Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Julchen und Riwka werden gekündigt,
Israel Wahrhaftig hat ein schlechtes Gewissen und holt sich Rat

Das Haus, in dem die Schwägerinnen saßen, gehörte der ›Gesellschaft für Grundbesitz und Areal‹, die umkämpfte Torfahrt war ihre Torfahrt und der Verwalter, so scharf und ablehnend gegen Taubers Bitten, er war ihr Verwalter.

Eines Tages war der Torweg leer. Ohne Kampf siegte die Gesellschaft über zwei durch Krankheit geschwächte, vor Not unsicher gewordene, hier nicht zuständige, nur geduldete, arme Frauen.

Alle Freunde der Schwägerinnen hatten widerraten: kämpft nicht! Keiner gab dem Kampf auch nur die geringste Chance, selbst der Leichtsinnigste warnte vor unbarmherzigen Kosten.

Am Vorabend hatte Frau Warszawski vor den zusammengerückten Betten der beiden Frauen gestanden, elenden Betten. Nachgiebigkeit war ihr Rat gewesen. Stürmisch verlief die Nacht, immer widersetzte sich die eine, wenn die andere schon nachgab. Schließlich hatten beide ihre Ohnmacht eingestanden. Sie zogen.

Wohin?

Das beste wäre die nächste Torfahrt rechts gewesen, sie hätte die geschäftliche Vergangenheit am klarsten überliefert. Aber diese Torfahrt war zu schmal, Julchen und Riwka hätten sich trennen müssen, und das wollte allen Anwandlungen zum Trotz keine von ihnen.

In einem Torweg auf der anderen Seite stand täglich eine alte Frau, keine Jüdin. Sie handelte ohne rechten Erfolg mit Südfrüchten und Gemüsen. Der Handel litt unter dem Ehrgeiz ihres Gegenübers. Herr Julius Nacht baute vor seinem Keller Kisten und Körbe im Unmaß auf 94 die Gasse und war auch sonst unermüdlich. Demut in der Stimme, Sirup in den Augen, bettelte er, bot man ihm vierzig Pfennig für ein Pfund Weintrauben: »Ich kann's nicht, bitte, liebe Frau Rubinstein, geben Sie mir fünfzig!« Kaufte aber Herr Rubinstein Datteln oder Feigen, so versuchte ihn Dina, Julius Nachts Frau, und lächelte ihn an mit schief gestelltem Kopf und offenem Mund. Die Gemüsehändlerin gegenüber war alt und häßlich, wie sollte sie gegen soviel Bereitschaft und Betulichkeit aufkommen? Sicher ließ sie sich mit einer kleinen Summe abfinden, aber diese Summe fehlte den Schwägerinnen eben. Auch zogen sie nie und nimmer auf die andere Seite: auf dieser waren sie bekannt, auf dieser blieben sie.

Frei auf dieser Seite aber war nur noch eine Torfahrt. Sie lag im nächsten Hause links, dem Gasthof gegenüber, und dieses Haus, Besitzerin Frau Dippe, war schon sonderbar. Es hieß das Gelbe, nach seinem Anstrich, hatte aber insgeheim einen anderen Namen, nach seinen Bewohnern, genauer: Bewohnerinnen. Denn fast nur Frauen wohnten darin; bis auf einen kamen Männer und gingen und von den Frauen hatten zwei allein einen anständigen Beruf, eine Hebamme und eine Näherin. Liebenswert und liebenswürdig war von allen Frauen einzig eine, Olga Nachtigall. Viele waren ausgesprochen unangenehm und kaltschnäuzig, unfaßbar, daß Männer ihnen folgten; aber sie folgten. Im ersten Teil der Nacht spazierten sie plötzlich neben einem der Mädchen her, das Mädchen ging voran, schloß auf, eine Minute, und hinter einem Vorhang wurde es hell, in bedauernswert kurzer Frist erlosch das Licht, abermals ging das Schloß, schmal aufschwingend entließ das Tor einen Besucher. Zu vorgerückter Stunde stiegen die Männer aus dem Sauermannschen Keller, und nun waren sie es, die das Tor aufschlossen und den Rest der Nacht bei ihren Geliebten zubrachten.

In diese Torfahrt zogen die beiden Schwägerinnen ein, in diesem dunklen Torgang schlugen sie die Stände auf. Soeben hatten sie erst die überragende Bedeutung eines 95 Hausherrn gefühlt, und doch unterwarfen sie sich schon wieder einer neuen Macht von noch viel peinlicherer Art. Frau Dippe war die Witwe eines Zimmermeisters, der vor seinem gewaltsamen Tode seine einzige Hinterlassenschaft, dieses Haus, hoch belastet und tief heruntergebracht. Seit dem Schaden an einer Grundmauer erwartete sie täglich den Befehl, es abzureißen. Hartnäckig widerstand sie jeder Forderung ihrer Mieter, gezwungenermaßen, denn es fehlten ihr die Mittel. Schulden und Geiz setzten ihr zu, und der Geiz kam zum Teil von ihren Schulden. In welcher Not mußten die beiden armen, aber glaubensstarken Schwägerinnen sein, wenn sie zu ihr, in diese Torfahrt, mit ihren elenden, abgenutzten, wurmstichigen Ständen zogen!

»Sei bloß vorsichtig!« zischte eine Schwägerin der anderen ins Ohr. Jeden Augenblick konnte ein Höschen oder ein Hemd verschwinden, an beidem war hier im Haus Bedarf. Man konnte nicht warten, bis es geschehen war, und dann »Halt! Diebe« rufen – alles, was im Hause war, würde herausstürzen, die Stände zusammenschmeißen, ihnen selber aber, schrien sie dann, die Hälse umdrehen . . .

Nein, lauschend und luchsend wie Bauern, die sich auf Lauer legen, um einen Wilddieb abzufangen, saßen sie auf ihren Stühlen, Julchen noch keineswegs wieder hergestellt und sehr begierig danach, ein Bein hochzulegen. Aber das eine wie das andere stand unten, auf dem kalten, ungesunden, durch Regen andauernd feuchten Boden. Schutz gaben einzig dicke Decken, und in diese packte sie sich reichlich. Beinahe unbeweglich vor lauter Tüchern und Mänteln, einer Tungusin ähnlich, einer Lappin, ja stärker eingehüllt, noch unförmiger, saß sie ganz in sich vergraben da, um sofort in Bewegung zu geraten, wenn eine Dirne an ihren Stand trat. Im Nu erschien ein zuckersüßes Lächeln um den Mund, ihre schwarzen Augen strahlten. Wir Schwägerinnen sind zu alt und zu verbraucht, schienen sie zu sagen, sonst würden wir 96 ebensowenig etwas tun wie ihr, und als Freunde nähmen auch wir uns nur diese Kerle aus dem Sauermannschen Keller . . .

Nein, dieses gelbe Hemdchen, das mußte sich Fräulein Nachtigall genauer ansehen, solche Crèmespitze gab es so rasch gar nicht wieder! Kein Geld? Aber jeder wußte doch, was Fräulein Nachtigall für gute Freunde hatte! Gerade für die besten vertat man am meisten, ließ Fräulein Nachtigall hören. Aber die Herren gaben doch gewiß das Geld zurück! I bewahre, die dachten nicht daran! Heutzutage war es schon viel, wenn sie es nicht mit anderen Mädchen durchbrachten. Allerdings, die Betreffende würde nichts zu lachen haben . . . »Aber zeigen Sie es immer einmal her!«, und Fräulein Nachtigall hielt das Hemdchen vor die Brust – häßlich war es nicht.

»Nicht häßlich? Zum Verlieben!«

Also gut, sie nahm es, behielt es gleich und zahlte morgen.

Ja, das kam dazu, sie mußten borgen. Sie sagten einander: Zahlele – lachele, borgele – weinele! Aber leihen mußten sie doch. Und dazu kam etwas anderes: nur höchst ungern trat eine fromme Frau in dieses Tor, wo leicht eine zweideutige Bemerkung fiel. In weiser Voraussicht hatte Frau Warszawski ihnen den Stand auf der anderen Seite empfohlen, vielleicht hätte Julius Nacht die Abfindungssumme geliehen, wurde er doch damit eine Konkurrentin los – aber sie hatten dieses Tor gewählt und mußten daher diese Leiden hinnehmen.

Zanken taten sie sich jetzt weniger, die Not schüchterte sie ein. Freilich saßen sie nur den halben Tag beisammen, am Vormittag fehlte Julchen, und Tauber saß auf ihrem Stuhl. Die Mädchen geruhten erst spät, sich von ihren Betten zu erheben. Seine alten Augen sahen scharf, und Höflichkeit fiel ihm leichter als den Frauen, er litt nicht unter diesen Umständen. Mein Gott, die Welt, die war schon so.

Riwka, seine Nachbarin am Stand, jammerte, die 97 Nachwehen ihres Stirnhöhlenkatarrhs ließen sie verzweifeln. Was war das für ein verrufener und verbotener Ort! Wie gut, daß ihre seligen Eltern das nicht erlebten! Tauber träufelte ihr als Trostmittel seine Weisheit ein. Milde lächelnd erzählte er, wie gut es die guten Menschen im Paradiese hätten und wie schlecht die bösen in der Hölle. In der Hölle hielt man Gericht über sie und mit welchem Gliede sie gesündigt hatten, an dem strafte man sie: dem Verleumder riß man die Zunge aus, den Dieb knüpfte man an den Fingern auf, die Dirne aber henkte man an den Brüsten oder an noch etwas Ärgerem.

Riwka seufzte, was für ein unvollkommener Trost! Vor dem jenseitigen Leben war erst das diesseitige zu bestehen, und so gewiß und sicher dieses war mit seinem Elend, so wenig verläßlich stand es um jenes. Dünner noch, verfallener, ebenfalls in Umhüllungen vergraben, zog sie fröstelnd die Mäntel und Tücher fest. Sie wurde zum Wahrzeichen, wie Gott von den Frommen die Frömmsten verkommen ließ, und wie dennoch der Fromme nicht an Seiner Weisheit zweifelt. Welcher Kummer sie auch befiel, welche Leiden an ihr zehrten, mit Abzug weniger schwacher Stunden saß sie gläubig und zuversichtlich da, wirkte und schonte sich nicht und setzte keineswegs Frajim für die Hälfte des Tages an ihre Stelle. Wie hätte sie auch in diesem Hause ihr Hab und Gut selbst nur vorübergehend einem alten Mann und einem Knaben überlassen können, die beide zusammen besser Schafe weideten und fromme Gespräche führten, als Schätze hüteten vor Dirnen und vor Verbrechern!

»Sie wissen doch«, sagte Tauber, »stirbt der Vater oder die Mutter, dürfen die Kinder sieben Tage nicht auf die Gasse. Fällt aber der Neumond in die Woche, dürfen sie. Sie dürfen hinaustreten, zum Mond aufsehen und den Segen über ihn sprechen. Es ist eben dafür gesorgt, wem zuviel aufgeladen wird, der darf abwerfen, und ich werde Ihnen etwas sagen, uns allen ist zuviel aufgeladen.« 98

Riwka murmelte: »Ehre bin ich nicht wert, Schande laß ich mir nicht antun.«

»Was regen Sie sich auf? Was wollen Sie? Doch ich hab Zeit, ich werd für Sie nachdenken. Stellt man eine Kerze her, hab ich mir sagen lassen, eine Kerze, die nicht verlischt im Wasser, so kann man reich werden. Lassen Sie uns nachdenken, vielleicht finden wir's oder was anderes!«

»Tauber, ich glaub nicht. Erfinden muß man mit den Fingern können, nicht mit . . . nicht mit dem –«

»Nicht mit dem Mund, wollen Sie sagen. Vielleicht haben Sie recht . . . Nun, wie Gott will.«

Riwka hätte Frajim gar nicht zur Betreuung für ihren Stand bekommen können. Er ging vier Vormittage der Woche neben dem ehrwürdigen Bettler Abraham Fischmann in die Stadt und war daneben Gehilfe bei Israel Wahrhaftig. Wahrhaftig machte wenig Geschäfte, von einem dunklen war etwas bis zu Frau Warszawski gedrungen – aber sie hatte sich das Versprechen geben lassen, ihr Schützling werde damit nichts zu schaffen haben. Frajim hatte auch keine Wahl, sollte er verhungern? Es blieben viele Menschen in unsauberen Betrieben rein. Veränderte Frajim sich aber, so war es gut; täglich neigte er mehr zu Frömmelei und zu Verstiegenheiten – mochte Seraphim noch so klug sein, noch so schwungvoll, noch so hinreißend, als ausschließlichen Erzieher für Frajim wünschte ihn Frau Warszawski nicht. Leider hatte sie Seraphim auf Bitten Frau Spaniers in ihre Wohnung aufgenommen, wo er mit Frajim und dem Vetter in einer Kammer schlief. Frajim geriet immer mehr unter seine Führung; aber er sollte nicht unbrauchbar gemacht, der Abstand zu dem Vetter sollte nicht unüberwindbar werden.

Dem Vetter selber ging es gut. Jechiel Asch ließ ihm vieles zukommen und Noah war bereits verwöhnt. Wenigstens fand das Tante Feiga Turkeltaub: »Hat man so was schon gesehen? Der Junge eßt doch nischt die Graupensuppe!« 99

»Wahrscheinlich hat er Graupensuppe nicht mehr nötig«, meinte gelassen Frau Warszawski, »er wird schon wissen, wo er bleibt.«

Er verhandelte mit einem zweiten Stoffhändler, Heimann Heilpern. Die Verhandlungen stockten, als Noah angeblich ein Probegeschäft nicht richtig abrechnete. Herr Heilpern schrie: »Solch ein Lump! Mir das! Schöne Jüngelchen beziehen wir von dort.« Aber Noah wurde grob, er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und brach die Verhandlungen einfach ab.

»Was will er?« fragte Tante Feiga Turkeltaub, die von den Erörterungen hörte.

»Was will er nicht?« gab Frau Warszawski zurück.

»Er will zu hoch, sag ich dir, wer in die Höh speit, dem fallt der Speichel ins Gesicht.«

»Er speit doch gar nicht«, sagte Frau Warszawski.

»Man kann sagen, was man will«, erboste sich die Tante, »sie laßt nischt kommen auf die Jungens.«

Aus Vorsicht hatte Wahrhaftig gleich in zwei Höfen Kellerräume, einen in, einen außerhalb der Gasse; der Keller in der Gasse war bekannt, der andere nicht; auch Frajim wußte nichts von ihm. In der Gasse lag die ehrlich erworbene Ware, von Versteigerungen, aus Notverkäufen. Sie war instand zu halten, die Kellerfenster waren zu öffnen, die Regale zu säubern, der Boden zu fegen. Wahrhaftig hatte das immer gewissenhaft getan, jetzt war er dazu nicht fähig.

Frajim ganz von dem trüben Teil der Unternehmungen fernzuhalten, war nicht möglich. Wahrhaftig wollte die Beute aus dem Diebstahl von Motz den beiden Bestohlenen wieder zustellen. Selbst seine Frau sah nunmehr ein: unmöglich schwiegen die Freunde nach dem Tode des Diebes, der reine Zufall, daß eine Durchsuchung noch nicht stattgefunden hatte. Fort mit dieser Ware, die ihm die Seele austrocknete, ihm Zuchthaus eintragen würde, seine Frau aufs Krankenbett warf, seine Kinder zu Ausgestoßenen machte – es war ein schmerzlich zu 100 vermissender Teil seines bescheidenen Vermögens, aber er gab ihn hin. Hatten erst die Bestohlenen ihre Ware wieder, dann wurde es still; wo kein Kläger, war kein Ankläger; von ihren viel zuvielen Sachen ließ die Polizei die wenigen, hinter denen keiner her war, auf sich beruhen und langsam einschlafen.

Aber so entschlossen er tat, so wenig war er es. Er wollte erst noch Rat holen bei dem Klügsten. Er lauerte Blaustein vor dem Sauermannschen Keller auf und lud ihn in eine Winkelwirtschaft.

»Mich wollen Sie sprechen?« erstaunte Blaustein.

Stufen führten zu der Wirtschaft hinauf, einem kleinen Raum mit nur drei Tischen. Betrinken konnte man sich hier nicht, alle Neigen zusammen ergaben noch keine Flasche Schnaps, und noch weniger konnte man sich an Nikotin vergiften. Lediglich einige abgespielte und – sinnlose Verschwendung – zwei neue Platten mit jiddischen Melodien lockten Gäste an, mehr jedenfalls als der Wirt, Herr Salomon. Der hatte eingefallene Wangen und trug ein Käppchen auf dem Kopf, eine Stahlbrille auf der Nase, ein schwarzes Spitzbärtchen vor dem Kinn – all dies machte das Gesicht nur noch bläßlicher und länger; Gäste hatte er nicht viele, und die besten, die Geldverleiher, knauserten. Die Händler mit alten Kleidern aber, deren es fünfmal soviel gab, und die täglich zusammenkamen, zogen andere Schenken, andere Wirte vor. Vergeblich suchte er sie in seine Wirtschaft zu bringen, indem er seine Frau veranlaßte, sich hinter ihre Frauen zu stecken. Sie kamen zwar, tranken Schnäpse, zogen sich die Geschäftsgeheimnisse aus der Nase, genau wie die Geldverleiher, aber es blieb bei diesem einen Mal. »Die guten Menschen«, sagte Salomons Frau, »versprechen wenig und halten viel, die schlechten versprechen bald viel, bald wenig, aber sie halten nicht das wenige.« Ihren Mann besänftigten solche Sprüche nicht; sehr jung noch, wurde er aufsässig, und Seraphim schürte die Empörung. »Das jüdische Gesetz«, sagte er, »ist auf ländliche 101 Verhältnisse zugeschnitten. Der Landmann muß für den Armen eine Ecke seines Feldes stehenlassen, der Winzer eine Ecke seines Weinbergs, den Armen gehört die Nachlese von beidem.« Aber für den armen Schankwirt einer Stadtgasse geschah nicht viel. Gewiß gehörte auch in der Stadt der Zehnte den Armen, doch wer prüfte, ob wirklich der zehnte Teil der Einnahmen gegeben wurde? Die Ecke auf dem Felde und im Weinberg sah man – aber sah man die Geschäftsbücher? Gab es überhaupt welche? Seraphim übertrieb – wie alle Aufrührer.

Wahrhaftig und Blaustein griffen in ihrem Gespräch zurück auf ihr erstes Beisammensein in dem Sauermannschen Keller. Ein gewisser Geppert hatte damals viel von der Beisetzung eines Diebes gesprochen, Motz. Ein Spitzel, sagte Blaustein von Geppert, im Keller ein Herz und eine Seele mit den Gästen, standen ihm in Wirklichkeit nahe nur die paar, die ihn an ihrer Beute beteiligten. Doch mit noch soviel Geschick, eines Tages – aber er sprach nicht aus, was eines Tages geschehen würde.

Während er den eigenen Mund verschloß, bemühte er sich um so gründlicher, den tief im tintenschwarzen Bart verschwundenen Mund Wahrhaftigs zum Reden zu bringen. Wahrhaftig hatte sicher etwas zu verbergen, aber wer aus dem Keller nicht? Jeder stahl oder kaufte gestohlene Ware an. Er selbst tat eines von beidem, Wahrhaftig vermutlich doch auch?

Wahrhaftig schwieg.

Einen Rat wollte er wenigstens gegeben haben, vollendete Blaustein. Wieviele Kinder hatte Wahrhaftig? Zwanzig? Was auch geschah, sich nie mit solchen Sachen mehr als unbedingt nötig abgeben! Reich wurde niemand bei dem Geschäft, das bildete man sich nur ein. Übrigens: Er selbst war nicht mehr Jude, bei ihm zu Haus in Wien wurde viel getauft, aber gerade ein Jude mußte vorsichtig und auf seiner Hut sein, mehr, als jeder andere . . .

Die Offenheit der Rede zwang Israel Wahrhaftig kein 102 gleich offenes Bekenntnis ab, nicht einmal eine Andeutung, wofür der Rat erwünscht sei. Übrigens war er schon erteilt – denn wer Vorsicht so empfahl, würde sicher auch die Rückgabe der Ware angeraten haben. So schwiegen sie, Blaustein sprach einzig den Getränken zu, und ehe Wahrhaftig zahlte, wurde das Schweigen nur einmal unterbrochen, als sich Wahrhaftig nach dem Freunde von Olga Nachtigall erkundigte – dieser sollte die Ware für ihn abfahren.

»Scharpf?« Blaustein wurde lebhaft, »ein anständiger Junge, ein bißchen roh, aber gutartig, wenn der nicht einmal damit angefangen hätte, säße der bei einem Schuhmacher dreißig Jahre, brav und ohne zu mucksen, auf dem Schemel und besserte Schuhwerk aus. Aber nachdem er einmal das gefährliche Spielzeug in die Hand bekommen, blieb er schon dabei. Wäre ich Richter, und dieser Scharpf stände vor mir als Angeklagter, ich sagte: Scharpf, kommen Sie mal her, treten Sie einmal näher! und dann sähe ich ihn mir an; diese steile, nicht um einen Grad geschwungene Unterlippe . . . Donnerwetter, dächte ich, was liegt darin für eine zähe und zugleich hilflose Entschlossenheit! Und diese Einfalt von einer Stirn, diese unentwickelte Dummheit einer Nase! Und ich beugte mich zur Seite zu meinen Beisitzern und flüsterte: sehen Sie sich das doch mal an, diesen Mund, diese Nase, diese Stirn; und ich sorgte dafür, daß er leicht davonkommt. Anständig genug von so 'nem Jungen, daß er bloß einbricht und nicht auch Kinder umbringt oder Greisinnen kaltmacht. Übrigens hat er vor kurzem wo eingebrochen, haarklein wär es schiefgegangen.«

Wahrhaftig horchte auf, so bekam er aus Zufall Scharpf sogar in die Hand. Ließ er auch nur ein geschicktes Wort über das Gehörte einfließen, so wußte Scharpf: hier hieß es, das Maul halten.

Trotzdem gab Wahrhaftig ihm bei dem Transport aus Vorsicht einen Begleiter bei. Frajim erfuhr so von dem zweiten Keller, von der weiteren Ware. Wahrhaftig gab 103 ihn als Keller eines Geschäftsfreundes aus, der verreist sei und ihm die Verwaltung anvertraut hatte. »Daß du mir nichts dem Noah sagst!« Frajim lächelte nur – sprechen?

Während Scharpf und Frajim dreimal mit dem hochbeladenen Handwagen durch die Straßen zogen, blieben die Beamten der Schupo gelassen auf ihren Posten; nicht einer stürzte auf sie zu und nahm sie fest.

Auch der Spediteur stellte ruhig eine Quittung aus über die erhaltene Ware. Sie lautete zugunsten einer von Wahrhaftig erfundenen Firma Eisenstädt & Engel. Nun fehlte nur noch eins, um die Ware zu dem Bestohlenen zu schaffen: der Spediteur mußte die Anweisung erhalten: »Rollen Sie die Ware nach der Kurstraße, zu der Firma Lichtenfeld & Frank; gesondert empfangen Sie die Kosten, die Sie unseren Boten aufgaben.« Unterschrift natürlich: Eisenstädt & Engel.

Aber wer schrieb den Brief und füllte die Postanweisung aus? Wahrhaftig bestimmte: Tante Ida Perles. Sie schrieb, aber sie unterschrieb nicht. Durch das Glas, in dem von der abgesplitterten Stelle die Strahlen nach allen Seiten schossen, las sie den Brief noch einmal durch auf Fehler und sagte zu Israel Wahrhaftig: »Erst muß ich Rosa fragen!« Am Bett von Rosa erkundigte sie sich ernst: »Rosa, soll ich unterschreiben: Eisenstädt & Engel?«

Rosa meinte: »Wenn Israel dir sagt: unterschreibe – dann unterschreib!«

»Rosa«, sagte Tante Ida Perles, »du bist soviel Jahre gut zu mir gewesen, was hältst du mich hier im Haus, wo ich dir gar nichts leiste? Da soll ich nicht schreiben, wenn Israel mich heißt?« So unterschrieb sie. Sie ging auch selbst zum Postamt, ohne Reue, fast ohne die Vorstellung einer Unlauterkeit, einzig in dem Gedanken, ihren Verwandten einen Dienst zu tun. Übrigens betrafen der Transport und der Brief nur die gestohlene Seide. Die Seide war auffällig gemustert, bei dem einfarbenen Tuch war die Entdeckung schwerer. Seiner Frau, ängstlicher jetzt als er, log Wahrhaftig vor, er habe auch das Tuch 104 zurückgegeben. Er war der Hausvater, er mußte die Verantwortung auf sich nehmen.

Der Rückweg vom Postamt führte Ida Perles vorbei an Salomons Wirtschaft. Die Geldverleiher tagten, und eine Platte war aufgelegt. Der berühmte Kantor Chorodczinski von der Hauptsynagoge in Wilna sang, oder ein anderer Kantor, denn Chorodczinski war wohl schon viele Jahre tot. Ida Perles, trotz ihres schlechten Gehörs, blieb stehen. Der Anprall der Stimme war so stark, daß auf den Stühlen die Geldverleiher leicht nach hinten rückten. Ida Perles hörte die fromme Melodie mit an und dann den Anfang einer weltlichen. Die weltliche war ihr bekannt, so summte sie, als sie weiterging:

»Und wird der Mensch erst dreißig Jahr alt,
Dann kommen die Vermittler und schreien Gewalt,
Es ist doch schon Zeit, unter die Chuppe zu geihn!
Oi, wie schwer ist es doch,
Oi, wie schwer ist es doch . . .«

Ida Perles dachte im Gehen: hätte sie einen Mann bekommen, so wäre ihr dieser Gang erspart geblieben, denn wahrscheinlich war es kein guter. Schon ihre selige Mutter hatte ihr freilich gesagt, wenn sie manchmal weinte, weil sie häßlich war: umgekehrt, das hübsche Mädchen sollte weinen, denn das hübsche Mädchen hatte es nur gut, solang es jung war, jedes Jahr wurde ihm mieser, das Lärvchen blieb nicht frisch, der Körper, der ging auf, es wollte noch gefallen, aber die Leute machten sich lustig über es, im Kopf hatte es nichts als Stroh, denn in seiner Jugend hatte es gedacht, was hab ich nötig zu lernen, ich bin doch hübsch! Aber wenn es nicht hübsch war, das Mädchen, dann ging es ihm besser mit jedem Jahr, es blieb schlank, war nicht verbraucht, Geburten hinterließen ihm keine Krankheiten, es hatte nachgedacht, man hörte auf es, oft bekam es durch die bitteren 105 Jugendjahre ein feines und vornehmes Gesicht . . . Nun, ihr ging es auch im Alter noch nicht besser, aber seit acht Millionen Männer gefallen waren und acht Millionen mehr Mädchen keinen Mann bekamen, trug sich das alles leichter.

In der Gasse stand Seraphim und unterhielt sich mit Frajim. Seraphim schien gut aufgelegt. Er erzählte von Krakau, seiner Heimat. »Es gab bei uns einen Mann, Manasse Ewigkeit. Der stahl einen silbernen Leuchter, bekam es aber dann mit der Angst und brachte den Leuchter zurück. Am Abend stand Ewigkeit im Bethaus und schüttelte sich beim Beten, ganz verzweifelt. Was ist, fragten die Leute, bittet er Gott um Vergebung, daß er gestohlen, oder seine Familie, daß er den Leuchter zurückgetragen hat?« Frajim fand keine Beziehung zwischen der fortgeschafften Ware und der vorgetragenen Fabel. Wahrscheinlich lag sie Seraphim ebenfalls fern. 106

 


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