kauerten viele vor den Häusern. In ihren ängstlichen schwarzen Augen ging die heilige Stadt noch einmal unter. In kleinen Schlendergruppen kamen 226 die Dirnen auf die Gasse. Sie liebten es, sich am Abend vor den Türen zu erheitern. Sie atmeten die Abendluft und trieben Kurzweil miteinander, ehe die Nacht sie zur Kurzweil mit den Fremden trieb.

Ihre erklärte Führerin war immer Olga Nachtigall gewesen. Heute fehlte sie. Vor wenigen Tagen war sie in einer Nebenstraße mit einem Schlächter in einen Streit geraten. Zugunsten einer Frau, die ein durchwachsenes Stück Fleisch zurückwies, hatte sie heftig das Wort geführt – zu heftig, der Schlächter holte nach ihr aus. Scharpf, ihr Freund, der vor der Tür stand, stürzte vor, riß ein Fleischmesser vom Tisch, aber statt dem Fleischer in den Rücken, stieß er es der Mamsell, einer Unschuldigen, in die Brust. Beide flohen, und wenn sie für die Freiheit nicht verloren waren, für die Gasse waren sie es bestimmt. Olga Nachtigall war sehr beliebt gewesen, dennoch machte der Vorfall wenig Aufsehen, bei Dirnen und bei Verbrechern war man immer auf Unerwartetes gefaßt; einen Gesprächsstoff gab die Messerstecherei nur in den eignen Kreisen, in dem gelben Hause, in dem Sauermannschen Keller, und mitgenommen war Wahrhaftig, für den Scharpf auf einem Handwagen gestohlene und zurückgegebene Seide zum Spediteur geschafft hatte. Sonst hieß es nur: »Hätten Sie das gedacht? nebenan in der Gasse?«

»Warum überall und da nicht?« lautete unbewegt die Antwort.

Also kauerte nicht Olga Nachtigall, sondern ein anderes Mädchen am Rand des Fahrdamms. Es hatte einen schönen Knaben auf den Schoß gezogen und wischte ihm einen vom Weinen zurückgebliebenen Tropfen aus der Wimper. Mit einem unveräußerlichen Bestand an Zärtlichkeit wollten ihm die anderen Dirnen gleichtun, ebenfalls dem Knaben die Wange streicheln, das weiche Kehlchen an die eigene schmiegen, die schmalen Händchen an die Kindern selten geschenkten Brüste legen oder mit dem Munde wenigstens in das seidige schwarze Haar 227 versinken. Aber das Mädchen ließ es so wenig zu, wie es Olga Nachtigall zugelassen hätte, und als eine jüdische Frau aufkreischte: »Wo bleibst du, Simon?« stellte es den Knaben hin und stob mit den anderen davon wie ertappte Diebe.

Aus dem Bethaus, aus den Winkelbetschulen, strömten die Männer auf die Gasse. Alle wünschten einander »Gesundes Anbeißen!« Von den Wohlhabenden wurden Gedecke für die Armen aufgelegt, man verbrüderte sich.

Mit großen und heftigen Bewegungen wurde in den Stuben zu den offenen Fenstern hinaus gespeist. Der Hahn rauschte, Karaffe nach Karaffe kam auf den Tisch und kaum in den Gläsern, rann das Wasser durch die Kehlen.

Allmählich verlor die Wärme den erstickenden Druck. Die Dünste des Abraums zogen ab, die angenehmen Gerüche der Speisen stiegen auf. Wie immer, wenn sie nur gewittert wurden, erschienen Jungen in Scharen und schnüffelten nach den Speisen. Eine Frau rückte aus einer Seitengasse an, und wie man in einem Gradierwerk auf- und abgeht und die Salze einatmet, ging sie spazieren in dem Duft. Schließlich zog sie das Tuch fester an den Körper, als drücke sie die Gerüche in die Poren.

Den Hunger hatten drei Greise überwunden. Im schwachen Schein einer Laterne standen sie zusammen in einem Torweg, zwei hielten einen schweren Band in ihren Händen. Der Text war nur in der Mitte fett gedruckt, an den Rändern klein. Halb erblindet las der eine, mit besseren Augen der andere die gleiche Stelle, dreimal, viermal, der dritte stand und hörte zu. Die Worte der Anmerkung waren dunkel, das entsprach der Art des Verfassers nicht, der selbst das Schwierigste klar zu sagen pflegte. Die Greise rieben die Stirnhaut mit dem Finger und strichen den Bart, als müsse sich so der Sinn erhellen. Das Holz des Einbands krachte, es krachte das darübergespannte Leder, ausgedörrte kleine Tabakfäden brachen aus den Seiten. Schließlich klappten sie den 228 Deckel zu und zogen ab. Die Gelehrten hatten eine Ausdehnung des Fasttags untersagt – wenn auch in alten Zeiten mancher viele Tage nicht gegessen, nicht getrunken, die spätere Überlieferung hatte es verpönt. Auch eines der heiligen Bücher auf der Straße einzusehen, war weder üblich noch zu empfehlen. So besannen sie sich und gingen heim. Des einen Augen beunruhigte das Licht, fast blind tastete er sich voran, schließlich sandte Gott einen Engel, der nahm ihn an die Hand und führte ihn in sein Haus. Bei Tisch dachte er zurück: zum Mittag war er auf die Gasse getreten, wie weißes Feuer barst die Sonne nieder, die goldenen Wolkenlanzen schossen, noch am Abend blitzte die Gasse von dem Glanz. Die Augen schließend vor der Glut, hatte er mit den Augäpfeln geknirscht, da waren Sonnen aufgestiegen mit einer schwarzen Mitte, gelbe Blumen mit schwirrend dunklen Kuchen, die einen Tropfen Licht von Seinem Angesicht getrunken hatten. Während er, scheinbar der Erde zurückgegeben, aß, war er verklärt und jenseits jedes menschlichen Gesichts.

Nach dem lang hingedehnten Mahl sangen die Juden ein Dankgebet zum Himmel. Das schlechte Volk, die Unzucht und das Verbrechen begannen, die Gasse zu durchpirschen. Von Menschen, unsichtbar am Tage, flogen Pfiffe auf. Dirnen schwärmten aus in kleinen Trupps, übermütig, als seien sie Herrscher dieses Winkels. Hunde, angelockt vom Duft, kamen näher auf leisen Pfoten, Blitzlichter von Katzen feuerwerkten, Käfer fielen aus der Luft, sausten auf das Pflaster, gegen eine Wand. Zwei Schutzleute standen, wie jeden Abend, an der Ecke. Als das Treiben sich vermehrte, rückten sie in die Gasse ein. Eine Minute später war sie leer.

Beim Wenden prallten sie auf eine Frau, die friedlich, die glanzlederne Tasche überm Arm, von ihren Geschäften heimkam. Sie hatte einem armen jüdischen Weib in seiner schweren Stunde beigestanden. Die Wöchnerin war keine junge Frau, wenn nicht ausgesprochen häßlich, so 229 doch abgehärmt. Sehr häßlich war der Mann, ein beschäftigungsloser alter Austräger. Hatte das Neugeborene Aussicht, besser als seine Eltern auszusehen, weiter als sie zu kommen? Die Hebamme hatte zuviel gesehen, um zu prophezeien. Auch riß die Geburt an einem Fasttag nicht gerade zur Verkündung günstiger Aspekte hin.

Die Hebamme machte es sich bequem in ihrer Stube. Man hatte ihr nichts gezahlt für die zu frühe und noch nicht vorbereitete Geburt, würde es später vermutlich auch nicht können, aber das bedeutete ihr nichts. Hinaus zum Fenster schnüffelnd in die laue Nacht, sah sie überall Vorhänge vor die Fenster ziehen und fühlte die Menschen sich vergessen.

Sie war keine Jüdin, sie täuschte sich. Der Fasttag war vorbei, aber der Fall des Tempels nicht verwunden. Auch kamen jetzt die Sorgen wieder: Sturm auf die Torfahrten, Deckensturz bei Joel. Stürzten alle Häuser ein? Waren alle Wohnungen zu räumen? Was sollten die Obdachlosen anfangen? Es wurde schlecht in dieser Nacht geschlafen, und Männer und Frauen wälzten sich weniger in Liebe als vor Kummer auf dem Lager. 230

 


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