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III.
Der Tod des Kaisers

Ich nahm an den Arbeiten des Reichstages von Verona, welche am 15. Mai 983 begannen, nicht mehr teil. Alle weltlichen und geistlichen Fürsten waren erschienen. Auch der Erzkanzler Willigis. Er besuchte mich absichtlich erst einige Tage nach seiner Ankunft auf dem Kastell S. Pietro, über der Stadt, wo ich Wohnung genommen hatte. »Wir dürfen nur noch nach vorwärts denken, Majestät«, sagte er. »Man kann nicht vergessen und geschehenes Unglück auch kaum jemals wiedergutmachen.« – »Ich weiß es, Willigis. Sorgen Sie dafür, daß neues vermieden werde. Verhindern Sie vor allem, daß ein neuer Sarazenenkrieg geführt werde.« – »Er wird nicht geführt werden, selbst wenn er beschlossen sein sollte. Die Aufgaben, welche dem Reiche im Norden gegen die Dänen und im Nordosten gegen die Wenden erwachsen, werden keine Aufgebote gegen Süditalien zustande kommen lassen. Schon der Herzog Bernhard von Sachsen mußte seine Reise nach Verona auf halbem Wege unterbrechen, und der Erzbischof Adalgag von Hamburg konnte überhaupt nicht wagen, seinen Sprengel zu verlassen. Die Rückreise des Erzbischofs Gisiler ist schon beschlossen, da Magdeburg bedroht ist. Die Niederlage von Kap Kolonne hat erstaunlich weite Kreise gezogen.« – »Das war vorauszusehen. Wir müssen uns glücklich schätzen, wenn wir nicht noch andere Überraschungen erleben.« – »Denken Eure Majestät an Byzanz?« – »Ja, Willigis. Die deutsche Niederlage hat den Basileus Basileios II. gerettet. Niketas schrieb mir, sein Prestige sei in solchem Maße gewachsen, daß sogar die Stellung des Parakimuménos als gefährdet gelte. Sie können sich denken, in welche Wut Basileios durch die Ablehnung seines letzten Vorschlages nach Matera, Ende Januar 982, versetzt wurde. Er wird nun die süditalischen Fürstentümer und Rom bearbeiten! Vergessen Sie nicht, daß er noch den Mörder Bonifazius VII. in Byzanz mit dem Kirchenschatz der Kurie zu seiner Verfügung hat. Er kann ihn einsetzen, wann es ihm beliebt.« – »So weit, Majestät, sind wir noch nicht. Aber es ist selbstverständlich, daß wir auch diese Möglichkeit in Rechnung stellen, zumal wir ja die Römer kennen. Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß Sie unbedingt auf mich zählen können. Aber auch auf jemanden, von dem Sie bestimmt nicht eine solche Schwenkung vermutet hätten: Der Kaiserin Adelheid sind die Augen aufgegangen.« – »So ... Ich selbst habe davon noch nichts gemerkt. Ich habe sie allerdings sehr lange nicht gesehen. Wir meiden uns gegenseitig: was die beste Art des Verkehrs zwischen uns beiden ist.« – »Ich darf aber wohl annehmen, daß Sie zum Besten des Reiches aus persönlicher Abneigung nicht eine politische Bundesgenossenschaft ausschlagen werden, welche gute Früchte zeitigen kann.« – »Ich denke immer nur an das Reich und meinen Sohn. Ich werde also die Schwenkung der Kaiserin nicht unterschätzen: aber von einer Bundesgenossenschaft mit dieser Frau – weder einer persönlichen noch einer politischen – kann keine Rede sein. Ich weiß zu genau, was ich von ihrer Staatsweisheit zu halten habe! Sie hat jetzt Brandgeruch in der Nase! Angst macht gefügig! Wenn morgen die Luft gereinigt ist, geht der alte Tanz wieder los! Ich setze lieber auf die Äbtissin Mathilde! Die ist aus anderem Stoff gemacht! Und auch auf Beatrix von Oberlothringen, die jeden Tag eintreffen muß ... Welchen Eindruck hatten Sie übrigens von Dietrich von Metz?« – »Er ist sehr klein geworden.« – »Sie wissen, daß er auch heute noch nicht vor mir erscheinen darf?« – »Warum sollten Sie sich durch den Anblick dieses politischen Handlangers böses Blut machen? Er hofft bei der Neubesetzung der erledigten Herzogtümer ein Geschäft zu machen. Er redet der Aussöhnung mit dem Zänker das Wort, da man sich ja auch mit Heinrich von Kärnten ausgesöhnt habe.« – »Der Mann hat politischen Verstand! Er weiß wohl nicht, was ausspielen heißt! Er scheint mir reif geworden für das Narrenhaus! Wieviel mag ihm der Zänker wohl geboten haben?« – »Bestimmt nicht zu wenig! Zumal er gerne verschenkt, was er nicht hat! Es genügt, an Lothringen zu denken, das er Lothar ›unter der Hand‹ angeboten haben soll.« Ich sah durch den Fensterbogen der Kemenate in den winddurchwehten Abendhimmel: »Wir haben allerlei gesehen, Willigis, nicht wahr?« – »Mehr als ein Auge fassen kann, Majestät! Man muß Gott jeden Tag dafür danken, daß er einen noch nicht übersichtig gemacht hat.« – »Das wäre allerdings die schlimmste Strafe, die er uns auferlegen könnte.« – »Eine Strafe, Majestät, die er vielen auferlegt!« Ich schaute wieder in die wehende Bläue, in der plötzlich ein Duft von Akazien war wie über den Südmauern von Doma Platanonos ... »Bleibt es bei den geplanten Ernennungen in Bayern und Schwaben?« fragte ich schließlich, Bilder der fernsten Jugend zurückdrängend, die in mir aufgestiegen waren. »Soviel mir bekannt ist, ja. Bayern kommt an den ehemaligen, mit dem Kaiser ausgesöhnten Herzog Heinrich von Kärnten, Elsaß und Schwaben werden dem Grafen Konrad vom Rheingau gegeben, dem Vetter Ihres Freundes Hugo von der Wetterau. Kärnten behält seinen heutigen Herzog Otto.« – »Und welche Entscheidungen sind nun über das Bistum Prag gefallen, das zu Ihrem Erzbistum gehört?« – »Ich habe heute morgen dem Kaiser nahegelegt, den Vorschlag des Herzogs Boleslaw gutzuheißen und dem Fürsten Woytech die Investitur zu geben.« – »Sie haben also Ihre Meinung über diesen Mann geändert?« – »Nein. Aber wir können dorthin im Augenblick keinen Deutschen tun. Diese Tschechen sind sehr eigensinnige Leute. Wir sind darauf angewiesen, daß sie sich jetzt ruhig verhalten. Auch dort geht das Gespenst von Kap Kolonne um – von Polen ganz zu schweigen. Woytech ist schon in Italien, und von Pavia unterwegs nach Verona.« – »Ich weiß es. Er schrieb es mir vor einigen Tagen. Aber er sagte noch nichts über die kaiserliche Bestätigung. Er schilderte mir die Sittenlosigkeit der böhmischen Jugend. Ist das wirklich so schlimm?« – »Nein. Eure Majestät wissen, daß erregbare Menschen, welche, wie Woytech, die Freuden des Lebens reichlich genossen haben, nach ihrer sogenannten ›Abkehr‹ von Beelzebub die Katharsis ihrer Seele sehr oft dadurch zu vertiefen suchen, daß sie zehnmal anschwärzen, was sie gestern fünfmal in Rosa gemalt haben. Wir gehen auf das Jahr Tausend zu, in welchem bekanntlich die Welt an ihren Sünden ersticken soll. Es scheint manchen Leuten gut, vorzusorgen.« – »Ich lasse das Argument gelten – aber nicht für Woytech. Dieser Mensch ist außergewöhnlich. Sie unterschätzen ihn! Einem ostfälischen Menschen wie Ihnen muß die slawische Seele fremd sein. Einer Byzantinerin ist sie liebenswert, selbst einer solchen, die, wie ich, aus dem Militäradel stammt. Ich freue mich unendlich, Woytech wiederzusehen. Er hat jene zwingende Strahlung, welche über alles Alltägliche hinaushebt. Und dieses Alltäglichen haben wir, weiß Gott, genug.« – Ich hatte kaum zu Ende gesprochen, als die Herzogin Beatrix von Oberlothringen gemeldet wurde. Willigis erhob sich. »Sie versprechen mir, jeden zweiten Tag heraufzukommen?« – »Was sollte ich lieber tun, Majestät?« –

Ich behielt die Herzogin Beatrix über das Abendessen. Sie brachte keine schlimmen Nachrichten aus Frankreich. Die deutsche Westgrenze war ruhig. So blieb in der Unterhaltung Raum für die Anekdote. Ich hörte über die mißglückte Ehe des fünfzehnjährigen Kronprinzen Ludwig mit der vierzigjährigen Herzoginwitwe von Aquitanien Einzelheiten, die mich seit vielen Monaten wieder das Lachen lehrten. Beatrix war als Wohltäterin der Seele zu mir gekommen ... Und sie verstand zu erzählen ... Sie sprach ein leichtes, natürliches Lateinisch, das sie manchmal mit französischen Wendungen durchsetzte. Die gute Adelaïde von Aquitanien-Gévaudan, erzählte sie, hatte sich über ihren verstorbenen Gatten nicht zu beklagen gehabt, ni de son ardeur, ni de son ampleur. Sie war nun sehr enttäuscht, als der hübsche und gutgewachsene, obwohl noch sehr knabenhafte Kronprinz Ludwig nach vierwöchentlicher Ehe immer noch keine Anstalten machte ..., sondern, wie ein Murmeltier zusammengerollt und ihr die Kehrseite seines Daseins zeigend, den gesunden Schlaf seiner Jugend schlief. Da ihr dieses Verhalten etwas rätselhaft erschien, entschloß sie sich eines Nachts, ihm sein blauseidenes Hemd ein wenig zu heben, um es sofort wieder, bleich vor Schrecken, zurückgleiten zu lassen ... Sie habe überhaupt nichts gesehen, erzählte sie später ihrem dritten Gatten, der wieder auf ihren ersten hinkam, »escargot disparu« – und diese Feststellung habe sie zu dem Entschluß gebracht, auch die Gemeinsamkeit des Schlafgemaches aufzugeben. Daraufhin habe der beleidigte Königsknabe gefordert, daß sich die beiden Ehegatten nur noch in der freien Luft begegneten – und diesen Entschluß damit begründet, daß er seine Gemahlin – im unmittelbarsten Sinne des Wortes – einfach »nicht riechen« könne, »ma belle estant irrespirable«: weshalb in ganz Aquitanien das abgewandelte lateinische Sprichwort in Schwung gekommen sei, »De odoribus non esse disputandum«. So sei denn die Ehe schließlich als »nicht vollzogen« vom Papste gelöst worden ... Beatrix, welche seit dem Jahre 978 Witwe war, hatte eine unverhohlene Freude daran gehabt, diese königliche Aventüre zu erzählen. Es wurde mir, als ich, lange nach ihrem Aufbruch, noch über sie nachdachte, klar, warum sie immer die Männer auf ihrer Seite hatte, wenn sie in irgendeiner Sache etwas für ihre Familie erreichen wollte. Sie war viel zu sehr Fürstin, als daß sie sich eine Anzüglichkeit nicht hätte erlauben können – und sie war durch das geistreiche Spiel mit Verfänglichkeiten davor geschützt, Verfängliches zu tun. Aber ich erkannte noch ein anderes in dieser Nacht, in der ich lange wach lag: Das Lachen unserer Sinne rührt nicht an die Seele, so sehr es auch entlastet, es ist kein Bezug zwischen dem Grundzustand unseres Lebens – und der Freude am flüchtigen Reiz. Vielleicht können nur die Traurigen wirklich lachen – und sie bleiben doch die Traurigen ...

Wie hatte sich in einem Jahr abermals das Gesicht meines Lebens gewandelt – und wie würde es nach dem Ablauf eines neuen Jahres sein?

Ich wollte keine Antwort. Ich sah lange in die Nacht hinaus. Diese Nacht war hell und weit und voll vom Duft verborgener Blumen. Ich wollte nichts. Nur diese Nacht und ihren leichten Wind auf meinen Füßen.

 

Es erregte Ärgernis bei Hof, daß sich Woytech nach seiner Ankunft in Verona zuerst bei mir meldete, anstatt bei dem Kaiser. Ich kam ihm zu Hilfe, indem ich ihn als Gast in Kastell S. Pietro behielt und dem Kaiser schrieb, es sei doch selbstverständlich, daß man zunächst dem Gastgeber seine Aufwartung mache, und doppelt, wenn Verona so überfüllt sei, daß ein sauberes Bett und eine sorgfältige Tafel unschätzbare Geschenke darstellten. Woytech selbst nahm die Verstimmung des Kaisers ganz von der leichten Seite: ja, er sagte ihm bei der Audienz mit der Unbefangenheit seiner Natur, daß die Kaiserin hundertmal wichtiger sei als das Bistum und der Bischof von Prag. Er sei von Boleslaw gezwungen worden, ein ihm widerwärtiges Amt anzunehmen – und er hätte sich über eine kaiserliche Ablehnung gefreut, wenn sie nicht seiner persönlichen Ehre und der seines Landesherrn Abtrag getan hätte. Willigis berichtete mir, daß der Kaiser vor einer solchen Sprache offnen Mundes geblieben sei. Er habe Woytech gefragt, ob er denn die Wahl des Herzogs Boleslaw nicht als eine Gnade empfinde – und die Antwort erhalten, die »Gnade« sei ein Vorrecht Gottes. Die Fürsten möchten etwas mehr Zurückhaltung üben und sich nicht als Vollstrecker Gottes gebärden, nachdem sie in neunzig Fällen von hundert die Diener des Teufels seien. Alle Dynastien seien auf die gleiche Weise hochgekommen und jegliche Macht werde – angesichts der Minderwertigkeit generis humani – auf die gleiche Weise ausgeübt. Die Herrscher seien zu bedauern, aber nicht zu bewundern. Und niemand mehr wie sie bedürfte des göttlichen Beistandes und des göttlichen Mitleides. Wenn der Kaiser ihm auf diese Erklärungen hin den Bischofsstab nicht mehr gewähren wolle, so werde er sich fügen. Es solle aber niemand glauben, daß ihn irgendeine Macht der Welt zur Verleugnung seiner Überzeugung bringen könne. Erst komme Gott, und dann komme der Mensch, gleichgültig, welchen Ranges er sei. Er, Woytech von Libice, sei in die Welt gesandt, Gott zu bekennen und Gott zu verkünden. Dieses und nichts anderes werde er tun: gegen den Kaiser, wenn es sein müsse, ja gegen den Papst, falls dieser sich als ein unwürdiger Stellvertreter Gottes erweise. Nicht durch äußere Macht, sondern einzig durch die Flamme des Geistes könne jene Weltverbundenheit entstehen, welche das Leben der Menschen lebenswert und erträglich mache. Die Welt mit ihrem heutigen Gesicht sei eine einzige Anklage: Die Großen balgten sich um ein paar Fetzen Land – und die Seele verkomme in den Kerkern der Not. Aber die Zeiten seien nicht mehr ferne, wo die Fürsten dem Statthalter Gottes, dem wahren, die Steigbügel halten würden ... Niemals werde er ein Fürstendiener sein. Er diene Gott! So also habe man ihm zu begegnen wie einem Fürsten, sofern man zugelassen und angehört werden wolle ... Er sei hochaufgerichtet vor dem Kaiser gestanden, und die Wirkung seiner Erscheinung sei so gewaltig gewesen, daß selbst der Kaiser kein Wort der Erwiderung gefunden habe. Erst als Woytech die Frage gestellt habe, ob er sich zurückziehen dürfe, sei ihm der Kaiser entgegengegangen, habe seine Hand ergriffen und gesagt, über diese Grundfragen des menschlichen Seins werde er mit ihm unter vier Augen zu einer anderen Stunde reden. Es komme ihm auf Männer mit eigner Überzeugung an, nicht aber auf Schranzen und Wiederkäuer. Woytech werde das Bistum Prag übernehmen und seine Aufgabe als echter Diener des Herrn erfüllen müssen. Es gebe viele Heilige im Lande, aber wenige vom wahren Geiste Christi erfüllte Bischöfe.

»Und was haben Sie gesagt, Willigis?« fragte ich, als der lange Bericht zu Ende war ... »Gar nichts, Majestät. Aber ich habe mir die Schwierigkeiten ausgerechnet, welche dieser junge Mann mir in Prag wohl machen wird, und gefunden, man hätte sich mit der Neubesetzung des Bistums nach dem Tode des alten Dethmar am 12. Februar dieses Jahres nicht so sehr eilen sollen. Woytech wird weder seinem Lande noch dem Imperium von Vorteil sein. Er fühlt es selbst und sträubt sich, als großer und geschlossener Charakter, gegen Halbheiten. Der Kaiser aber hat sich von Boleslaw um des lieben Friedens willen einlullen lassen. Ich sehe schon, wohinaus Boleslaw will.« – »Es ist schade um Woytech«, sagte ich. »Dieser Mann sollte weder im Bischofsgewand noch in der Mönchskutte durch die Welt gehen. Er sollte der Fürst von Libice sein, der in seinem Schlosse ein weltliches Cluny schüfe. Der Geist – ›νοῦς‹ – ist nicht an die Benediktinerregel gebunden. Und Wirken in Gott ist nicht minder geheiligt als Kämpfen für Gott. Das aufgezwungene ›Amt‹ tötet. Denn es besteht aus Rücksichtnahmen. Wer wahrhaft wirken will, muß frei sein. Wäre Christus der Hohepriester der Juden gewesen, hätte er der Welt niemals das ›Heil‹ gebracht.«

Mit Woytech war das Leben auf Kastell S. Pietro eingezogen, der Zauber im Beseelten. Wie anders sah ich nun diesen Mann, als ich ihn noch vor vier Jahren gesehen hatte. Er hatte sich in keiner Seite seines Wesens verändert, aber sein Wesen war Gesang geworden, der durch das Haus tönte. Ob man wollte oder nicht: man mußte in diesen Gesang horchen, so lautlos und unaufdringlich er auch war. Jedes Wort, das aus diesem Munde ging, wurde aus einer inneren Notwendigkeit geboren: Es war durchsichtig wie das Wasser eines Bergquells. Da war nichts von verkrampftem Asketentum: aber eine Bescheidenheit in den äußeren Lebensbedürfnissen, wie sie nur ein Mensch haben konnte, der auch seinen Körper ganz auf Gott bezog, nachdem er an diesem Körper erfahren hatte, wie weit von Gott der Leib eine Seele entfernen kann. Dieser Körper, so vollendet er war, weckte keine Begierden in der Frau. Er übermittelte nicht die Liebe, noch weniger die Lust, wie der Körper des Philagathós, er strahlte das Göttliche aus, dem man sich beglückt und wunschlos beugt ...

Natürlich begann man am Hofe zu murmeln. Aber ich hätte keinen Verleumder mehr vor mich zitiert und ihm die Peitsche angedroht – so über allem Landläufigen stand, was mich an diesen Menschen fesselte. Er lebte mir als Mensch, wie er mir jahrelang als Bild gelebt hatte, und es wollte mir scheinen, daß dies ein Gewinn und eine Bestätigung sei. Ich fand ihn oft über das Bett meines Sohnes gebeugt, öfters noch im Spiele mit dem überwachen Knaben, in welchem sich Zartheit und Eigensinn zu einer seltsamen Mischung verbunden hatten. Er war kein freundliches Kind und lächelte weder den Menschen noch den Dingen entgegen. Er konnte eine Stunde lang allein auf einem Teppich sitzen, nachdenkend oder die verschlungenen Ornamente enträtselnd, in denen sich das menschliche Bedürfnis nach Belebung und Ordnung zugleich ausdrückte. Er hatte ein eigenartiges Spiel erfunden: Wo er ein gleiches Muster entdeckte, legte er den gleichen Murmelstein aus Glas hin. Die farbigen Kugeln ergaben ein neues Bild von Ornamenten, das er den Teppichhimmel nannte. Indem er nun die Farbe der Steine beständig auswechselte, entstanden immer neue Himmel. Als ich ihn nach dem Sinn dieses Spieles fragte, sagte er, er versuche, den schönsten Himmel herauszufinden. Wenn er ihn gefunden habe, wolle er sich ein anderes Spiel ausdenken. Es machte ihm kaum noch Freude, mit künstlichen Tieren zu spielen. Aber es war eines seiner größten Vergnügen, lebende Tiere zu beobachten. Er liebte Pferde und Schmetterlinge. Als ihm eines Tages ein Trauermantel auf den Ärmel flog und sitzenblieb, war er ganz benommen vor Glück. Am Abend betete er für den »Samtvogel«. Als aber dieser nach einer Woche nicht wiedergekommen war, wurde er von einer so krankhaften Traurigkeit erfaßt, daß wir große Mühe hatten, ihm zu erklären, Gott schicke seine Boten nur sehr selten auf die Erde. Er wolle die Menschen nicht verwöhnen, damit sie seine Geschenke zu würdigen lernten. Unsere Erklärung schien ihn zu beruhigen – aber am nächsten Abend weigerte er sich, sein Gebet zu sprechen: Gott solle zuerst den »Samtvogel« wieder schicken ... Woytech schlug das Zeichen des Kreuzes über dem trotzigen Gesichte, faltete die sich sträubenden Hände und betete, indem er sie in die seinen schloß: »Wenn ich die Freude von dir forderte, allgütiger Vater, so geschah dies gewiß nicht, weil ich ein anmaßendes und undankbares Kind bin. Sondern es geschah, weil ich die Schönheit, mit der du deine Erde ausgestattet hast, so unermeßlich liebe, daß ich ihrer niemals genügend teilhaftig sein kann, um deine Allmacht an ihr zu erkennen. Verzeihe mir meinen unrechten Trotz, und behalte mich in deiner unendlichen Liebe, deren ein König noch mehr bedarf als ein anderes deiner Geschöpfe. Schütze alle, die ich liebe, und wache über meinem Schlaf. Amen.«

Und siehe: Es kam während der letzten Worte ein Abendfalter in das Zimmer geflogen und ließ sich auf dem breiten Pergamentschirm der Nachtlampe nieder. Er war beinahe so groß wie eine Hand und hatte Flügel aus Silbergrau und Hellbraun und Hyazinthrot. Sein Leib zitterte ein wenig, seine Fühler standen still, und seine erstaunten Augen schauten nach dem Kissen, aus dem ihm das verzückte Antlitz des Kindes entgegenlächelte, bis es in Schlummer sank ...

»Möge er niemals die Antwort Gottes vergessen«, sagte Woytech, als wir in mein Wohnzimmer hinübergingen. »Und mögen Sie sein guter Geist bleiben«, erwiderte ich, »was immer geschehe.« – »Was immer geschehe? Warum sind Sie so bang und so mutlos?« – »Ich habe Grund, es zu sein. Glauben Sie es mir, auch wenn Sie es nicht ohne weiteres verstehen.« – »Was soll geschehen, Majestät? Gott kann uns nicht genommen werden, und Gott ist alles.« – »Ich weiß es. Aber ich kann und darf nicht da stehen, wo Sie schon angelangt sind. Mir ist eine irdische Aufgabe zugewiesen – von Gott – und ich kann nicht fahnenflüchtig werden, indem ich mich meinen Pflichten entziehe. Mein Weg zu Gott geht durch die irdische Pflicht. Und dieser Weg trägt den Namen: der Sohn.«

Wir waren in das Nachtblau der Fensternische getreten. Eine unendliche Erschöpfung hatte sich meiner bemächtigt, mündend in einem wehen Verlangen, mich an eines geliebten Menschen Schulter zu lehnen, eine Hand auf meinen Haaren zu fühlen, einen Mund auf meinen Lidern. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich mich an Woytech gleiten ließ, der zu meiner Rechten stand. Zwei Arme faßten mich, drehten mich an den Schultern einem stillen, durch das Halbdunkel leuchtenden Antlitz zu, ein geschlossener Mund legte sich auf meine Schläfe – und mein Leben, alles Glück und alles Leid, versank in der Hingabe meines Herzens an das größere Herz. »Dies ist der Frieden«, sagte eine Stimme in mir. »Nimm ihn. Auch ihn schenkte dir Gott. Er wird vielleicht nicht lange währen. Aber er reicht bis auf den Grund hinunter ... Trinke ... Er wird dir Kraft zu neuen Kämpfen geben.«

Wie kann ein Mann so zart und stark zugleich sein? fragte ich mich, als wir uns später auf der Fensterbank niederließen. Mein Kopf lag auf Woytechs Schulter, indessen ich zu ihm sprach: »Was immer mit Ihrem Bistum Prag geschehe, und wie immer Sie sich mit dem neuen, unerbetenen Amte zurechtfinden mögen: Vergessen Sie niemals, daß der Sinn Ihrer Reise nach Verona nicht die Frage Ihrer Investitur, sondern diese innere Begegnung mit mir war. Ich wäre nicht schwach geworden an meiner Einsamkeit, noch hätte ich über allen Leiden, welche mir die letzten zehn Monate gebracht haben, auch nur eine Minute lang den Weg verloren, den ich zu gehen habe. Daß aber durch Sie die Schwere von mir genommen wurde, welche sich meinem Wesen mitgeteilt hatte, daß ich am Herzschlag eines Menschen meiner Stufe wieder atmen kann in allem Dunkel, das über mir und vor mir liegt, gibt mir nicht nur die Kraft, auf meinem Platze auszuharren, sondern den Wunsch, durch eigne Leistung wieder in die Dinge einzugreifen. Dies wird nicht heute und nicht morgen sein, denn es gibt vorläufig nichts für mich zu tun. Die venezianischen Angelegenheiten machen mir kein Kopfzerbrechen. Hier weiß Adelheid besser Bescheid als ich. Daß ein neuer Sarazenenkrieg nicht geführt werden wird, ist sicher. Der Kaiser will zwar an den Grenzen der süditalischen Fürstentümer noch ›dies und das‹ in Ordnung bringen, wie er mir heute morgen gesagt hat, aber auch deswegen werde ich mir keine besonderen Gedanken mehr machen. Meine Sorgen gelten den Slawenkriegen, die sich im Norden vorbereiten – und der Krönung meines Sohnes in Aachen, nachdem die Fürsten ihn zum deutschen und italischen König gewählt haben. Wie soll ich mich von diesem Kinde trennen? Der Kaiser verlangt, daß der Kronprinz noch vor Beginn der großen Sommerhitze Italien verlasse. Aber er untersagt mir, das Kind zu begleiten. Er brauche meine Gegenwart wie nie. Mein Platz sei an seiner Seite ... Es gehe schon genug an übler Rede um, seit ich mir Dietrich von Metz zum Feinde gemacht habe. Alle Woche treffe ein Brief von Hugo von der Wetterau ein: Es genüge, daß ich jetzt nach Deutschland fahre, um die Gerüchte ins Unerträgliche wachsen zu lassen. Er sei heute ein vom Unglück geschlagener Mann, er habe keine Lust, auch noch ein lächerlicher Mann zu werden ... Sie sehen, Woytech, wie es um ihn bestellt ist. Den Tod Ottos von Schwaben hat er bis heute nicht überwunden und wird er nicht überwinden. Es ist ihm unmöglich, auch nur eine Stunde mit sich selbst allein zu sein. An seiner Mutter, der seit der Schlacht von Kap Kolonne offenbar die Augen aufgegangen sind, hat er im Augenblick keine rechte Stütze. Sie ist unsicher geworden und weiß nicht, an welchem Strange sie ziehen soll. Der Abt Majolus, den ich am liebsten vom Hofe verwiese, liegt ihm Tag um Tag mit den finstersten Prophezeiungen im Ohr. Wäre der unerschütterliche, kalt und klar denkende Willigis nicht hier, so wüßte ich überhaupt nicht mehr, wie ich ihn aufrechterhalten sollte. Er hat sich, wie viele Deutsche, welche das südliche Klima nicht vertragen, ein Darmleiden zugezogen. Glauben Sie, ich kann ihn dazu bringen, sich zu schonen und die Vorschriften der Ärzte zu befolgen? Er ißt und trinkt, was ihm Spaß macht – und lebt dahin von Anfall zu Anfall. Es sieht manchmal danach aus, als ob er das Leben müd geworden sei und den Tod herbeisehne. Mindestens zehnmal hat er mir in der letzten Woche bei seinen Besuchen gesagt, das menschliche Dasein sei ›vanitas vanitatum‹. Es ist natürlich der Einfluß des Majolus, der sich in solchen Redereien zeigt. Ich fragte ihn, ob er nicht an seinen Sohn und seine Gattin denke? Was denn aus uns werden solle, wenn er nicht endlich Zucht übe und sich Stunde um Stunde klarmache, daß er für uns beide nicht nur leben, sondern auch wirken müsse? Wissen Sie, was er mir geantwortet hat? Es sei ihm schon lange klar, daß ich sein Dasein nur noch unter dem Gesichtspunkt der – Nützlichkeit für mich betrachte. Für mich! Als ob es keinen Thronerben gäbe – und kein Reich! Begreifen Sie nun, was es für mich bedeutet, daß Sie mir in solchem Kummer geschickt worden sind? Seit dem Tode des Glaukós und der Heimreise Hugos spricht mein Herz zu den toten Wänden oder zu den Pergamentblättern, die ich mit meinen Worten für Hugo fülle ... Könnte ich wenigstens ausreiten: aber mein Körper hat noch immer die verfrühte Geburt der kleinen Mathilde nicht überwunden ... Erst vor einer Woche hat man mir wieder Eingriffe gemacht, deren Qual ich heute noch verspüre ... Und nun soll ich auch noch das Kind von mir geben – vor Ungewißheit um sein Schicksal vergehen, nachdem es der einzige Trost geworden war, den Gott mir noch gelassen hatte? Ich frage Sie, Woytech, wohin, wohin treibt dies alles? Was hat Gott mit mir vor?« – »Wir wissen nicht, was Gott mit uns vorhat. Ich will Ihnen gewiß nicht mit Bibelsprüchen aufwarten, aber ich will Ihnen sagen, daß von allen Ihren Befürchtungen nicht eine einzige eintreten muß. Der junge König, der, soweit ich unterrichtet bin, Anfang Juli die Reise über den Brenner antreten soll, ist bei seinen Begleitern Willigis und dem Erzbischof Johannes von Ravenna in guten Händen – und nach seiner Ankunft in Deutschland bei Mathilde von Quedlinburg in nicht schlechteren. Auf ein Wort von Ihnen wird sich Hugo von der Wetterau noch zur Verfügung halten. Sie werden dem Kinde außerdem noch die unvergleichliche Barbara mitgeben. Den Kaiser wird Willigis zur Besinnung bringen. Lassen Sie dies meine Sache sein. Willigis liebt und versteht mich nicht: eben deswegen wird mein Hinweis ihm doppelt zu denken geben. Die Expedition in die Fürstentümer wird dem Kaiser wohltun. Er scheint sich mit dem Markgrafen von Meißen anzufreunden. Darüber brauchte man zwar nicht gerade entzückt zu sein, aber rühren Sie lieber nicht an die Beziehung: Dieser Draufgänger ist im Augenblick genau der Mensch, den der Kaiser braucht. Die Kaiserin Adelheid plant ihre Rückkehr nach Pavia. Majolus verläßt mit ihr den Hof. Daß der Erzbischof Gisiler mit den Slawen fertig wird, kann nicht bezweifelt werden – und daß Sie selbst im Oktober die Rückreise nach Deutschland antreten, wohl auch nicht. Warum also wollen Sie sich jetzt in Sorgen zerquälen, welche doch nur die Vorstellungen eines überreizten Gehirnes sind?« Ich hatte die Augen geschlossen gehalten, während Woytech sprach. Seine Worte sanken in mich nieder, wie ein milder Aprilregen in die bedürftige Gartenerde sinkt. Ich wurde still, so still, als ob ich entschlummert wäre und fühlte, daß ich schliefe ... Noch immer lag mein Kopf auf seiner Schulter ... Ich hörte seine ruhigen Atemzüge ... Ich wartete ... Auf was wartete ich? Daß nun zwei starke, schlanke Hände mein Gesicht nähmen, daß eine Wange sich an die meine legte und ein langsamer Mund über meine feuchten Augen den Weg nach meinen Lippen fände – aber diese Hände, diese Wange, dieser Mund waren nicht Woytechs, sondern des Philagathós', dessen brennender Schatten über mich gekommen war ... Ich hob den Kopf von Woytechs Schulter ... Wir erhoben uns und traten auf den Altan hinaus. Im kaiserlichen Lager, tief unter uns an den Ufern der Etsch, brannten noch die Wachfeuer. Aus einer Steinhalle drängte der unordentliche Gesang der Soldaten in die silbrige Bläue. Die Konturen der Berge waren dunkelgrün in die Sternenlüfte geschnitten ... Über diese Grate, sagte ich mir, wird in zehn Tagen mein Sohn nach Deutschland gebracht werden ... Und ich wandte die Augen wieder gegen den Fluß, weil ich diese Gipfel nicht ertrug.

 

Der Kronprinz hatte kaum mit Willigis von Mainz und Johannes von Ravenna die Reise nach Deutschland angetreten, als mir der Kaiser nahelegte, ihn auf die süditalische Expedition zu begleiten. Aber Alkischuah, der syrische Arzt von der Salernitaner Schule, den ich meinem Leibarzt aus St. Gallen beigegeben hatte, verbot kurzerhand diese Reise. Er forderte einen längeren Aufenthalt in kühler, dünner Bergluft. Wozu hatte mir Glaukós das Gut über Chiavenna geschenkt? Es blieb dem Kaiser nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Es war ihm nicht sehr wohl bei dem Gedanken, mich in den Höhen am Fuße des Splügenpasses zu wissen: Er mißtraute mir. Er wollte nicht, daß ich politische Nachrichten aus Deutschland um Wochen früher erhielte als er selbst. Woytech verließ einen Tag vor mir Verona mit der böhmischen Abordnung, nachdem er am 29. Juni von Willigis in Mantua zum Bischof geweiht worden war und aus der Hand des Kaisers den Stab erhalten hatte. Ich selber reiste über Peschiera, Desenzano, Brescia und Bergamo nach Lecco. Dort nahm ich das Schiff bis Colico, um auf langsamen Ritten bis auf das Hofgut Trimadun zu gelangen, wo ich in den letzten Julitagen ankam und von einer schwäbischen Garde erwartet wurde. Ich hatte versprochen, am 15. September in Rom zurück zu sein, und ich war selbstverständlich entschlossen, dieses Versprechen einzuhalten, wenn ich auch die geheime Hoffnung hegte, daß eine Rückkehr nach Italien nicht mehr nötig sei und mich der Kaiser auf seiner Heimreise nach Deutschland unterwegs abholen könne. Ich hatte also vier Wochen der Ungebundenheit vor mir: ein unwahrscheinliches Geschenk für eine regierende Kaiserin. Vier volle Wochen in der starken Luft einer Hochebene von zwölfhundert Meter Höhe und im Angesichte der Firnen, die in enzianblaue Sommerhimmel griffen ... Nur Leo Akritas und die Gräfin Imiza waren bei mir. Aber es war mir nicht vergönnt, mich auszuruhen, wie ich es mir gewünscht hatte. Täglich fast brachten die Kuriere die schlimmsten Nachrichten aus Norddeutschland. Der Obotritenfürst Mistui hatte Hamburg zerstört. Die Liutizen und Heveller verwüsteten Havelberg und Brandenburg, erschlugen die Besatzungen und raubten sogar die Gräber aus. Magdeburg selbst war gefährdet. Selbstverständlich waren diese Angriffe noch eine Folge der verlorenen Schlacht von Kap Kolonne. Aber sie waren auch verschuldet worden durch das herausfordernde Benehmen des Grafen Dietrich von der Nordmark. Er war einer jener überheblichen und großspurigen Feudalherren, welche sich für unverwundbar hielten und aus Hochmut zu pflichtvergessenen Verrätern an der ihnen anvertrauten Aufgabe wurden. Wäre seine Nachlässigkeit nicht durch die Preisgabe der Erfolge bezahlt worden, welche Otto I. in unsäglich mühevoller und zäher Arbeit errungen hatte, so hätte man ihm selbst eine gründliche Züchtigung wünschen können. Aber es war ja das Reich, das für seinen Leichtsinn büßte – und es war das Reich, das ihm eines Tages die Rechnung vorlegen würde. Abermals erwies es sich nun, wie wenig gesichert die nordöstlichen Grenzen waren und welche Zersplitterung deutscher Abwehrkräfte der unsinnige Sarazenenkrieg mit sich gebracht hatte. Ich ließ scharfe Berichte an den Kaiser nach Benevent gehen, mahnte zur raschen Heimreise und forderte, daß man dem Wichtigen endlich den Vorrang vor dem Nebensächlichen gebe. Ich beschwor Willigis, im gleichen Sinne auf den Kaiser einzuwirken, und forderte von Gisiler von Magdeburg, daß er ganze Arbeit mache. Aber die Wochen verstrichen – und es erreichte mich keine Nachricht von einem entscheidenden Siege. Nur die gute Ankunft des Kronprinzen in Mainz wurde mir gemeldet. Es war mir eine Beruhigung, ihn in den Händen des Erzbischofs Willigis zu wissen. Er war dort, so wie die Dinge standen, in größerer Sicherheit als bei Mathilde in Quedlinburg. Auch Woytech meldete sein Eintreffen in Prag. Ich bat Hugo von der Wetterau, sich in Mainz des Kindes anzunehmen, und Anna Dalassena, welche dem Grafen Chèvremont schon den dritten Sohn geboren hatte, in Ingelheim zu wohnen, um in der Nähe des Kronprinzen zu sein. Barbara ließ mir mitteilen, daß der Knabe in vorzüglicher Gesundheit sei und in dem kühleren Klima doppelt soviel esse wie in Italien. Er sei den Kindern seines Alters mindestens um ein Jahr voraus. Sein größtes Vergnügen sei, mit seinem Stallmeister auszureiten – oder zu Schiff auf dem Rhein zu fahren. Seine Neugierde kenne keine Grenzen. Er lerne nun, wo ich nicht mehr Griechisch mit ihm spreche, das Deutsche mit erstaunlicher Leichtigkeit, aber der Erzbischof lasse ihm täglich durch einen Mönch aus St. Pantaleon Unterricht in der Sprache seiner Mutter geben, damit er sie nicht vergesse. Die Äbtissin Mathilde sei ärgerlich, daß man ihr das Kind nicht sende. Aber der Erzbischof habe entschieden, daß bis zur Krönung in Aachen Ingelheim die Residenz des jungen Königs bleiben solle. Es wäre vielleicht gut, wenn ich nach Quedlinburg berichte, daß dies auch mein Wille sei. Die Gräfin Athela von der Wetterau habe ein zahmes Reh geschickt, der Graf Hugo sei in Bayern, um den persönlichen Nachlaß des verstorbenen Herzogs Otto zu ordnen, wie es ihm im Testamente aufgetragen worden sei. Es sei kein Grund vorhanden, daß ich mir auch nur die kleinste Sorge mache. Im Gegenteil: Ich möge froh sein, daß der junge König nun die gute deutsche Luft atme. Wenn sie an die Glut von Rossano denke, an die Fliegenschwärme in den Zimmern und die ewige Angst vor dem Trinkwasser, komme sie heute noch in Erregung. Italien habe ihr gar nicht gefallen. Das Obst am Rhein habe eine ganz andere Kraft als das da unten, ganz zu schweigen vom Brot! Nur Roggenbrot bekomme der König zu essen, damit die Zähne und der Magen gesund blieben, und soviel Gemüse, als er nur vertilgen könne. Auch an gehacktem rohem Schinken werde nicht gespart. Mehlspeisen möge er nicht, und auch Milch nur, wenn sie mit Honig gesüßt sei. Aber den dunklen Met müßten die Reitknechte vor ihm verstecken, wenn sie unterwegs einmal in einer Gastwirtschaft rasteten. Im Handumdrehen habe er einen Holzkrug am Mund und trinke, als ob er Wasser schlucke.

Es schien mir, das Heimweh müsse mir das Herz zerdrücken, als ich diesen Brief las ... Warum hatte mich der Kaiser nicht mit nach Deutschland reisen lassen – warum hielt er mich hier in Italien fest – und was erwartete er noch von mir? Erwartete er wirklich noch etwas von mir?

Ich wies die Gedanken, die sich wieder meiner bemächtigen wollten, von mir. Ich ging in die kleine Holzkapelle hinüber und betete lange für den König, der mein Sohn war. Als ich wieder ins Freie trat, war die Sonne schon im Sinken. Die Gipfel standen nahe, in Abendröte getaucht, und aus der Tiefe duftete ein Wasser herauf. Die Glockenblumen waren fast violett geworden. Die Pferde weideten in den Hürden. Wenn sie die Köpfe hoben, schienen ihre Augen mit Rosen gefüllt. Imiza trat aus dem Haus und schaute in das sterbende Licht. Ich nahm ihren Arm. Wir gingen langsam bis zu einer Höhe, welche die jenseitigen Täler beherrschte. Wir sahen lange in das feuchte Weben der Tiefe ... Wenn jetzt Hugo den Saumpfad heraufgeritten käme, dachte ich ... Aber es kam niemand. Die Gipfel verloschen, einer nach dem anderen, und die Flanken der Pferde standen schwarz in der Milde der nahenden Nacht.

 

Als ich am 15. September nach Rom zurückkehrte, war der Kaiser noch nicht angekommen. Der Aufenthalt in den Bergen hatte mir meine Gesundheit wiedergegeben. Ich fand die Antworten auf viele Briefe, die ich von Verona aus geschrieben hatte. Der Papst Benedikt VII., mit dem der Hof gute Beziehungen unterhalten hatte, war schwer erkrankt. Ich erschrak bei dem Gedanken, daß er sterben und sein Tod eine Verzögerung der Heimreise nach sich ziehen könne ... Der Kaiser traf Ende September ein, befriedigt von den Ergebnissen seines Aufenthaltes in den Fürstentümern und in besserer Verfassung als vor zwei Monaten. Aber auch ihn bedrückte die Aussicht einer neuen Papstwahl. Er sprach lange mit mir über diese Möglichkeit. Wir waren uns darüber einig, daß nur der italische Erzkanzler, Bischof Petrus von Pavia, die Tiara tragen dürfe. Am 7. Oktober starb Benedikt. Wir wußten also, daß wir mindestens noch sechs Wochen in Italien bleiben müßten. Aber wir ertrugen dieses Unvermeidliche leichter, weil uns zur selben Zeit die Nachricht erreichte, daß Gisiler von Magdeburg in Gemeinschaft mit den sächsischen Grafen die Slawen an der Tanger vernichtet und den Rest ihrer Truppen in ihre Gaue zurückgejagt hatte. Der Sieg war so entscheidend, daß für die nächsten Jahre mit neuen Einfällen nicht mehr gerechnet zu werden brauchte. Wie allerdings die angerichteten Zerstörungen wieder ausgeglichen werden sollten: darüber konnten erst in Deutschland Entscheidungen getroffen werden.

Der Erzbischof von Pavia wurde Ende Oktober inthronisiert. Er legte sich den Namen Johann XIV. bei. Ich würde es gerne gesehen haben, daß Philagathós seinen Platz in Pavia eingenommen hätte. Aber ich stieß auf Adelheids unüberwindlichen Widerstand. Sie haßte Philagathós. Es war nicht angebracht, sie jetzt in dieser Frage vor den Kopf zu stoßen. Da sie die Reichsverweserin für Italien war, stand ihr, zum mindesten der Form nach, die Entscheidung zu. Aber sie zögerte sie hinaus, was den Kaiser abermals zwang, die Abreise aufzuschieben, welche für den 15. November angesetzt war. Ich wurde sehr ungeduldig. Ich wußte, daß bei der Neubesetzung des Paveser Bischofsstuhles Majolus wieder die Hände im Spiel haben würde, und es wäre mir lieber gewesen, nicht abermals einen Kandidaten Clunys bevorzugt zu sehen. Die Hoffnung, rechtzeitig zur Königskrönung in Aachen zurück zu sein, war dahin. Es war unmöglich, im Winter in einem Monat die Reise zu bewältigen, und erst recht nicht, wenn man den Weg durch Burgund und Lothringen nahm. Da erkrankte der Kaiser in den letzten Novembertagen wieder an seinem Darmleiden, das er niemals ausgeheilt hatte, wie sehr er auch von den Ärzten gewarnt worden war. Ich hatte schon Nachricht an Hugo von der Wetterau ergehen lassen, er möge sofort die Reise nach Pavia antreten und dort in der kaiserlichen Residenz weitere Nachricht erwarten. Denn es erschien mir unmöglich, noch einmal Monate und Monate ohne jenen Austausch zu leben, der mir so vieles Schwere erträglich machte ...

Die Krankheit des Kaisers brach während der Hoftafel am Abend des 29. November aus. Es waren viele italische Große und Bischöfe erschienen, denn der Sieg Gisilers über die Slawen hatte dem Gedanken eines neuen Sarazenenkrieges – und zwar der Eroberung Siziliens – wieder neues Leben verliehen. Wir waren gerade beim Obst angelangt, als der Kaiser, wie unter einem Erstickungsanfall, auf seinem Stuhle zusammensank und den Kopf auf die Tischkante sinken ließ. Als ihn sein Nachbar, der Bischof von Tortona, aufrichtete, verlangte er nach Wasser. Ich ließ seine und meine Ärzte rufen. Alkischuah untersuchte genau die Augen, tastete die Leber ab und erklärte, es handle sich um eine Kolik der Gallenblase, welche offenbar entzündet sei, verbunden mit Störungen des Dickdarmes. Von Lebensgefahr könne keine Rede sein, sofern der Kaiser sich seinen Verordnungen unterwerfe. Er müsse einige Wochen zu Bett liegen, Ruhe bewahren, von Lindenblütentee, entfetteter Milch und geriebenem Zwieback leben, heiße Umschläge machen lassen, nur die unerläßlichste Arbeit erledigen und keine Besuche empfangen. Die Eingeweide seien überreizt, kleine Mittelchen von Tag zu Tag hätten keinen Wert. Die Wasser von Montecatini seien in großen Mengen herbeizuschaffen ... Die Hofärzte zogen sich beleidigt zurück: Es handle sich um eine Fleischvergiftung, welche angesichts der schon seit langem bestehenden Darmschwäche gefährlich werden könne. Es müßten vor allem Abführmittel gegeben werden und um die schwächende Wirkung auszugleichen – starker Rotwein. Der Kaiser, dem der Gedanke einer vierwöchentlichen Bettruhe unerträglich erschien, schloß sich am folgenden Tage dieser Meinung an. Und es schien, daß er recht hatte. Denn die Schmerzen hörten auf, und das Fieber, welches sehr hoch gewesen war, verschwand. Als ich Alkischuah über seine Diagnose zur Rede stellte, sagte er nur: Irren sei menschlich. Es bleibe aber abzuwarten, wer sich geirrt habe ... In der gleichen Nacht stellten sich erneute, schwere Krämpfe ein. Der Kaiser schrie, krümmte sich am Rande des Bettes und rang nach Luft. Seine Gesichtsfarbe war gelb geworden. Es seien immer noch »schlechte Stoffe« im Körper, sagten die Hofärzte. Man müsse statt Laudanum Aloë geben. Alkischuah geriet außer sich. Aber der Kaiser bestand auf der Aloëkur. Sie habe ihm noch immer geholfen. Ich flehte ihn an, es doch wenigstens mit den Verordnungen Alkischuahs zu versuchen. Alkischuah habe mich geheilt und so viel andere Leute am Hofe, welche auf seine Kunst schwüren. Er möge doch bedenken, was auf dem Spiele stehe ... Es könnten gar keine »schlechten Stoffe« mehr in ihm sein, da er ja nur noch Wasser von sich gebe ... Er sah mich aus mißtrauischen Augen an: Ich selbst, als Byzantinerin, möge mich von diesem Syrer behandeln lassen. Er aber, der deutsche Kaiser, überlasse die Sorge um seinen kranken Körper den ihm seit langem vertrauten Ärzten. Ich fuhr zum Papst, beschwor ihn, dem Kaiser zuzureden, von Gewaltkuren abzulassen und Geduld zu üben. Otto tobte über meinen Schritt. Es sei lächerlich, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Er sei ein gesunder junger Mann und kein hysterisches Frauenzimmer. In einer Woche werde er auf den Beinen sein. Er wolle Rotwein und rohen Schinken haben. Er müsse wieder zu Kräften kommen ... Ich verzweifelte vor solcher Hartnäckigkeit, ich schrie zu der Theotokos, sie möge diesem mit Blindheit Geschlagenen das Gesicht wiedergeben. Die Aloëbehandlung wurde begonnen. Alkischuah ließ sich bei mir melden: Er müsse um seine Entlassung bitten. Er könne nicht mit ansehen, was man da gegen alle Gesetze medizinischer Vernunft unternehme, und er könne auch nicht an einem Hofe bleiben, wo ein böswilliges und ungebildetes Gesinde höherer und niederer Gattung beginne, ihn zu verdächtigen. Obwohl sein Freund, der Arzt Ratker aus St. Gallen, schon einigen Rittern vom Dienst böse Worte über ihr verantwortungsloses Geschwätz gesagt habe, gehe das Geflüster weiter. Das aber ertrage er nicht, und das habe er nicht nötig, sich gefallen zu lassen ... Nun war in mir das Maß des Ertragbaren erreicht, denn was da gegen Alkischuah gesagt wurde, das war ja gegen mich gemeint ... Ich nahm Alkischuahs Hände: »Sie werden selbstverständlich nun erst recht bleiben. Um meinetwillen. Und ich versichere Sie hiermit meines kaiserlichen Schutzes, komme was da wolle. Was diesen Schwätzern geschehen wird, werden Sie in wenig Stunden erleben. Sie wissen, daß an jedem Hofstaat, in welchem Lande immer, die Schafsköpfe und Schweinehunde zu Hause sind. Es gibt Mittel, ihnen beizukommen.«

Ich nahm eine Schelle. Der Kammeroffizier erschien: »Ich wünsche den Palastkommandanten in zwei Minuten!« – »Sie haben innerhalb einer Stunde auszukundschaften,« sagte ich ihm, als er erschienen war, »wer von den Palastoffizieren die ärztliche Tätigkeit des berühmtesten Lehrers der salernitanischen Schule, Alkischuah-ibn-Alkischuah, verdächtigt hat, und diese Herren vor mich zu führen. Ich dulde nicht um mich her eine Atmosphäre der Verdächtigung, wie sie hier herrscht. Für den Palast und alles, was unter dem Gesinde vorgeht, sind Sie verantwortlich. Sie haben Zeit genug, nach dem Rechten zu sehen. Seien Sie sicher, daß ich mit vielen Leuten kurzen Prozeß machen werde, wenn hier nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden diejenige Ordnung herrscht, welche ich wünsche. Gehn Sie!«

Am Abend ließ ich drei römische Offiziere bei Wasser und Brot in die aventinischen Verliese werfen und zwei griechische Köche aufhängen. Der römische Palastkommandant wurde durch den deutschen Grafen Adalbert von Salm ersetzt und auf vier Wochen in strengen Gewahrsam genommen, damit ihm Zeit bliebe, über einige Mißstände nachzudenken, die ich noch klarzustellen verlangte.

Dann ging ich in das Zimmer des Kaisers. Ich kam gerade dazu, wie die Krankenpfleger das Blutgerinnsel beseitigten, welches nach Einnahme der ersten Aloëdosis in das unterlegte Hirsepolster gesickert war. Der Kaiser lag totenbleich in den Kissen, aber er erklärte, er fühle sich erleichtert. Er sei bestimmt fieberfrei, nur quäle ihn ein unerträglicher Durst. Ich reichte ihm die Schale mit kaltem Kamillentee. Er sah mich aus großen, klaren, namenlos traurigen Augen an. »Ich bin gekommen«, sagte ich, »um mir eine Antwort von Ihnen zu holen, die ich aus bestimmten Gründen brauche, und zwar in Gegenwart von Zeugen. Darf ich die Gräfin Imiza und den Grafen Adalbert von Salm holen lassen?« – »Was gibt es denn?« – »Nur mir einen kleinen und selbstverständlichen Gefallen zu tun.« – »Also lassen Sie sie holen!« – »Würden Sie mir bestätigen«, fragte ich, »daß Sie selbst auf der Anwendung der Aloëkur bestanden haben?« – »Aber natürlich!« – »Und wollen Sie mir auch sagen, ob Sie die Fortsetzung dieser Behandlung wünschen?« – »Es ist die einzige Behandlung, die ich will, die einzige auch, an deren heilende Wirkung ich glaube.«

Ich ließ noch in der gleichen Nacht die beiden Zeugen auf das Gehörte über der Hostie vereidigen und kehrte dann in das Krankenzimmer zurück, um die Nachtwache anzutreten. Es war die Nacht vom 6. auf 7. Dezember. Die Blutungen aus dem Darm hörten nicht mehr auf. Die Ärzte verstanden nicht. Plötzlich ergriff Ratker die kleine Dose, in der das Alöe aufbewahrt wurde. Sie war halb leer. Ratker erstarrte. Das Wasser rann ihm über das Gesicht ... »Darf ich Eure Majestät fragen ...« – »Ja, Ratker«, unterbrach ihn lächelnd der Kaiser, »ich habe vorhin nach eignem Gutdünken ein paar Gramm von dem Zeug genommen. Mir geht das alles hier zu langsam. Ich habe nicht soviel Zeit zu verlieren, wie ihr glaubt.« Ratker wankte aus dem Zimmer. Ich folgte ihm. Er lehnte an einer Mauer des Korridors und schluchzte wie ein Kind: »Wir hatten dem Kaiser gesagt, daß Alöe nur in kleinsten Dosen genommen werden darf ...« Ich packte Ratker am Arm: »Und nun?« Er sah mich aus entsetzten Augen an ... »Rufen Sie Alkischuah«, sagte ich, »rasch, rasch!« – Ich ließ mich auf eine Fensterbank gleiten und vergrub das Gesicht in den Händen. Die ungewissen Lichter der Lampen zuckten zwischen den Fingern vor meinen Augen. Die Schritte der Wachen klangen gedämpft aus der Vorhalle ... Alkischuah kam. Er sagte nur: »Eure Majestät müssen nun auf alles gefaßt sein. Wenn nicht Gott ein Wunder geschehen läßt, muß der Kaiser seinem Eigensinn zum Opfer fallen. Es hat keinen Sinn mehr, die Lage zu beschönigen.« Ich sank zu Boden. Erst war eine graue, dann eine rote Welle vor meinen Augen – und danach hatte ich mein Bewußtsein verloren ...

 

Als ich erwachte, war es Tag geworden. Der 7. Dezember war aus silbernem Gewölk über Rom angebrochen. Die Gräfin Imiza und Alkischuah saßen neben meinem Bett. Ich kam nur langsam zur Besinnung. »Was ist mit dem Kaiser?« fragte ich. »Er ist sehr schwach«, sagte Alkischuah. »Aber es besteht eine leise Hoffnung, daß er die Folgen seiner Unvorsichtigkeit überwindet.« Ich ließ mich ankleiden und ging in das Krankenzimmer hinüber. Der Graf Adalbert von Salm kam mir entgegen: »Seine Majestät schläft. Der Puls steht auf vierzig. Die letzte Blutung erfolgte um fünf Uhr morgens.« – »Lassen Sie mich rufen, wenn der Kaiser aufwacht. Ich bin noch zu elend, um hierbleiben zu können.« Man rief mich um die Mittagsstunde. Ich schauderte, als ich an das Lager trat. Der Kaiser war nach einem neuen, tödlichen Blutverlust in Ohnmacht gefallen. Alkischuah sagte mir, daß die Agonie begonnen habe. Der Tod könne in jeder Minute eintreten. Der Puls war auf dreißig gesunken ... »Geben Sir mir ein Mittel, das mich aufrechterhält!« Ich verschluckte die Pillen, die er mir reichte. Ich zog mich mit Leo Akritas in mein Zimmer zurück: »Wollen Sie ein Äußerstes für mich tun?« – »Mein Leben gehört Eurer Majestät!« – »Sie lassen drei Eilkuriere zu Willigis von Mainz reiten und ihm die Briefe überbringen, welche ich Ihnen in zwei Stunden aushändigen werde. Noch in dieser Stunde verlassen meine Stallmeister Andreas von Nidda und Mogens von Hoye Rom und sichern auf jeder Etappe sechs Pferde. Es ist gleichgültig, ob diese totgeritten werden. Es müssen mehr als hundert Meilen am Tage zurückgelegt werden. Hundert Meilen mindestens, haben Sie verstanden? Ich wiege jede Meile mit Gold auf. In zwanzig Tagen spätestens muß Willigis auf alle Möglichkeiten vorbereitet sein. Niemand darf vor ihm wissen, was hier bevorsteht. Das Schicksal des Reiches kann an einem Vorsprung von vierundzwanzig Stunden hängen. Ich brauche Ihnen nicht mehr zu sagen. Die Stallmeister und Kuriere haben vor mir auf die Hostie zu schwören, daß sie ihre Pflicht erfüllen werden. Sie werden zu Grafen ernannt und erhalten Besitz im Osten. Sie selber beschwören die Wahrung des Geheimnisses. In der Stadt wird sofort verbreitet, daß der Kaiser auf dem Wege der Besserung sei. Pavia wird vermieden. Die Reise geht über den Gotthard, Zürich, Säckingen, Baden, Speyer und Worms. Die Briefe an Willigis werden vor meinen Augen in die Kragen der Pelzmäntel eingenäht. Meine Herrschaft von Abonoteichos am Bosporos ist Ihnen sicher, wenn Sie sich Ihres Auftrages zu meiner Zufriedenheit entledigen. Welche deutschen Kuriere haben Sie zur Verfügung?« – »Die Herren Kuno von Achalm, Friedrich von Forchheim und Konrad von Gerstungen. Hervorragende Reiter und Bewunderer Eurer Majestät.« – »Gut ... Die Briefe für die Kaiserin Adelheid werden heute abend ausgefertigt. Sie gehen erst dann ab, wenn ich es für gut befinde. Rufen Sie den deutschen Platzkommandanten!« Nach einer halben Stunde erschien der Graf Gero von Walbeck: »Sämtliche Besatzungstruppen aus Tivoli und Frascati unauffällig, wie zu einer Übung, in das Viertel St. Peter. Alle Brücken besetzen. Den Lateran schützen. Die Paläste der Crescentier im Auge behalten. Alle Tore der Stadt unter zehnfache Bewachung. Grund: Gerüchte über angebliche Unruhen. Den Hafen von Ostia sperren. Niemand verläßt noch betritt die Stadt von heute mittag zwei Uhr an, solange nicht Gegenbefehl erteilt wird.« Der Stadtkommandant war eben gegangen, als die Gräfin Imiza ins Zimmer stürzte: Der Kaiser verlange, in den großen Thronsaal getragen zu werden, vor versammeltem Hofstaat zu beichten, sein Testament bekanntzugeben und die Sterbesakramente zu empfangen. Um drei Uhr nachmittags begann jenes Grauenhafte, welches »öffentliches Sterben« heißt. Der Hofstaat war versammelt, der Papst und die zelebrierende Geistlichkeit waren erschienen, die Kerzen brannten, die Weihrauchfässer dampften, und der Kaiser legte seine letzten Bekenntnisse in die Hände des Heiligen Vaters. Er ernannte mich zur Regentin. Ich hielt ihn, am Rande seines Lagers sitzend, in meinen Armen. Es schien mir, ich hielt ein großes Kind, das in die Gestalt seiner Jugend zurückgesunken war. Er bat mich um Verzeihung ... Was hätte ich ihm erwidern sollen? Ich verschloß ihm leise die Lippen mit der Hand und lächelte in seine erschöpften Augen, welche die Dinge nicht mehr wahrzunehmen schienen. Dann legte ich seinen Kopf in die Kissen zurück. Ich verabschiedete den Hofstaat, ließ die Vorhänge gegen den tieferen Teil des Saales schließen und blieb mit Imiza und dem Papste allein bei dem Sterbenden. Gegen sechs Uhr sprach er deutlich den Namen »Glaukós« aus. Kurz nach sieben hatte sein Herz aufgehört zu schlagen. Aber ich bedeutete dem Papste, daß dieser Tod nicht vor dem nächsten Mittag bekanntzugeben sei. Er sah mich aus erstaunten Augen an: »Haben Eure Majestät so weit vorausgedacht?« – »Noch um einiges weiter, Heiliger Vater. Der Kaiser hat mir schon zu Lebzeiten nicht erlaubt, nicht vorauszudenken. Aber die Sorgen, die er mir im Sterben hinterlassen hat, werden erst beginnen, wenn ich wieder denken kann. Vorläufig kann ich weder denken noch fühlen. Das ist gut. Denn ich wüßte nicht, wie ich sonst diesen Tod und die Tortur der Beisetzungsfeierlichkeiten überstehen sollte. Ich muß aber überstehen. Und nicht nur dies: Ich muß bestehen. Denn ich bin in dieser Stunde – das Reich geworden. Meine Aufgabe hat angefangen, ehe ich sie denken und fühlen kann. Ich werde sie nicht in Witwenschleiern beginnen, sondern bis zu den Zähnen gerüstet. Wenn man meinem Sohne in Aachen die deutsche Königskrone auf die Stirne setzen wird, werde ich schon das Visier zum Kampfe geschlossen haben ... Ich bin auf alles gefaßt.« – »Ich fürchte mich vor Eurer Majestät«, sagte leise der Papst. »Und ich werde nicht der einzige sein, der sich fürchtet!« – »Oderint – dum metuant! Nun wird Byzanz für Deutschland kämpfen!«


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