Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Nach Amerika – dem Paradies

Die ersten Feiertage der Juden fallen in den Frühling, die letzten in den Herbst. Immer ist an diesen Feiertagen der Himmel blau, immer verschwendet sich die Sonne. Wollte der Himmel dem Ritual in allem folgen, müßte er sich im Sommer an den Fasttagen beziehen, müßte an den Fasttagen der Regen barmherzig niedergehen. Aber dem ist nicht so: meist sticht die Sonne, die Luft steht unbewegt, und die Prüfung der Fastenden ist hart.

In diesem Jahre war es anfangs anders. In diesem Jahre war es trüb schon am ersten Fasttag, und bis kurz vor dem zweiten blieb das Wetter häßlich. Die Natur wiederholte die heilige Geschichte, von dem schaudervollen Anfang bis zu dem Ende ohne Trost: zuerst fiel die erste Ringmauer, drei Wochen später fiel der Tempel, unvergeßliches Martyrium der viel beweinten Stadt Jerusalem – zerrissenen Herzens erlitten die Frommen die Stationen in jedem Jahre neu.

Einem harten Winter war ein milder Frühling gefolgt. Dann stiegen Nebel auf, selten in dieser klaren und gesunden Stadt. Sie verschleierten die Straßen, meistens morgens, wenn man in Eile zu dem Bethaus lief. Die Tage selber waren heiß, und eines Abends brachen hallende Gewitter los, der Regen danach war kurz, doch die Kürze täuschte. Noch in der Nacht folgte ein langer, unnachgiebiger Regen, abwechselnd dick und spritzig, und von nun ab gingen ungeheuere Wassermengen nieder und machten die Luft so kühl, daß es nicht mehr Juni zu sein schien, sondern März. Alles: Straße, Häuser, Dächer, Höfe, Fenster, Flure, stand unter Wasser. Leere Bürgersteige – die Hutkrempen nach unten, die Kragen 183 hochgestellt, liefen die Leute dicht an den Häusern entlang. Von den Fußsteigen floß das Wasser über Platten, über Prellsteine hinunter und traf in der Gosse mit dem anderen zusammen, das von dem schwach gewölbten Fahrdamm ablief; vereint gurgelten beide zwischen eisernen Stäben in die Schächte. Kinder fischten mit Stecken an den Abflußstellen, das Wasser riß die Stecken mit oder spie sie mit Gewalt nach oben.

Die Kinder spielten auf der Straße, um der Enge der Kammern zu entgehen. Die Kammern waren überfüllt. In den nächsten Tagen fuhr von Antwerpen aus ein großes Schiff nach New York, die Schiffahrtsgesellschaft hatte im Osten stark mit einem günstigen Angebot geworben. Verschiedene Konsulate hatten Auswanderer vermehrt abgefertigt. Schon immer waren die Häuser bis unter die Dachsparren besetzt – nun fluteten die Menschen wie der Regen bis an den Rand, ja über den Rand der Gasse weg. Es waren Menschen aller Länder: Russen, ehemals reich, die nach der Oktoberrevolution in Litauen und Lettland eine Zuflucht gefunden und fürchteten, der Riese, dem sie entronnen waren, könne bei erster Gelegenheit die beiden verlorenen Provinzen und sie selbst zurückgewinnen wollen; Juden aus Südostpolen, die lieber in jedem anderen Land mit Wahrscheinlichkeit, als in Polen mit Gewißheit verhungern wollten; Juden aus Rumänien – in Rumänien gärte es bedrohlich, und die Widerstände nahmen zu. Eine kleine Zahl fand sich unter ihnen, die Westeuropa zustrebte, aber die Masse der Auswanderer fuhr über den Ozean in das große Paradies der Welt. Es war Anfang des Hochsommers, die Zeit, in der auch der Mutlose Kraft zu neuer Unternehmung findet, die Zeit zugleich, in der der reiche Europäer nicht mehr nach den Staaten fährt, und der reiche Amerikaner noch nicht von Europa heim, für Arme also die beste Jahreszeit, um zu reisen. Aber sie waren keine Reisenden, sie waren Auswanderer.

Nicht Joels Gasthaus, nicht die beiden kleinen 184 Gasthäuser von Simon Brüll und David Joseph, alle drei schon immer voll, faßten die Menge. Aus früheren Jahren hatte man Erfahrung in der Bewältigung des Ansturms der Durchreisenden. Man bettete die Ankömmlinge in Schankräume, in denen von Teich, in dem von Salomon, brachte sie in Haushaltungen unter, zwei auf jedem Sofa, drei in jedem Bett, verwandelte Fußböden in Lagerstätten und nahm Räume von Andersgläubigen hinzu. Fünf allein kamen auf Schütten Stroh in den Keller eines verschuldeten Barbiers, der nun im Pfandhaus seine Pfänder einlöste. Aus der Wohnung einer Dirne, die sie mit Vergnügen beherbergte, holte Tauber zwei Brüder, ahnungslose junge Menschen, und fand es noch erstaunlich, daß es niemanden aus der Bodenluke herauszuholen gab, in der der Leierkastenmann Piontek mit einer Vettel hauste. Eine vierköpfige Familie zog in das Frauenhaus, glücklicherweise zu einem zuverlässigen, wenn auch sparsamen Geschöpf. Fräulein Czinsky opferte sich für sie auf, verzaubert durch die Aussicht auf einen unerwarteten Verdienst, aber sie verzweifelte zugleich, weil ihr ein weiterer Verdienst entging. Auch unverfänglichste Speisen, gewiß genießbar ohne Verletzung der Religion, Kartoffeln in der Schale und sauren Hering, lehnten diese eigenwilligen Gäste ab, ja, wenn sie in sie drang, behandelten sie sie verächtlich. »Die Schickse sull geihn« tuschelten sie, oder: »Wus is dos für ain Moidl? Sie gläubt, mer wellen essen vun seir Schissel?« Tausend und zweitausend Kilometer jenseits der Grenze angesessen, von Vorfahren stammend, die vor Jahrhunderten aus Deutschland ausgewandert waren, sprachen sie noch heute das Deutsch des Mittelalters, freilich mit jiddischen Einmengseln und den Abwandlungen und Verstümmelungen des Idioms, aber auch so noch bewahrten sie die Sprache treuer als viele reine Deutsche, die spätestens in der zweiten Generation die Sprache ihrer Väter für die Sprache ihrer neuen Heimat auf gaben.

Wahrscheinlich übertrieb man: bei Joel mußte noch ein 185 Bett sein, denn Himmelweit war vor fast zwei Monaten aus seiner Kammer fortgezogen. Doch es war nicht frei, Himmelweit hatte das Haus Frau Dippes und die Gasse zwar verlassen, um sie nie wieder zu betreten, aber er war schon wieder in der Gasse, lebte schon wieder in Joels Gasthaus, lag schon wieder in seinem Bett. Ein eindeutiges Wort hatte den Verdacht, den ein vieldeutiges auf ihn gelenkt, beseitigt. Nicht er hatte denunziert, komisch hieß der Mann schon, dabei blieb der Schutzmann, als Joel ihn zu Gesicht bekam und in ihn drang – komisch, ja, aber bestimmt nicht Himmelweit. »Wenn nicht Himmelweit, wie dann?« fragte Joel, aber Michalak sagte nur, der Denunziant habe vielleicht hier einen Tag gewohnt, sich möglicherweise über eine Kleinigkeit geärgert, und schon hatte Joel die Backpfeife weg. Joel besuchte und umarmte Himmelweit, verlangte weniger für das Bett und brachte ihn zurück. Wer auch seiner Seele künftiges Heil bedachte, wie es Joel tat, der mußte ein Unrecht gutmachen, wenn er es erkannt hatte.

Im Besitz von Geld, aus freien Stücken, ein künftiger Grundstücksmakler von neuem in der Gasse? Ja, denn Himmelweit hatte rasch erkannt, jenseits der Gasse war das Exil, die Stadt war kalt, der einzelne in ihr verloren, schön war es nur hier, nur hier war man gut zu ihm, gut wie vor der Verdächtigung, ja, besser – am meisten Feiga Turkeltaub und am wenigsten Julchen Hurwitz. Wieder befreite er zur Nacht den alten London von seinem Stiefel, der aus dem Bette ragte, wieder wälzte er sich nicht mehr in den Kissen, wenn ihn Fischmann oder Eisenberg ermahnten, still zu liegen. Bloß um ein Geldstück brauchte er Fischmann nicht mehr zu bitten, aber er hätte es auch nicht bekommen. Die Bettelzüge Fischmanns fielen täglich schlechter aus, täglich sprach er undeutlicher aus dem Bart, täglich langweilten seine Geschichten mehr. Früher hatte ein Kunde, der nicht gab, »das nächste Mal bestimmt!« gesagt. Jetzt hieß es höchstens: »ein ander Mal vielleicht! Man wird sehen!« Auf das alte 186 Versprechen lieh man in der Gasse, auf das neue konnte niemand etwas geben, ein Abenteurer höchstens – Himmelweit lieh fünfundsiebenzig Pfennig.

Eines Abends kam Himmelweit heim und fand sein Bett belegt. Er hatte es erwartet; was ihn überraschte, war die Zahl der Insassen. Als er zwei Mann hinausgeschoben hatte, denen er reumütig ein Kissen nachwarf, lagen noch zwei andere in seinem Bett, mit denen er sich als Nachbarn abzufinden hatte.

Dem einen lief ein dünner Bart um die eingesunkenen, leintuchweißen Wangen, verwildert fiel das Kopfhaar in die Stirn, aber die Stirn war geradezu verklärt. Himmelweit ahnte, daß das Schicksal dieses jungen Mannes nicht gewöhnlich war. In der Tat, in einer Stadt Südpolens hatte Koigen fast einen Aufstand angefacht. Die junge Welt wollte ihre Wünsche nicht mehr nach alter russischer Manier über die geöffnete Hand der Beamtenschaft erfüllt haben und lehnte das Bestechungswesen ab. Die Beamten rächten sich. Den ersten, der die übliche Handreichung verweigerte, schikanierten sie so lange, bis der alte Zustand wieder hergestellt war. Doch ein Teil der Jugend gab nicht nach – Koigen verfaßte in ihrem Namen eine Denkschrift, die von den Taten des Polizeiangestellten gar nicht einmal alle anführte, die Taten des Polizeihaupts mit Schonung überging, dennoch genügte der Bericht. Der Polizeichef schloß sich eine Woche mit dem Bericht in seine Wohnung, reiste in der zweiten in die Hauptstadt und zeigte sich erst in der dritten wieder auf dem Marktplatz. Polizisten in Uniform und Zivil hatten ihn umstellt. Der störungslose Verlauf machte Mut zu einer Jagd auf Koigen, der sich versteckt hatte. Sämtliche Beamte wurden angesetzt, bis hinunter zum letzten Türsteher, bis zum widerruflich beschäftigten Kanzlisten. Koigen war kein Kämpfer, sondern nur von einem vermeintlichen Unrecht fortgerissen; die Anstrengungen der Flucht überstiegen seine Kraft. Seit Monaten hatte er einen Blutgeschmack im Munde. Der Husten schüttelte 187 ihn, er richtete sich auf, spie und sank dann todesmatt zurück . . . Er war am Vormittag hier in Berlin vorn auf der Plattform stehend mit der Straßenbahn durch die Stadt gefahren, die Schienen liefen streckenweise zwischen Rasenstreifen. Er hatte auf das Gras gestarrt und gedacht, wenn es nicht wüchse, so wäre es krank, das Gras, und verleugnete seine Natur. Und dennoch: schoß es über eine bestimmte Höhe hinaus, wurde es unbarmherzig abgesäbelt von den Wagen, es sei denn, es faltete sich vorher zusammen. So sich zusammenfalten wäre wahrscheinlich eine Klugheit der Juden gewesen. Den jüngeren ging das wider die Ehre, begreiflich, denn wer wünschte nicht so aufzutreten, wie es irgend in seinen Kräften stand. Die Väter hatten sich zurückgehalten und weniger unbefangen gelebt und damit das richtige getroffen, wenn es auch schmerzliche Verzichte einschloß und dem Selbstgefühl empfindlich zusetzte. Koigen dachte an New York, wo sein Abenteuer ein Ende haben sollte. Er wollte Kollegien hören und niemandem mehr vorwerfen, er verbessere nicht die Welt – es war schwer, sie zu verbessern.

Himmelweit, im Bett, hatte sich dünngemacht, um nirgends anzustoßen, und drehte sich schlaflos vom Rücken auf den Bauch und wieder auf den Rücken. Auch links lag etwas wie ein Mensch, er schien von gewöhnlicher Art zu sein, verglichen wenigstens mit rechts, so daß sich Himmelweit, der Herr des Bettes, ohne Notiz von ihm zu nehmen, zum Schlaf entschloß.

Aber gerade dieser Nachbar auf der Linken wurde unruhig. Es war ein kleiner, schwächlicher und schwarzer Mann, der die kleinsten Tändelmärkte von frühauf besucht und immer auf dem Rücken einen Packen in Wachsleinewand getragen hatte. Auf den Marktplätzen spreitete er die Ware auf die Erde und legte das Wachstuch darunter, so brauchte er keine Bude. Vor Jahren, als er einmal über eine der schlechten polnischen Chausseen marschierte, hatten ihm die Bauern den Vorrat auf dem 188 Rücken angezündet, den ganzen Packen, Hosenträger, Hemden, Hosen. Anfangs bemerkte er die Teufelei nicht und marschierte weiter mit dem Schornstein auf dem Rücken. Plötzlich stand er in einer Wolke Rauch. Rasend riß er alles vom Leib, Packen, Kleider, Fetzen Haut und lief, als verfolge ihn die Flamme, halb im Wahnsinn weiter. Schließlich schwanden ihm die Sinne und er sank hin. Als er zu sich kam und zu seiner abgeworfenen Last zurücklief, war sie fast verkohlt und rauchte nur noch schwach. Indes er Tränen vergoß, grub er und grub nach den letzten Stückchen in der Asche. Dabei verbrannte er zwei Finger so, daß noch heute die Spitzen kein Gefühl hatten. Er litt an einem inneren Gebrechen, das ihn nachts immer wieder aus dem Bett trieb. Auch jetzt lief er mit Schmerzen auf und ab und summte leise vor sich hin: »Was laiden wir asoi viel, Mamme?« Das Gesumm wurde zu Stöhnen, kunstreich und wohltuend, und die Ahnen bis ins vierte Geschlecht, furchtsam und versorgt, sterbend und ermordet, seufzten mit.

Koigen schreckte der Lärm des Händlers auf. Gerade hatte er von einer schönen Stadt geträumt, die auf seiner weiteren Route lag. »Pscht!« flüsterte er, »geih schlafen!«

»Ich wünscht, ich künnt«, stöhnte der Mann, der schöner hieß als er aussah. »Das hätten solln wissen meine Eltern«, jammerte er, »daß ich muß geihn awek mit fufzik in die Welt!«

»Wäuß ich, wäuß ich?« wimmerte Koigen. »Leg dich schonn!«

»Ich tu mich legen, wann ich will« widersetzte sich Feigenbaum, stieg aber dann doch krächzend und stöhnend auf das Bett.

Inzwischen war von den beiden Schläfern, die Himmelweit zuvor aus dem Bett geworfen hatte, der eine erwacht. Es war ein rothaariger, mittelgroßer Mann, ein Schneider, der, beraten von englischen Verwandten, nach Manchester ging, um mit Hilfe einer winzigen Erbschaft eine ihm angebotene sogenannte Blitzentfleckerei 189 zu übernehmen. Er hatte eine Zahl in seinem Paß verändert, aus Angst, begründeter oder eingebildeter, seinen Paß nicht rechtzeitig verlängert zu bekommen. Kein Zweifel, eine Urkundenfälschung. Unbestreitbar hatten die Behörden aller Staaten ein vitales Interesse, die Heiligkeit von Urkunden hochzuhalten, ohne die ein geordnetes Zusammenleben von Bürgern nicht möglich ist. Aber es gibt Beamte, die Bürger so einschüchtern, daß die verlorensten und hilflosesten zuweilen zur Selbsthilfe getrieben werden. Selbst bei Selig Jankel war freilich nur die Hand, nicht das Gewissen mit der eigenmächtigen Änderung einverstanden. Schon in der vorigen Nacht hatte er in grenzenloser Furcht vor der Polizei selber Polizei gespielt und sich verfolgt. Im Halbschlaf hatte er auch jetzt ein gefährliches Rencontre. Es klopfte: »Wos ischt?« rief er und zitterte inwendig: »Gott soll schützen!« Gendarmerie. »Geiht's awek!«

»Aufgemacht!« forderte der Führer der Streife.

»Hier is sich kan Neschome«, sagte Selig Jankel.

»Auf der Stelle machst du auf«, befahl der Gendarm.

»Wen tut ihr suchen, vielleicht Jeschue Goldstaub?« begann Jankel zu verhandeln.

»Nein, nicht Jeschue Goldstaub, Selig Jankel!«

»Selig Jankel ist sich nischt hier!«, rief Jankel dreist, »hier ist Jeschue Goldstaub.«

Gut, sie gingen ein Haus weiter, war aber auch dort kein Selig Jankel, so kamen sie zurück und dann wehe, wurde nicht aufgemacht! Ein Posten blieb vor der Tür, Selig Jankel wußte, im nächsten Haus war der Gesuchte nicht, und furchtsam kroch er in sich zusammen, jeden Augenblick konnte die Tür aufgebrochen und er gepackt werden: »Los! Mitgegangen!« Mit einem »Ihr sullt mich lassen!« fuhr er aus dem Schlaf.

Er stieß ungeschickt und heftig gegen seinen Nachbarn auf dem Boden, einen wenig angenehmen Menschen, Grundmann, einen Kleinbürger aus Lodz, genauer einen 190 Bettler. Bettler? Grundmann hätte das bestritten. Mit Stricken um den Leib stand er wie mancher andere jüdische Dienstmann auf der Straße, auf der Hauptstraße von Lodz, allerdings meist zu faul, um eine Last zu tragen, und fast aus jedem Gang einen Bettel machend. Ein Groschen war vertrunken, kaum daß er ihn bekommen hatte. Einen Mann wie ihn anzustoßen, das war ein Grund für fürchterliche Flüche. In jungen Jahren war er Kutscher gewesen – wenn nicht Lodzer Dienstleute in der Wut so fluchen, dann waren es Kutschererinnerungen, die seiner Sprache die Gewalt verliehen. Jankel zerfiel unter den Verwünschungen zu einer verächtlichen Masse und war bald nur noch ein Gemenge von verdicktem Staub und gedörrtem Kot; daß auch dieser Rest nicht noch zerstampft wurde und verwehte, dankte er einzig Feigenbaum, dem kleinen Händler, im Bett zur Linken Himmelweits, dem Mann mit den verbrannten Fingern und dem quälenden Gebrechen.

Feigenbaum war selbst aus Lodz, Feigenbaum kannte Grundmann, er warf die Decke von den Schlafgenossen und schrie, kaum auf den Beinen, mit aller Kraft: »Recht so, daß er dich hot awkgestießt! Man kennt dich, a Nischttuer, a Faulpelz, dos Wab hot er ins Grab gebracht, in Lodz gibt ihm keiner einen Groschen. Er muß nebbich nach Paris, do hot er anen Bruder, der was noch nischt ist von ihm umgebracht.« Wirklich wollte ihn auf einen hündischen Brief hin der Bruder als Austräger in seiner Wäscherei beschäftigen.

Wie, ein Feigenbaum wagte, einen Grundmann anzuschreien? Grundmann hatte von seiner Kraft bisher nur einen schwachen Teil gezeigt, hatte sich nur gerade klargekräht, hatte erst das Auge an den Schein gewöhnt, der durch die Scheibe über der Tür von einer Gasflamme im Korridor hereinfiel. Jetzt setzte er sich auf und bewies, daß er nur mit den dünnsten Stricken, die ihm gerade zur Hand gewesen waren, um sich geschlagen hatte. Er 191 wurde jetzt deutlicher, faßte gewissermaßen die starken Stricke, die ihm in Lodz um den Leib gehangen hatten, und schlug unbarmherzig auf diesen kleinen Dünkel ein, den er in Lodz, wie oft! mit einem elenden Päckchen hatte zum Bahnhof ziehen sehen! Er schlug zu, und ein Rothschild von einem Groschen sank um, er schlug, und ein Jacob Schiff von einem Pfennig gab kein Lebenszeichen mehr. Er machte ihm nach, wie er die Leute angerufen hatte, dieses kleine, krumme, schiefe, miese Jüdchen: fünf Pfennig Band zu verkaufen, für zwei Pfennig Knöpfe! Grundmann war unerschöpflich, ja, er verschwendete, als wenn er die Müllabfuhr gepachtet hätte, nicht von Lodz, nein, von Berlin, und von dem Müll den wertvollsten Teil nicht den Stadtgütern zuführte, sondern selbst verwertete.

Aber schließlich wurde einem der Anwesenden das Geschrei zuviel, dem ehrwürdigen, dem autorisierten Bettler Abraham Fischmann. Ein Bettler aus Lodz, der noch sehr bei Jahren war, nicht bettelte, um zu leben, sondern um zu trinken, ein Mann ohne Würde, ein Ausbund der Schamlosigkeit, ein öffentlicher Anstoß, der wollte sich solche Aufführung erlauben? Der störte den Schlaf, die kurzen Stunden des Ausruhens von Menschen, die sich am Tage quälten? Alle Flüche, die er sieben Jahre, seit seinem Weggang von Kowno nicht gehört, aber nicht vergessen hatte, stießen aus Urtiefen empor und erschütterten die Luft. Grundmann wurde einfach umgeworfen, von solcher Gewalt waren die Worte, die ein Sachkenner auf ihn schleuderte, daß er nicht mehr hochkam, daß es war, als fasse er in Pech, in eine schlierige und zähe Masse. Feigenbaum, ermutigt, sprang dem grollenden Fischmann bei, ein kleiner davongejagter Hund, der kläffte, weil ein zweiter großer Hund auf einen anderen großen einbellte. »Ich heer nischt«, schrie Grundmann und hielt sich die Ohren zu, allein er hörte.

Fischmann überließ die gänzliche Abfertigung des sichtlich zusammengehauenen Mannes den anderen. Das Herz 192 klopfte ihm, er hielt die Hand darauf, aber er war von der Abrechnung beglückt. Alles, was er den Bettlern zu Hause in Kowno, die ihn verdrängt hatten, schuldig geblieben war, hatte er endlich einem Bettler gesagt, wenn auch einem Bettler nur aus Lodz – die ganze verlauste und liederliche Gattung, Nichtstuer, Landstreicher, Speichellecker, keine Bettler, war in diesem Lodzer Exemplar vernichtet.

Eine Weile zankte man und schrie. Dann erschien es allen geratener, nur die halbe Nacht zu verlieren. Man schwieg und schlief allmählich wieder ein. Himmelweit, der sich während des Streites still verhalten hatte, war plötzlich peinlich von seiner eigenen Zurückhaltung berührt. Empfindsamkeit, fühlte er ganz richtig, paßte nicht zu ihm. Er schaffte sich nach beiden Seiten Raum und streckte seine Glieder.

 

Unruhig verlief auch für Frau Spanier die Nacht. Man hatte keine Fremden in ihre Kammer gelegt. Aber bei einem abendlichen Gang begegneten ihr zwei Frauen, die noch keine Unterkunft gefunden hatten. Sie litten unter dem Gedränge von Kindern, Packen, Kisten, vor allem behinderte sie die Nässe, die ihre Sachen schwer machte. Fast unbeweglich vor lauter Lasten hatten sie schon geglaubt, in Fluren nächtigen zu müssen. Nun quollen sie, für die Einladung dankbar, die Treppe hoch, voran eine zarte Frau, in einem Tuche vor der Brust ein kleines Kind, in der freien Hand kreuzförmig verschnürte Kissen. Ihr zweites Kind, auch ein Sohn, führte Frau Spanier hinauf, aber unter den Augen der Mutter, die sich beständig nach ihm umdrehte. Frau Jarosch war die Witwe eines Gastwirts und auf dem Wege nach der neuen Welt. Verwandte aus Minneapolis hatten sie mit ihren beiden kleinen Söhnen gerufen. Eine Landsmännin und Verwandte, Frau Dubinje, begleitete sie: die gleichen Verwandten ermöglichten ihre Auswanderung, ihre beiden größeren Jungen würden bald verdienen. An einem rostigen Griff 193 zog Frau Dubinje eine Kiste, die neben wertlosem Zeug vier Anzüge enthielt, Anzüge, die noch ihr Mann zugeschnitten, aber nicht mehr fertiggemacht hatte, als er Hals über Kopf mit einem Mädchen davongelaufen war. Sie war sicher, sie bekam ihn wieder, wenn sie erst ein Auskommen für ihre Familie in Amerika gefunden hatte. Sie wußte nicht, ob die Kiste unverzollt den Boden der Vereinigten Staaten betreten durfte, oder ob sie sie im Stich zu lassen hatte, aber sie hielt sie heilig, als enthielte sie seltene alte Ausgaben der gelehrten Bücher frommer Überlieferung. Frau Spanier drängte sie von der Kiste fort, Liebe staunte die Mutter an, als sie die Kiste allein die Treppe hinaufschleifte; von Esra Lachs, dem Hausdiener, der hätte helfen können, war begreiflicherweise nichts zu sehen; Frau Dubinje, mit ihren beiden Jungen, unter lauter Wollsachen und hinter Koffern und Schachteln versteckt, stieg hinterher.

Trotz des Durcheinanders von Kisten und Kasten wurden allen Kindern trockene Sachen übergezogen, aus Mangel an Stücken verwandelte man gelegentlich einen Jungen in ein Mädchen. Frau Dubinje lief in Frau Spaniers Schuhen, Frau Spanier auf Strümpfen. Auch Frau Jarosch's Säugling bekam frische Wäsche, an der Lampe gewärmt, dann wurde er von Frau Jarosch auf den Armen geschwenkt, und sie sang dazu, den Hauptton immer bei dem Schwung von rechts nach links:

Unter dem Kind's Wiegele
Steiht a gilden Ziegele,
Das Ziegele ist gefohren handlen
Rosinkes mit Mandlen.

Aber das Kind schrie – je mehr sie sang, um so stärker, so daß sie abbrach und das Kind bloß noch schnuckelte und zuckelte. Dafür sang jetzt die kleine Franja Spanier, als ihr Schmeicheln und Streicheln unbeachtet blieb, dem Kinde leise in das große Ohr: 194

Schlof, main Kind, main Krein, main scheiner
Schlofze, lju-lju-lju!
Schlof, main Leben, main Kaddisch einer,
Schlof zu, Suhn-ju-nju!

Bei Frau Spanier hockte Frau Jarosch's fünfjähriger Sohn. Er war für seine Jahre nicht sehr entwickelt, ging nicht ganz sicher und sprach etwas langsam. Frau Spanier streichelte dauernd seine Hände, und schließlich bekam er eine süße alte Bretzel. Seraphim hatte sie auf einem Spaziergang im Sprung aus einem Laden herausgeholt, eine Verschwendung, für die sie ihn gescholten hatte, die aber nun zu Ehren kam. »Eß! eß!« redete sie dem Knaben zu und, damit er sich nicht erst für den vorgeschriebenen Segensspruch eine Kopfbedeckung holte, legte sie ihm die Hand und ein Stück vom Ärmel auf den Kopf. Aber statt zu essen, stach er mit den Fingern in den Löchern herum und ließ die Bretzel schließlich fallen. Frau Dubinjes beide Kinder, aufgeweckte Jungen, stürzten auf den Boden, schnupperten gleich jungen Tieren, schubsten und stießen sich, bis endlich einer mit der Bretzel auftauchte. Frau Spanier brach sie auseinander, ein Stück bekam der kleine Fischel Jarosch in den Mund, das übrige bekamen die Dubinjejungen.

Am Ende wurden alle, groß und klein, für die Nacht zurechtgemacht wie für eine weite, lange Meerfahrt. Von den beiden Betten der Kammer erhielten die beiden fremden Frauen das eine Bett, Frau Spanier nahm das andere, eine Tochter kam auf das Sofa, die andere und Frau Dubinjes Jungen fanden ihr Lager auf der Erde. Still wurde es nicht. Immer wachte der eine oder der andere, bald weinte ein Kind, bald eine Mutter – weinte das Kind vor Angst, so weinte die Mutter aus Angst und Sehnsucht.

Übermüdet war Frau Jarosch, den Säugling neben sich, eingeschlafen. Ein Traum nahm ihr die Ruhe. 195 Während sie noch in sich hineinweinte, erschienen ihr ihre Mutter und alle zwölf Geschwister dazu. Sie faßten einander an den Händen, und die Mutter gab bekannt, von ihrem guten Vater sei Geld gekommen, zwanzig Dollar. Alle dreizehn hatten sich zu setzen und einen Schuh auszuziehen, den linken, und jeder bekam einen Dollar in diesen Schuh. Drei, der Mutter die liebsten, erhielten einen Dollar auch in den anderen Schuh, und nun warteten alle, was die Mutter mit den letzten vier Dollar anfing. Sie winkte Fischel, ihrem Enkel, zog ihm beide Schuhe aus und legte zwei Dollar in jeden Schuh. Das brachte die zwölf in Aufruhr. Sie schrien: wenn Fischel vier bekam, müsse zum mindesten seine Mutter den ihren herausgeben, und bei den Worten fielen alle zwölf über sie her, rissen ihr den Schuh herunter und den Dollar heraus. Während einer den geraubten in die Luft warf, haschten alle danach, und wer ihn auffing, warf ihn wieder hoch. Dabei tanzten sie auf einem Fuß, die drei bevorzugten Geschwister aber tanzten auf beiden Füßen; nur Fischel, obwohl er zwei Dollar in jedem Schuh hatte, drehte sich gar nicht, konnte nicht einmal gehen, fiel einfach um, und bestürzt erwachte seine Mutter, Tränen, die vielleicht nicht einmal neue Tränen waren, in den Wimpern.

Fischel war noch wach. Frau Spanier hatte ihn zu sich in das Bett genommen. Die Hand hielt sie vor ein Kerzchen, es schwamm in einem Wasserglas auf dem Reste einer Ölschicht, sie hatte es angezündet, als alle schliefen, um es Fischel heimeliger zu machen, und sie erzählte, damit er einschlief. Er drückte die Wange in das Kissen und fuhr mit ihr auf einem großen Schiff, das auf dem Meer so klein war wie das Lichtstümpfchen auf dem Öl. Schließlich fielen ihm die Augen zu, und er schlief fast, als einer der Dubinjejungen aufhustete und ein Stückchen Kandis von der verzehrten Bretzel auf die Lippe brachte. Fischel glaubte, der Sturm heule. Wirklich regnete es, gleichmäßig schlug ein nasser Plan um das Haus, 196 legte sich vorn und hinten um die Mauern und hüllte sie klatschend ein. Schließlich brach sich die Gewalt des Regens, er wurde gelinder, und es hörte sich an, als hielte vor dem Fenster ein Vogelzug und wetze die Krallen an den Blechen.

Zuletzt wachte nur noch Frau Spanier. Sie bedachte das schwierige Leben dieser Frauen, war aber bei ihrem Mitgefühl nicht frei von Neid: Sie hatten wenigstens ein Ziel, auf das sie zumarschierten. Leidend legte sie sich auf die Seite und summte zum Trost ohne Stimme die Verse des Schlafliedes weiter, das Franja vorhin dem Säugling vorgesungen:

In Amerika ist for jeden,
Sagt man, gor a Glick,
Jeder findt dort Garten Eden
Und will nit zurück.

Dorten eßt man um der Wochen
Kuchen, Suhn-jun-ju,
Hihnchen wel ich dir dort kochen,
Schlofze, lju-lju-lju!

Ach, daß sie auch wegkönnte, nach Amerika oder Palästina, und nach Palästina möglichst nicht allein . . . 197

 


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