Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Rabbi Jurkim und seine Frau

Die Vorstellung dieses Mahls verwandelte Frau Warszawski. Sie ging auf die Gasse, um recht viele Menschen zu treffen und das Glück zu kosten, daß sich alle ihrer Freude freuten. Sie beschlagnahmte eine Frau Lamm, aber das Gespräch wurde dauernd unterbrochen, einer lachte sie an, ein anderer schüttelte ihr beide Hände, sie selbst hielt einen Alten fest und sagte: »Sehen Sie, zuletzt kommt es doch noch an die Richtigen.« Frau Lamm litt wirklich lammsgeduldig die vielen Pausen, obwohl sie es eilig hatte, sie sollte bei der Rabbinerin nähen. Frau Warszawski zog sie zu einer ganz geheimen Mitteilung in eine Tornische: die Frau des Rabbiners wurde immer schwermütiger. Es war nicht leicht, mit ihr zu leben? Aber war mit dem Mann leicht auszukommen? Woraus bestand sein Tag? Unablässig beten, unaufhörlich lernen, er übertrieb und betete, wie andere atmen, es fehlte ihm die Wärme, sein Blick war Eis, entsetzlich, Bett an Bett mit ihm zu schlafen, wahrscheinlich schlief man im Keller wärmer. Frau Jurkim, hieß es, sei unwirsch, mürrisch? Aber es sollte erst mal eine nicht mürrisch machen, das Weib eines solchen Mannes zu sein. »Bei uns zu Hause«, fuhr Frau Warszawski fort, und sie genoß das Glück eines ausgedehnten, eines endlosen Schwatzes, »gab es einen hervorragenden Rabbiner, geradezu ein Bild von einem Mann, Rabbi Jizschak Feilchenfeld, das Gegenteil von Jurkim, heiß, sein Auge glänzte – wenn er einen ansah, wurde einem anders unter seinem Blick. Wenn ich an den denke und dann Jurkim ansehe, sag ich mir oft, können denn Männer so verschieden sein? Was wollen Sie von der Frau? Wo soll sie hin mit ihrem Herzblut? 157 Dem Mann kann sie es, den Leuten darf sie es nicht zeigen.«

Ja, das war so, aber wer hatte es denn leicht? Vielleicht sie im Augenblick, weil sie das Haus verkauft hatte? Ach, da gab es auch allerhand Verdruß. Zum Beispiel ihre Tante Feiga Turkeltaub, die sorgte schon dafür, daß einem selbst in solchem Augenblick nicht zu wohl wurde. Vorgestern morgen hieß es, gerade eilends wegstürzen, schon vorgestern sollte sich der Kauf entscheiden; rasch setzte sie noch ihrer Tante, Gott sollte sie bis hundert Jahr erhalten, an denen nur noch zweiundzwanzig fehlten, den Kaffee auf das Bett, die Milch dazu, beides in blauen Töpfchen. »Vielleicht, ich weiß nicht, hatte die Milch so etwas wie einen kleinen Stich, ich glaub es aber nicht, vielleicht war sie etwas wässerig, jedenfalls, ich komm nach Haus, strahlend, voraussichtlich wird es werden, eben will ich's ihr erzählen, aber ich komme nicht zu Wort. Jenny, sagt meine gute Tante, ich werd dir, wenn du gestattest, nachher das Töpfchen zeigen, aber vorher möcht ich dir gern eine Geschichte erzählen, das heißt, wenn du mir's erlaubst. Ich habe sie von deinem seligen Onkel, vielleicht ist sie dir noch nicht bekannt. Sie spricht erst von dem Onkel, dann erzählt sie, einmal habe es eine fromme und geizige Frau gegeben, die habe ihre Gäste immer reich bewirtet, aber die Speisen waren häufig schlecht, so daß sich viele den Magen daran verdarben und ein Mann sogar starb. Offenbar so, habe der Onkel gesagt, wollte die fromme Frau drei Gebote zugleich erfüllen: Gastfreundschaft zu üben, Kranke zu pflegen und Tote zur letzten Ruh zu geleiten! Du wirst mir die Geschichte nicht übel nehmen, sagt meine gute alte Tante und lacht aus ihrem Munde ohne Zähne . . . Ja, so steht es, gut und schlimm, immer beides beieinander. Aber Sie, liebe Frau Lamm, Sie, bestes Schäfchen, Sie wollen mir gar nicht gefallen, die Augen kriechen Ihnen überhaupt nicht mehr aus dem Kopf! Wieder einmal zuviel gearbeitet? Ja, es ist schwer, zwei Söhnchen 158 durchzubringen. Tauber sprach neulich von Ihnen – wissen Sie, was er gesagt hat? Man spricht von der Ameise, sie lebt sechs Monate insgesamt und verbraucht überhaupt nur ein halbes Körnchen, aber den ganzen Sommer sammelt sie, alles, was sie findet – vielleicht bestimmt Gott, denkt sie, ich soll länger leben, dann habe ich zu essen. So, sagte Tauber, so ist Frau Lamm. Ich hab darauf gesagt: Sie verstehen nicht, was zwei Jungen runterbekommen. Aber wirklich, Sie sollten sich in acht nehmen. So zart!« und sie umspannte mit einer Hand den Arm der Nachbarin. Dann besann sie sich: »Aber nun Schluß! Ich spreche ja heut, ohne abzusetzen.«

Frau Lamm war es angenehm, loszukommen, denn gerade erschien Tauber, und sein Glückwunsch an Frau Warszawski war sicher weder kurz noch frei von Erinnerungen an Worte der schriftlichen wie der mündlichen Überlieferung.

Frau Lamm teilte das Urteil über die Rabbinerin nicht. Mitleid gebührte dem Mann, nicht der Frau. Er war kühl, übrigens nicht immer, keineswegs aber kalt, Frau Warszawski irrte, sie war in ihrer Abneigung so stürmisch wie in ihrer Zuneigung. Sicher hatte er es nicht gut bei der häßlichen, quittengelben, häufig erbosten Frau; dennoch gab er ihr nie ein böses Wort, ja, sie glaubte, er war zu fromm, es auch nur zu denken. Nach ihrer Meinung war die Frau einfach seelisch krank und in ihren Anfällen geradezu unleidlich. An das schlimmste je von einem Mann für eine Frau gefundene Wort hatte sie, eine gemeinhin geduldige Frau, gedacht, als sie einen solchen Anfall miterlebte: weißt du, wie übel du bist? Zweimal so übel, wie du aussiehst: guck in den Spiegel und sieh, wie häßlich du bist, dann kannst du dir ausrechnen, wie übel du bist! – Aber Frauen denken schärfer über Frauen, Jurkim fand sie gewiß nicht einmal häßlich, für ihn war sie vermutlich so geblieben, wie sie in ihrer Jugend gewesen war, wo sie doch wohl einen Reiz gehabt haben mußte. Welche Jugend hatte keinen? 159

Frau Lamm arbeitete gebückt an einem Kleid. »Viel Geld, viel Geld«, stöhnte die Rabbinerin, »immer wieder Unvorhergesehenes, zwei Meter Kante hatten Sie gesagt, nicht sechs.«

»Ziehen Sie sie mir ab, die vier!«

Ja, eigentlich war das richtig, aber sie machte das nicht.

»Warum nicht?« fragte Frau Lamm, »ich bin doch schuld.«

»Schuld sind Sie«, meinte die Rabbinerin, »bloß nachher spricht sich's herum und wird anders ausgelegt.«

»Aber dazu müßte ich doch sprechen«, sagte die Näherin stockend.

»Kurz und gut«, erwiderte die Rabbinerin heftig, voll Zorn, »ich will nicht.«

Später trat die Tochter herein, für die das Kleid bestimmt war. Sie kam aus dem Bett und klagte über alle möglichen Zustände, ohne die sie sich freilich an der Arbeit hätte beteiligen müssen. Man durfte ihr die Leiden glauben: nicht mehr jung, schlecht gewachsen, unhübsch, wenig freundlich in ihrem Wesen, durch die Zustände ihrer Mutter nicht gerade heiterer, hatte sie mehrfach zu arbeiten versucht und es immer wieder aufgegeben – sie redete sich Krankheiten ein und wartete auf den Mann, der sie gesund machte. Aber er kam nicht, und wäre er gekommen, würde sie ihn schlecht behandelt haben, spöttisch, herablassend – kurz, sie war ein unglücklicher Mensch.

»Für mich denken Sie sich was Hübsches wohl nicht mehr aus?« nörgelte Fräulein Jurkim aus dem Bedürfnis nach Verzärtelung. »Bestimmt denken Sie, ach, bei dem Fräulein Jurkim, da kommt es schon nicht mehr darauf an.«

»Aber, liebes Fräulein Jurkim, darauf kann man ja gar nicht antworten«, sagte demütig und bescheiden die kleine Näherin.

»Jede andere hat Glück. Haben Sie von Frau Warszawski gehört?« 160

»Eben habe ich sie getroffen.«

»Nur an mir geht's Glück vorbei.«

»Es kommt schon noch, bestimmt.«

»Ja, es wartet bis vierunddreißig, aber dann kommt's bestimmt«, war die bittere Antwort.

»Stell dich doch nicht hin mit jedermann!« flüsterte ihr die Mutter ins Ohr. Aber die Tochter erwiderte laut: »Für Frau Lamm ist es nichts Neues, daß ich bald fünfunddreißig bin.«

»Jetzt bist du sogar schon bald fünfunddreißig! Du bist doch eben erst vierunddreißig geworden.«

»Ja, und im November werd ich fünfunddreißig, es ist doch nun mal nicht anders.«

»Ich habe von einer Rothschild gelesen, die hat mit vierunddreißig geheiratet«, meinte helfend die kleine Näherin, »außerdem mögen viele Männer, besonders Witwer mit Kindern, gar nicht gern so junge Mädchen.«

»Jetzt soll ich nun schon gleich fremde Kinder großziehen.«

»Sind die nicht vielleicht besser als eigene! Um eigene muß man sich so furchtbar ängstigen«, sagte Frau Lamm, deren Jungen allein zu Hause waren.

Während die Frauen ihren Angelegenheiten oblagen, ging Jurkim über die Gasse. Seine Gestalt war untersetzt, aber der große, mächtige, bärtige Kopf verschaffte ihm überall die Achtung, die vielleicht die Gestalt allein sich nicht erzwang. Trotz dem warmen Wetter war der Mantel fest geschlossen. Den Schlapphut hatte er tief in die Stirn gedrückt, als wollte er nichts sehen; in Wirklichkeit dachte er nur immer und sah nicht. Er warnte zuweilen junge Leute vor Dirnen und vor Verbrechern, aber er hätte nicht angeben können, wo sie wohnten in der Gasse, die Dirnen, die Verbrecher – ein anschauungsloses Denken, das von Kälte kam und kälter machte, wenn auch keineswegs bis zu einem Grad unter Null, wie ihn Frau Warszawski ablas. Während er jetzt mit einem Begleiter sprach, fiel eine andere Eigentümlichkeit an ihm 161 auf: er sah scheinbar ungern einem anderen in die Augen und sah meistens seitlich an ihm vorbei.

Sein Begleiter war ein galizischer Rabbiner, und das Gespräch war grundsätzlicher Art. Es verlief stürmisch, so daß der galizische Rabbiner es bei einer Wendung sogar versäumte, die rechte Seite an ihn abzutreten. Das erregte das Mißfallen Vorübergehender, die unter sich nicht Wert auf solche Äußerlichkeiten legten, sich aber in ihrem Oberhaupt gekränkt fühlten. Jurkim sorgte bei der nächsten Wendung für die Wiederherstellung seiner Ehre wie auch ihrer.

In der Sache verteidigte er das Leben der Juden in der Gasse, das der andere angriff. Dieser Fremde war nicht gegen eine gemessene und langsame Auswanderung nach dem Heiligen Land, er unterstützte sie sogar, aber er forderte zugleich die Rückkehr der Juden nach Wilna, Warschau, Czenstochau, nach Bialystok, nach Brody, kurz, in jene Bezirke, aus denen sie fortgezogen waren, Heimkehr in die Städte, wo sie äußerlich verkümmerten, aber in einer starken und frommen Gemeinschaft lebten. Mochten sie doch verkümmern! Was kam es auf das Äußere an? Dort herrschte dafür jüdisches Leben. Ganze Stadtviertel, wenn nicht fast die ganze Stadt, waren voller Juden; es gab jüdische Vereine, jüdische Zeitungen, jüdische Theater, jüdische Feste, jüdische Kutscher, jüdische Schuster, jüdische Tischler, jüdische Lastträger und jüdische Wirte nicht zuletzt. Damit ein Reisender die neun Mann fand, ohne die er nicht für seinen verstorbenen Vater beten konnte, traten in einem D-Zug fremde Juden aus den verschiedensten Abteilen zusammen und hielten ihre Andacht während der Fahrt. Hier in der Gasse gab es davon nichts. Sie waren noch keine Überläufer hier, aber schon beinah Überläufer, denn waren sie auch selbst noch Juden, ihre Kinder waren es nicht mehr. Im nächsten Geschlecht war alles vergessen, und vom Judentum haftete nichts als der Name, ein wenig Aberglaube, einige Erinnerungen an jüdische Feste und jüdische Speisen und 162 das Gedächtnis an dieses und jenes witzige oder zweifelhafte Wort. Er hielt nichts von einem Judentum, das sich selbst zum Absterben bestimmte, so anständig, so voll Aufopferung auch dieses Geschlecht noch war. Nicht ihr Leben war ihnen vorzuwerfen, der Fehler lag weit zurück, lag in der Abwanderung aus dem Osten. Hier sahen sie um sich lauter Menschen, die in anderen Formen lebten, und das so selbstverständlich, daß sie an sich irre wurden. Was waren sie hier? Angewehter Staub am Rad einer anderen, noch dazu einer großen und bedeutenden Kultur – welche Verführung, von den Schwüngen dieses Rades mitgerissen zu werden, täglich und stündlich versucht, die vom Judentum angelegten Ketten als Ketten vergangener Zeiten abzuwerfen! Er war nicht für tägliche Verführung, nicht für den dauernden Zwang zum Widerstand, der rieb unnütz auf und machte ein ohnehin schweres Leben noch schwerer – ein Volk mußte für sich leben, wenn es seine Eigenart behaupten wollte.

Der Sprecher war ein schöner, hochgewachsener, junger Mann, die Farbe des Gesichts war fahl, aber vielleicht begeisterte gerade sie viele. Ein wenig verfrüht zog sich um das schmale Gesicht ein weicher, beinah rötlich heller Vollbart. Ein seidenes schwarzes Kleid sah etwas unter dem Mantel hervor, der fast hinunter bis zu den Knöcheln reichte, und den er offen trug. Der junge Rabbiner kam aus Polen, war Sohn und Enkel hochberühmter Rabbiner, zu ihrem Nachfolger bestimmt. Heute schon umgaben ihn Anhänger und Schwärmer. Die ungesunde Farbe führten die Ärzte auf ein Magenübel zurück, dessentwegen sie ihn schon im vorigen Jahr ins Ausland geschickt hatten. Im Flugzeug hatte er aus Warschau, wie man sich erzählte, täglich das Essen nachgesandt erhalten, der Kur war das nicht förderlich gewesen, dem jüdischen Restaurant am Kurplatz sogar schädlich, und die Rabbinerdynastie, die dort die Ritualien überwachte, hatte es verletzt. Abermals auf der Fahrt, einer der ersten Gäste dieses Jahres, hatte er Halt gemacht in 163 Berlin, wo er bei Joel speiste. Joels ritueller Ruf stand fest bis weit hinein nach Polen, aber Fleisch genoß dieser Starrste auch nicht bei ihm, trotz der Beschwerde Joels, und obwohl Joel sogar Jurkim als Vermittler anrief. Jurkim griff nicht ein, seine eigene Verläßlichkeit im Ritual war hiermit angezweifelt. So konnte man auch an einer unscheinbaren Nebensächlichkeit erkennen: Polen war das wahre und neue Palästina, hier war das unzulängliche Exil.

Jurkim befand sich bei dem Gespräch nicht wohl. Seine Empfindungen brachen bei der Vorstellung der Heimat auf. In der großen Judengemeinde Ostgaliziens, in der er geboren war, hatte man genauso gelebt, wie es Schechter schilderte. In der letzten Gasse des freiwilligen oder unfreiwilligen Ghettos endete die Welt. Die Frauen gingen nie über sie hinaus, die Männer nur zu Geschäften, doch so wie andere nächtens träumen. Trotzdem begegnete er den Angriffen ohne Mühe. Wären sie, sprach er, den Grundsätzen Schechters gefolgt, nie könnten die wenigen Millionen Juden heute überall sein, in der ganzen Welt. Wenn es heute keine Stadt gab in Europa, keine in Amerika, ja keine wohl in irgendeinem Teil der Welt, in dem sie nicht waren, im Kaukasus wie in Algier, in Schottland wie in Kansas, so nur, weil sie nicht verharrt hatten bei einem Leben in der Masse, bequemer wäre es gewesen, aber tapfer waren sie ausgezogen, heldenhaft gewandert. Nicht das wanderlustigste, aber das zum Wandern getriebenste von allen Völkern sollte auf einmal nur noch in wenige Städte zusammenkriechen und sich da in Massen festsetzen? Nein, immer war es sein Beruf gewesen, in die Welt zu ziehen und die Völker zu lehren, unaufdringlich, ohne Absprache, nicht mit Bekehrungsabsicht, durch nichts wirkend als durch sein Dasein. Immer mußten die Völker von neuem durch sie erfahren, es gab einen anderen Glauben, andere Überzeugungen.

Vor allem aber, so fuhr Jurkim fort, und er kam damit 164 wieder auf den Anfang zurück, diese verstreuten Pioniere waren Vorposten für die Juden selbst. Die Juden hatten überall Kolonien, und wenn die großen Sammelbecken im Osten wieder überliefen oder ausgeschüttet wurden und die Juden abermals auf Wanderschaft zu ziehen hatten – ein Land, das sie alle aufnahm, gab es nicht, aber überall gab es Gemeinden, wo sie anwachsen konnten, an allen Orten der Erde waren Brüder, die sie vielleicht nicht bereitwillig aufnahmen, die sie aber auch nicht verkümmern und verkommen ließen. Davor bewahrte sie selbst in der heutigen, rasch vergessenden und auf ihr Vergessen sogar noch stolzen Zeit die Erinnerung an gleiche Dienste, die Juden ihren Vorfahren in vielleicht nicht weit zurückliegender Zeit geleistet hatten. Palästina war ein Leuchtturm, der den Juden Mut gab, aber selbst wenn sich noch viele Hunderttausende dort ansiedelten, so viele wie das Land überhaupt nur faßte, die weitaus größere Zahl würde auch dann noch ebenso über die ganze Welt verstreut leben, wenn dieser Leuchtturm eines Tages umgerissen wurde. Verstreut zu sein, das war das Schicksal der Juden, bald geehrt und bald gehaßt, und die Massensiedlungen im Osten waren nur die Mutterhäuser, die Schulen, die Kasernen, aus denen immer neue Zöglinge und Pioniere in die Welt marschierten.

»Wenn man Sie hört«, sagte Schechter, »meint man, nicht ein Jude spricht über Juden, sondern ein katholischer Geistlicher.«

»Ich weiß nicht, warum gerade ein katholischer Geistlicher so sprechen sollte, oder Sie scheinen zu glauben, katholische Geistliche, das seien irre redende Menschen . . .«

»Irr nischt, das wollte ich nischt sagen, aber . . .«

»Also was dann?«

»Es führt zu weit«, brach Schechter ab, »da gibt es keine Brücke . . .«

»Schade, schade«, sagte Jurkim, »zwei Juden gehen über die Gasse, zwei, die ein Christ für völlig gleich, für ein und dasselbe hielte, und sie kommen sich nicht näher.« 165

»Näher? Sie sind sich fremder als ein Heide und ein Katholik«, erklärte Schechter hart.

»Wie steht geschrieben?« fragte Jurkim, um dem Gespräch von seiner Schärfe zu nehmen, »Rabba und Seira aßen zu Purim, und als beide betrunken waren, schlachtete Rabba den Seira ab. Am nächsten Tag betete er für Seira und Seira wurde zurückgerufen in das Leben. Als ihn aber Rabba im nächsten Jahre wieder einlud, schlug Seira ab; nicht jedes Jahr, sagte er, geschieht ein Wunder! – Wie gut ist«, fuhr Jurkim fort, mit einer leichten Anspielung, »daß wir nicht zusammen essen! Ich glaube, schon das erste Mal würde kein Wunder geschehen, Sie würden mich zwar schlachten, aber für mich beten nicht und mich auch nicht zurückrufen in das Leben!«

Sie trennten sich und Jurkim dachte: schade, ich hätte ihm von dem persischen Juden erzählen sollen, der neulich erschien, er stammte aus Teheran und wollte Teppiche verkaufen. Der sprach so sehnsüchtig von zu Hause und schilderte in so lebhaften Farben Teheran, wie eben Schechter Polen. Die Juden wohnten dort wie alle Perser in eingeschossigen Häusern, ohne Fenster zur Straße, nur von kleinen Pforten unterbrochen, von denen ein Gang auf den Hof führt. In den Stuben, rings um den Hof gelegen, waren die Fußböden mit Teppichen belegt, sonst gab es nichts, keinen Tisch, keinen Schrank, auf den Teppichen wurde gegessen, geschlafen, gelernt. Auf dem Hof aber waren Rosensträucher, viele Blumen, nur wenige Bäume, weil es spärlich Wasser gab, aber dafür waren es Zitronen- und Orangenbäume. Und auch dort hielten die Juden fest an ihrer Überlieferung, lebten eng zusammengedrängt, waren fromm, gläubig, glücklich – sind wir nicht auch glücklich? Also warum sollten wir nach Slonim ziehen, nach Sloczow, nach Brody, nach Wilna? oder sie nach dem für sie näheren Palästina?

Tauber und Lewkowitz hatten durch geschickte Wahl ihres Weges über die Gasse das eine und das andere Wort des Gespräches erlauscht. 166

»Stellen Sie sich vor einen Fisch in einem Vogelbauer«, sagte Tauber.

»Ich stell mir vor.«

»Was wird der Fisch tun? Er wird um sich schlagen und zugrunde gehen.«

»So ist's.«

»Jener«, und er wies auf Schechter, »ist der Fisch, er ist gewohnt, im Meer zu schwimmen, nun kommt er hierher, da schlägt er gegen die Stangen, er hält es nicht aus im Käfig.«

Als er die Stände der Schwägerinnen erreichte, sah Tauber gerade Jurkim fortgehen.

»Er hat hier gestanden?« fragte er ehrfurchtsvoll.

»Es ist nicht das erste Mal«, sagte Julchen stolz.

»Hat er Riwka gefragt, wie das Geschäft geht?«

»Warum Riwka?« sagte Julchen streng, »Beide!« 167

 


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