Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Frau Spanier und Frau Weichselbaum am Fenster.
Ein Scherenschleifer, ein Arzt

»Wunderbare Orangen! Ich bring sie Ihnen! Kosten Sie!« Herr Monasch schwingt eine Tüte und spricht zum ersten Stock des Gasthauses hinauf.

Frau Spanier, im Fenster, schüttelt den schönen Kopf. Jaffaorangen hat sie gestern erst geschenkt bekommen. »Sie wissen es, Frau Weichselbaum«, sie lacht zu ihrer Nachbarin, die, zu Besuch, neben ihr im Fenster liegt; Frau Weichselbaum lügt gefällig: »Wie sie sagt!«

Durfte nicht wenigstens einer seiner Jungen die Tüte hinaufbringen?

»Bitte nicht.«

Erbleichend zog Monasch den Hut und ging.

»Sie mögen ihn nicht? Aber er ist ein stattlicher Mann!« Mehr – er wollte heiraten, seine Frau hatte ihm vier unerwachsene Kinder hinterlassen, er war Vorbeter, angesehen, man gönnte ihm eine zweite Frau. Wie angenehm, ihm später durch seine zweite Frau zu sagen, wenn er zu stark tirilierte: tiriliere weniger! Oder wenn er bei dem wärmsten Wetter mit einem seidenen Halstuch herumlief: das kannst du abmachen, wir wissen auch so, du bist der Vorbeter!

Aber Frau Spanier gestand Frau Weichselbaum die Wahrheit nur halb; der Name Seraphim, der auch hätte erscheinen müssen, kam nicht vor. Gegen Monasch sprach nicht so sehr ihre Abneigung gegen eine neue Ehe, als sein Amt. Auch ihr Vater war Vorbeter gewesen, ein breitschultriger, graubärtiger, hochangesehener Mann, im Besitz einer wunderbaren Stimme. An hohen Feiertagen lockten seine Gebete die Angehörigen anderer Gemeinden, an manchem Sabbat kamen Vorbeter aus weit 81 abgelegenen Städten, um ihn zu hören. In jeder jüdischen Gemeinde gibt es Spötter, aber von ihrem Vater wagte keiner zu behaupten, er mißbrauche den Gottesdienst zu gesanglichen Spielereien, im Gegenteil, es hieß, er gäbe seine geradezu unerschöpflichen Mittel nicht einmal aus; statt zu verschwenden, hielt er zurück. Um so mehr verwirrte sie eine Geschichte, die sie in einem Alter hörte, in dem Mädchen zu verwirren sind. Die Geschichte ging überall von Mund zu Mund, wo die Selbstgefälligkeit eines Vorbeters bespöttelt wird. Frau Weichselbaum kannte sie natürlich, die Geschichte vom Hund, vom Pferd, dem Vorbeter und Gott?

Sie kannte sie, aber sie entsann sich nicht des Schlusses.

Also: als Gott den Hund, kaum daß er ihn geschaffen, über die Mühsal seines Lebens unterrichtet hatte, bat der Hund: nimm mir zehn Jahre meines Lebens ab! Gott bewilligte ihm die Bitte und versagte sie auch nicht dem Pferde, das von seinen noch größeren Strapazen und Lasten hörte. Aber auch der Vorbeter, kaum erschaffen, fragte Gott, was seiner harre, und welche Zahl von Jahren ihm zugemessen sei. Gott bedeutete ihm, er werde Fisch und Fleisch auf jeder Hochzeit vorgesetzt bekommen, und was die Jahre anbelange, solle er siebenzig werden. Den Vorbeter befriedigte die Aussicht nicht, er wünschte älter zu werden. Gnädig gewährte ihm Gott die Bitte. Gut, sprach er, du sollst die zehn Jahre zugelegt erhalten, die ich dem Hund, und die zehn, die ich dem Pferde abgenommen habe. Darauf führt es zurück, schließt die Erzählung, daß ein alter Vorbeter bellt wie ein Hund und frißt wie ein Pferd.

Sie war dreizehn, als eine gehässige Freundin ihr diese boshafte Geschichte erzählte. Bis dahin hatte sie den Vater vergöttert, zuletzt allerdings schon ein wenig mit dem Gefühl, vernachlässigt zu werden, wollte sie doch verehrt werden wie eine kleine Geliebte. Es verdroß sie, daß er von dem gebratenen Geflügel und den süßen 82 Torten die Stücke, die er von Hochzeiten heimbrachte, nicht der Mutter und den Geschwistern überließ, sondern mitaß, ein zweites Mal, sehr verschieden von der Mutter, die nichts berührte. Nun hörte sie diese Geschichte und fortan konnte sie ihm kaum die Hand geben, quälte sie sein Gesang im Tempel, quälten sie seine Übungen zuhause, wurde sie täglich befangener, und als er es endlich merkte, wurde er selbst lauer, hob er sie nicht mehr hoch, schloß sie nicht mehr in die Arme, küßte sie nicht mehr auf den Mund, möglich, er dachte: was weiß man mit fünfzig von einem Mädchen von dreizehn, am besten, man läßt es in Ruhe. So blieb es bis an sein Ende, er starb, sie war erst achtzehn. Heute dachte sie anders, heute bereute sie, aber einen Vorbeter zu heiraten, das war ihr nach wie vor unmöglich.

Es mußte ja nicht sein, stimmte Frau Weichselbaum ein.

»Und nähmen sie einen Mann mit so viel Kindern, was bliebe Ihren Töchtern und uns anderen noch von Ihnen?«

Unten erschallten Rufe. »Blumenerde!« schrie ein Mann und rannte, einen Sack über der Schulter, durch die Gasse. Frau Weichselbaum erblaßte, Blumenerde, das hieß Frühling. Zuhause brachen jetzt die ersten grünen Spitzen aus den Büschen, öffnete sich die Erde mit dem ersten lichten Gras, atmete jeder Windstoß neue Verheißung. Hier kamen Frauen aus ihren engen Kammern, Eimer und Blechschüsseln in der Hand, ließen frische Erde aufhäufen und liefen wieder in die Enge ihrer Kammern zurück.

»Schrecklich«, sagte Frau Weichselbaum und schauerte, und Frau Spanier seufzte mit. Ihr tat ein armer Händler aus der Gasse leid, sein Keller war voll Blumenerde, aber er schrie sie nicht aus, hängte nur ein Stück Pappe vor die Tür und schrieb mit Kreide ›Blumenerde‹ darauf. Nun konnte er mitansehen, wie ein fremder Mann durch die Gasse stürmte, seine Erde ausschrie und die Frauen 83 hinterdreinjagten. Wie gutmütig waren die Menschen, ein anderer risse dem Mann den Sack vom Rücken und prügelte ihn blau.

Ein neuer Menschenauflauf. Mit schmutziger Hose, dreckigem Kittel, einen Riemen um den Leib, vor sich auf dem Handwagen einen Stein, kam ein hübscher Scherenschleifer an. Mit wohlgefälliger Stimme sang er in die Fenster: »Scheren, Messer, Beile, Raspeln, Feilen – schleife, schärfe alles.« Die Frauen hatten offenbar auf ihn gelauert. Alt und Häßlich hetzte die Treppe hinab und stürzte mit einem süßlichen Lächeln auf ihn zu. Jede wollte die erste sein, wahrscheinlich schien das erste hübsche Lächeln um seinen Mund frischer, das erste Wort von seinen Lippen am wenigsten verdorben. Er kramte in der Ledertasche nach einer Münze, um sie einer älteren Frau herauszugeben – sie winkte ab. Mehr oder minder umwarb ihn jede; nicht er war dankbar, beschäftigt, sie waren es, bedient zu werden.

Zuletzt kam ein junges hübsches Ding und hielt ihm lachend die Messer hin. Langsam und lachend schliff der Scherenschleifer. Schließlich bekam das Mädchen seine Messer und er ein Lächeln – ah, dachten im Fenster beide Frauen, das war ein zarter Bund, jeden Monat auf ein Lächeln beschränkt, wie schön, erst sechzehn zu sein! Aber der Scherenschleifer bekam einen zweiten Dank: mit scharfem Werfen des Rockes machte das Mädchen kehrt und drehte sich noch einmal zu ihm zurück.

Nun aber war er nicht mehr zu halten, auch nicht durch die Kinderschar, die mit der Hand den ruhenden Schleifstein in Gang zu setzen suchte. Er nahm die Deichsel in die Hand und zog, den Kopf zurückgewandt und die Kinder scheltend, die sich an den Karren hängten. Fast überfuhr er einen alten Mann, der aufgeregt, die Gedanken ganz woanders, daherkam. Es war Eisenberg, der Alte, der in Jerusalem zu sein glaubte. Er sah Jerusalems gesegnete Hügel vor sich, den Marmor und das Gold am Tempel, die Kuppel starrte von scharfen und hellen 84 Spießen, damit sich die Vögel nicht auf der Kuppel niederließen und das Heiligtum verunreinigten. Eisenberg schwang sich in die Höhe des Vogelflugs hinauf und blickte berauscht auf die wimmelnde Stadt hinunter – da gerade sank er um. Frau Spanier und Frau Weichselbaum schrien auf, aber der Scherenschleifer half dem alten Mann vom Boden. Nichts war ihm geschehen; weder Staub noch Unrat von den Kleidern klopfend, trottete er verwirrt, die Gedanken abseits, weiter.

Frau Weichselbaum schreckte auf: hatte man nicht nebenan gerufen? Sie verließ die Kammer und legte das Ohr an eine Tür. Nein, es sprach niemand drin, der Arzt war noch nicht bei ihrem Mann. Sie kehrte zurück in Frau Spaniers Kammer, zu Frau Spaniers Fenster; hier zu sein, war ihr nachgerade unentbehrlich. Nicht nur das Leiden ihres Mannes bedrückte sie – ihr fehlten das Leben in der Familie, der dauernde Wechsel der Tätigkeit, die Weite des Gutshofs; sie verkümmerte in diesem Gasthaus. Auch zuhause war sie eine leidenschaftliche Zuhörerin, kannte sie die Geschichte jeder Magd und drängte Freunde und Verwandte, die auf Besuch kamen, bis in die Nacht hinein zu erzählen. Frau Spanier wußte alles aus der Gasse, Krankheiten von gestern und Geburten von morgen, Verbrechen, Glücksfälle, Jammer, Entsetzen. Bereitwillig riß sie alle Schübe ihres unerschöpflichen Gedächtnisses auf; es gab nichts, was sie lieber tat, als erzählen.

»Hab ich Ihnen von Frau Lichtblau gesprochen, der geborenen Simchowitsch? Als dieser Frau Lichtblau der dritte Sohn geboren wurde, am gleichen Tage starb ihr der Vater und fiel auf ihren Mann ein Treffer in der Lotterie von tausend Mark. Von ihrem Bruder, einem etwas sonderbaren Menschen, mögen Sie vielleicht gehört haben. Er hatte ein kleines Geschäft in einem Örtchen bei Warschau, nein, Sie werden ihn nicht kennen, es ist zu weit von Ihnen weg.«

Sie brach ab. Es wurde von unten herauf gegrüßt. Viele liebten es, sich dieser schönen Frau bemerkbar zu machen. 85 Frau Spanier fand, ein wenig Eitelkeit gehöre zu einer Frau, aus nichts wird nichts, pflegte sie zu sagen, wo was ist, muß man noch dazutun. So trat sie gelegentlich einen Schritt zurück, spiegelte sich im Fenster und strich über das Haar, das reich war, weich, dunkelbraun, von einem milden und doch so eindringlichen Glanz, daß es Männer und Frauen gab, die sich in dieses Haar allein verliebt hatten. Ihre sanft und beruhigend gebogenen Brauen verehrten andere, und nicht wenige verwirrten Blicke aus ihren großen, käferbraunen Augen. Wenn es auch Blicke waren von einer ganz unpersönlichen Liebenswürdigkeit – diese Blicke kamen eben aus einem Gesicht, das durch das Gleichmaß seiner Züge entzückte, durch die Durchsichtigkeit der Haut, durch die Anmut, mit der es auf einem schönen und weichen Hals bewegt wurde. Frau Weichselbaum rühmte bereitwillig diese Vorzüge, aber sie hatte noch eine andere Pflicht, die in den zwei Wochen ihrer Bekanntschaft mehrfach an sie herantrat: sie hatte Frau Spanier, die stets in Furcht vor zu großer Fülle war, zu versichern, daß dieser Körper noch nicht über jenen Punkt hinaus sei, in dem er einwandfrei zu nennen war. Um ihre Versicherung zu bekräftigen, legte Frau Weichselbaum ihre Wange freundschaftlich an die der schönen, vom Lobe hoch beglückten Frau – ja, der Körper war schön und sicher so glatt wie diese unsagbar glatte Haut des Gesichts. »Glatter«, sagte Frau Spanier.

Frau Spanier war verwöhnt. Sie kannte keine Sorgen. Zu ihres Mannes Lebzeiten nicht und auch nicht nach seinem frühen Tode. Sie benötigte wenig. Die Männer in der Gasse lebten aus dem Glauben, die Frauen von der Unterhaltung, und Frau Spaniers Brüder schickten ihr das wenige, was sie darüber hinaus zum Leben brauchte. Auch ihre Töchter steuerten schon ein wenig bei, die fünfzehnjährige, die bei einer Schneiderin lernte, und die vierzehnjährige, die in einem Kurzwarenladen half, und langte es einmal nicht, dann nähte Frau Spanier und verdiente etwas hinzu. 86

Genau gegenüber dem Gasthof stand ein Haus mit gelbem Anstrich, daneben, links und rechts vom Fenster, kamen grau gestrichene Häuser. Das graue rechts gehörte dem Lumpenhändler Lewkowitz, Wahrhaftig wohnte dort; das graue links war das, in dem die Schwägerinnen ihre Stände hatten – vielleicht nicht mehr für lange. Frau Spanier sah angestrengt auf diese Stände, offenbar wollte sie von dort bemerkt werden. Frau Weichselbaum blickte ihr über die Schulter. Wie hieß doch gleich der junge Mann mit den feinen Zügen drüben am Stand? Hieß er nicht Feingold? Ja, Frajim Feingold. Und davor der große? Sie hatte ihn schon wiederholt auf der Gasse bemerkt. Seraphim.

Der große kam hinüber und rief zum Fenster hinauf: »Dürfen Frajim und ich vielleicht hinaufkommen?« Sollte sie es erlauben? »Aber selbstverständlich!« sagte Frau Weichselbaum.

»Eine Minute wird Herr Tauber dich schon fortlassen«, meinte Seraphim, als er an den Stand zurückgetreten war, und zog Frajim weg.

Den Arm auf Frajims Schulter, stand er wenige Augenblicke später vor den Frauen, die sich auf dem Sofa niedergelassen hatten.

»Ich muß vorausschicken, Herr Seraphim denkt ein wenig frei, Frau Weichselbaum. Sie müssen ihn nicht falsch verstehen!«

»Es ist halb so schlimm, wie es Frau Spanier macht.«

»Von mir aus kann er so frei denken, wie er will. Aber was will er eigentlich, der Herr Seraphim? Sollten sich die Juden alle taufen lassen, und ist er sich bloß noch nicht klar, ob katholisch oder griechisch-orthodox?«

»Um Gotteswillen«, fiel Frau Spanier ein, »wo denken Sie hin? Der Seraphim hält doch alles! Er meint bloß, die Juden . . . aber das sagt er besser selbst.«

Eigentlich wollte er das nicht – eigentlich wollte er ihrer beider und vor allem Frau Weichselbaums Aufmerksamkeit auf Frajim lenken, der sie verdiente und nötig 87 hatte. Aber wenn es so sein sollte, konnte auch zuerst von der Religion gesprochen werden. Gewiß, jeder Jude sollte seinem Vater gleichen, aber die Zeiten hatten sich geändert; wenn die Väter in diesen veränderten Zeiten lebten, gewiß würden auch sie nicht –

Frau Spanier unterbrach ihn. Seine Stimme war so schön, so hell wie je, anders als die Stimmen hier, die immer leicht nach dem Gaumen klangen – aber mit solchen Worten konnte er Frau Weichselbaum verletzen, die er sich seines Pfleglings wegen gewogen machen wollte. »Ach nein, sprechen Sie davon nicht!« warf Frau Spanier ein, »sprechen Sie von Palästina!«

Aber über Palästina ließ sich nichts mehr sagen, die Welt war sich über das Verdienst der Besiedlung Palästinas durch die Juden einig.

Frau Weichselbaum wollte es Seraphim erleichtern, in Fluß zu kommen: »Gut, aber es können doch nicht alle hingehen, die Mehrheit muß bleiben und ausharren, wo sie ist, und wird sie noch so niedergehalten.«

Schön, aber auf diese Juden kam es nicht an, erwiderte Seraphim bestimmt. Wer blieb, hielt fest an einem Judentum, das sich fünfzehnhundert Jahre nicht bewegt hatte, wenn er nicht, noch schlimmer, einfach aufging in dem Volke, unter dem er lebte. Bedeutung hatten allein die Juden, die hinauszogen und das Land bestellten. Man sollte doch nun erst einmal so viele ziehen lassen, wie es faßte! Was dort hinausging und siedelte, das waren die Edelsten, die Pioniere, durch sie erhielt das Judentum einen neuen Sinn, von ihnen kam eine neue Blüte; die Zurückgebliebenen würden dereinst diese neue Gesinnung annehmen, wenn sie dann nicht im Dunkel schon verdumpft oder, völlig angepaßt an ihre Umgebung, untergegangen waren.

Frau Spanier hatte Mühe, ihr Entzücken, Frau Weichselbaum Mühe, ihren Verdruß zu verbergen. »So schlimm steht das mit uns?« Vielleicht war die Frage zu unernst nach der Leidenschaftlichkeit des Vortrags. Allerdings 88 hatte sich Seraphim von seiner Rede weiter tragen lassen, als er wollte – bisher erschienen ihm die Juden im Exil, wenigstens die frommen, nicht verloren, nur besserungsbedürftig.

Vor seiner Antwort erhob sich Frau Weichselbaum – dieses Mal hatte sie bestimmt die Tür gehen hören.

Im Zimmer nebenan war der Arzt eingetreten; seit Tagen fühlte sich Weichselbaum nicht wohl.

Der Arzt, der in der Gasse wohnte, war ein überlanger, dünner Herr, mit spärlichem Haarwuchs und einem ausgetrockneten Gesicht, fast nur Knochen und graue Haut.

Er untersuchte Weichselbaum und sagte dann zu dessen Klagen:

»Wahrscheinlich ist die Küche von Herrn Lesser Joel schuld. Muß denn wirklich so gegessen werden, täglich Gänsemägelchen mit Zwiebeln oder gesetzte Kugel? Man kann ganz gesund sein, auch wenn der Magen solche Dinge ablehnt.«

»Aber wie stellen Sie sich bloß unser Leben vor?« widersprach Frau Weichselbaum. »Übrigens ist das ein Vorurteil, die fette Küche schadet gar nichts, wenn man sie nur gewöhnt ist. Man sieht bloß, Sie sind so unfromm wie die Ärzte alle.«

Wahrscheinlich. Er konnte nicht gut an alles glauben, und es mußte doch wohl alles sein oder gar nichts.

Frau Weichselbaum sah ihn eindringlich prüfend an. Er überlegte, worauf die Blicke zielten. »Stört Sie etwas an mir?« fragte er vorsichtig.

»Nein, wie sollte es?«

Aber ihre Blicke, weiter unverwandt, standen im Widerspruch zu ihren Worten. Hatte sie vielleicht von Gerüchten über ihn gehört? Entschlossen kam er selbst auf sie zu sprechen. Endlich einmal mußte er etwas tun gegen dieses widerwärtige Gerede, schon längst hätte er sich darüber nicht hinwegsetzen dürfen. Die Leute wollten wissen, erzählte er also, ohne viel Umschweife, denn er war schon häufiger hierher gerufen worden und war 89 bekannt, eine berufliche Verfehlung habe ihn aus dem Südwesten der Stadt vertrieben, wo er Jahrzehnte praktiziert hatte. Wer es aufgebracht, das Gerücht? Seiner Meinung nach ein Kurpfuscher, der schon seit längerem in der Gasse lebte. Das heißt, er sagte Kurpfuscher, selbst nannte sich der Mann einen Heilkundigen und würde von ihm vermutlich als von einem Ignoranten sprechen. Hier herum hielt man den Mann sogar für einen Wundertäter, das schien er auch zu sein, er selbst konnte jedenfalls nicht wie jener in den Rachen sehen und eine Schleimbeutelentzündung an der Kniescheibe diagnostizieren, oder einer Frau in die Iris blicken und feststellen, daß ihr Mann sich die Hand verstaucht habe.

»Sie sind weggezogen, das verstehe ich, aber ausgerechnet in diese Gegend?« fragte Weichselbaum. »Aus dem Grund, den die Leite nennen, nicht, aber wenn man fragen darf, aus welchem Grunde dann?«

Die Praxis hatte ihm ein Vermögen eingetragen, er hatte sie aufgeben und auf Reisen leben wollen, als er, wie so viele nach dem Kriege, mit einem Male alles verlor. So war ihm bestimmt, bis in die Todesstunde zu schuften. Da wollte er wenigstens einen Einschnitt in seinem Leben haben, nicht von Anfang bis zu Ende immer dieselbe Straße, dieselbe Wohnung . . .

»Und die Kundschaft, zog sie mit?«

Mit? So etwas gab es nicht in einer großen Stadt. Man brauchte hier seine Wohnung nur sechs Straßen weiter zu verlegen, gleich waren zwischen beiden Wohnungen so viele Ärzte, daß die Patienten auf dem Wege dreimal hängen blieben.

Wahrscheinlich ging die Praxis schon vorher schlecht, dachte Weichselbaum, die meisten Menschen betrügen sich bloß selbst. »Kein einziger zog mit?« fragte er peinlich.

»Einige schon«, bekam er zur Antwort, und einer, den er in die Gegend gelockt, hatte sich sogar in einer Nebenstraße angekauft. »Ich habe mich noch stark gewundert, 90 er meinte aber: eines Tages wird bestimmt hier alles abgerissen, dann kommen neue Geschäftshäuser her, Verwaltungsgebäude und so fort. Ich hoffe, so lange ich hier lebe, bleibt alles beim alten. Ich möchte nicht noch einmal umziehen, und vor allem sollte die Gasse nicht verschwinden.« Weichselbaum habe die Gegend nicht die schönste genannt. Er glaube, es gebe schon Gründe, aus denen man gerade diese Gasse lieben könnte.

»Und eine solche Entwicklung nimmt der Mann von diesen Straßen an?«

Den Arzt enttäuschte die Frage, Frau Weichselbaum selbst war sie unangenehm. Statt eines Wortes der Sympathie eine Frage so sehr abseits der Sache, daß sie ebensogut hätte lauten können, ob der Arzt seine Mäntel fertig kaufe und welches Geschäft er dafür empfehle.

Frau Weichselbaum, um ihm Genugtuung zu geben, versicherte, ihre Bekannten und sie zerträten das Gerücht, bestimmt.

Boas war ihr dankbar dafür, er fühlte, es geschah nicht nur bestimmt, es geschah auch wirksam. So verabschiedete er sich. »Alles in schönster Ordnung«, sagte er zu seinem Patienten, und er hatte schon wieder den liebenswürdigen Ton alter Ärzte, die umsonst bemüht werden, und die andeuten, sie seien gewöhnt, um nichts ihre Tage zu versäumen.

»Was sagst du jetzt?« fragte Weichselbaum, als der Arzt gegangen war.

»Zu was?« gab seine Frau etwas abwesend zurück.

Er schwieg, sie beschäftigte offenbar noch der Arzt. Später kam er auf den Nutzen von Gesprächen zurück. »Hast du gehört? Geschäftshäuser, Verwaltungsgebäude, alles wird abgerissen . . . Andere kaufen sich hier an . . . Muß man sich nischt mit allen Leuten hinstellen?«

 

Während Frau Weichselbaum durch den Besuch des Arztes festgehalten wurde, hatte Frau Spanier weiter von dem Fenster aus auf die Gasse gesehen. Drüben an den 91 Ständen der Schwägerinnen saß noch Tauber und nun auch wieder Frajim; Seraphim stand bei ihnen. Eine Frau an einem Trödlerstand vertreten und einen Bettler ausführen, dachte Frau Spanier, Seraphim hatte recht, waren das Berufe? Und wenn Frajim nur nebenan, in der Schankwirtschaft von Teich, Geschirr gespült hätte, wäre es nicht eine bessere Beschäftigung für einen jungen Mann gewesen? Sie hatte von Männern gehört in New York, Millionären, die als Geschirrwäscher angefangen hatten. Oder wenn er sich in eine Uniform hätte stecken lassen von einer Fabrik für Schuhcreme und am Alexanderplatz Schuhe wichste! An Radioartikeln wurde Geld verdient, warum bildete er sich nicht zum Mechaniker aus, klopfte an die Türen und erbot sich, für wenige Pfennige Apparate nachzusehen? Einem anderen schlug man die Tür vor der Nase zu, aus Angst, er könnte stehlen oder einen umbringen, aber Frajim sah so aus, daß man ihn eher streichelte. Dann dachte sie: falsch, Frajim mußte Kaufmann werden. Ihre einzige Verbindung zur Kaufmannschaft war die alte Kurzwarenhändlerin, bei der ihre jüngere Tochter arbeitete. Das Geschäft war nicht bedeutend, aber die Frau hatte fünf angesehene Kaufleute zu Söhnen, die in der Stadt ihre Geschäfte hatten und die sie drängten, ihren Laden in der Gasse aufzugeben. Konnte nicht einer von diesen Söhnen Frajim einstellen? Freilich, alle fünf waren unfromm geworden und hielten ihre Geschäfte am Sonnabend offen – weder Seraphim noch sie hätten es übers Herz gebracht, Frajim zu überreden, in das Geschäft so Vergessener einzutreten.

Unten sagte Tauber, von Julchens Stuhl aus, zu Seraphim: »Nun sagen Sie mir aber, wo steht geschrieben . . .?«

»Weiß ich?« sagte Seraphim kurz.

»Er hat noch gar nicht gehört, was, und schon sagt er, weiß ich! Also dann will ich ihm sagen, wo es geschrieben steht«, wandte er sich an Frajim. »Nirgendwo steht es geschrieben, man erzählt es bloß, und ich dachte gerade 92 daran, weil heute so ein schöner Tag ist. Also: ein jüdisches Kind hat in der Hungersnot die beiden Eltern verloren, Vater und Mutter. Es kommt das nächste Jahr, es wird wieder warm, da geht das Kind auf die Gräber. Steh auf, Vater! ruft es, steh auf, Mutter! Die Bohnen sind schon lang an den Stangen! Es hat nämlich geglaubt, das arme Wesen, die Menschen seien wie die Bohnen, im Winter sterben sie, im Sommer grünen sie wieder!«

»Wissen Sie, Eisenberg«, rief er den verstiegenen Schwärmer an, der gerade vorübertappte, »wo geschrieben steht: wenn jemand sagt, Caesarea und Jerusalem sind beide zugrunde gegangen, glaub ihm nicht, wenn jemand sagt, sein heint auch noch beide voll von Menschen, glaub ihm auch nicht; wenn aber einer sagt, Caesarea ist zugrunde gegangen und Jerusalem ist noch voll von Menschen, oder Jerusalem ist zugrunde gegangen und Caesarea ist voll von Menschen, glaub ihm!«

»Glaub ihm nicht!« schrie Eisenberg außer sich. »Jerusalem ist nicht zugrunde gegangen und Jerusalem ist voll von Menschen!«

»Nun, habe ich anderes gesagt?«

»Natürlich haben Sie anderes gesagt«, schrie Eisenberg. Seraphim schlichtete den Streit: »Vielleicht nicht, vielleicht ja, was liegt daran?« und er schüttelte mißbilligend gegen Tauber den Kopf.

»Nun schön, Ihr mögt recht haben«, sagte Tauber, »einmal der, einmal jener.« 93

 


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