Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Aufstand. Frajim vertritt Riwka,
und Tauber erzählt von den sieben Himmeln

Auf der Gasse und vor den Ständen herrschte lebhaftes Gewimmel. Ein junger Mensch erregt sich: »Das Elend sollte man an der Gurgel packen und schütteln, bis es die eigenen Zähne verschluckt, dann würd man zu fressen haben!«

Die Frauen bewegen nicht so weitgreifende Dinge. »Der Schneemann«, flüstert eine, »ist gestern zu der Abramczyk gegangen und hat sich ausgesprochen.«

»Nun, und was ist geworden?«

»Was soll geworden sein? Nischt ist geworden! Er ist gekommen, hat geredet und ist wieder weggegangen.«

»Da hat man's, Männer!«

Drei Alte stehen zusammen. »Die Leute werden mit jedem Tag gemeiner.«

»Die Leute ja und die Zeiten nein?«

»Die Zeiten auch, ich sehe schlecht für die Juden.«

»Er sieht schlecht für die Juden – auch was! Ich hab noch nie gut für sie gesehen.«

Ein uralter Mann wird von einem hochbetagten Begleiter am Arm geführt. Über einem Stock hängend, fragt er: »Nun, was tut sich hier?« Gespannt bleibt er stehen.

»Wie soll ich wissen? Alte spein und Junge käun.«

»Hatt ich's mir gedacht! Und ein junger Mann wird wieder mal einen größeren Mund gehabt haben wie ein alter. Immer dasselbe.« Er humpelt weiter.

Als die Leute einen Augenblick die Stände nicht verdecken, sieht man auf dem Stuhl von Riwka Hurwitz noch immer Tauber, aber auf dem Platz von Julchen Hurwitz einen jungen Mann, schmalbrüstig, bleich, wir kennen 49 ihn: Frajim Feingold. Zu beiden Seiten der Stände kleben Zettel:

Zehn Jahre betreiben wir hier unseren Verkauf von Kleidungsstücken, Shawls und Tüchern, Wäsche, Trikotagen

Julchen und Riwka Hurwitz

Man stutzt über den Anschlag, erschrickt über die zittrigen Tintenzüge, die armen Frauen!

Die armen Frauen? Ein energischer junger Mann, kein Jude, ist anderer Meinung. Er tritt auf Tauber zu und ruft: »Was soll das Geschmiere da? Das kommt weg, aber sofort, sonst fetz ich's runter!«

Tauber hebt die Arme: »Ich beschwöre Sie, mein lieber Herr, Sie werden sich versündigen!« Aber er wird heftig zurückgewiesen.

»Bitte, sehen Sie sich gefälligst erst mal an, mit wem Sie reden, bei mir ziehen solche Worte nicht.«

»Dann vielleicht bei den Herren, für die Sie hier stehen. Richten Sie es denen aus! Großer Gott im Himmel, ein Mensch soll so sein gegen Menschen!«

»Was heißt hier Mensch«, erklärt der Verwalter, »hier handelt es sich um eine Gesellschaft, die keinem auf die Füße tritt, aber ein Haus kann man nicht aus Menschenfreundlichkeit besitzen, ein Haus muß etwas abwerfen.«

Aus einem Schuppen auf dem Hofe wollte man eine Garage machen, ein Auto kam nicht durch die Toreinfahrt, wenn die Schwägerinnen mit ihren Ständen darin klebten; darum Kündigung, darum Rebellion der Schwägerinnen, darum die Anschläge und der Aufruf der öffentlichen Meinung.

Man kann sich Julchen vorstellen in ihrer Leidenschaftlichkeit, wie sie sich wild und tapfer mit dem Feinde schlägt. Ihren Platz hat sie offenbar nur für Stunden an Frajim abgetreten, inzwischen wiegelt sie die Ämter auf: Fürsorgestellen, Wohlfahrtsbehörden, Wohnungsämter, 50 alle sollen eingreifen. Aber eben schmettert sie enttäuscht die Tür einer Amtsstube zu, eben rennt sie die Steintreppe hinab, da gleitet sie aus, kaum kann sie sich noch einige Schritte schleppen, – dann liegt sie mit eingegipstem Fuß zu Hause. Die Schwägerinnen, zehn Jahre tagsüber Nachbarinnen auf harten Stühlen und des Nachts im Bett, dürfen jetzt auch des Tags im Bett nebeneinander liegen. Riwka allerdings ist nach dem ersten Schreck empört, denn wenn man schon stürzt, warum noch so viel Umstände nach dem Sturz! Jetzt gerade, wo man ihnen die Torfahrt nehmen will! Ich habe einen Stirnhöhlenkatarrh, da kann ich nicht unten sitzen, aber mit einem eingegipsten Fuß säß' ich in der Torfahrt und streckte das Bein auf einen zweiten Stuhl . . . Der Arzt verbietet es? Dann soll er ihnen auch die Mittel geben, um zu leben . . .

Allgemeines Mitleid, aber zu helfen wird Frau Warszawski überlassen, sie hilft in jeder Not, also auch in dieser. Die Schwägerinnen wohnen im gleichen Haus, auf dem gleichen Stockwerk. Die anderen Frauen fragen durch den Türspalt: »Wie geht's heit?« bringen Eier, Butter, seufzen: »Nun, Gott wird helfen!« Aber Frau Warszawski hilft, denn hülfe sie nicht, wer hülfe, bis Gott wird helfen? Sie ist es, die Frajim an den Stand schickt, sie läuft zu den Wohlhabenden und schafft Geld, sie läuft zu den Klugen und fragt: was soll man tun? Sagen Sie, werden sie es durchsetzen? Oder verlegen sie besser ihre Stände?

Leider hat Frau Warszawski diese Werktätigkeit nicht auf ihren Pflegling übertragen. Frajim soll Frauen vor dem Untergang erretten, aber er sitzt teilnahmslos an ihrem Stand – unklug, auch für ihn selbst, denn wie leicht könnte er auffallen, wie leicht Arbeit bekommen; wenn er hier lebhaft, wenn er hier rührig wäre, hätten das Elend und der Müßiggang mit einem Male ein Ende. Aber er hält die Augen geschlossen, als sei für ihn nur noch die inwendige Welt bedeutsam. Wird er angestoßen, so fährt er auf und sagt: »Ich schlaf doch nicht!« und wirklich gibt er 51 die Ware, nennt den ausgezeichneten Preis, trägt die Einnahme in ein Buch ein. Geschicklichkeit ist nicht nötig, die Juden kommen aus Mitleid kaufen, die Dirnen auch, und Frajim und Tauber sind bloße Wächter, wenn es freilich auch eine sonderbare Art von Wachsamkeit blieb, die Augen zu schließen.

Am liebsten hörte Frajim Tauber zu. Aber Tauber war kein Brunnen, der dauernd Geschichten aus sich herauspumpen ließ. »Und wenn ich tausend Geschichten wüßte und wollte eine erzählen, gerade da fallt sie mir nicht ein. Aber wart! siehst du drüben den Hirsch mit der schiefen Schulter? Solang wie ich ihn kenn, und das werden wahrscheinlich sein zwanzig Johr, hat er wie geheißen? Samuel. Jetzt hat er ein zweites Mal geheirat und wie muß er sich nennen? Salli! In einem Midrasch sagt Rabbi Hunna nach Rabbi Kapra: zur Belohnung für fünf Tugenden sind die Juden aus Ägypten befreit worden, die eine war, sie änderten nicht ihre Namen: als Ruben und Simon kamen sie nach Ägypten, als Ruben und Simon zogen sie wieder fort, Jehuda nannte sich nicht Julian, Ruben nicht Rufus, Benjamin nicht Alexander und Josef nicht Justus. Da siehst du, da hast du was gehört«, schloß er befriedigt und wischte ein Auge, das im Winkel zusammenklebte.

»Nein, eine richtige Geschichte«, bettelte der weniger befriedigte Hörer, »etwas von Jerusalem oder vom Paradies!«

»Immer noch nicht genug, immer noch etwas und gleich mit Vorschrift, das muß vorkommen und jen's? Was hast du dich überhaupt mit dem Paradies zu befassen? Dein Paradies liegt für lange Jahre hier!«

»Nein, bitte erzählen Sie vom Paradies! Oder was anderes, wenn Sie nicht wollen.«

»Also gut, aber nicht vom Paradies. Du wirst gehört haben, es gibt sieben Himmel. Man sagt doch sogar von jemandem, er ist im siebenten Himmel. Nun, kannst du mir sagen, wie sie beschaffen sind, die sieben? Ist es siebenmal derselbe, ist es siebenmal ein anderer? Nun, ich werd 52 dir erzählen. Unsere Weisen sagen, der erste Himmel, das ist nur ein Vorhang, er hebt sich auf am Morgen und fällt herab am Abend. Im zweiten Himmel aber, da sind Sonne, Mond und Sterne und zwölf Fenster. Warum zwölf? Ein Fenster für jede Stunde! Dreihundertfünfundsechzig Engel aber, du verstehst, warum, begleiten die Sonne Stunde um Stunde von Fenster zu Fenster.«

»Ah«, seufzte Frajim.

»Und geht sie morgens auf, die Sonne, so singen die Engel Loblieder zu Gott, und geht sie unter, dann neigen sie sich und sagen: wir haben Seinen Befehl erfüllt.«

»Und im dritten?« fragte Frajim.

»Im dritten Himmel, da sind die Mühlen, da wird das Manna gemahlen für die Frommen.«

»Und im vierten?«

Im vierten war auch etwas, aber Tauber entsann sich nicht, doch im fünften, da wohnten Engel, die des Nachts zu Gottes Ruhme Lieder sangen, am Tage durften sie sich ausruhen, denn am Tage sang das Volk Israel die Loblieder an ihrer Statt.

Ehe es Frajim gelang, nach dem sechsten zu fragen, kam Alexandra Dickstein, ihre Strumpfbänder umzutauschen. Sie hatten tagelang die jungen und festen Beine umspannt, aber nun sollte die Farbe anders sein, gelb gefiel nicht. Verlegen sagte Frajim: »Alexandra, ich trau mich nicht, das mach ich nicht allein.«

»Wer soll das machen?«

»Das soll Frau Warszawski sagen«, entschied Frajim.

»Gut«, sagte Alexandra, aber sie kam später nicht darauf zurück.

»In welchem Himmel waren wir?« fragte Tauber.

»Wir kamen in den sechsten«, erwiderte Frajim voller Eifer. Im sechsten gab es Räume mit Stürmen, Höhlen mit Rauch, alle Türen waren Feuer. »Da kannst du sehen!« sagte Tauber und erholte sich ein wenig von dieser Vorstellung der versammelten Unwetter und Katastrophen. 53

»Und im siebenten?«

Im siebenten wohnte Gott. Da waren die Gerechtigkeit, der Friede, die Tugenden. Dort lebten die Seelen der Frommen, die heiligen Tiere und Scharen von Engeln; in der Mitte aber stand Sein, stand Gottes Thron.

»Sehr schön«, sagte Frajim und sein Gesicht erglänzte.

»Übrigens«, fuhr Tauber fort, als hätte er von seinen Geschenken eines übrig behalten, »man sagt«, er sprach ganz leise, »es gebe noch einen achten Himmel, aber über diesen achten darf man nicht forschen.«

Frajims Seele war nicht unverletzlich. Die Mißerfolge hatten sich tiefer, als es gut war, in sie eingegraben und andere Kräfte aufgerufen, keine, die ihn vorwärtsbrachten, aber auch keine, die beschämten. Anfangs hatte er sich gewehrt, hatte sich die Zeit vertrieben wie andre unbeschäftigte junge Leute, mit Dominospiel, mit Schachspiel, und es war nur eine andere Art von Spiel, wenn er der Anleitung eines jungen Menschen folgte, der gleich ihm aus einem kleinen Landstädtchen des Ostens hergekommen war. Aus fortgeworfenen Zeitungen stellten sie die Preise der Produktenbörse fest, kauften und verkauften Getreide auf dem Papier, bald mit Gewinn, bald mit Verlust. Manchmal waren beide in wenigen Tagen reich, ebenso rasch sauste ihr Vermögen in die Tiefe, aber ihre Hilfsmittel schienen unbeschränkt, immer wieder arbeiteten sie sich empor.

Frajim gab das Spiel nach einigen Wochen auf. Es mochte für die Erziehung des einen oder anderen jungen Mannes unschädlich sein, in seiner Hand war es nichts anderes als das Spiel zu Haus, wo er begierig, wenig oder keine Fehler in den Schularbeiten zu haben, beim Gottesdienst auf eine beliebige Zeile im Gebetbuch tippte und sich einbildete, so oft oder so selten der Buchstabe Lamed, der die anderen Buchstaben an Größe übertraf, in diesen Zeilen vorkam, so viel oder so wenig Fehler hätte die abgegebene Arbeit.

Manchmal schlug er in einem Adreßbuch, das zerlesen 54 und aus dem Leim gegangen war, die Einwohner vornehmer Straßen nach. Nicht selten lebte ein jüdischer Bankier ganz allein für sich in einer Villa. Aber während andere hingingen und angesichts eines herrlichen Besitzes sich vornahmen, ähnliche Reichtümer zu erwerben, entstieg der Traum für ihn zwar dem Papier, aber zerfiel so schnell wie er gekommen war.

Nach einer Weile gab er solche Spiele auf, las andere Bücher und in den Zeitungen andere Spalten. Sein Tag ging nicht tatenlos dahin. Bei Morgengrauen betrat er den Betsaal, vor der Abenddämmerung tat er es ein zweites Mal. Morgens nach dem Beten trug der Rabbiner Jurkim aus dem Talmud vor. Frajim verstand zu Anfang nichts und später auch nur wenig. Immer saß er neben einem alten Mann und immer hatte er dabei ein wenig Angst. Doch der Alte tat ihm nichts, wahrscheinlich bemerkte er ihn gar nicht. Frajim sah mit ihm gemeinsam einen ungeheuren Folianten ein. Dem Alten wuchsen gelbe Haare auf den Fingern, gelbe Haare aus der Nase, gelbe und graue aus dem Ohr. Mit dem behaarten Finger fuhr er die Zeile entlang. Vielleicht tat er das für Frajim, aber sonst hielt er eisern daran fest: neben ihm saß niemand. Nicht einmal das Blatt durfte Frajim wenden, noch weniger den Fingernagel in eine Reihe graben, wenn die Finger an vier Stellen liegen mußten, weil der Rabbiner den Text behandelte und zugleich die Anmerkungen der drei verschlungen darum gedruckten Kommentare. Natürlich beteiligte sich Frajim nicht an dem bedeutenden Disput. Immer führten ihn dieselben Männer, einige wenige. Manchmal kamen zu dem festen Stamm von Männern Durchreisende, sehr beschlagene, aber auch selbstbewußte Köpfe, und versuchten, verschleiert hinter Zustimmung ihre Gelehrsamkeit zu zeigen. Sie erklärten: das hat Rabbi Akiba übrigens ähnlich noch wo anders gesagt. Wußte Jurkim nicht sofort Bescheid, so hieß es: »Im Traktat Feste, nachdem er davon gesprochen hat . . .«, sie rekapitulierten: »dann fährt er fort« und sie zitierten einen 55 verwandten Ausspruch. Jurkim stimmte zu, aber trieben ihn ihre Angriffe in die Enge, so konnte er auch kurz werden und ein wenig rauh sprechen: »Nun, nun, schön, man kann vielleicht auch so sagen, aber wir wollen weitergehen.«

Die klaren und kalten Darlegungen des Rabbiners rüttelten Frajim auf. Dennoch hätte er sich nie in diese Richtung drängen lassen, hätte er nicht unter dem nachgesandten Vetter gelitten. Er hielt sich für begabter als Noah, aber Noah war erst drei Wochen in der Gasse und schon hatte Noah eine Stellung. Frau Warszawski führte sie beide eines Tages halb absichtslos einem Stoffhändler vor. Jechiel Asch hatte noch nie einen Angestellten gehabt und Frau Warszawski wußte nur vom Hörensagen, daß er einen suchte. Dennoch nahm er Noah sofort, schon nach wenigen Minuten.

Jechiel Asch war ein frommer Mann, auch fleißig und geduldig, doch nicht wohlhabend. Er hatte elffach zu teilen, denn er hatte eine Frau und neun Kinder. Sein Charakter war anständig – unanständig durfte ein frommer Mann auch nicht sein. Dennoch kam er nicht darüber hinweg, daß mit einer anderen Art des Handelns andere Leute in den Nebenstraßen größere Umsätze erzielten, und er schielte sehnsüchtig zu diesen Geschäftsgewohnheiten hinüber. Er dachte, warum mußte englisches Tuch auch absolut aus England sein? Dennoch bezwang er sich und antwortete kleinlaut auf Fragen: »Englisch? das wohl nicht« oder: »Prima? Sie werden sehen, so gut wie prima, sehr stabil im Tragen, ganz vorzüglich, bei einer Gelegenheit erworben.« Aber er hätte gar zu gern gewußt: wie verhielten sich die alteingesessenen, die angesehenen Händler? Sagten auch sie in jedem Fall und ausnahmslos die Wahrheit? Aber wie machten sie dann die großen Umsätze? Fragen konnte man sie nicht, sie hätten sich entrüstet: was fällt Ihnen ein, sind wir Betrüger? Wenn er sich umsah in der großen Welt, in die er ein wenig vordrang und die er kaum überblickte, so dünkte ihn, es 56 wurde überall nicht genau genommen, und das Schlimmste war, die Leute fühlten nicht einmal Reue . . .

Seine Ware nahmen kleine Schneider seines Viertels, daneben gab er seine Stoffe einzeln ab. Er hatte eine gewinnende Art, sie zu verkaufen, doch wiederholte er sich, wie Kaufleute meist. Er hielt die Stoffe gegen das Licht, legte sie um einen Ärmel, ließ sie von der Brust herabwallen. Sah er, jemand wollte kaufen, so wickelte er den Stoff um einen Finger und, den Blick fest auf den Mann gerichtet, sagte er mit einer Inbrunst, als risse er sich das Herz auf: ein Bijou! In diesem Ausdruck lag für ihn der höchste Wert eines irdischen Guts.

Aber elf Personen ernährt man schwer und deshalb sollte sich Noah Kirschbaum in der weiteren Nachbarschaft versuchen. Noah gewann sofort für seinen Herrn auf neue Weise Kunden. Er erhielt von ihm einen Anzugstoff und stellte sich mit dieser Kostbarkeit in ein Tor, Gesicht zur Straße, das Stück locker unterm Arm, etwas abgefaltet von dem Pappstreifen. Die Hand steckte lose in der Hosentasche, das Gesicht zeigte unendliche Langeweile, nicht selten gähnte er. Die Leute traten aus dem Haus, befühlten behutsam von hinten diesen Stoff: was war das? Er wandte sich um, nicht überrascht, nicht heftig, aber zu Auskünften bereit: Stoffart? Cheviot. Preis? Der.

Nach den ersten Erfolgen verfeinerte er die Form. Wahrhaft ein Kaufmann ist nur, wer die Bedürfnisse der Kundschaft errät. Das Bedürfnis seiner Kundschaft war, einen Stoff von hinten zu befühlen. Warten, bis jemand hinter ihm aus dem Hause trat? Besser, er stellte sich umgekehrt mit dem Rücken zur Gasse, das Gesicht dem Tor zu, das Stück unverändert abgewickelt unterm Arm – eine unangenehme Stellung, ständig hatte er nichts als Adern und Risse in der Haustür vor den Augen, aber der Erfolg bestätigte den Versuch, immer wieder befühlte man den Stoff, immer wieder mußte er sich umdrehen, erklären, anbieten. Die Haltung widersprach dem 57 Herkommen, auch dem Anstand, aber ein junger Kaufmann mußte über die Tradition hinauskommen.

Noah beschränkte sich nicht auf dieses lässige Gebaren. Er ging die Nachbargassen ab und zog in jedem Stockwerk die Klingel. An dreihundert Türen abgewiesen, war er nicht enttäuscht. Ihn tröstete: auch ein Zettelverteiler, sogar die Post schob Zettel durch die Türen und machte sich nichts daraus, ob die Zettel gelesen oder ungelesen weggeworfen wurden. Er fühlte, die Art des Erwerbes, dem er nachging, war eine Sache der Geduld und es war nötig, geduldiger zu sein als andere. Früh ohne Eltern, immer von anderen erzogen, hatte er gelernt sich zusammenzunehmen. Er war bereit, einen ganzen Monat jeden Tag auf vielen tausend Treppen die Leute an die Tür zu rufen, wenn er die Aussicht hatte, im zweiten Monat den Stoff eines einzigen Anzugs zu verkaufen. Er schreckte eines einzigen Geschäfts wegen vielleicht Tausende von ihrer Beschäftigung auf, unterbrach den Schlaf von Hunderten, die ausgestreckt auf einem Sofa lagen, das machte nichts – sie konnten sich, war die Tür ins Schloß geworfen, wieder hinlegen, nach fünf Minuten schliefen sie. Er hatte recht: wenn man so viele Treppen gelaufen war wie er, dann schlief man nach fünf Minuten.

Noah trat jeden Tag ein halbes Dutzend Mal an die Stände und sagte: »Und was macht ihr?« Jedesmal hieß es: »Was soll man machen? Nichts!«

»Sitzen ist auch gut«, meinte Noah, den die Beine schmerzten.

»Du verdienst, wir nicht.«

»Verdienen?« seufzte Noah, »dreimal so viel ist auch noch nichts.«

»Er ist noch nicht sechs Wochen hier und will schon Rothschild sein«, sagte Tauber.

»Nicht Rothschild, nicht Bleichröder«, wehrte Noah, aber es schmeichelte ihm doch.

Noah liebte seinen Vetter und kam sich neben ihm wenig groß vor, schon, weil er ihn von einem Manne 58 ausgezeichnet sah, den er selbst bewunderte. Dieser Mann hatte einen wunderbaren Kopf, ein bleiches Gesicht, von noch tieferer Blässe durch das starke, schwarze, zurückgekämmte Haar. Die Nase war herrlich schmal, die Stirn hoch, breit und vollkommen rein. Noah mit seiner niedrig geratenen beneidete ihn um diese Stirn und beneidete ihn auch um die goldgefaßte Brille, die die Klarheit der Stirn noch unterstrich und deren Gläser nicht den Glanz der schwärmerisch dunklen Augen aufhoben. Vielleicht wirkte Seraphim nicht allzu männlich, nur zur Not verdeckte ein Bärtchen das schwache Kinn. Noah hätte dennoch den eigenen Kopf gern gegen den von Seraphim getauscht. Freilich war er nicht reif genug, die Zwiespältigkeit dieser Natur auch nur zu ahnen: eine entschiedene Geistigkeit neben einem im Vergleich dazu geringen Willen. Ein einziges Mal hatte sich Seraphim empört, als er aus der mittelalterlichsten Judengemeinde Galiziens ausgebrochen war. Er war Schüler einer jüdischen Lehrschule gewesen, hatte den ganzen Tag, den Körper schüttelnd, mit elf anderen auf der Bank gesessen und gelernt; der Gottesdienst am Morgen und der am Abend, die einzigen Pausen des Tages, wurden in der gleichen Stube abgehalten; der einzige Unterschied war, man stand. Das Leben war schlimmer gewesen als im Gefängnis, denn im Gefängnis gab es wenigstens den Spaziergang auf dem Hof. Hier aber ging man bloß über den Hof zum Essen und ins nächste Haus zum Schlafen, sechs in einer Kammer, es war heiß, man wußte nicht, wohin mit seiner Jugend, war ohnmächtig gegen das Andringen des Gefühls. Es gab ein Gebet, mit dem man es niederkämpfte; das Gebet sagte man tonlos in die Kissen, das Gefühl aber schrie.

Krakau war eine fromme Stadt, man stritt, welche frömmer sei, Warschau oder Krakau. Krakau, sagte Seraphim. In Krakau ruhte auf dem vierhundert Jahre alten Friedhof der Remu, jener hochgelehrte Rabbi, ehrwürdig, ja fast heilig, das Grabmal vollgesteckt mit Zetteln, zu 59 Hunderten lagen sie am Boden unter abgewehten Blättern. Unglückliche stammelten darauf ihre Klagen und brachten die Bitte vor, für sie zu beten. Fromme Männer, in den Gebetmantel gehüllt, das Käppchen auf dem Kopf, standen in verzückter Andacht vor dem Grabstein; in der weltabgeschiedenen Stille des von Büschen und Gestrüpp verwilderten Gefilds riefen sie die Seele ihres großen Lehrers. Nicht weit ab lag das Grab des großartigsten Gelehrten, des hochberühmten Taussfesjontef, dessen Schriften noch heute wirkten wie Licht im Dunkel; benachbart ruhte einer von den sechsunddreißig Zaddikim oder Gerechten. Um sie herum, abgeschlossen in ihren Vierteln, lebten die Juden streng unter sich, mit den Andersgläubigen im Verkehr nur durch den Handel. Aber Handel und Wandel waren das niedere Leben, das wahre wurde am Abend gelebt, am Sonnabend, an den Feiertagen, da wurde von der Tora gesprochen, von den Glaubensdingen, von den gleichen, die schon vor drei-, vor sechshundert Jahren Kern der Gespräche der Ahnen gewesen. Es war kühn, von dort auszubrechen, waren auch viele im Laufe des Jahrhunderts von Ost nach West gezogen. Die Mehrheit saß noch da, fromm und streng wie einst, und jede Flucht blieb ein neues, ein zweifelhaftes Abenteuer.

Drei Jahre waren um – hatte sie einen Sinn gehabt, seine Flucht? Er lebte im Ghetto hier wie vordem dort, nur ging er nicht mehr in die Lehr-, sondern in die Betschule. Er trat für Änderungen ein, die Religion sollte eine freiere und reinere Form erhalten, aber der Erfolg blieb aus. Er galt als Ketzer, er hetze die Jugend auf. Wirklich sagte er ihr: seht euch Herrn Lämmchen an, nie kann er sich genug beim Beten schütteln, am Morgen und am Abend nach dem großen Gebet geht er die drei Schritte weiter aus als alle anderen, um sich dann tiefer zu verbeugen; bei den Worten Heilig, heilig, heilig! möchte er höher hüpfen als sie alle, er faßt, wie man sagt, Gott an die Füße, aber zu Hause schlägt er die Frau und im Geschäft macht er zweifelhafte Sachen! Übereinstimmung von Leben und 60 Glauben forderte Seraphim, überalterte und sinnlos gewordene Bräuche sollten fallen, auf den Glauben kommt es an, nicht auf Aberglauben! Darin war sehr viel Unabhängigkeit des Urteils, aber diese Unabhängigkeit ging nicht so weit, daß er den Zusammenhang mit der Gasse aufhob – ohne die Gasse konnte er nicht leben.

»Wenn Sie nicht gar so unfromm wären«, meinte Tauber, »um den Frajim könnten Sie sich kümmern!«

»Kümmere ich mich nicht um Frajim? Unterhalt ich mich nicht immerfort mit Frajim?«

Ja, er kümmerte sich um ihn, das war Frajims Stolz; auch Noah hätte die Hälfte seines Verdienstes dafür gegeben.

»Er sieht recht betrübt aus heute«, sagte Seraphim.

»Da sehen Sie doch, wie Sie ihn kennen«, hielt ihm Tauber vor, »heute, sagen Sie. Leider sieht er immer so aus, betrübt und abgeschlagen.«

»Lassen Sie nur, das ist die beste Jugend. Wenn er erst das Leben kennt, wird er heiterer werden.«

»Da hat der Seraphim recht«, erkannte Tauber an. »Wenn man alt ist, ist alles halb so schwer, das Leben geht von selbst vorbei.«

Frajim faßte sich ein Herz und fragte mit einem leichten Schauder: »Und an den Tod, denkt man denn dann nicht immerfort an den Tod?«

»An den Tod denkt man nur, solange man jung ist, und vielleicht noch einmal so um fünfzig, nachher nicht mehr. Wozu auch? Der kommt von selbst, keine Angst, keiner wird vergessen. Was hast du davon, daß du dir jeden, der vorübergeht, waagerecht in der Grube vorstellst, daß du dir sagst, jeder muß hinunter, in hundert Jahren ist keiner mehr hier oben? Damit laßt sich's nicht leben, und leben soll man doch, und leben will man auch. Und wenn man rechtschaffen gewesen, so geschieht einem ja auch nichts, man stirbt unversehens eines Tages und kommt gleich danach in das Paradies. Aber davon wird Herr Seraphim nichts wissen wollen.« 61

»Doch, ich glaube an die Unsterblichkeit der Seele.«

»Ach was, an das Paradies sollen Sie glauben«, gab Tauber unwillig zurück.

»Und was Sie vom Tod sagten«, erwiderte Seraphim, »das gefiel nun wieder mir nicht. Auf den Tod soll man sich vorbereiten, nicht, wie Sie sagen, unversehens eines Tages sterben. Das ist nichts, sterben wie jener alte reiche Mann, der im Sanatorium eines Abends mit einer fremden Frau tanzte und zu ihr sagte: ein Mann ist so alt, wie er sich fühlt, eine Frau so alt, wie sie sich anfühlt, es sprach, einen Herzschlag bekam und umfiel. Ein schönes Ende, meinte der Herr, der mir das erzählte, und schien sich selbst keinen anderen Tod zu wünschen, aber wie kann ein Ende schön sein, das mit solchen Worten ein Leben abschließt, nein, es beinahe umwirft? Da ziehe ich mir meinen alten Lehrer vor, der sich wünschte, vor seinem Tode lange krank zu sein und zwei Jahre im Bett zu liegen, um sich richtig vorzubereiten auf den Tod.«

»Ich kann darauf nicht antworten, nicht ja, nicht nein«, meinte Tauber. »Was weiß der Mensch? Ich kannte einen armen Mann, er lebte in einem Altersheim. Der Mann war fromm, hochachtbar, ein Mann von feinem Verstand, einundachtzig. Eines Sabbats, gerade beim Gottesdienst, was geschieht? Er bekommt einen Schlaganfall. Die Leute tragen ihn auf sein Zimmer, aber kaum ist er aufgewacht, so hebt er den Finger und spricht: das war ein Wink von oben, doch ich gedenk ihm nicht zu folgen! Fünf Minuten später ist er tot. Sehen Sie, das war nun ein frommer Mann, und doch waren das seine letzten Worte! Was weiß der Mensch? Und was heißt da, sich lange vorbereiten? Man stirbt, man kommt ins Grab, dann erscheint ein Engel, nimmt die Seele heraus und führt sie in den schönen Garten Eden zu Palmen, vielleicht werden auch Papageien da sein, was weiß ich? Ich mag Papageien nicht. Aber man wird sich gewöhnen.«

Noah ging weiter, solche Gespräche hatten keinen Sinn für einen jungen Menschen, dessen Aufgabe war, Geld 62 zu verdienen. Auch die anderen setzten das Gespräch nicht fort; zu Tauber trat eine junge Frau, die einen orangefarbenen Schlüpfer haben wollte, Seraphim aber hatte allen Anlaß zu eilen, wenn er eine heimliche Freundin nicht warten lassen wollte – ein Geschenk hatte die Freiheit ihm gewährt. 63

 


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