Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Israel Wahrhaftig hat Sorgen und begegnet Blaustein und Geppert

Die Not von Wahrhaftigs Seele nahm zu.

Er war dem Ratschlag seiner Frau gefolgt und in den Keller von Sauermann gegangen, ein trüber, ein übel berufener Keller, ein Keller mit dem Abhub, dem Geschrei der Gasse. Allein, denn wer hätte ihn begleiten können?

Vorsichtig schlüpfte er hinunter. Fünf Mann standen vor der Theke, zehn saßen um den Tisch. Er erwischte einen Platz neben einem, der ziemlich menschlich aussah. Es war ein Jude. Der kahle Schädel hatte fast die Form einer Halbkugel, auf der Nase schaukelte ein Kneifer, über einem angegrauten kleinen Spitzbart und unter einem schwarzen Schnurrbärtchen saßen blasse Lippen, die etwas spottsüchtig schienen. Er gefiel sich auch bald darin, Wahrhaftig leicht zu hänseln.

Wahrhaftig setzte sich zur Wehr: »Was macht sich der Herr über einen Familienvater lustig?«

»Ein anständiger Mensch hat überhaupt keine Familie.«

»Ich wünsche nicht, daß der Herr soll so gestraft sein.«

»Fünf Kinder haben Sie, ich weiß nicht, wo nimmt ein Mensch bloß den Mut dazu her?«

Aber dazu gehörte doch kein Mut!

»Noch mehr Juden«, seufzte Blaustein. »Gibt es noch nicht genug? Brich auf eine Semmel, heißt es, was springt heraus? Ein Jud!«

Aber jetzt mischte sich ein dritter ein. Anscheinend wollte er bloß mit seinen etwas absonderlichen Worten Wahrhaftig angemessen in diesem Kreis begrüßen.

»Sie lieblicher Sohn Israels, ich habe ein Geschäft für Sie«, sagte er. Er kannte Arbeiter einer Metallhandlung, 64 die luden mehr auf ihren Wagen, als sie später bei der Kundschaft abluden, er konnte sie veranlassen, zuerst bei ihm vorzufahren und die Metalldecke vor seinem Haus abzuwerfen.

»Das sind nicht Geschäfte für mich, Sie verkennen mich, Herr«, sagte Wahrhaftig und war beleidigt. Auf einen Tritt von Blaustein aber lehnte er das Anerbieten nicht mehr rundweg ab. »An Metallen ist kein Segen«, lenkte er ein, »aber gut, was sind es für Metalle?«

»Temperguß, Zinnabfall und alte Bronze.«

»Nimmt Platz weg und läuft nischt ins Geld«, beanstandete Wahrhaftig.

»Also dann nicht, mein lieber Sohn Israels, es rennt Ihnen keiner nach, es gibt zehn andere!«

»Und ob es andere gibt«, stimmte Wahrhaftig zu.

Israel Wahrhaftig duckte sich und wagte diesen fürchterlichen Menschen kaum noch von der Seite anzusehen. Der saß da, als wolle er sich mit aller Gewalt durch den Tisch hindurchpressen, schüttete einen Schnaps hinunter und senkte dann den Kopf, grimmig, und wie wenn er von der ganzen Welt nichts wissen wollte. Wahrhaftig betrachtete den blonden, akkurat gelegten Scheitel und stellte sich vor, wie gut sich mit dem Finger darauf herumfahren ließe. Als er den Kopf wieder hob, sah Wahrhaftig weg, aber erst nach einem scharfen Blick auf den ausgezogenen und mit Pomade festgeklebten Schnurrbart und auf die forschen und gemeinen Lippen. In Israels Heimat kam die Landstraße von Westen, zog durch das Städtchen und lief nach Osten weiter auf das Land – genau so lief der Schnurrbart durch dieses Gesicht. Es war das runde, vollgefressene Gesicht eines unbändigen und unmäßigen Menschen, das erhitzte Gesicht eines Mannes, der heute offenbar den ganzen Tag für Flüssigkeit gesorgt hatte. Er stemmte das Kinn auf die Faust, die in Glut stehende Zigarre neigte die Spitze, Wülste und Falten liefen über das Gesicht, ein Gewitter schien zu nahen. 65

Israel verkroch sich und drängte näher an seinen Nachbarn.

»Felle wäre was anderes«, sagte er, »ich habe früher mit weißledrigen Maulwürfen gehandelt, mit Eichhörnchen, Wieseln, ungern nehme ich feine Sachen, aber Schmasche schon, auch ganz gern Kanin.«

Er hatte wirklich damit früher Geld verdient und Geld verloren, aber er wollte nur vorfühlen und noch mehr vernebeln.

»Glauben Sie, ich handele mit Pelzen?»

»Nischt mit Pelz? Darf man fragen, mit Kleider? Mit Produkte?»

»Ich möcht's nicht gern sagen oder muß ich?«

»Wie sollten Sie müssen?« sagte Israel demütig.

»Es ist sehr freundlich, daß Sie mir das erlassen.«

Aber Israel gab die Versuche nicht auf, besser bekannt zu werden. »Wenn ich soll ehrlich sagen, so möcht ich schon wissen wollen, womit Sie handeln?«

»Aber, liebster Mann, wenn ich das jedem ins Gesicht sagen sollte, wer weiß, wie lange ich dann noch in der guten Luft des Kellers atmete.«

»So soll ich gesund sein«, beteuerte Wahrhaftig, »als man soll annehmen so was von Ihnen.«

»Sie meinen, ich bin bloß zum Vergnügen hier?«

»Es kommt gar mancher her, der was nischt hergehört«, erwiderte Israel mit Haltung.

Aber er verlor diese Haltung, als Geppert der immer drängenderen Aufforderung aus dem Kreise folgte und die Beisetzung des Diebes schilderte. Er tat es mit einem großartigen Ausdruck, unter heftigen Vorwürfen für die Versammelten, von denen er keinen am Grab getroffen. Motz hatte Pech gehabt bei dem Einbruch, ein Dienstmädchen hatte sich ihm entgegengeworfen, er schoß das Mädchen nieder, floh auf den Boden, kletterte aufs Dach, wurde vom Überfallkommando verfolgt und beschossen, verfeuerte seine Patronen und schoß sich die letzte durch den Kopf. Hinter dem Sarge des Mädchens gingen 66 fünftausend Menschen, Motz begleiteten zwölf. Offenbar hatten seine Kollegen Angst, ein Kriminalbeamter könnte da sein und sie aufschreiben. Starb früher so ein Mann, so ging ein Freund bei dem Begräbnis mit, auch wenn er eben erst aus der Haft entsprungen war; ohne Bewegung ließ er sich festnehmen und die Polizei wußte das, sie kam und nahm ihn einfach mit.

Aber die Zeiten waren andere, entgegnete einer, nicht als Widersacher, als Anwalt der Angegriffenen; damals ließ man sich festnehmen und entsprang ein zweites Mal, heutzutage war das nicht so leicht.

»Aber Israel«, sagte seine Frau erschrocken, »das hast du mir doch alles schon erzählt!«

»Das habe ich dir erzählt?«

»Haarklein, genau so, nicht einmal, dreimal, und was will es schon besagen?«

Sein Gesicht wurde totenbleich. »Was es besagen will? Jetzt, wo Motz tot ist, werden sich diese Gauner eine gute Nummer machen wollen und der Polizei seine Einbrüche stecken. 1hm schaden sie nischt, sich nützen sie.«

»Nun, und wenn schon«, sagte seine Frau.

»Du meinst, ausgerechnet von mir werden sie nicht sprechen? Die Polizei wird sie fragen: an wen hat der Motz seine Ware verschoben, und sie werden sagen: entschuldigen Sie schon, Herr Kommissar, aber der Mann lebt, hat fünf Kinder und eine Frau, die Frau ist herzleidend, fragen Sie uns besser nicht.«

»Du bist sicher, sie wissen?«

»Die Einbrüche, glaubst du, hat er ihnen ja erzählt, aber was er mit der Ware gemacht hat, das nein?«

Aber die Freunde von Motz, meinte sie, könnten für ein Geldgeschenk empfänglich sein. »Sie werden kommen und sagen: Wahrhaftig, wir wissen was auf Sie, was bekommen wir, wenn wir den Mund halten? Und du wirst ihnen geben . . . Oder sie werden nicht kommen, dann wissen sie nichts.«

Aber Israel ließ sich nicht beirren. Er war sicher, die 67 Einbrüche wurden verraten und die Polizei ermittelte die Ware und den Hehler. Er lief umher und wirkte, als brauche er die Zwangsjacke.

Seine Frau ging hinaus und beauftragte Ida Perles, an der Tür zu horchen. Später schickte sie Ida zu Frau Warszawski, um festzustellen, wer das war: Geppert, Blaustein. Sie sah, es wurde Ernst.

Frau Warszawski wandte sich an Olga Nachtigall. Olga Nachtigall wohnte in der gleichen Gasse, auf derselben Seite, ein Haus weiter. Sie führte keinen guten Lebenswandel, wie fast niemand aus dem Hause, aber sie war gutmütig und liebenswürdig. Ein gewisser Scharpf war ihr Freund; soweit er nicht von Einbrüchen lebte, ernährte sie ihn. Er verkehrte täglich in dem Sauermannschen Keller. Durch ihn erfuhr man, Geppert sei ursprünglich ein begabter Eisenbahnsekretär gewesen, der seine Einnahmen für Rauschgifte vertan und Frau und Kinder rücksichtslos hatte hungern lassen. Eines Tages teilte man ihn einer Fahndungsstaffel zu, die sich mit der Aufklärung von Eisenbahndiebstählen befaßte. Er machte gemeinsame Sache mit den Dieben, ließ sich an der Beute beteiligen, wurde gefaßt, bestraft, entlassen und sank fast über Nacht in Kreise, für die er eigentlich zu schade war. Jetzt tat er, was er früher bei der Fahndungsstaffel nicht getan: er unterstützte die Polizei bei ihrer Suche nach Verbrechern – er war ein Spitzel.

Blaustein war ein Taschendieb und stahl in Luxushotels, allerdings nur, wenn er tief in Schulden steckte. Er war Wiener, aus guter Familie, gebildet, aber er trank hemmungslos.

Doch was nützten diese Auskünfte? Täglich konnten Herren kommen, täglich konnte Israel geholt werden. Rosa Wahrhaftig überdachte alles, auch das letzte: man ging in das Gefängnis, man kam aus dem Gefängnis wieder heraus, sie und die Tante würden alles auf das genaueste zusammenhalten, später zog man nach New York, aber vorläufig hieß es überlegen, Tag und Nacht: sollte 68 man die Ware beseitigen, verbrennen, ins Wasser werfen, im Walde abladen, es würde viel verloren gehen, aber wenn auch – oder sollte man fliehen und die Ware mitnehmen?

»Warum habe ich das tun müssen?« klagte Israel. »Niemals habe ich etwas Heißes angefaßt und nun hab ich mich doch verleiten lassen.«

»Hab keine Angst!« beruhigte ihn seine Frau. »Mein Vater hat gesagt, reiche Leute legen ihr Geld sicher an, denn sie kommen mit bescheidenen Zinsen aus, nicht so gutgestellte häufig unsicher, denn sie müssen hohe Zinsen machen. Du hattest viel Geld verloren – da hast du für deine Familie etwas Außerordentliches getan.«

»Etwas Außerordentliches«, sprach Israel nach.

»Wer war das, der heute zu deiner Tante kam?« fragte er später, als er nicht einschlafen konnte.

»Eine Landsmännin auf der Durchreise zu ihren Kindern.«

»Ich möchte so unschuldig sein, wie deine Tante.«

»Aber wenn ich durchkomme«, redete er sich zu, während er den Kopf auf dem Kissen von links nach rechts drehte, »dann wird noch alles gut werden.«

»Aber ich komm nicht durch«, schrie er und richtete sich steil auf. 69

 


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