Martin Beradt
Die Straße der kleinen Ewigkeit
Martin Beradt

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Fischmann ist allein, Frajim kümmert sich um ihn

Im zweiten Stockwerk von Joels Gasthof wohnen in einer Kammer vier Männer, drei alte, ein junger. Mit einem Alten treibt im Augenblick der Junge Scherze. Es ist noch nicht lange her, daß Julchen Hurwitz ihm vor Zorn ein Kleidungsstück an den Kopf geworfen und Tauber von ihm mit einem Gleichnis gesagt hat, er gehöre der schlechten Sorte Juden an. Die Scherze, die er sich mit dem alten Mann erlaubt, sind älter als der alte Mann und sie sind ehrwürdig fast wie er.

»Fischmann«, fragt er, »hat der Joel Ihnen auch Ihre zwei Mark Miete abgenommen?«

»Natürlich, wie sollt er nicht? Er kann die Kammer doch nicht verschenken!«

»Aber mit mir erlaubt er sich doch das Stück! faßt mich vorhin auf dem Flur ab. Wo ist mein Geld? fragt er doch, du bist mir drei Wochen Miete schuldig. Ich sag, ich hab nix. Du hast nix, wollen sehen, ob du nix hast, und was meinen Sie? knöpft er mir doch die Jacke auf und faßt mir so in die Westentasche, so zieht er mir die Mark heraus, wie ich es hier Ihnen vormache«, und Himmelweit stochert aus Fischmanns Westentasche ein Fünfzigpfennigstück hervor. Dazu sprudelt seine Rede so atemlos, daß das letzte Wort schon in Berlin ist, als das erste seine Heimat, die Stadt Munkasz noch nicht verlassen hat: »Fischmann, lassen Sie's mir, Sie sollen sehen, morgen haben Sie es wieder!«

»Und wenn ich nein sage«, versetzt Fischmann düster, »bekomme ich es da zurück? Und wenn ich hinterher laufe, kann ich mit siebzig ein Jüngelchen von zwanzig einholen?« 70

»Sie können bestimmt. Sie können, versuchen Sie!«

»Und wenn ich Frajim hinterherhetze«, fährt Fischmann fort mit einem Blick auf den zarten jungen Menschen in der Ecke, »kann Frajim überhaupt laufen? Es sieht nicht so aus.«

Himmelweit, schon von draußen, den Kopf zurücksteckend, ruft: »Wissen Sie was, Fischmann? Sie sind besser als zehn reiche Juden zusammen.«

Aber nun wird Fischmann wirklich böse: »Die Pest soll dich holen!« In der Tat, diese fünfzig Pfennig sind alles, was er gestern als Bettler eingenommen hat, ohne sie kann er verhungern.

Seit Jahren verfolgt ihn diese Angst und sie ist nicht eingebildet. Dreißig Jahre hat er in Kowno das biblische Gebot der Wohltätigkeit an sich erfüllen lassen. Ehrbares Auftreten hatte ihm anhängliche Kunden verschafft. In drei Jahrzehnten aber sterben viele Menschen, andere verziehen, noch mehr verarmen. In Kowno wurden andere Bettler groß, Nichtstuer, Müßiggänger, die ihre Worte mit Mut mehr als mit Anmut setzten und nichts für sich geltend machen konnten, kein Rheuma, keine schwachen Nerven, keinen Bruch – alles Leiden, die Fischmann mit mehr oder weniger Recht als seine Leiden ausgab. In Kowno stolperte bald ein Bettler über den anderen, der jüngste unterschied sich nicht von einem Landstreicher. Dann hatte sich die Welt verdüstert: Krieg! Fischmann war mit einem Male nicht mehr Russe, nur noch Litauer. Neuer Krieg zwischen Polen und Rußland; Polen siegte. Wann kam der nächste Krieg zwischen Litauen und Polen? Die Polen haßten die Litauer, die Litauer die Polen und selbst die polnischen Juden verachteten die litauischen. Armes Kowno, hatte Fischmann gedacht, hatte die Sachen genommen und die Heimat verlassen – woanders mußte es besser sein. Das war erst sieben Jahre her, ihm kamen sie vor wie zwölf, und doch hatte er die Familie nicht nachkommen lassen können, seine Frau starb darüber und er selbst glaubte hier in jedem Monat zu verhungern. Seine 71 Töchter waren in sein Heimatdorf zurückgekehrt, nach Rosienny, zwei Meilen von Kielmy, im Kownoer Gouvernement. Beide waren hitzig und über dreißig weit hinaus; auch die Frauen wurden heimgesucht von den Gefühlen, Gott allein wußte, wozu er sie uns gab. Mädchen, hieß es, denen man keine Hochzeit ausrüstet, machen sie sich selbst. Sie waren Schneiderinnen, armselige natürlich, aber fanden sie ihr Brot, er schwor es bei dem Andenken seiner zu Gott eingegangenen Eltern, er wollte nicht das Jahr zu Ende leben, wenn sie nicht ihre Tugend hüteten, sie hüteten wie den kostbarsten Schatz, wie jene beiden von ihm zurückgelassenen schweren Leuchter und wie das Riechbüchschen mit dem Türchen in das Innere und der Wetterfahne auf der Spitze. Es waren ererbte Herrlichkeiten, schwer von Silber, und dienten, die Leuchter der Andacht am Freitag abend, das Büchschen mit den Spezereien, dem Wohlgeruch am Sabbatausgang; ein Familienmitglied reichte es dem anderen, die Nase sollte daran die guten Dinge wittern, die die neue Woche brachte.

Fischmann seufzte, laut und umständlich, und schüttelte alsdann den Kopf. Dieses Ungemach der Zeit! »Mein Gott, mein Gott, was soll man sagen?« Schließlich beschied er sich: »Man sagt lieber gar nichts«, und er bemerkte wieder Frajim, der auf ihn wartete.

Frajim kam jetzt oft in diese Kammer. Riwka Hurwitz saß, wenigstens am Vormittag, wieder auf ihrem Stühlchen, immer noch mit Schmerzen in der Stirnhöhle, aber hart gegen sich – sie war nicht Julchen, die sich schonte; nur am Nachmittag vertrat Frajim sie, und Tauber, auf Julchens Stuhl, saß daneben. An den Vormittagen begleitete Frajim den alten Bettler. Frau Warszawski wünschte, daß Fischmann die Gänge nicht mehr allein machte, er hatte vor Monaten einen Schlaganfall erlitten. Nur an vier Vormittagen gingen sie, Sonnabend und Sonntag fielen aus, aber auch am Montag gab niemand einen Pfennig, erst wollte man selbst in der neuen Woche etwas verdient haben. 72

Frajim bürstete Fischmann ab. Der schwarze Gehrock Fischmanns spiegelte schon stark. Zwanzig Jahre trug er ihn selbst, viele Jahre hatte ihn vorher ein anderer getragen. Er mußte sorgsam gebürstet werden: der nicht mehr entfernbare Bestand an alten Flecken erlaubte neue nicht. Frajim stopfte das rote, gewürfelte Taschentuch zurück, Frajim bürstete Fischmanns Hut, die breite, schwarze, weiche Krempe, den Kniff, Frajim holte Fischmanns Stock, Fischmann selbst fuhr sich mit den Fingern vom Gesicht zur Brust und verlieh dem Bart seine letzte Form. Dann zogen sie ab, zum Hause hinaus auf die Gasse, und nahmen die Richtung in das Stadtinnere, zu den Geschäften seiner Kunden; das waren wohlhabende und mildtätige Männer, in denen der jüdische Sinn noch nicht erstorben war. Nie kam Frajim mit hinein, immer blieb er draußen. Fischmann kannte blinde Bettler, die sich von kräftigen Männern begleiten ließen. Sie bekamen wenig, weil jeder dachte: was soll das, der Sehende nimmt doch dem Blinden die Hälfte weg! Nein, ein Blinder durfte sich nur von einem Kind begleiten lassen, und einer, der sah, von keinem. Fischmann kannte die Gesetze des Bettelns, er hätte sie auch vom Katheder aus darlegen können.

Sie gingen, sie fuhren nicht – wie hätten sie das Fahrgeld aufgebracht? Oft verdienten sie weniger, als dieses ausmachte. Aber dafür nahmen sie sich Zeit; besonders auf dem Heimweg setzten sie sich im Lustgarten auf eine Bank, oder am Monbijouplatz. Fischmann war zufrieden, er hatte nur drei Geschäftsleute besucht und zwei Mark eingenommen. Aufgekratzt erzählte er Frajim von seinem Vater, einem Schuhmacher, der oft gesagt hatte, einer weine im Wohlstand, einer in der Not; vor allem aber erzählte er von seiner Mutter, die sehr schön gewesen war und ihn den Geschwistern vorgezogen hatte. Sie mochte wohl ahnen, daß er zu den niedersten und letzten gehören würde, denn sie strich ihm einstmals ohne jeglichen Grund über das Haar und redete ihm zu: sei getrost, 73 mein Sohn, vor Gott sind alle gleich und im Paradies sitzt der Arme bei dem Reichen . . .

Aber am anderen Tage saßen sie auf der Bank und hatten nichts, viele Besuche und keinen Pfennig. Frajim war bekümmert für den alten Mann, aber Fischmanns Gram war noch größer. Die eine Hand auf dem beschädigten Herzen, die andere auf der Schulter des Begleiters, verriet er seinen Beschluß, den er allerdings vielleicht nicht durchführen würde: »Am besten, ich geb die Wanderschaft auf und zieh zurück nach Kowno, wenn ich auch heimkomme wie jener, von dem es heißt: ausgewandert alle Länder und heimgekommen ohne Hose, ohne Hemder.«

»Aber wie wird man sein zu Ihnen?« fragte Frajim ängstlich. Wie würde man zu ihm selbst sein, wenn er heimkäme nach Piaseczno, von Frau Warszawski aufgegeben, denn auch der Hoffnungsvollste ließ endlich einmal jede Hoffnung fahren.

Ja, wie würde man zu ihm sein, fragte sich Fischmann. Er wußte es selbst nicht und schwieg auf dem Heimweg.

Aber am nächsten Tag, der ebenso schlecht verlief, und der ihn deshalb tiefer hätte verfinstern dürfen, wurde Fischmann, auf der gleichen Bank, von einer großen Heiterkeit befallen, der gelegentlichen Heiterkeit von alten Leuten, die sich plötzlich außerhalb des hetzenden Gewimmels fühlen – wie fern alle diese viel zu wichtig genommenen Unwichtigkeiten!

»Weißt du was, Frajim«, fing er an, »in Kowno werden die Leute alt, an hundert Johr. Das Leben ist dort gesund, ich treff sie schon noch, es ist ja noch nicht lange her, daß ich fort bin. Freilich, werden meine Bekannten auch noch was haben bei die Zeiten? Wenn nicht, also dann werd ich mich entschließen und bei fremde Leute eintreten. Einen guten Tag, werd ich sagen, einen schönen, guten Tag, Herr Koplowitz!« und er malte Frajim einen dieser Besuche aus, wobei die Fältchen um die Augen zitterten vor Lachen. 74

»Was wird Herr Koplowitz zuerst sagen? Einen guten Tag wünsch ich zurück, wird er sagen, mit wem hab ich die Ehre? Die Ehre ist gut, werd ich sagen. Also meinetwegen das Vergnügen, wird Herr Koplowitz sagen, schon ein bißchen spitz. Vergnügen? sag ich, Ihr Wort in Gottes Ohr! Aber was kann es schon für ein Vergnügen sein, mich zu empfangen? Also kurz, wer sind Sie? platzt nun Herr Koplowitz heraus, gereizt und heftig, denn er ist doch Herr im Haus und trägt Flöhe in der Nase. Warum soll ich ihm nicht sagen, wer ich bin?« wendet sich Fischmann unmittelbar an Frajim, seine Stimme ist wieder die alte, nur für das Zwiegespräch mit diesem sagenhaften Herrn Koplowitz war sie geschraubt.

»Du mußt wissen, in Kowno sagt ein Bettler nicht alles gleich heraus, das heißt, sofern er sein Geschäft versteht. Ich werde also diesem Herrn Koplowitz erklären: was werden Sie schon davon haben, wenn ich Ihnen sage, wer ich bin? Aber Sie wollen es hören – gut! Muß ich Ihnen nicht zu Willen sein, wo ich von Ihnen einen Gefallen haben will, denn, Herr Koplowitz, ein kluger Mann wie Sie, werden Sie sich doch schon haben denken können, weshalb ich eingetreten bin, warum ich einen guten Tag gewünscht habe, eine gute Woche sollen Sie haben, ein gutes Jahr, all Ihre Lieben auch, in diesem und im nächsten Geschlecht. Wie es mir geht? Wer mir Gut's gönnt, der kann mir die Taschen umdrehn und find't nix, keinen Pfifferling. Ein Jammer, joi, joi! Es gibt viele jüdische Wörter, ausgezeichnete, was für eine Weisheit ist da drin! Wenn die anderen Völker sind nicht so klug, bloß, weil sie nicht so gute Wörter haben wie die Juden. Aber manch eines ist doch auch wieder nicht richtig, was soll heißen zum Beispiel, alle sieben Jahr ändert sich dem Menschen seine Natur? Bei mir hat sich nix geändert, ich bin geblieben, was ich war, dasselbe Stückchen Schlemihl, vierunddreißig Johr wende ich mich an die Mildtätigkeit meiner Mitmenschen. Aber wer kann wissen, vielleicht, im nächsten Johr, da sind fünfunddreißig, sieben im Gefünft, 75 vielleicht werd ich da ein reicher Mann, aber verlassen Sie sich nicht darauf, Herr Koplowitz! Übrigens ist nicht Ihre Frau eine geborene Rabinowitsch aus Tarnopol? Ich weiß immer noch nicht, wie Sie heißen, wird dieser Herr Koplowitz oder Karfunkelstein dazwischenfahren, denn wie heißen schon diese Leute? Und er wird wütend werden und mit den Augen beißen. Beim Leben meiner Töchter, werd ich ihm antworten, regen Sie sich nicht auf, Herr Karfunkelstein, um Gotteswillen, ist mein Name denn so wichtig? Ich hab mir das nicht eingebild't in mein Verstand. Aber der Name läßt sich hören, die Familie ist sich Schlechtes nicht bewußt, außer sie ist arm, aber, leider, Armut ist ja heintzutage ein Verbrechen. Also, um es kurz zu machen, ich heiße Abraham mit Vornamen, wie unser Erzvater, kennen Sie das schöne Gleichnis vom Slonimer Row über unseren Erzvater? Ein feines Wort, mein Vater hat es oft erzählt – aber ich halte Sie auf, Fischmann ist mein Name, nun wissen Sie es, aber was wissen Sie schon damit?«

Fischmann gefiel sich in solchen ersonnenen Gesprächen, Frajim aber erschütterten sie, und er erriet nicht: lehrte Fischmann sie ihn zum Dank für seine Dienste, sollte er früh lernen, äußersten Falles als Bettler aufzutreten, damit er sich in jeder Not ernähre, und fand Fischmann schon Anzeichen dafür, daß er in solche Not geriet? Oder machte Fischmann sozusagen ein Vermächtnis, indem er einem Lieblingsschüler die verloren gehenden Gesetze der guten alten Schule überlieferte? Oder noch anders: sprach er nur für sich, sprach er, um sich zu vergewissern, daß er noch die alte, für Kowno wichtige Schulung hatte? Manchmal lachte er auf am Schluß: »Narrischkeiten, nischt wahr? Aber die Leute in Kowno wollen es so.«

Weit häufiger aber ermüdeten ihn die Gänge und Gespräche, und er fing an, auf der Bank am hellen lichten Tage zu gähnen. Er gähnte kräftig, dreimal, zehnmal, bis die Eingeweide gereinigt waren, und die Augen munter 76 wurden. Befriedigt von der Kur sprach er: »Und dazu fahren die Leute nach Marienbad!«

Auf dem Weg schloß sich der eine oder andere an, aber es wich auch der und jener aus – überflüssige Besorgnis: Fischmann, viel zu vornehm, behelligte niemanden auf der Straße, er hielt die Hand nur in Kontoren auf.

In der Gasse gingen sie womöglich noch langsamer und stellten sich bereitwillig und gespannt dazu, wenn Leute dastanden und redeten. Vor einem Hause disputierten zwei:

»Hat es schon einmal ein so altes Volk gegeben wie die Juden?«

»Vielleicht.«

»Existiert es noch?«

»Nein.«

»Das einzige alte Volk, das was noch existiert, das sind die Juden?«

»Ja.«

»Und warum existiert es noch?«

Die Antwort gab der Sprecher selbst:

»Weil es hartgläubig ist gewesen. Und wer ist hartgläubig gewesen? Alle? Nein! Aber die Mehrheit! Was die Mehrheit tut, das muß man tun.«

»So? Es gibt aber doch ein Wort: wenn der Rebbe sagt so, dann muß man so tun. Also muß man tun, was einer sagt.«

»Das steht im Koheleth . . .«

»Nischt im Koheleth«, mischte sich ein dritter ein, »im Buch Ezechiel. Da sind zwei Sätze, der eine Satz . . .«

Sie gingen ein paar Häuser weiter. Eine Gruppe aufgeregter Menschen lauschte zwei jungen Leuten, die mit dem ganzen Körper sprachen, mit jedem Finger jeder Hand, und die einander dauernd unterbrachen, immer einer im Triumph über den niedergerungenen Gegner, und der Gegner wieder voll Verachtung für den kläglichen Versuch, seine Beweise zu entkräften. Fischmann, 77 dem gelassenen, sprachen sie zu lebhaft, dennoch hielt er an. Der Streit ging um die Niederschrift der fünf Bücher Mosis. Natürlich nicht darum, ob diese von Gott auf dem Berge Sinai unserem Lehrer Mose waren offenbart worden. Aber der eine sagte, die fünf Bücher habe unser Lehrer Mose nicht persönlich aufgezeichnet, sondern sie seinen Schülern überliefert, die Schüler hätten die Worte festgehalten und die Niederschriften in ein Archiv getan, wo sie später Esra, der Schreiber, auffand; aber seine Zusammenstellung war schlecht, denn wie konnte Mose von sich selber sagen: Und es sprach Mose . . .?

Gelächter des anderen: »Unser Lehrer Mose hat die ganzen fünf Bücher persönlich aufgeschrieben, Wort für Wort, so wie sie ihm auf dem Berge Sinai sind offenbart worden, auch die Bücher der Propheten, nicht aber das Buch Josua, nicht das Buch Samuel I und Samuel II, und seinen Namen hat man später eingesetzt.«

»Und die Widersprüche?« höhnt der andere.

»Man kann nischt schreiben ein ganzes Werk wie die fünf Bücher Mosis und es soll sein kein Widerspruch darin.«

»Und Mose hat geschrieben mit Widersprüchen? Schmutz reden Sie!«

»Das ist Kritik!«

»Schmutz ist es!«

»Reine Kritik!«

»Schmutzige Kritik!«

Ja, Fischmann seufzte, darüber hatten sie selbst zuhause gestritten, in Roszienny, in Kowno, und als er in jüngeren Jahren einen kurzen Sommer in Warschau zubrachte, in Warschau im Ogrod Saski, im Ogrod Krasinski, auf dem Nalewki, in der Dzielny . . .

Oben, in seiner Kammer, Frajim begleitet ihn, kommen ihm Erinnerungen an die Heimat. Ach, bloß zuhause sterben! Bind mich an alle vier, aber wirf mich unter die Meinigen! Hier in der Gasse gibt es Juden, aber in der Stadt, wie rasch sind sie verschwunden in der Masse! Wo 78 ist hier ein jüdisches Leben wie in Kowno? Er wird traurig und greift nach einer jiddischen Zeitung, die ein Landsmann und Nachbar gelegentlich bekommt. Er liest den Aufruf einer Schule an die Väter und Mütter: »Habt Ihr schon beschlossen, in welche Schul zu schicken eier Kind? Faschreibt eier Kind in die Jiddisch-Welt-Leben-Schul! Die jiddisch-weltliche Schul ist die einzige Schul in die Muttersprach von jiddischen Kind.« Ja, das ist etwas anderes, seufzt er und zieht sein Bruchband fester.

Da zeigt in dem Blatt Pinkus Bindermann seine Bandagen an. Früher hat er sie mit blasser Tinte angepriesen, in jiddischen Lettern, auf Papier, das er vor dem Laden anschlug; heute annonciert er. Abraham Fischmann hat schon vor zwanzig Jahren von dem Vater, Rachmiel Bindermann, die Bruchbänder bezogen. »Rettet eier Gesund«, liest er, »mit dem besten Bruchband der Zeit! Amerikanisches System ohne Federn, unfielbar und unbemerkbar im Tragen, halt dem schwersten Bruch zurik und verschwindet nachher im Ganzen. Sämtliche Reparaturen werden schnell und billig geprachten. Kümmt ieberzeigt eich!« Er seufzt und bemerkt Frajim, den er vergessen hat und wegschickt.

Am Abend, beim Gottesdienst im Schuppen überm Hof, fällt ihm seine Frau ein, das geschieht nicht oft. Er ist häufig streng zu ihr gewesen, aber wenn er ihr im Paradies begegnet, will er ihr sagen: es war nischt so gemeint. In der Zeitung stand etwas über ein Stück mit dem Schauspieler Baratow. Baratow hatten sie beide gesehen, das einzige Mal, das sie im Theater waren. Ein Mann fragte Baratow auf der Bühne: was ist mit dein Weib? Und Baratow gab zurück: ein Weib ist wie ein Kalb; bind man sie mit en Strickel, geht sie mit. Da hatte er sie angestoßen, und sie war böse geworden. Aber wenn er sie trifft, will er ihr sagen: vergib, und wie er sie kennt, wird sie einfach sprechen: ich gedenk nischt.

Am Abend, als er schon lange auf dem Bett sitzt, kommt einer der beiden anderen Alten, sein Landsmann. 79 Er deckt das Bett ab, tut die Habseligkeiten unter das Kopfkissen und zieht sich aus. Die Schaftstiefel gehen nicht herunter, das Abziehen wird mit jedem Tage saurer. Fischmann will helfen.

»Laßt! Ihr seid ein halber Toter so wie ich.«

Fischmann zieht trotzdem, doch umsonst.

»Laßt! Ihr seid rot im Gesicht und es geht nischt. Ich halt sie an und leg mich. Wenn Himmelweit kommt, soll er sie abziehen.«

Der dritte Alte kommt. Sein Verstand ist leicht verwirrt, er lebt in der Vorstellung, in der heiligen Stadt zu sein. Er schwatzt vor sich hin, spricht von den Parks, von dem Tempel Jerusalems, von der Straße zu den Terebinthen, und findet langsam erst zu Bett.

Ganz spät, gegen zehn, kommt Himmelweit; auch Fischmann hat sich niedergelegt, hebt aber jetzt den Finger, um wegen der fünfzig Pfennig zu mahnen. Dann zeigt er auf das Bein des Alten, das aus dem Bett ragt. Himmelweit zieht den Stiefel ab, das Bein geht zurück, aber das zweite kommt nicht hervor. »Behalt ihn an!« redet Himmelweit dem Schlafenden zu, legt sich selbst nieder und wälzt sich in seinem Bett.

»Nun, lieg schon ruhig, man kann nischt schlafen«, ruft schließlich Fischmann ungeduldig.

Himmelweit schuldet fünfzig Pfennig und erwidert deshalb nichts. Aber wie liegt man schon ruhig? Und er dreht sich leidend auf die Seite. 80

 


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