Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Boas Gespräch mit Seraphim und sein Tod

Frau Spanier wünschte keine Mißverständnisse. Mit der scharfen Kante eines harten Lineals, so erklärte sie fest, schlug sie der Tante Feiga Turkeltaub auf die knochige Hand, diese Frau sollte spüren, was sie angerichtet hatte.

Aber die Arme hatte gar nichts Böses im Sinne gehabt, meinte Seraphim, eine Ungeschicklichkeit, nichts weiter . . .

»Nimm sie nicht in Schutz, ich ertrag es nicht.« Sie drückte seine gesunde Hand und sah mitleidig auf seine rechte, verbundene, verbrannte.

Lag bei Feiga Turkeltaub wirklich mehr vor als eine Fahrlässigkeit? »Jedes Kind weiß, sie kann Sie nicht ausstehen!« sagte Frau Spanier.

»Plötzlich Sie?«

»Ging nicht jemand draußen?«

»Ich höre nichts und ich lasse mich nicht so anreden.«

»Was ließ man sie bloß den heißen Kaffee eingießen?«

»Aber habe ich dir nicht gesagt, sie tut es immer?«

»Auf dem großen Essen bei Frau Warszawski hätte man es nicht erlauben dürfen, dann würde sie nicht diese schöne Hand verbrüht haben, daß du heut noch umkommst vor Schmerz.«

»Umkommst? Vor fünf Tagen war es schlimm.«

»Wir wollen abwarten, was der Arzt sagt. Du kommst zu spät! Geh, sei lieb!«

»Wenn du es auch bist!«

Sie lächelte liebevoll.

Er entschuldigte sich, daß er ihr zum Abschied noch immer die Linke gab. »Du weißt doch«, sagte sie, »daß bei uns viele die Linke geben, wenn es sich gerade so macht 168 und es nicht drauf ankommt, also unter Verwandten, unter Freunden.«

»Darum ist es doch nicht weniger falsch! Außerdem, sind wir verwandt?«

Sie lächelte: »Auch nicht befreundet?«

Sie wagte sich nicht ans Fenster, wagte nicht, dem Freunde nachzusehen. Eine Frau, die liebte, durfte wenig – war sie älter, überhaupt nichts. Liebe hieß dann nur: mit seinem Geliebten sich beschäftigen, wenn er es nicht merkte.

Erst später getraute sie sich auf die Gasse zu sehen. Was für stumpfe und versorgte Gesichter! War es nicht doch besser, daß einem das Gefühl zusetzte und daß man dieses Brennen erfuhr, dieses Niedergeschlagensein, dieses Aufschwingen und Getötetwerden? Hab mich ein bißchen lieb, aber hab mich lange lieb, sprach sie einem alten Wort nach, aber sie verwarf es; hab mich stark lieb, sagte sie, wenn auch nicht lange – sie hatte selbst schon das Ende vorbereitet.

Doktor Boas, zu dem sich Seraphim begab, hatte soeben sein Haus betreten. Die Besuche hatten ihn erregt. Seit Tagen ging es ihm nicht gut. Das Herz arbeitete nicht ordentlich, das Gemüt suchten ständig Erregungen heim. Es fehlte nicht an Anlaß. Die Kranken erwarteten von ihm meist neben heilenden Arzneien eine kräftigende Kost – eine einfache Bescheinigung, und die Krankenkasse oder das Wohlfahrtsamt wiesen sie ihnen an. Aber er konnte nicht bedenkenlos verschreiben. Viele Ärzte marterte das, nun erst einen Mann wie ihn, und ein Herz, das flatterte! Fast jeder Kranke aus der Gasse verdiente eine bessere Ernährung, und wie oft richteten gegen ihn nicht die Kranken, aber deren Angehörige Vorwürfe – Vorwürfe, wenn sie sich zügelten, Beschimpfungen, wenn sie sich hinreißen ließen!

»Aber so kann man doch nicht aussehen!« Mit unverstellter menschlicher Angst begrüßte ihn seine Wirtschafterin. Sie wollte ihn heute keine Kranken empfangen 169 lassen. Fünfundsechzig, betreute sie seit fünfzehn Jahren seine Sprechstunde und hatte einen Teil der Herrschaft ihm entrissen. Was wußten Männer von dem Geheimnis, das Leben zu verlängern? Der größte Teil der Ärzte ihrer Meinung nach nicht halb soviel wie eine alte Frau. Sie brauchte nur die unregelmäßige, die verschwenderische Art zu sehen, mit der dieser Mann von jeher sein kostbares Leben auf das fahrlässigste hatte verströmen lassen.

Er wollte zu essen haben.

Sie wagte nicht, auf eigene Verantwortung die Kranken heimzuschicken, einige waren lange vor der festgesetzten Zeit erschienen, einer folgte jetzt dem anderen. »Ausfallen lassen!« knurrte sie, während sie das Essen auftrug, aber halblaut brummte er zurück, er denke nicht daran. »Hinlegen werden Sie sich doch aber?« Waren schon viele da? Sie bestritt es. Es hatte doch aber mindestens fünfmal geklingelt? Dreimal, und zweimal waren es Bettler.

»Ich geh hinein.« Er erhob sich. Er fühlte sich nicht schlecht, wenn auch alles andere als gut. Flüchtig fiel ihm der Unterschied ein: eine Ehefrau hätte ihn umzärtelt und umschmeichelt, um ihn nachgiebig zu machen, oder hätte einfach selbst die Kranken weggeschickt. Aber er schüttelte leicht den Kopf – darum ein Leben lang verheiratet?

Der ersten hereingebetenen Frau fehlte nichts, sie berichtete über eine Veränderung im Befinden ihres Mannes. Schön, schön, er würde morgen nach ihm sehen, morgen Mittag.

Der nächste, der Leierkastenmann Piontek, bewältigte im allgemeinen ziemlich leicht den Spielkasten trotz seines Lederstumpfs, heute war er hilfsbedürftig. Rheuma? Brand? Der Teufel sollte wissen! Er machte den Beinstumpf frei, dem Arzt wurde schwindlig, empfindliche Sinne durfte man hier nicht haben, aber dieser Säufer verlangte etwas viel. Mensch! wandelte es ihn an zu 170 sagen, was muten Sie einem zu! Aber der Mann verstand es nicht anders . . . Er schwieg und untersuchte.

»Nicht schlimm. Eine Heilsalbe, Ormicet, ich schreib sie Ihnen auf, und dann, ein paar Wochen keinen Alkohol.«

Bei dem Verbot zitterte der Mann, fast fiel er um. Boas dachte: soll ich einem siebzigjährigen Nichtstuer, einem verlorenen Herumtreiber das bißchen Lust zum Leben nehmen? »Gut, meinetwegen wird getrunken! Nur nicht gleich zuviel, ein bißchen mäßig, hm?« Und als Piontek noch immer nicht die entsetzte Haltung aufgab: »Also schön, wenn es ab und zu nicht anders ist und es etwas mehr sein muß, meinetwegen auch, das Leben wird es nicht gleich kosten.« Im Rausch auf der Straße hinstürzen, an einer Gehirnerschütterung enden, betrunken über ein Brückengeländer fallen und fortgespült werden von der Spree, was für ein schöner Tod, fast schön genug, um ihn zu verschreiben!

Piontek fühlte sich dem Leben wiedergeschenkt. Er nahm eine soldatische Haltung an, hob die Hand zur Schläfe und verschwand, einen Wohlgeruch zurücklassend.

Als nächste kam die Bäckermeisterin Frau Heinzelmann, eine prachtvolle Person, schön anzusehen, stattlich, mit deutlichen Anzeichen von Schmerzen im Gesicht. Sie litt schon lange, die Schmerzen hatten sich verstärkt, nach der Behandlung durch den Heilkundigen Jankuhn. Sie zögerte, es zu gestehen, ein peinliches Geständnis vor einem Arzt. Aber er kannte das, wieder ein Fall mehr, wo sich anscheinend dieser Drogist vergriffen hatte. Er war ihm vorher begegnet, und er hatte Herzklopfen bekommen, wie jedesmal, eine scheußliche Situation.

Er untersuchte und stellte fest, er hatte Jankuhn nicht Unrecht getan, die Behandlung war die falscheste, die überhaupt möglich gewesen; das Leiden war bestimmt durch sie verschärft. Aus Vorsicht wollte er seine Feststellung überprüfen, er beugte sich über die liegende Frau, plötzlich erfaßte ihn ein Schwindel, kaum hielten 171 ihn die Beine. Er wankte in das Schlafzimmer, blickte in den Spiegel, welche Farbe! trat aber bald, möglichst fester Haltung, in das Sprechzimmer zurück. Doch schon in der Tür benahm ihm der Kampf mit der Portiere abermals die Sinne. Vergeblich versuchte er darauf zu kommen, wen er soeben untersucht hatte. Er schluckte eine Pastille, trank ein Glas Wasser, fühlte sich den Puls, holte nochmals ganz tief Atem und begab sich dann ein wenig erleichtert an die Arbeit – nur mit einem einzigen Vorrecht: nach Frau Heinzelmann, die er für den nächsten Tag erneut bestellte, unter den Wartenden jemanden auszusuchen, dessen Anblick ihn beruhigte. Mit einer Entschuldigung an die anderen ließ er, eine persönliche Angelegenheit vorschützend, einen jungen Menschen eintreten.

»Zeigen Sie einmal her, was macht heut unsere Hand?« fragte er den schüchtern Niedersitzenden.

Es ging schon besser – übrigens nicht nur dem Patienten, auch dem Arzt.

»Haben Sie ein paar Momente Zeit?«, fragte Boas frischer. »Unser neuliches Gespräch ist mir durch den Kopf gegangen, ich wollte etwas dazu sagen. Aber Sie wollen anscheinend etwas fragen?«

Ja – auf dem Weg hierher, flüchtig vor den Ständen der Schwägerinnen anhaltend, war Seraphim Zeuge eines Gespräches geworden.

Julchen: »Jetzt werd ich können hier allein sitzen, mit einer Hand an dem, mit einer an jenem Stand verkaufen.«

Riwka: »Warum allein?«

»Du fragst, als wenn du nicht weißt! Wer wird ihm den Haushalt machen? Vielleicht die Tochter? Wenn die den ganzen Tag keinen Menschen sieht, ist sie in einem Monat so verrückt wie die Mutter.«

»Die Mutter kann jeden Tag zurück sein.«

»Sie kann, sie kann auch nicht. Wenn sich Boas entschließt und schickt sie fort, verlaß dich drauf, kommt sie nicht heint zurück, nicht morgen.« 172

»Wenn nicht, wird sie wer vertreten.«

»Das sag ich doch, und du weißt gut, wie Jurkim ist, mit keiner laßt er sich ein, Frau ist für ihn wie treife, aber hier – hier hat er sich sechsmal hingestellt, zehnmal hingestellt, gefragt: wie geht's, kommen Sie vorwärts, verkaufen Sie, haben Sie zu tun? Mich hat er gefragt, was macht das Geschäft, dich hat er gefragt, wie geht's Ihnen, Frau Hurwitz? Haben Sie noch Kopfschmerzen? Ist der Stirnhöhlenkatarrh besser? Ich brauch nur zu hören, wie jemand fragt, wie geht's? schon weiß ich, wie's inwendig bei ihm steht. Verlaß dich, du wirst ihm die Wirtschaft machen, so wahr ich hier sitze und so wahr wie ich Julchen heiße.«

Seraphim hatte richtig verstanden. Boas hatte Frau Jurkim in eine Heilanstalt überführt. Bitter – aber Schwermuts- und Erschöpfungszustände wechselten zuletzt mit Anfällen von Boshaftigkeit und Tücke, eines Tages entluden sie sich vielleicht gewaltsam, erschreckende Anzeichen lagen vor.

»Sie kannten sie näher?«

Nein, entfernt.

Dann überraschte ihn, daß der Frau eines Rabbiners und damit diesem ein solches Unglück zustieß?

So war es.

Gesundheit war eine, Frömmigkeit eine andere Sache. Fast war man geneigt, zu glauben, eine gewisse allerhöchste Persönlichkeit kümmerte sich um die eine Sache gar nicht, um die andere nur wenig.

Seraphim zog die Stirn in Falten, wagte jedoch nicht mehr – Empörung, so berechtigt sie gewesen wäre, war vor diesem Wohltäter nicht und auch vor diesem Alter nicht gestattet.

»Ich habe Sie gekränkt? Wahrscheinlich habe ich etwas Verletzendes gesagt?«

»Ich weiß, Sie glauben nicht.« 173

»Merkwürdig, wie Sie das sagen. Immer werfen die Orthodoxen freier Denkenden ihre Glaubenslosigkeit vor, als sei sie ein Verbrechen. Aber es ist viel leichter, mit, als ohne Glauben zu leben.«

Seraphim fand das nicht richtig.

»Inwiefern nicht?«

Mit dem Glauben, wenigstens mit dem der Juden, waren Vorschriften verbunden in solcher Fülle, Lehren und Gebote, daß auf dem Leben eines Juden viel Zwang lag.

Boas meinte, das widerlege ihn nicht, bestätige ihn eher. Nicht jeder vertrug die vollkommene Freiheit, wie leicht wurde aus ihr eine absolute Leere und grenzenlose Ungewißheit. Zwang – wie heilsam! ein gegebener Inhalt – welcher Trost! selbst wenn man mit ihm kämpfte, nicht ihn einfach hinnahm – indem man ihn anpaßte, paßte man sich selber an.

Boas dachte das nur. Was er sagte, war etwas anderes. »Finden Sie es richtig«, fragte er, »daß jedes Geschlecht einfach den geistigen Inhalt des vorigen in sich aufnimmt und nichts dazu tut, das wenige ausgenommen, was das notwendige Leben in einer fremden und feindlichen Welt ihm aufnötigt?«

Seraphim glaubte, sein Gegner ziehe plötzlich die Friedensfahne auf, so überraschten ihn die Worte. Er gestand es offen. Boas sprach von einem notwendigen Leben in einer fremden und feindlichen Welt? Hatte er das letzte Mal nicht die Auswanderung in das Heilige Land bekämpft? Sollten voriges Mal nicht alle Juden Sitten und Geist des Landes annehmen, in dem sie waren, Kinder in die Welt setzen, die nur zur Hälfte mit diesen Fragen verbunden waren, das nächste Geschlecht noch weniger, jedes spätere zu einem immer verschwindenderen, fast aufgelösten Teil?

»Sie sprechen da von vielem auf einmal«, sagte Boas ruhig, »ich will zunächst auf Ihre ersten Worte antworten. Diese Worte sind nicht von mir, ich habe dergleichen nie gesagt. Ich bin nicht gegen die Auswanderung nach 174 Palästina, ich fördere sie bloß nicht. Dagegen sein wird niemand, er fürchte denn, die Engländer erfüllten eines Tages nicht die Pflichten des Balfour-Act. Wer besorgt, eines Tages könnten auf der fruchtbar gemachten Ebene Tausende Juden von den eingeborenen Stämmen erschlagen daliegen, der wird freilich warnen vor einer allzu stürmischen Rückkehr in das gelobte Land. Aber ich habe keine Ahnung, ob auch nur der leiseste Anlaß zu solcher Besorgnis da ist; hätte ich mehr Geld, wäre ich jünger, so würde ich nicht bloß nach Palästina, auch nach Transjordanien und dem Irak fahren bis nach Bagdad und nach Basra und mir ein Urteil bilden; so habe ich keines. Weder kann ich sagen, ihr tut gut, noch weniger habe ich ein Anrecht, das Gegenteil zu sagen.«

Seraphim kostete die Antwort Anstrengung. Von allen Stellungen, die man einnehmen konnte, war diese seiner Meinung nach die peinlichste, so wie Lauheit und Unentschiedenheit es immer sind. Daneben stehen und abwarten, bis erkennbar ist, ob sich Tapferkeit und Entschlossenheit der anderen lohnen – wirklich, er mußte sagen . . . Er kämpfte, während er sprach, sichtlich um die Worte, denn Mäßigung war am Platz, aber gerade Entschiedenheit tat not.

»Nein, sprechen wir davon nicht länger, das Reden fällt mir schwer«, meinte der Arzt. »Es mag so sein, wie Sie sagen, man muß wohl Stellung nehmen, namentlich unsere Zeit findet das, ihre demokratischen Einrichtungen fordern geradezu, daß sehr viele Leute sich mit Ja oder Nein auf Fragen entscheiden, von denen sie nichts verstehen oder jedenfalls nicht genug.«

»Intellektuell vielleicht nicht, instinktiv wohl«, warf Seraphim dazwischen.

»Mag sein – ich verstehe nicht viel vom Instinkt und kann deshalb nicht mitreden. Ich könnte mir aber denken, daß es nicht so schimpflich sei, keine Stellung zu nehmen, wie es schimpflich sein müßte, eine falsche Stellung zu beziehen.« 175

Was hieß richtig, was falsch? Noch nach dreißig Jahren stand das nicht fest. Je nach der dann herrschenden Anschauung wurde die damalige Stellungnahme von den einen falsch, von den anderen richtig gefunden.

»Eben das könnte mich darin bestärken, im Handeln vorsichtig zu sein, denn wenn man auch nach dreißig Jahren noch nicht weiß – nicht wahr, Sie werden zugeben . . . Aber ich sagte schon, wir sprechen von Dingen, von denen ich gar nicht sprechen möchte, und wirklich, mir ist nicht gut. Sie haben vorhin als meine Meinung ausgegeben, ich sei für die Selbstauflösung der Juden, jeder solle sich so rasch wie möglich abschleifen, anpassen. Ich möchte das nicht als von mir gesagt im Hirn von irgend jemandem haften wissen. Ich glaube das nicht gesagt zu haben, und wenn, vielleicht durch ein Wort in die Enge gedrängt oder durch einen Einwand über meinen Vorsatz hinaus gesteigert. Wie sollte man ernstlich einem ganzen Volke raten: gib dich auf! Ein Volk tut das unter Umständen, gewiß – solange es das nicht tut, behauptet es sich aber. Ob es das eine, ob es das andere tut, hängt von der Stärke seiner Instinkte ab, derselben, von denen ich vorhin schon sagte, ich wüßte von ihnen nicht sehr viel. Man ruft oft die Geschichte auf als Zeugin, um diesen Instinkt der Selbsterhaltung für nirgends so stark vorhanden zu erklären wie in diesem Volk, einem der ältesten.«

»Dem ältesten.«

»Dem ältesten oder einem der ältesten, das ist gleich, aber mich überzeugt nicht das Zeugnis der Geschichte. Was bisher richtig war, kann morgen falsch sein, was bei fester Zusammenfassung hinter Mauern galt, kann in der Freiheit überraschend schnell verloren gehen. Außerdem: nie war das Leben der anderen so verlockend wie gerade heut, so außerordentlich verbesserungsfähig das Leben der meisten Menschen auch noch immer ist. Vor allem, wie wird es erst morgen verlockend sein, wenn wir noch irgend für die Welt hoffen dürfen. Ich rate nicht zur Angleichung, ich rate nicht zur Aufgabe, aber ich 176 beobachte sie, und ob sie in hundert oder in fünfhundert Jahren vollzogen wird, finden Sie das so wichtig? Wenn sie doch vollzogen wird, sehen Sie dann ein Verdienst darin, den Zeitpunkt hinauszuschieben und unter was für Opfern, unter welchen Kämpfen, um ein Jahrhundert, um vier Jahrhunderte? Glauben Sie mir, es ist ebenso süß, in eine neue geistige Welt einzugehen, wie es bitter ist, sich mit den Resten seines Herzens von einer alten, untergehenden Welt zu lösen. Das ist der wahre Grund unserer Zerrissenheit. Kein Jude von einigem Ernst kann die volle selbstverständliche Heiterkeit der anderen haben, die gleiche Leichtigkeit wie seine Umwelt – ich spreche von Männern, es mag bei Frauen anders sein. Einen Juden, wie ich ihn meine, wird es stets danach verlangen, seine Freunde unter Männern mit nicht ganz übereinstimmendem Wesen zu finden, und doch wird er nicht die Sehnsucht los nach der Freundschaft mit Männern, deren Voreltern die gleichen Wanderzüge in den Jahrhunderten gemacht haben, wie seine eigenen. Nie fand ich, daß jene Juden ihr Leben richtig führten, die nur miteinander umgingen, wie die Juden dieser Gasse, wie viele Juden auch im Westen dieser Stadt. Stolz? Vielleicht; aber auch Bequemlichkeit. In der Zerstreuung leben, verteilt, im dauernden Umgang mit der Welt, das halte ich eher für ihre Aufgabe, mehr für ihre Pflicht. Immer fand ich das Wort sehr tief, man solle leben unter Christen, sterben unter Juden.«

»Sie verstehen es falsch, das Wort. Es wird damit nicht gesagt, daß man unter Christen leben solle; nur: solange es uns auferlegt ist, sollen wir wenigstens sterben unter Juden. Und das, nicht wahr, das wollen Sie doch auch?« fragte Seraphim und sah ihn ängstlich an.

»Ja«, sagte Boas leise.

»Ich hoffte, daß Sie das sagen werden, denn mit all diesen trostlosen«, er weinte fast, »mit diesen entsetzlichen Ansichten sind Sie doch freiwillig in die Gasse gezogen!« 177

»Darum, weil ich den Dingen doch nicht ganz so fern bin, wie Sie glauben, wohl auch, weil es meinem Gefühl schwer wird, zu tun, was ich erkenne. Man hat Einsichten, aber das Herz rebelliert. Doch jetzt sollten Sie mich allein lassen, ich glaube, das ist besser.«

Es war nötig. Das Gespräch hatte ihn übermäßig angestrengt. Sein ganzer Körper zuckte zur Mitte hin, ein heftiger Schmerz zerriß und überwältigte das Herz.

Nach einer Weile atmete er freier, spürte aber, jetzt wird es Ernst. Er läutete, ließ sich in den Schlafraum führen, schickte die Wartenden nach Hause – sein Abend, die Zeit für seinen Rückzug war gekommen.

Die Wirtschafterin suchte Seraphim zu erreichen. Sie wollte einen Arzt rufen. Aber es kam nicht zu dem einen, nicht zu dem anderen, es bedurfte all dessen nicht.

Eine herbeigelaufene Nachbarin und deren Mutter jagten mit der Nachricht auf die Gasse.

Weder die Wirtschafterin noch die Nachbarin hatten die Wirkung geahnt. Rasch war die Gasse voller Menschen. Zunächst wurde nur geraunt, hinter vorgehaltener Hand. »Man versteht doch nichts!« stöhnten die Alten, die an einem außerordentlichen Ereignis Anteil nehmen wollten und in hohen Stiefeln oder Schlappschuhen fast als erste erschienen waren. Wenige Minuten später hatten sie sich nicht mehr zu beschweren, man sprach laut und offen und schrie es sogar zum Fenster hinaus.

Bald kämpften zwei Gerüchte. Das eine nährte sich an dem alten Gerede von einem Verfahren, das deshalb niedergeschlagen worden sei, weil sich Freunde dafür eingesetzt, das aber den Arzt in die Gasse getrieben, zu ihnen, dem Auswurf, in einen Winkel der Stadt; das Verfahren war wieder aufgenommen, hieß es, und er hatte sich vergiftet. Das zweite Gerücht widersprach dem: habt ihr nicht die Farbe gesehen – tagelang, grau, gelb, grün? Ein natürlicher Tod, aber was für eine Schmach, solch ein Tod für einen Arzt, der höchstens Mitte oder Ende der Fünfzig war! Was verstand er von seiner Kunst, wenn er 178 in den besten Jahren, mitten in der Arbeit, also ohne Ahnung von seinem Tod, hinging! Ein Nichtskönner hatte sie behandelt, einem Unfähigen hatten sie ihre Kinder anvertraut, von eines Stümpers Hand kam der Verband um diesen Arm. Man bewegte ihn, der Arm tat weh. Morgen waren vielleicht die Lungenflügel krank, oder man schlug hin und war im nächsten Augenblick tot – alles, ohne daß er das erkannt hätte. Wieviele Tote hatte die Gasse im letzten Jahr? Einen ziemlichen Teil hatte er behandelt. Ein Dutzend hätte niemand, die anderen jeder retten können – plötzlich wurden auch die Siechen in die Zahl der zu Rettenden eingeschlossen, sie, deren endliches Verscheiden eine Erlösung für sie selbst, eine Erleichterung für die Hausgenossen gewesen war. Von Jankuhn behandelt, hätten sie gelebt, wie viele hatte Jankuhn geheilt! Was Boas verschrieben, war nicht zu lesen gewesen, und was der Apotheker herübergereicht, wahrscheinlich Gift . . .

Aus dem Tor eines Hauses stürmte eine Frau. Vor wenigen Minuten war ihr ein Säugling in der Hand verröchelt. Ihre Bekannten priesen Gott. Es war ein Verbrechen dieser Dirne gewesen, den Knaben in die Welt zu setzen. Was es überhaupt gab an übertragbaren Bakterien, das war bestimmt in seinen Schleimhäuten; was es überhaupt gab an gefährlichen Geschwüren, er hatte sicher an seinem Körper alle mitgebracht. Aber Doktor Boas hatte das Kind am Morgen besichtigt, den Zustand leidlich, ein bißchen an die Luft bringen möglich gefunden, vorher war noch ein kleines Präparat zu nehmen, und bestrichen mit dem Präparat aus einer Tube, die sie in der Hand hielt, war das Kind verstorben. Drei Monate hatte sie es gesäugt, neun Monate getragen, Mühe, Hoffnung, Sorgen eines Jahres, alles vertan durch die Gewissenlosigkeit eines Arztes – eines Scharlatans und Pfuschers! »Da!« sie warf die Tube über die Häupter und schrie, als stünde der Arzt noch selber da, als träfe die Tube sein Gesicht, der Inhalt seine Stirn, oder liefe ihm 179 über den Kragen, am Halse hinunter: »Kindesmörder! Zuchthaus haben Sie verdient!«

Ihre Rufe reizten die Menschen auf, sie bekamen Furcht. Geheilte verspürten Schmerzen, Schwindsüchtige stach die Lunge, Schwerkranke, die sich in den Betten gehalten hatten, wankten auf die Straße, uralte abgestorbene Menschen, die selten ihr Siechtum auf die Gasse führten, jammerten an Krücken und Stöcken vor den Häusern. Ein Verband wurde auf die Gasse geschleudert. Den Schmerz zu verachten, die Glieder frei zu schienen, Binden und Tücher abzuwickeln, forderte ein überzeugter Gegner des Arztes auf, ein leidenschaftlicher Anhänger Jankuhns. In einem Viertel arbeitender, unvorsichtiger, leichtsinniger Menschen fehlt es nicht an Verletzten. Aber niemand folgte dem Aufruf, das Mißtrauen war nicht groß genug oder die Furcht vor Schmerzen größer.

Besonders die Juden, die sich angesammelt hatten, zeigten sich beherrscht und voll Vernunft. Auch von ihnen spürten viele in der Kehle einen Reiz, aber sie hüstelten stumm in sich hinein; die Haut war plötzlich wund, aber sie kratzten sich verschämt; Mütter verschlossen die Angst um ihre Kinder in die Brust. Nur zwei verloren ihre Fassung: die Näherin Frau Lamm, die nach Hause jagte in Sorge um ihre beiden zarten Jungen, Boas hatte sie wiederholt behandelt, und eine alte Jüdin, die plötzlich aufweinte über den Tod ihres neunzigjährigen Vaters. Die Männer versuchten zu beruhigen. Joel schrie aus dem Schankraum: »Wenn ein Vorbeter stirbt an einem Festtag, hat er darum dreißig Jahre vorher schlecht gesungen?« Tauber geriet außer sich – was, solches Geschrei über jüdische Ärzte! Für ihn waren jüdische Ärzte Wundertäter, Abgesandte Gottes, heilige Männer, und Boas hatte sich für die Gasse aufgeopfert.

»Aufgeopfert?« sagte jemand, »umgebracht!«

»So ist es«, stimmte Tauber zu, »ich sag Ihnen, er hat zuviel Herz für die Menschen gehabt, und das hält ein Herz nicht aus.« 180

Eine Schar von Menschen umstellte das Haus von Boas im weiten Kreis; als ihrer mehr wurden, drängten sie vor, Frauen mit vollem Busen und kurzem Atem stießen verzweifelt ihre Stiefel gegen die Schienbeine ihrer Nachbarn. Ein Kind wurde fast zertreten, als es aus dem ausgespienen Schleim eines alten Mannes mit dem Finger eine krumme Nase auf das Pflaster malte. Julchen schrie: »Ein Glück, mir hat er das Bein nicht kaputtmachen können« – mit den Worten verpflichtete sie sich die eine wie die andere Partei. Tauber war in sein Gleichmaß zurückgekommen und belehrte Frajim: »Siehst du die Leute tun, dann frag dich immer, ob sie recht tun; denn meistens tun sie nicht recht – oder ist es recht, einen Menschen anzuklagen, wo man Gott anklagen müßte, und darf man Gott anklagen?«

»Er lebt!« rief plötzlich jemand, weil in der Wohnung des Arztes ein Fenster aufgegangen war.

»Wenn Sie leben, zeigen Sie sich, sprechen Sie!« schrie ein Stubenmaler hinauf.

Der Arzt erschien nicht.

»Seht doch selbst nach, ob er lebt!« schlug ein Schlosser vor, der ziemlich hinten in dem Haufen stand, und er sah sich schon vorn. Das aus Vorsicht geschlossene Tor gab nach, die Flügel sprangen auf, und in Gedanken stürmte er hinein.

Aber ehe seine Worte wirkten, hörte man einen Schrei: Polizei! Eine Frau, die nicht zum Tor hinaus konnte, hatte aus Angst geschrien. Der Ruf sprengte die Masse auseinander, nach einer Minute war der Platz vor dem Hause leer.

Später erschien ein Abgesandter der heiligen Genossenschaft. Erst auf ständiges Läuten und anhaltende Verhandlungen öffnete die Wirtschafterin; der Tumult hatte ihr fast die Besinnung geraubt, den Tod hatte sie hundertfach in Gedanken vorweggenommen. Der alte Mann wickelte aus einem Bogen eine starke Wachskerze, die vierundzwanzig Stunden brannte, tat Papier um ihren 181 Fuß, drehte sie fest in einem mitgebrachten Topf mit weißem Sand und zündete zuletzt die Kerze an. Sie hielt ihn wach in der langen Nacht, in der er sich gelegentlich damit zerstreute, von dem langsam schmelzenden Licht die Körner abzuzwicken, in denen fast flüssig das überschüssige Wachs herunterrann. Es haftete an seinem Finger, überzog die Nägel, nachdenklich betrachtete er die Abdrucke. Ein dummes Spiel, auf einer Totenwache vergingen die Stunden nur langsam, auch mit Davids Psalmen in der Hand, eine Stunde mußte erst um sein, ehe die nächste anhob.

Am Abend klingelte ein Schutzmann, der durch die Gasse kam und von dem Auflauf hörte, an der Wohnung und bat, den Toten besichtigen zu dürfen. »Der ist richtig tot«, sagte er, als er vor ihm stand, »der wird niemals mehr lebendig!« Der Wächter drängte ihn hinaus. »Es darf nicht sein, das ist verboten!« »Regen Sie sich bloß nicht auf, das schadet Ihnen«, sagte der Schutzmann, keineswegs beleidigt, gutmütig. In seinen Augen war der Wächter selbst schon halb vermodert, eine Leiche . . .

Bei Jankuhn drängten sich Verbundene, denen er neue Verbände zusagte; die Ängstlichen bekamen schon heute frische. Frauen gingen ihm hilfreich an die Hand, und schließlich bewältigte er die Aufgabe. Ah, seine Verbände waren lind und sanft wie laues Wasser, nicht zu vergleichen mit den alten! In wenigen Stunden stieg sein Ansehen bis zur Unwahrscheinlichkeit, und der Morgen fand den alten Arzt verfärbt, den Bandagisten erschöpft und übermüdet, doch mit dem Glanz und der Heiterkeit des Siegers in einer schweren, aber ausgekämpften Schlacht.

Am Vormittag kam Seraphim und beugte sich eindringlich und liebreich über das Gesicht des Toten.

»Nein, nicht wahr, das haben Sie nicht gesagt?« sprach er leise. 182

 


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