Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Himmelweit demütigt sich. Frau Dippe will ihr Haus verkaufen

»Herr Joel, was meinen Sie, mit dem Haus, was wird werden?« fragte der Hausdiener Esra Lachs und wischte sich den Schweiß aus dem stacheligen Gesicht.

»Wer kann wissen, bei diese Leute . . .«

»Und Sie denken was, Frau Joel?«

»Mich fragen Sie, man wird leben, man wird sehen!«

»Und Sie meinen wirklich, der Himmelweit hat angezeigt?«

»Sie haben doch gehört, der Beamte hat gesagt, ein Mann mit einem komischen jüdischen Namen. Wer sonst könnt's sein?«

»Ich denk eigentlich, da sind viele mit solche Namen.«

»Schön, aber kennen Sie wen anders, der ein Verbrechen von solcher Gemeinheit fertigkriegte?«

Himmelweit hätte besser heute als morgen die Gasse verlassen, man verstand hier zu hassen und peitschte Verräter am liebsten aus. Aber er fand nicht die Kraft und blieb. Er befaßte sich wirklich nicht mehr mit zweifelhaften Sachen, aber alles war gegen ihn verschworen. Klingelte er in einer Nachbargasse an den Türen, mit seinem Köfferchen, in dem Manschettenknöpfe waren, Kragenknöpfe, Schließspangen, so öffnete man nicht; man schielte durch ein Loch und schlich wieder fort, als habe man sein Klingeln nicht gehört, nicht das Scharren seiner Füße, nicht das Rasseln seiner Ware. Oder fragte, ohne aufzumachen, barsch: was ist? Bot er dann durch die geschlossene Tür seine Knöpfe an, so war im Augenblick kein Bedarf. Gottseidank verkrochen sich nicht alle, die lebhaften und natürlichen Menschen machten auf, aber gleich danach schlugen sie ihm zumeist die Türe wieder 143 vor der Nase zu – offenbar gefiel sie ihnen nicht. Er fand sie nicht so häßlich, seine Nase, aber die Leute schienen es doch zu finden – eine ziemliche Entwicklung, daß er das schon einsah. Kam es aber wirklich zu einer Unterhaltung, so hieß es: aus Tombak? Wenn wir Knöpfe nehmen, nur versilbert . . . Schön, da waren versilberte Manschettenknöpfe! Aber einteilig? nein, sie müssen zweiteilig sein! Zweiteilig führte er sie nicht, zweiteilige waren modisch, sein Geldgeber aber überließ ihm nur alte, aussortierte, nur Ramsch. So ging es ihm wie jenem Rabbi, der geseufzt hatte: handele ich mit Leintüchern, ändert die Natur ihren Lauf und es stirbt kein Mensch; verkaufe ich Kerzen, geht die Sonne nicht mehr unter. Himmelweit hatte vor zwei Jahren als Händler mit Gewürz begonnen, Nelken, Zimt, Lorbeerblatt und Pfeffer waren seine Ware gewesen, der Erfolg – Schulden. Dann hatte er Kitt gewählt, Stearin und Stahlspäne, das gleiche Ergebnis wie bei dem Gewürz. Zwischendurch hatte er alles mögliche versucht und alles mögliche wieder aufgegeben. Er lebte eher vom Hunger als vom Essen, und um seiner Schulden willen mußte er fast ebensoviel über sich ergehen lassen wie wegen jener Anzeige, obwohl er sich hier so schuldlos fühlte, wie er es dort war.

Am meisten plagte ihn von seinen Gläubigern Schach. Er ging zu Schach, ein Schuldner soll sich seinem Gläubiger zeigen, das ist besser als Versteckenspielen. Er ging um die Mittagsstunde, niemand war bei Schach, einzig sein Gehilfe. Sie packten Ware um. »Himmelweit, hilf!« rief Schach. »Hier wird gearbeitet oder du gibst mein Geld zurück, eins von beiden! Die Stunde Arbeit rechne ich dir an, sagen wir, mit zwanzig Pfennig, das ist enorm, dreimal soviel, wie du verdienst. Wird dir die Arbeit sauer, spuck in die Hände, dann wird sie dir weniger sauer. Fällt dir aber eine Geschichte ein, dann laß die Arbeit liegen, dann tu nichts, die Zeit, die du erzählst, wird dir angerechnet. Ein Händler, der Geschäfte machen will, muß erzählen können, stundenlang, dem müssen die 144 Geschichten bloß so rausfallen aus den Ärmeln – wie will er sonst Eindruck auf die Leute machen, und die sollen ihm seinen Dreck doch abkaufen!«

Eine Schnauze hat dieser Mensch, ein Geschrei stellt er an, dachte Himmelweit, aber er hat Geld von dir zu fordern, tu ihm den Gefallen, erzähl! »Schön! Es war einmal eine fromme, aber dumme Frau . . .«

»Was? Eine Frau?« Über Frauen, gar über fromme und dumme, wünschte Schach von Himmelweit nicht belehrt zu werden, Himmelweit konnte sich vorerst in seinen Erzählungen an die Männer halten.

Himmelweit biß sich gekränkt auf die etwas unvorteilhafte Unterlippe und schwieg. Schach fand das schließlich fade. »So, jetzt ist's genug, jetzt haben wir dein brummiges Gesicht gesehen, du bist damit noch schöner, wie du so schon bist. Aber nun ist's Zeit, steck's weg, sonst behältst du's und siehst dein Leben lang aus wie ein schwarzes Jahr in Milch gekocht. Kannst du keine anständige Geschichte erzählen, so hör auf, mit Knöpfen zu handeln, fang an, die Straßen zu kehren!«

Himmelweit überwand sich und hob an mit erstickter Stimme: »Ein Bote aus Pabjanice sollte einmal . . .«

Dieses Mal unterbrach ihn Schach geradezu stürmisch: »Was, von den entsetzlichen Dörfern willst du erzählen, von den verlausten Nestern? Da hört sich doch alles auf! Das läßt sich nicht einmal eine zahnlose Urgroßmutter gefallen, auch wenn sie sich zum Steinerweichen langweilt. Nein, etwas was den Frauen gefällt, worüber sie lachen, wo sie sagen, diesem jungen Mann muß man ein paar Knöpf' abkaufen – das muß hier herum spielen, das muß mir passiert sein, dir passiert sein, Josef passiert sein . . .«

Aber er wartete vergeblich, Himmelweit nahm die Erzählung nicht mehr auf, er hatte entschieden inzwischen Charakter bekommen. »Nun«, sagte Schach, »du willst nicht? Schön, werd ich dir eine Geschichte erzählen, damit du ein bißchen auf die Sprünge kommst. Josef, hast 145 du schon mal von dem Mann auf dem Dach gehört? Nun, dann hörst du's eben zweimal, das ist wenig genug, eine Frau muß die Geschichten ihres Mannes hundertmal anhören, und wenn sie dann selbst erzählen will, unterbricht sie der Mann, sie versteh nicht, zu erzählen, und erzählt selbst. Also mach die Ohren auf, hör zu! Eines Tages sitzt mein Himmelweit auf dem Dach . . .«

»Wer?« fragte Himmelweit entsetzt.

»Himmelweit«, versetzte Schach so ruhig, als sage er das natürlichste von der Welt. »Kommt in einer Geschichte ein fauler oder großmäuliger oder liederlicher oder halsstarriger Bursche vor, mit einem Wort ein Lump, dann nenne ich ihn nicht mehr Moritz oder Nathan oder Isidor oder wie er sonst heißt – bis ich mein Geld zurückhab, sage ich: Himmelweit. In seinen Geschichten kann man doch den Leuten Namen geben, wie man Lust hat. Also eines Tages sitzt mein Himmelweit auf dem Dach –«

Doch das ließ Himmelweit nicht zu: er schlug mit den Fäusten auf den Tisch, fing zu schreien an und lief wie irrsinnig auf die Gasse.

Durfte er das? Er sollte nicht empfindlich sein. Denn wie lange noch, und er warf den Handel mit Knöpfen hin und den Handel überhaupt. Ihm ging die Geduld ab, von Tür zu Tür zu ziehen, wie sie Noah Kirschbaum übte. Was gab es dann für ihn? Was viele Kaufleute nach einem Schiffbruch tun müssen: in einem fremden Geschäfte unterkriechen. Aber ihn würde niemand einstellen, er eignete sich nicht zu straffer Arbeit, für ihn war das nichts, eine genau vorgeschriebene Zeit, eine peinliche Unterordnung. Leute wie er, mit schlechtem Aussehen, schlechter Sprache, schlechtem Benehmen, ohne Geld, ohne Beziehungen, er sah das jetzt alles ein, Hunger erzieht, solche Leute blieben besser für sich allein und gaben sich nützlicher mit Vermittlungen ab; da sie nicht erste bekamen, die lagen in den Händen vortrefflicher und glücklicher Menschen, mit den letzten; es hieß, als Pfuschmakler, als Unteruntervermittler an fremde Geschäfte 146 herankommen – wer das aber wollte, mußte mit tausend Personen gut stehen.

Das heißt: vorerst brauchte er gut zu stehen nur mit einer, und diese eine war seine Wirtin. Denn wenn ihm ein Geschäft gelang, der Verkauf ihres Hauses, dann war er alle Schulden los und hatte darüber hinaus für einige Zeit zu leben.

Weichselbaum, der Für und Wider in zahllosen, erzwungen müßigen Stunden abgewogen, hatte endlich einen Entschluß gefaßt: er wollte ein Haus in der Gasse kaufen. Von Frau Dippe hieß es, sie wolle das ihre abgeben. Verhandlungen hatten begonnen, Frau Warszawski führte sie. Frau Spanier hatte ihr den Auftrag verschafft als Dank für die Aufnahme Seraphims; bei ihrem guten Verhältnis zu Weichselbaums Frau war ihr das leichtgefallen. Frau Warszawski hatte Verbindungen nach allen Seiten, auch in das verrufene Haus hinein, dennoch fand sie es nicht falsch, auch Himmelweit heranzuziehen, nicht als Vermittler, aber er wohnte bei Frau Dippe, er konnte sie beeinflussen, und vor allem störte er, wenn man ihn nicht hinzuzog, die Verhandlungen bestimmt. Weichselbaum bequemte sich zu einem Opfer, und eines Abends betrat Himmelweit den Gasthof. Leider bekam er Joel nicht zu Gesicht, er hätte ihm gar zu gern vergolten, aber auch so war seine Genugtuung groß. Er spielte sich auf und erklärte, je nachdem wie er Partei nahm, fiele die Entscheidung, für oder gegen Weichselbaum, für oder gegen die Gesellschaft für Grundbesitz und Areal, die sich im Wettbewerb mit Weichselbaum um das gleiche Haus bemühte.

Ganz so war es nicht – es bestand die dritte Möglichkeit, Frau Dippe gab das Haus überhaupt nicht ab, nicht dem einen, nicht dem anderen, sondern behielt es. Sie hatte keine ruhige Stunde, seit ihr Weichselbaum und die andere Gruppe fast an einem und demselben Tage mit Vorschlägen gekommen waren. Himmelweit riet ab, dann zu, mit solchem Rat ließ sich wenig anfangen. Auch 147 traute sie ihm nicht: er wollte in der Küche am Tag zuvor eine Mark gefunden haben, Zeichen einer scheinbar großen Redlichkeit; aber sie kannte ihr Vermögen, es fehlte nichts. In ihrer Not wandte sie sich an die einzige, die von wirtschaftlichen Dingen eine Ahnung hatte, an Fräulein Czinsky, eine Mieterin, eine der zwei anständigen Frauen aus dem Haus.

»Glauben Sie nicht, ich will den Rat umsonst«, leitete Frau Dippe die Verhandlungen ein. Das konnte sie auch nicht gut, die ganzen Jahre hatte sie dem Fräulein nicht einen Wunsch erfüllt, und Fräulein Czinsky war schlecht auf sie zu sprechen, aber sie war ein Mensch, der, wenn er Geld sah, auch verzieh.

Es sah elend in der Kammer aus, meterweise war der Putz von der Decke gefallen, wie Schorf blätterte die Tapete von den Wänden, keine Farbe an der Tür, in den Fenstern schepperten die Riegel, die Wasserleitung tropfte – wer sollte die Kosten für eine Gummidichtung tragen?

Aber das Fräulein fühlte sich keineswegs schlecht in den verwüsteten und mißhandelten Räumen. Sie lebte weniger hier als in ihren Vorstellungen, und diese betrafen nicht so sehr das Heute wie das Morgen, aber in einem rein weltlichen Sinn, denn diese Protestantin hatte kein christliches Verlangen. Ihre Sparsamkeit war die äußerste, sie geißelte sich noch schärfer als Frau Dippe selbst. Dabei verdiente sie und wurde von anderen ernährt. Schon in der Frühe ging sie fort, die Familien, zu denen sie zum Nähen kam, mußten den Morgenkaffee für sie bereithalten und ebenso peinlich am Tage sie versorgen. Das Essen, das man ihr gab, verschwand sehr rasch, das Geld nur ein einziges, allerdings entscheidendes Mal: in den Jahren nach dem Krieg zerrannen ihre Ersparnisse zu nichts. Aber seitdem hatte das dreiundvierzigjährige Fräulein wieder zweitausend Mark gespart. Sie lieh sie aus: an einen Drehorgelspieler, dem sie sein Instrument bezahlte und der sie dafür an seinem Geschäft beteiligte; 148 an eine Witwe, die mit Schmirgel, Schmierseife, Wichse, Putzpulver hausieren ging, und an einen Mann, der mit Ausklopfern, Spankörben und Staubwedeln das Viertel ablief. Früher hatten noch andere kleine Leute von ihr Geld bekommen, jetzt konnte sie so vielseitig nicht mehr sein und lieh höchstens noch an Straßenmädchen, die sie kannte; sie wußte, welcher zu trauen war, welcher nicht.

Sie wollte sechstausend Mark zurücklegen und sich dann einen Mann verschaffen, der ihr gefiel. Verhältnisse? Sie hatte mehrere gehabt, aber davon hielt sie nicht viel; ihre Freunde waren alle wieder ausgebrochen, der Heiratsplan war richtiger. Sie wußte, sie war häßlich und fast ganz ohne das, was die Männer reizt. Sie gab nicht viel auf diese Eigenschaften, das meiste davon kam aus der Hand der Schneiderinnen. Aber man mußte die Männer nehmen, wie sie waren, und für Geld war jeder Mann, mindestens von einem bestimmten Alter ab, empfänglich. Es wurde etwas spät mit ihrer Heirat? Vielleicht – aber wenn die anderen sich schon haßten und am liebsten totschlugen, standen ihr die Jahre der Liebe noch bevor.

»Sagen Sie, mein gutes Fräulein Czinsky, was, um Gottes willen, soll ich tun?«

Fräulein Czinsky riet entschieden, das immobile in mobiles Kapital zu verwandeln – sie drückte es nicht so aus, aber sie meinte es so. Man brauchte nur zu bedenken, eines Tages stürzten hier doch alle Häuser ein, sie waren so nicht viel mehr als Mehl und Pulver, nur Verrückte kauften sich hier an und nun gleich zwei – das war mehr als ein Geschenk, das war schon Gnade. Natürlich, in der Welt hatte alles seinen Grund: Weichselbaum, halbblind, kam nie aus der Gasse heraus, außer im Wagen zu seinen Ärzten, er wollte sich da ankaufen, wo er sich auskannte, und die Gesellschaft hatte rechter Hand ein Haus und rundete mit Frau Dippes Haus diesen Besitz nur ab, äußerst wichtig für einen Abriß und einen Neubau. Wenn sich zwei in den Haaren lagen, sollte man sie dabei nicht 149 stören, und spielte sie einen gegen den anderen aus, so wurde ihr Haus ordentlich bezahlt. Eine Sorge blieb natürlich: was tat man nachher mit dem Geld? Von dem Gelde mußte man Zinsen haben, dabei lief man Gefahr, aber wenn Frau Dippe wie sie einen Teil in der Gasse auslieh, dann sah sie Nutzen.

Sollte sie dem Rate folgen? das Haus verkaufen? Seit Jahren fürchtete sie seinen Einsturz, aber bei aller Angst störte sie doch, daß sie sich sagte: jetzt hast du ein Haus, nachher hast du nichts, das Haus siehst du, das Geld nicht, denn was ist Papier? Das kannte man.

Die Entscheidung kam von außen.

Im Hause lebte als einziger Mann der Schutzmann Trapp. Ihn bevorzugte sie, er hatte von ihr Vorteile. Kam gegen sie eines Tages eine Anzeige, wie angeblich die von Himmelweit gegen Joel, dann sollte einer dasein, der sich maßgebend für sie einsetzte. Übrigens wußte sie bei Himmelweits Einzug nicht, daß er seinen Hauswirt ans Messer geliefert hatte, nie wäre er über ihre Schwelle gekommen, und sie behielt ihn auch nur aus Furcht.

Aber wie so oft: die unanständigen Leute bleiben leben, die anständigen gehen dahin. Der Schutzmann war noch nicht siebenunddreißig, plötzlich, von heut auf morgen, war er tot. Die Witwe blieb nicht, ihre Verwandten wohnten in einem Vorort, sie zog in ihre Nähe. Frau Dippe strengte sich denkbar an, einen Tausch der Wohnung mit der eines anderen Schutzmanns zu erreichen – der sollte dann ebenso von ihr gehegt und ihr Retter werden am Tag des Unglücks. Aber Frau Trapp tauschte ihre Wohnung gegen die Wohnung eines Werkmeisters.

Frau Dippe hatte schon den Abschied von Trapp mit tiefem Leid erlebt, sie hatte geweint, als der Sarg hinausgetragen wurde, manche Dirne auch, jeder verehrte den stummen, duldsamen, höflichen, niemals überheblichen Mann. Aber als Frau Trapp das Haus verließ und ein Mieter ohne Amt und Einfluß folgte, war ihre Trauer größer; nun war der Verkauf des Hauses unaufschiebbar. 150

Ein Bruder Frau Trapps und sein Kamerad bewerkstelligten den Umzug mit einem Handwagen. Sie waren früh ans Werk gegangen, aber es war eine weite Strecke, und sie mußten zweimal fahren.

Frau Trapp hatte einen Eimer Geschirr auf den Wagen gesetzt und stieg die Treppen wieder hoch, hinter sich das kleinste Kind, das an ihrem Rock hing und seinen Bruder anfaßte. Der Bruder führte die größere Schwester an der Hand. Die Kette verlängerte sich noch um zwei nicht von ihren Gespielen zu trennende fremde Kinder. So oft Frau Trapp hinaufstieg, stieg der kleine Zug mit hoch und auch mit ihr wieder hinunter, und jedes Kind trug, in Zeitungspapier gewickelt, eine Tasse, einen Quirl, einen Löffel nach unten. Sie waren wie kleine Engel mit Palmzweigen in den Händen, und da man nur mit Schwierigkeit gleichzeitig Hände anfassen und kleine Gegenstände tragen kann, riß die Kette oft, oder eines fiel und zerbrach ein Stück auf der Treppe.

Der Handwagen war kaum zur Hälfte zum zweiten Male beladen, da erschien der Werkmeister mit einem Pferdewagen. Was war das für eine Umständlichkeit, mit einem Handwagen zu ziehen! Sein Chef hatte ihm Wagen und Pferd geliehen und mußte sie zurückhaben, also ausgeladen, hinaufgetragen, abgesetzt, immer an diesem Kinderkreuzzug vorbei, manchmal auch in ihn hinein! Das heißt, er hätte Zeit gehabt, auch die Eile seines Chefs hätte ihn nicht getrieben, aber seine Frau setzte ihm zu: mußte diese Witwe Trapp auch alles so blöde anstellen! Es fing zu tröpfeln an, sollten ihre guten Sachen wegen dieser Person verderben? Wer polierte sie nachher auf? Es war klar, ein Zusammenstoß war kaum zu vermeiden, Schimpfworte fielen, und nur durch Tränen erreichte es die Witwe, daß der Werkmeister seiner Frau in den Arm fiel und sie am Schlagen hinderte.

Endlich zog der Handwagen ab, so beladen, daß er unterwegs bestimmt noch Havarie hatte, die Familie hinterdrein, als schritte sie wieder hinter einem Sarg. Das 151 Haus drehte sein Inneres nach außen, die Bewohnerinnen lagen in den Fenstern, zu zweit lümmelten sich die Mädchen auf den Fensterbänken, alles schwatzte, lachte, weinte, einer verwirrten Person stürzte ein Blumentopf mit eingetrockneter Erde auf die Straße, er fiel nicht weit von Frau Dippe nieder und erschlug fast die alte Frau – ach, wäre sie doch erschlagen worden! Nun war nichts mehr von einem Schutzmann hier im Haus und sie hatte einen Entschluß zu fassen.

Zum Verkauf an wen? An Weichselbaum, den Frau Warszawski empfahl und den auch Himmelweit empfohlen hatte? An die Gesellschaft für Grundbesitz und Areal, für die ihr Verwalter auftrat?

Fräulein Czinsky erklärte: »Beide sind anständig, einer wie der andere. Nehmen Sie, wer am meisten gibt!«

Das war Weichselbaum und der bekam das Haus. Er bekam es, weil die Gesellschaft mißtrauisch geworden war; schon zweimal hatte Weichselbaum den Preis hinaufgetrieben, an sein zum dritten Mal erklärtes Gebot glaubten sie nicht. Aber Frau Dippe hatte die Wahrheit gesagt, und als der Verwalter in sie drang, alles rückgängig zu machen, und seinerseits mehr bot, war es zu spät. Der Verwalter erreichte nur mit seinen Worten, daß Frau Dippe, die sich ohnehin vorwarf, das Haus verkauft zu haben, sich jetzt noch vorwarf, es verschleudert zu haben.

Weichselbaum machte sich die gleichen Vorwürfe wie Frau Dippe, nur in umgekehrter Richtung. Die Gesellschaft durfte mehr bieten als er, weil die beiden Häuser zusammenhingen, er durfte kaum soviel geben, wie Hypotheken auf dem Hause lasteten – alles darüber hinaus war zuviel. Aber er hatte das Geschäft nicht scheitern lassen wollen, das er grundsätzlich für richtig hielt und das ihm die Qual des Wartens auf den Spruch der Ärzte überwinden half.

Wenige Tage vor der Entscheidung war der älteste Sohn gekommen, um nach dem Vater zu sehen. Zu 152 Hause sprach man bereits von einem Dutzend aufgekaufter Häuser. Die Lage der Juden in Polen machte ihm Sorgen, sagte der Vater, und deshalb legte er in Deutschland etwas Geld an. Der Sohn beteuerte, er verstände das, auch schon früher hätten das viele getan.

Der Vater unterbrach ihn. Jene hätten den Verfall der deutschen Währung benützt. Es war zwar Deutschlands Schuld, denn warum hatte es zum Schaden aller Klassen mit Ausnahme reicher Industrieller den sinnlosen Verfall der Währung zugelassen? Aber ihm selbst lagen solche Geschäfte nicht, er zahlte heute mit guter Mark, in voller Währung.

»Oder findest du, es muß uns Juden in alle Ewigkeit zu Hause gut gehen? Ich habe neulich deine Mutter an ihren Onkel Chone erinnert. Laß dir von ihr erzählen, mir schad't so was, sagt der Arzt, ich soll mich nicht aufregen«, schrie er auf geregt.

Die Mutter gab dem Sohne Zeichen, nicht zu erwidern.

Als der Vater schlief, gingen beide in Frau Spaniers Kammer, und, alleingelassen, warf sich die Mutter ihrem Sohne in die Arme und weinte ihren Schmerz aus. Die Ärzte hatten den Zustand ihres Mannes als hoffnungslos bezeichnet. Vor der Größe dieses Schmerzes verlor der Sohn die Kraft zu einer Nachricht, die ihn eigentlich hierher geführt hatte: beim Reiten war einer seiner Brüder, der zweite, der Rechtsanwalt hatte werden wollen, gestürzt und, fünfundzwanzigjährig, an einem Schädelbruch gestorben. Er fuhr ab, ohne gesprochen zu haben; von unterwegs schrieb er Frau Spanier und bat sie, die Mutter zu unterrichten.

Während Frau Weichselbaum daraufhin als fühlender Mensch für lange ausschied, machte der Kauf des Hauses andere glücklich. Die beiden Schwägerinnen, Julchen und Riwka Hurwitz, frohlockten: sie hatten künftig nicht mehr eine hilflose und verarmte Frau als Wirtin, sondern einen begüterten Mann, zu dem sie sogar Beziehungen hatten durch Frau Warszawski, er würde das Haus schon 153 von den Dirnen ausräuchern, wenn auch langsam, nach und nach.

»Hast du gesehen, Fräulein Nachtigall, wie sie grüßt?«

»Sie hat gegrüßt, wie immer.«

»Und ich sag dir, sie hat anders gegrüßt!«

»Sie werden doch jetzt reich werden«, meinte Tauber, »und nicht mehr wollen selber sitzen. Wenn Sie wieder jemand brauchen zum Sitzen, ich weiß, werden Sie an wen denken? Muß ich Ihnen sagen, an wen Sie denken sollen?«

»An Tauber«, entschieden beide, selten einmütig.

»Ich hab mir doch gleich gedacht«, meinte Tauber gutmütig, »Sie werden Tauber sagen, aber ich habe Frajim gemeint.«

Julchen wandte sich von ihm ab, um Kunden anzusprechen: »Frau Ehrenreich, Frau Leiserowitsch, kaufen Sie, sehen Sie sich an, Sie haben hier ein hochanständiges, ein demnächst wieder hochanständiges Geschäft!«

Unter den Glücklichen war Himmelweit. Noch kurz vor dem Abschluß hatte Frau Dippe gefragt: »Wozu raten Sie? Ich tu bestimmt das Gegenteil!« Trotzdem bekam er im Auftrage von Weichselbaum durch Frau Warszawski seinen Vermittlungsanteil ausgezahlt. Das Glück war zu groß, als daß nicht die ganze Gasse es ihm geneidet hätte: »Da sehen Sie, so was kommt vorwärts, so einer schafft's.«

»Nun, wo kommt er schon vorwärts? Er hat mal was verdient.«

»Mal was verdient? Ich möcht auch nur mal was verdienen.«

»Was denken Sie, wieviel . . .«

»Wie soll ich wissen, sicher eine schwere Menge.«

»Ausgerechnet der! Er verrät Joel – eine Schande. Er zieht in jenes Haus – nochmals eine Schande. Und nur weil er beides tut – verdient er. Es geht wirklich ordentlich zu im Leben!«

»Nun, Sie wissen doch, wie das Leben ist!« 154

Himmelweit beglich seine Schulden und verließ die Gasse. Seine Wahl war getroffen, sein Leben bestimmt: er wollte Häuser verkaufen, Hypotheken vermitteln. Er hatte jetzt einen Erfolg aufzuweisen, er sprach bloß noch von Referenzen. Besser, freilich, er zog die Linie des Aufstiegs nicht zu steil. Vermittler gab es schon in großer Zahl und noch riefen nicht von weißen Tafeln die zum Verkauf gestellten Häuser: wir lassen uns nur durch Himmelweit verkaufen!

»Wer weiß, wie lange er warten muß, bis er wieder was verdient.«

»Der? Morgen!«

»Morgen? Morgen kann er ebensogut von einem Wagen überfahren sein.«

»Das können Sie und ich genauso, Gott behüte.«

»Man soll nur von guten Sachen reden«, mischte sich jemand ein.

»Bringen Sie uns die guten! Wo sind gute?«

»Sie sind schon da.«

»Und wo sind sie? Zeigen Sie sie!«

»Man muß Augen dafür haben . . .«

»Ach so, Augen . . .«

Die Glücklichste war Frau Warszawski. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Geld, und als Herr Weichselbaum noch weiter ging und zur selben Stunde sie als Verwalterin des Hauses einsetzte, da fand sie, Gott kenne keine Grenzen und sei zu gut. Sie beschloß, sich das Leben leichter zu machen, nicht mehr, die Lider krampfhaft aufgerissen, die Nacht bei Toten durchzuwachen. Übermorgen, am Freitag abend, wollte sie ein Essen geben, wie es der Traum eines armen Juden ist. Alle sollten daran teilnehmen, die zu ihr gehörten, die Tante Feiga Turkeltaub, die entfernte Verwandte Alexandra Dickstein, Frajim Feingold, Noah Kirschbaum und natürlich Seraphim; ihm, seiner guten Beziehung zu Frau Spanier, verdankte sie das ganze Glück. Vorgesetzt werden sollten Karpfen polnisch mit Rosinen, Nudeln mit 155 Backpflaumen, gebräunter Striezel mit blauem Mohn, ein süßes Schnäpschen, unverfälschter Kaffee und mürbes Gebäck, und als Zeichen der Verbundenheit gelber Wein, gereift in den Weinbergen Rischon Lezions. 156

 


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