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II.
Deutschland

Als wir Rom in den letzten Junitagen verließen, war ich ein Mensch, der in Heiterkeit und Helle schritt. Oft betrachtete mich staunend die Kaiserin Adelheid: So glücklich war auch sie einmal gewesen – vor einem Vierteljahrhundert – als Gattin des achtzehnjährigen Königs Lothar von Italien, den Berengars Gift beseitigt hatte ... Und dann? Hatte sie werden müssen, was sie heute war? Ich glaubte es nicht. Man wird nur, was man ist. Sie mußte auf Terrassen schreiten und an Balustraden lehnen.

Wir reisten nach Ravenna, nach Brescia, nach Pavia, nach Mailand, nach Como. Dort sah ich zum erstenmal die Alpen. Ich schaute lange und oft zu den weißglühenden Gipfeln hinauf ... Wann, fragte ich mich, wann wohl würde ich wieder von ihnen in die Ebenen des Po heruntersteigen – und was wohl würde bis dahin aus meinem Leben geworden sein?

Als ich, an die Schultern des Kaisers lehnend, auf der Höhe des Bernardinopasses stand, als ich den Halbkreis der Eisgipfel vor mir aufgeschichtet sah, indessen sich schon die Abendfeuer auf den blauweißen Schimmer legten, war das Grauen, das in mir aufstieg, nur das Angehaltensein der Seele vor dem Unabgrenzbaren, das da unten in der umdunsteten Tiefe wob: nicht eine Furcht vor dem Unbekannten, in das mein Schicksal nun einging. Was hatte man mir nicht von den Schrecken dieser Eisöden erzählt, wie mich vorbereitet, um das Schaudern zu mildern ... In mir war kein Schaudern, sondern nur ein Ergriffensein durch Natur, wie ich es seit meiner Kindheit verspürt hatte, und ganz besonders auf jener Reise in die Berge des Kaukasus, auf der ich meinen Vater vor zwei Jahren begleiten durfte ...

Man drängte zum Aufbruch, doch ich wollte mich nicht lösen von dem Bilde, das mich gefangenhielt. Ich wollte sehen, wie dieses Licht sich weiterverwandelte auf dem glühenden Schnee, wie die Horizonte sich langsam in jene Klarheiten hinaufhoben, die ich manchmal über den Kämmen des Apennin gesehen hatte ... Aber auch Otto bat mich, auf meinen Wunsch zu verzichten: Man könne mein Verhalten mißdeuten, man könne aussprengen, die Byzantinerin habe sich gebangt, in die deutsche Ebene niederzusteigen. Ich lächelte – und brachte das Pferd zum Gehen, das ich schon während des Sprechens bestiegen hatte. Ein Mund ruhte lange auf meiner Hand, und das Auge, das an meinem hing, sagte: »Ich werde dir nicht vergessen, daß gerade in diesem Augenblick deine Rücksicht stärker war als dein Verlangen.«

Wir ritten langsam, Arm an Arm, in das schattengefüllte, nach Tannen und Abendtau duftende Tal des Rheines. An einer Biegung der Straße hielt ich die Stute an und hob die Augen gegen das Firmament. Die Sterne waren schon aufgegangen. Über den Fichtensäumen breitete sich die Streu der Milchstraße. Ein Vogel hob sich von einem Aste und glitt auf lautlosen Flügeln gegen die Tiefe. Durch die Stille sang das Wasser des nahen Stromes: Deutschland.

 

Was hatte sich in mir vollzogen? Ich reiste durch das fremde, durch das neue Land wie durch ein lang vertrautes. Sah ich es schon aus der Seele des Gatten? Hatten drei Monate genauer Berichte genügt, meine Vorstellungen der Wirklichkeit anzugleichen? Am tiefsten ergriff mich die Unberührtheit dieser Landschaften. Ich lernte fühlen, was eine deutsche Sonntagsfrühe ist mit dem Läuten der Herden auf einer taudurchglitzerten Alm, dem Aufsteigen des Rauches aus einer erwachenden Sennhütte, dem Zücken der Sonnenfeuer an den weißen Lärchenstämmen ... Ich ließ mich tragen und hinnehmen von jeder Schönheit, die mich überfiel und fand keine Zeit mehr, an die südlichen Welten zurückzudenken, die ich eben erst verlassen hatte. Nur das Gegenwärtige zählte. Kein Traum, kein Heimweh trübte die gefüllte Stunde.

Am 14. August zogen wir in St. Gallen ein, nach einer verzaubernden Reise durch die Wälder und Triften des Appenzeller Landes. Nun also wußte ich, was dieses Kloster war, von dem mir so oft der Kaiser gesprochen hatte. Nein, er hatte nicht übertrieben. Dieser Ort war ein Wahrzeichen Deutschlands. Hier spürte ich den deutschen Hauch des Abendlandes, die Jugend des Reiches und die unendliche Bereitschaft für das neue, bald beginnende Jahrtausend. Wie viele Pergamente gingen durch meine Hände, wieviel Freude drang in meine Poren aus der rührenden Hingabe dieser kindlichen Buchstabenmaler an Bild und Ornament! Aber hatte nicht auch der Kaiser Arkadius, des Theodosius Sohn, der gewiß kein »Primitiver« war, nächtelang über seinen Pergamenten gesessen und seine bunten Initialen auf goldnem Grunde gemalt, Welt und Reich vergessend und sich selbst, indessen die Goten vor den Toren standen? Sind sich Ende und Anfang so nahe? Gleichgültige Frage! Hier war der Anfang: und nur er galt. Ich hatte mitzuschreiten: wieviel an Meilen mehr auch schon mein eignes Leben barg ...

Der Kaiser versank in den Büchern. Er entzog sich Empfängen und Gottesdiensten, gab seiner Mutter heftige Antworten, wenn sie ihn an seine Pflichten ermahnte, und sagte seinem Vater, Predigten gebe es überall, aber St. Gallens Bibliothek nur einmal. Man ließ ihn in Frieden. Adelheid hielt mir vor, daß ich ihn nicht im Sinne seiner Pflicht beeinflusse. Ich erwiderte, er erfülle eine sehr kaiserliche Pflicht, wenn er Gott in der Schönheit der Handschriften verehre. Sie seufzte und verließ das Zimmer. Ich sagte Otto nichts von dem Auftritt. Ich setzte mich neben ihn. Im Brunnenhof spielte der dünne Strahl mit den Pfauenaugen, die Zweige eines Zentifolienbusches schaukelten gegen die Sandsteinmauern – und wir wendeten langsam Seite um Seite, wendeten die Jahrhunderte: und wußten kaum noch, wer wir selber waren ...

Nach wenigen Tagen Aufenthaltes ging die Reise weiter nach der Reichenau im Bodensee, der einem Meere gleicht, von da nach Konstanz, und schließlich den Rhein hinab, in das ausflutende gold-grüne Land ... Nun vermengten sich die Bilder in der Wiederholung des Ähnlichen. Was mich umgab, war Milde. Die Frucht war schon heimgetan, die Weinberge reiften der Kelter entgegen, die gelben Kürbisse lagen breit im Blattwerk auf der heißen Erde, Wicken und Phlox blühten in den Bauerngärten, die Nußbäume zeigten die Früchte im durchgoldeten Laub ... Deutschland ... In Ingelheim – endlich – gab es lange Rast. Ich war müde geworden von dem vielen Sehen. Nicht nur von den Menschen, die an das Hoflager gekommen waren. Ich hatte mich geweigert, allen Empfängen beizuwohnen: Ich müsse das Deutsche beherrschen, ehe ich mich mit mir unbekannten Personen in »Gespräche« einlasse. Die Art, wie ich mich in deutsches Leben eingewöhne, müsse mir selbst überlassen bleiben ... Bei Gott, diese Kaiserin Adelheid mit ihrer Wichtigtuerei fing an, mir lästig zu werden. Sie war ja doch die regierende Kaiserin! Was ließ sie mir nicht – trotz meines Titels – die Rechte einer Kronprinzessin, die Rechte der Unbehelligtheit?

In Ingelheim zog ich mich in meinen Hofstaat zurück. An diesem göttlichen Orte sollte mich niemand aus meiner Ruhe aufscheuchen. Hier, sagte ich mir, im Angesicht des grünen Stromes und der dunkelblauen Taunusberge, hier, in Balsamin- und Malvengärten, in Rebengeländen und Nußbaumhainen, würde ich – später einmal – Hof halten. Hier würde ich überdenken und vorbereiten, mich auf mich selbst und Gott besinnen, hier würde ich – vielleicht – die Augen schließen ...

Es wurde eine Synode abgehalten, zu der die hohen Würdenträger der Kirche erschienen: Man war erstaunt über die Sicherheit, mit der ich mich unter diesen Erzbischöfen, Bischöfen und Prälaten bewegte, noch mehr über meine »natürliche Liebenswürdigkeit«, wie man sich ausdrückte. Die Kaiserin Adelheid hielt nicht zurück mit ihrem Lobe. Ich entgegnete ihr, daß ich niemals in meinen Pflichten versagen werde. Diese Begegnung mit dem hohen Klerus des Reiches sei von Wichtigkeit für beide Teile gewesen. Eine Kaiserin aber dürfe nur selten sichtbar sein ... Sie zog die Brauen hoch: »In Byzanz vielleicht. Hier ist das Gegenteil üblich.« – »Es ist fraglich, was das Bessere ist. ›Es kommt auf das Wirken an, nicht auf die Wirkung‹, pflegte Tsimiskes zu sagen.« – »Darauf meine Tochter, werden Sie erst die Probe machen müssen.« – »Selbstverständlich. Alles muß erprobt werden.« – »Es ist gut, daß Sie das wissen.« – »Sicherlich. Auch wenn ich noch nicht das Alter habe, es durch Erfahrungen belegen zu können.« – »Die Erfahrungen kommen ganz von selbst.« – »Wie diese Unterhaltung beweist.« – »Ich hoffe, Sie buchen als Gewinn, was dieses Gespräch Sie gelehrt hat.« – »Majestät, ich bin zu langsam in meinen Entscheidungen. Wir haben ja viel Zeit vor uns.« Ich erhielt keine Antwort mehr. Der Abt Majolus von Cluny war auf die Gartenterrasse getreten, von Hugo von der Wetterau geleitet ...

 

Es gab in diesem Herbst noch andere Begegnungen von Bedeutung: In Tribur, wohin der Hof von Ingelheim aus reiste, lernte ich die Äbtissin Gerberga von Gandersheim kennen, die Erstgeborene der sächsischen Sekundogenitur, Base Ottos, Nichte des alten Kaisers – und im nahen Nierstein ihren Bruder, den Herzog Heinrich II. von Bayern. Gerberga, im Anfang der Dreißigerjahre stehend, war eine Frau von Haltung und Wissen. Ein wenig schroff vielleicht im Ton, aber zurückhaltend in der Geste und vor allem im Urteil. Sie verstand, die griechischen Klassiker zu lesen. Ich kam gut mit ihr zurecht, hatte aber nicht die Empfindung, daß sich zwischen uns beiden eine Freundschaft entfalten werde. Ihr Bruder Heinrich, vier Jahre älter als der Kaiser Otto, war schön von Gestalt, aber unangenehm im Ausdruck der unregelmäßigen Züge, die nur dann einen Reiz erhielten, wenn er den Liebenswürdigen spielte. Er sagte einige Ungereimtheiten über die nach Armenien verbannte Kaiserinwitwe Anastasia von Byzanz, die zweite Gattin des Nikephorus Phokas II., sprach über die Magnaura wie ein Stallknecht, wenn er etwas zuviel getrunken hat, und meinte, ich müsse doch erlöst sein, nun in einer sauberen Luft zu atmen. Ich erwiderte ihm, daß ich noch nicht lange genug am deutschen Hofe lebe, um schon solche Vergleiche ziehen zu können, daß ein Byzantiner seines Ranges aber wohl schwerlich einer an den Hof des Basileus verschlagenen deutschen Prinzessin die gleichen Ungezogenheiten gesagt haben würde wie er mir. Er möge in Zukunft abwarten, ob die deutsche Kaiserin den vom Reich bestellten Herzog von Bayern um seine Meinung über ihm unbekannte Dinge befrage. Es sei mir nicht sehr ersichtlich, woher ihm seine Weisheit komme. Er war so betroffen von der Schärfe meiner Antwort, daß er zunächst nicht erwidern konnte. Er sah mich von der Seite an und sagte dann, während er den linken Mundwinkel hochzog, seine Mutter, die Herzoginwitwe Judith, habe auf der Rückkehr von ihrer Pilgerfahrt nach Jerusalem einen kurzen Aufenthalt in Byzanz genommen und dort das Regiment der Kaiserin Anastasia, welche damals noch mit Romanos II. vermählt gewesen sei, aus nächster Nähe beobachten können. Nach der Auffassung einer Fürstin aus dem höchsten deutschen Adel sei dieser byzantinische Hof eine Art Lupanar gewesen – und es sei entsetzensvoll, zu denken, daß seine eigne Schwester – die heutige Herzogin Hadwig von Schwaben – diesen halbasiatischen Kaiserthron bestiegen haben würde, wenn ihr Verlöbnis mit Romanos II. nicht durch eine gütige Fügung des Schicksals in die Brüche gegangen wäre. Die Berichte seiner Mutter seien für ihn unanfechtbar, und es sei überflüssig, ihn zu einer anderen Auffassung bekehren zu wollen. Ich lächelte: Er möge ohne Sorge sein. Jeder Mensch habe seinen eignen Gesichtswinkel, und derjenige seiner Mutter sei eben, was er sei. Doch dafür könne der byzantinische Hof nicht verantwortlich gemacht werden, in dessen Allerheiligstes eine durchreisende bayrische Herzogin schwerlich einen sehr gründlichen Einblick habe gewinnen können. Was aber seine Schwester Hadwig anbelange, so dürfte sie bei dem jugendlichen und durchaus bezaubernden Prinzen Romanos voraussichtlich besser auf ihre Kosten gekommen sein als bei ihrem heutigen, um vierzig Jahre älteren Gatten, dem Herzog Burchard von Schwaben: unter der Voraussetzung allerdings, daß sie einige bajuwarische Eigentümlichkeiten zuvor abgelegt hätte ... Der Herzog Heinrich wollte aufbrausen, besann sich aber im letzten Augenblick, daß er mit der deutschen Kaiserin sprach, und sagte nur: »Majestät, ich weiß, daß die Bayern dem byzantinischen Worte nicht gewachsen sind.« Was ich ihm, aufstehend, mit der leicht hingeworfenen Antwort quittierte: »Ich dachte, wir hätten Lateinisch zusammen gesprochen.« Und er, während er sich über meine Hand beugte und seine Augen verführerisch machte: »Mit griechischem Akzent.« Ich sah ihn (ein wenig von unten) an: »Auf dieser Grundlage, Herzog, können wir beide immer zusammen verkehren. Die Ironie, welche man als byzantinische Nationaleigenschaft bezeichnet, hat schon viele Konflikte im Keime erstickt.« Er neigte sich zum zweitenmal auf meine Hand und blieb verblüfft auf der Stelle stehen, wo ich ihn ließ.

Gleich darauf wurde mir der Bischof Piligrim von Passau vorgestellt, welcher seit Juni 971 im Amte war und nun dem Hofe seine Aufwartung machte. Es ging das Gerücht, daß er in der Wahl seiner kirchenpolitischen Mittel nicht allzu zimperlich sei. Die Ostmission, vor allem in Ungarn, lag ihm am Herzen. Ungarn aber lag auf dem Wege nach Byzanz. Ich war also doppelt froh, ihn zu kennen. Er war ein erregbarer, von Geist und Gefühl sprühender Mann. Bayrischer Herkunft, aber unbedingt kaiserlicher Gesinnung. Immer die große Linie sehend, niemals sich in der kleinen verlierend. So hatte ihn mir der alte Kaiser geschildert, so auch der deutsche Kanzler Willigis, Ottos Berater und Lehrer während der italienischen Jahre von 969 bis 972.

Dieser sächsische Bauernsohn, ein Mensch von außergewöhnlicher Begabung, der eben das dritte Jahrzehnt überschritten hatte, war mir seit dem Aufbruch aus St. Gallen fast schon zu einem Freunde geworden. Ich hatte ein Vertrauen zu ihm, das aus dem Herzen kam und sich mit dem Verstande nicht erklären ließ. Er war in seiner Überzeugung unbeirrbar, jedem Hofgeschwätz unzugänglich, schlau bis zur Verschlagenheit, derb in seinen äußeren Bedürfnissen, knapp, oft grob in der Rede, in sich verschlossen, aber ganz durchblutet von verhaltenem Gefühl. Ein einziger Wille, ein einziges Gesetz: der Kaiser und das Reich. Er war der größte Deutsche, der mir seit meiner Ankunft in Ariano di Puglia begegnet war. Ich hatte oft schon bedauert, daß mich der alte Kaiser nicht durch ihn anstatt durch seinen Vetter Dietrich von Metz an der Grenze hatte abholen lassen. Denn daß ich auf diesen Nutznießer der kaiserlichen Verwandtschaft große Stücke hielt, hätte ich gewiß nicht behaupten können. Es ist schlimm, wenn Frauen Waschweiber sind. Sind es aber erst Männer, so hört jede Achtung auf. Hugo von der Wetterau, zu dem ich mich ausgesprochen hatte, warnte mich: Dietrich sei ein gefährlicher Mann. Er habe nun einmal das Ohr des alten Kaisers, und ganz besonders dasjenige Adelheids. Ich möge ihn nicht vor den Kopf stoßen und niemals meine Abneigung (die bis ins Körperliche ging) fühlen lassen. Ich möge ihn als den Hofschranzen nehmen, der er sei, und als solchen behandeln.

 

Es war Herbst geworden. Ich hatte nie geglaubt, daß ein nördliches Land in solchem Gold und Purpur stehen könne ... Die Lüfte waren manchmal mild, als lege sich ein Flaum auf Stirn und Wange ... Ich war mit dem Kaiser immer unterwegs. Oft zu Wagen, oft zu Pferd, manchmal auch in der Barke auf dem Rhein oder zu Fuß auf den steinigen Pfaden der Weinberge. Am meisten liebte ich den Zug der schneeweißen Wolken über den offenen Ebenen ... Diese Wolken waren anders als die des Südens. Sie waren gelassener, königlicher, und fuhren wie feierliche Schiffe in den Hafen kühler Sonnenuntergänge. Wie war es schön, wenn wir von solchen Ausflügen nach Hause kamen, wenn die Buchenwurzeln in den riesigen Steinkaminen flammten, die Wachskerzen in den Standleuchtern dufteten und das einfache Abendessen für uns und die Freunde aufgetragen wurde. Wenn wir dann um das Feuer saßen, uns Geschichten von Gott und der Welt erzählten und uns halb totlachten, sobald ich in meinem noch unbeholfenen Deutsch verfängliche Dinge sagte. Der alte Kaiser war glücklich, daß ich mir so viel Mühe um die deutsche Sprache gab. Er sang mir manchmal mit einer Stimme, die aus Gewölben zu kommen schien, eines seiner geliebten Jagdlieder vor und verlangte, daß ich es nachsänge. Natürlich tat ich es – und er lachte, daß ihm die Tränen in die tiefen Taschen unter seinen Augen liefen. Hatte ich aber den Text genau gelernt, so sangen wir das Lied zusammen: nach der sächsischen Tonleiter, wie er sagte, und nicht nach der ionischen – und es gab des neuen Gelächters abermals kein Ende. Nur bei einem Liede wurde nie gelacht. Es war das Lieblingslied des Kaisers und lautete so:

Ein Reh stand in Vergißmeinnicht
Am Wiesenbache
Und sah mich nicht ...
La la là.

Die Sehne war gezogen,
Schon lag der Pfeil am Bogen.
La la là.

Nun äugt es still ins Sonnenlicht,
Es ahnt den nahen Jäger nicht ...
La la là.

Du liebes Reh, magst ruhig stehn,
Du wirst das Morgenrot noch sehn.
Wie sollte ich dich schießen?
La la là.
Und müßt' ich Hunger leiden auch,
Ich pflückte Beeren mir vom Strauch,
La la là.

Kling, klang, kling, klang:
Ich will den Abendgang
Im Herrn beschließen.
Kling, klang ...
La la là.

Er sagte mir eines Mittags, als ich allein mit ihm in das Ried geritten war, er habe dieses Lied vor fünfundvierzig Jahren gelernt, als er sehr jung und sehr glücklich gewesen sei. Ich wußte, worauf er anspielte: auf seine Liebe zu jener slawischen Fürstentochter, die ihm einen Sohn geschenkt hatte, Wilhelm, den späteren Erzbischof von Mainz, der im Jahre 968 gestorben war. Am gleichen Tage schenkte er mir einen Stirnreif aus Rubinen: Ich möge ihn zu seinem Andenken tragen. Er wisse nicht, wie lange er noch Geschenke machen könne. Er fühle sich oft sehr müde und nicht mehr Herr seiner Kräfte. Es sei kein leichtes Leben, das er gelebt habe ...

Als wir im Dezember in Mainz waren, bat er mich, ihn an Wilhelms Grab im Dom zu begleiten. Dort betete er lange neben mir, und es schien mir, er weine in seinen ergrauten Bart. Beim Hinausgehen sagte er, dieser Sohn habe ihn sehr geliebt, obwohl er ihm nicht immer in seiner Politik gefolgt sei, sondern sich auf die Seite des Papstes geschlagen habe. Er wisse aber nicht, ob Otto ihn liebe, der viel vom Wesen seiner Mutter an sich habe. Ich möge wachen über seiner Art, die Dinge mit allzuviel Gefühl zu betreiben und den Menschen allzuviel Vertrauen entgegenzubringen ...

Das Gespräch mit dem Kaiser hatte mich sehr erregt. Es war von solcher Todesahnung erfüllt, daß ich mich erschrocken fragte, was werden solle, wenn dieser Mann, der durch die Macht seiner Majestät das ungeheure Reich wie mit eherner Spange zusammenhielt, plötzlich aus dem Leben schiede ... Die Sorge, die ich niemandem mitteilte, vor allem nicht Otto, ließ mich mehrere Nächte lang nicht schlafen. Aber dann versank sie wieder, als ich feststellen konnte, daß der alte Mann sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte und seine vielen Arbeiten mit der an ihm gewohnten Frische durchführte.

 

Mitte Dezember zogen wir in die Pfalz von Frankfurt ein, um dort das Weihnachtsfest zu feiern. Über Nacht kam der Winter in das Land, der tiefe, stille deutsche Winter, von dem man mir soviel erzählt hatte. Tagelang sanken die Flocken in dichten Schnüren, und als der endlos-graue Himmel sich eines Morgens aufhellte, strahlten Ebene und Berge in einer solchen Reinheit, daß ich in den Hof hinunterlief, um dieses sprühende, duftende Weiß in meine Hände zu nehmen und zwischen den Fingern zergehen zu lassen. Ich wusch mir die Schläfen mit Schnee, die Stirne, die Wangen ... O Schnee! Zuflucht der Seele, wenn der Frieden aus ihr fortgeht ...

Diese Weihnachtstage waren der Frieden ... Es hatten sich nur wenige Fremde eingefunden, da ein Hoftag auf den 27. März nach Quedlinburg angesagt war. Alle bedurften der Ruhe, denn die verflossenen Monate waren für einen jeden von uns eine große Anstrengung gewesen. Sogar die immer beschäftigte Kaiserin hatte sich eine Pause gegönnt. Ich glaubte zu träumen, als ich sie eines Abends mit einer Handarbeit am Feuer fand. Sie nähte eine Haube aus Goldbrokat für ihren sechsjährigen Enkelsohn, den Kronprinzen Ludwig von Frankreich. Sie war sehr gut aufgelegt und erzählte uns mit großer Lebendigkeit, wie sie von Berengar von Ivrea in einem Kastell am Gardasee gefangengehalten und schließlich in einer Augustnacht von Freunden befreit worden sei. Otto kannte natürlich die Geschichte, Glaukós auch. Aber beide beherrschten sich und hörten zu, als ob sie von nichts wüßten. Bis sich dann Otto die Frage nicht verkneifen konnte: »War es ein Rübenfeld, Mutter, in dem Sie sich einen Tag lang verborgen hielten, oder ein Kleefeld?« Glaukós biß die Lippen aufeinander und machte sich an seinem Gürtel zu schaffen. Adelheid, als ob sie nichts gemerkt hätte: »Es war ein Distelfeld, mein Kind. Vielleicht wirst du eines Tages noch erfahren, was das ist.« Und sie fuhr fort, die Fäden durch die blauseidne Fütterung zu ziehen. Otto kniete vor ihr hin und küßte ihr die Hand. Sie berührte seinen Mittelfinger mit der Nadelspitze: »Siehst du: so, aber etwas stärker, sticht eine Distel.« Und dann fuhr sie ihm, die Haube in ihren Schoß sinken lassend, langsam durch das Haar, ehe sie sich ihrem Gatten zuwandte, der in seinem Lehnstuhl eingeschlafen war.

Als das Kaiserpaar gegangen war, sagte Otto: »Zieht euch in aller Stille eure Pelze an. Ich habe Schlitten bestellt. Es ist wolkenlose Mondnacht draußen. Wir werden in die Taunusberge fahren und bei Sonnenaufgang im Altkönigjagdhaus frühstücken. Hugo kennt die Straßen und die Schneisen.« Wir schrien vor Vergnügen auf, stoben auseinander, um die Mäntel und Decken zu holen, und huschten dann wie Verschworene über die dicken Teppiche der Treppen ins Freie. Nach einer Viertelstunde waren wir im offnen Felde. Keine Hütten, keine Gehöfte mehr. Schnee, eine Saat von Funken, grüner, feuchter Mond, und Firmament, durchzittert von blassen Sternen ... Vor uns die Bergwälder, niedergedrückt von zuviel Licht, beinahe schwarz in den Konturen, Tannensaum an Tannensaum ... Ich konnte nicht mehr begreifen, daß dieses Ruhend-Aufgelöste noch Wirklichkeit sei. Ich konnte es noch weniger begreifen, als ich am nächsten Morgen mitten im Kupfer der aufgehenden Sonne stand. Nun waren die Tannenäste grün, wie von innen aufgeblüht, ein Dunsten und ein Duften ging aus allen Zweigen, die Lippen tranken das Arom wie Wein. Höher in die Kronen flogen schon hellere Lichtspeere, Schneelasten lösten sich von den niedergebogenen Ästen und zerstäubten in der durchleuchteten Luft. Unten, im Tale aber, zur Linken, dehnte sich, ein Meer von rotem Gold, die unendliche Wetterau ... Der Duft der Frühe fror in den Spitzen meines Pelzes, fror in dem Haar an meinen Schläfen ... Deutschland ...

Am nächsten Abend schwamm die Pfalz im Schein der Wachskerzen. Weihnacht ... Vor einem Jahre war ich mit Tsimiskes in den Hymnenjubel der Hagia Sophia eingetreten ...

 

Nach dem Neujahrsempfang, der auf Wunsch der Kaiserin Adelheid in besonderem Glanze gegeben wurde, damit einigen Gerüchten über die schlechte Gesundheit des Herrschers die Spitze abgebrochen werde, erlitt der Kaiser eine Herzschwäche. Die beiden Leibärzte machten bedenkliche Gesichter. Es gelang mir, den einen unter vier Augen zu sprechen. Als er sein Mißtrauen überwunden hatte, sagte er mir, daß der Anfall ernst sei. Es handle sich um einen hohen Grad von Verkalkung. Man müsse sich auf alles gefaßt machen. Ich unterrichtete Otto, als er von einem Ausritt zurückkam. Er nahm die Sache von der leichten Seite, was mich sehr erzürnte. Ich fragte ihn erregt, ob er sich denn nicht darüber klar sei, was für ihn auf dem Spiele stehe, wenn sein Vater unverhofft aus dem Leben ginge? Ich werde ihm so lange mein Schlafzimmer verwehren, als er sich nicht schon jetzt mit allen Möglichkeiten auseinandersetze. Er möge selber denken und nicht seine byzantinische Gattin für sich denken lassen! Ich ließ ihn stehen und suchte nach Willigis. Er war bei Adelheid. Mehr brauchte ich nicht zu wissen, um zu begreifen, wie recht ich hatte.

Kurz vor dem Abendessen kam Otto zu mir, um sich zu entschuldigen. Ich sagte ihm: »Wir haben vor Gott und der Welt das Recht, jung zu sein und uns unserer Jugend zu freuen. Wenn wir aber nur einen Augenblick vergessen, auf welchen Platz wir gestellt sind, so verdienen wir Strafe für unsere Gedankenlosigkeit. Ehe wir Schlitten fahren und uns an Mondnächten in den Taunuswäldern erfreuen, müssen wir erwägen, auf was wir vorbereitet zu sein haben, wenn der Kaiser stirbt. Ich wünsche, daß wir uns noch heute abend mit Willigis beraten. Die Bayern liegen auf der Lauer. Es genügt mir, Heinrich beobachtet zu haben. Hugo von der Wetterau hatte dreimal recht, als er mir sagte, daß alle Sekundogenituren das gleiche Gesicht tragen. Die Freundlichkeit der Kaiserin Adelheid gegen die bayrische Familie wird uns sehr wenig nützen, wenn es um das Ganze geht. Die Schwäbin da unten auf dem Hohentwiel soll Haare auf den Zähnen haben und die echte Tochter ihres Rebellenvaters Heinrich sein, der ja bekanntlich seinem eignen Bruder das Leben zur Hölle gemacht hat ... Woher ich das alles weiß? Ja glaubt denn jemand, ich habe die neun Monate seit meiner Ankunft am Hofe geschlafen? Ich verfüge doch, als Byzantinerin, über einige Erfahrung in feudalen Zwisten, ich weiß, was die sogenannten ›Bande des Blutes‹ wert sind, wenn es um die Macht geht! Ich bin eine sehr neugierige Frau. Wenn es nötig ist, auch eine sehr gefährliche ... Das hindert mich keineswegs, die deutsche Landschaft zu lieben. Was die deutschen Menschen angeht, so möchte ich über diese mit Ihnen nach fünf Jahren sprechen. So lange Lehrzeit werde ich wohl brauchen, ehe ich zu einem ungefähren Urteil komme ... Ich glaube, daß unsere Flitterwochen zu Ende sind. Sie hören auf, wo die Pflichten beginnen. Was unsere Liebe wert ist, wird sie erst im Gefängnis der Pflichten erweisen. Es scheint mir, daß wir den Weg in dieses Gefängnis begonnen haben.« Otto war mehrere Male rot und blaß geworden: »Ich möchte nicht, daß Sie diese Sprache gegen mich führen.« Ich lachte: »Ich führe sie gegen mich selbst! Wir waren im Begriffe, uns einlullen zu lassen! Ich rufe uns alle beide zur Besinnung!« Er senkte den Kopf, der schön wurde, wenn der Schein eines Schuldgefühles ihn umspielte: »Ich weiß, Theophano, daß Sie mir überlegen sind. Aber ich ertrage nicht, daß Sie es mich fühlen lassen. Ich bin von meiner Mutter eine ganze Jugend lang immer nur auf meine Mängel hingewiesen worden. Es ist mir grauenhaft zu denken, daß die Frau, die ich liebe, das gleiche tun solle.« Ich ging auf ihn zu und nahm seine Schläfen in beide Hände: »Sie sind manchmal noch ein großes Kind, Otto. Denke ich für Sie oder gegen Sie? Warum bin ich denn Ihre Frau geworden? Ich bin manchmal hart, ich gebe es zu. Aber vergessen Sie doch nicht: Ich bin nun einmal eine Skleros. In unserer Familie gibt es nur Soldaten. Und welche! Sie wissen, was das heißt. Sie sind weicher als ich: Sie können nichts dazu. Sie sollen nur den Augenblick erkennen, wo es gilt, hart zu sein, ich meine: den Notwendigkeiten Rechnung zu tragen. Dieser Augenblick ist gekommen. Das ist alles, was ich zu sagen habe.« Er riß mich an sich, küßte mich über das ganze Gesicht hin, über den Nacken, über die Hände ... Gewiß, es war ein großes Glück, so sehr von einem hübschen und gütigen Menschen geliebt zu werden ... Aber würde der Stoff, aus dem dieser Mensch gemacht war, ausreichen, das Leben der Theophano Skleros zu füllen? Er selbst, wenn er erst einmal der regierende Kaiser war, würde keine Zeit mehr haben, daran zu denken. Und ich? Was würde dann mit mir geschehen?

 

Wir brachen Mitte Januar auf. Die Reise war eintönig und beschwerlich. Schon im Februar setzte Tauwetter ein. Die Flüsse schwollen an. Die Brücken waren oft nicht mehr sicher. Zu allem Überfluß fielen schwere Regen, welche die Straßen aufweichten. Ich fing an zu frieren. Ich spürte zum erstenmal, was Nässe heißt. Der alte Kaiser ertrug die Reise nur mühsam. Wir mußten oft lange Halte einschieben. Auch Otto, der sechs volle Jahre im Süden gelebt hatte, litt unter den Winden und der Feuchtigkeit. Niketas und Anastasia wurden von einer Art Heimweh nach Byzanz befallen. Ich verbot ihnen, das Wort Byzanz auch nur auszusprechen. Als wahrer Freund in diesen unfreundlichen Wochen erwies sich Hugo von der Wetterau. Er fand immer ein ausgleichendes oder überbrückendes Wort.

Wir waren wie erlöst, als wir endlich, am 15. März, bei heiterem Wetter in Magdeburg eintrafen. Diese Stadt lag an der Grenze der slawischen Welt. Sie war eine Grenzstadt, ein Umschlagsplatz, ein Ort des Austauschs jeglicher Güter mit den Völkern der Obotriten, der Liutizen, der Pommern, Polen und Preußen. Sie war der Mittelpunkt der deutschen Politik im Osten, das heißt: der christlichen Mission. Die Bedeutung ihres Erzbistums wuchs von Jahr zu Jahr. Dieses Erzbistum war der Stolz des alten Kaisers. Er hatte es im Jahre 967 gegründet. Seine staatsmännische Einsicht hatte ihn erkennen lassen, daß Deutschland auf eine starke Politik gegen den heidnisch-slawischen Osten angewiesen sei, wenn es in seinem Kern bestehen und seine abendländische Aufgabe durchführen wolle. Sein überzeugtester Helfer war der Erzbischof Adalbert, ein Mann aus dem hohen rheinischen Adel, von welchem mir schon des öfteren Willigis in Bewunderung gesprochen hatte. Adalbert hatte in den sechziger Jahren, als Abt von Weißenburg, die Chronik des Reginar von Prüm fortgesetzt und mit seiner Arbeit ein unersetzliches Dokument geschaffen. Als ich mit ihm sprach, erzählte er mir von seiner Missionsreise an den Hof der Großfürstin Olga von Rußland. Da Tsimiskes gerade in einem neuen Kriege mit dem Fürsten Swiatoslaw lag, waren mir die Berichte des Erzbischofs von besonderem Wert. Er bestätigte mir, was ich über die Russen schon in Byzanz gehört hatte ...

 

Einen Tag später führte er mich in die von ihm geleitete Domschule. »Seine Liebe« nannte er sie. Als wir im Binnengarten gingen, wo eben die ersten Schneeglocken erblüht waren, fiel mir ein junger Mensch auf, der, sehr entfernt von uns, an einer Säule des Kreuzganges lehnte und sich die Luft des milden Vorfrühlingstages durch das goldblonde Haar streichen ließ. Man hätte ihn fast für Glaukós halten können. Aber seine Gestalt war etwas voller, und der Ausdruck des Gesichtes schien von weitem verträumt. »Eure Majestät sehen da drüben die Hoffnung und den Stolz unserer Schule«, sagte der Erzbischof, »den siebzehnjährigen Fürsten Woytech von Libice.«

Der fremdartigste Mensch, der mir bis jetzt begegnet war, stand vor mir. Diese violetten Augen waren nicht eine Welt: sie waren Gott. Sie waren eine Flamme und eine Feuchte zugleich – und eine so abgründige Schwermut, daß vor dem Blick in ihre Tiefe das Wort ausblieb. Ich wußte wirklich nicht, was ich hätte sagen können. Ich war verwirrt, und Woytech wußte es. Aber es berührte ihn nicht. Er sah mich an, als ob er mich nicht sähe. Ich aber unterwarf mich seinem Bild. Was es nie zuvor in meinem Dasein gegeben hatte, gab es von dieser Nachmittagsstunde an: das Bild, an dem man lebt, ohne es zu begehren. »Ich möchte, Fürst Woytech, daß Sie heute abend mit dem jungen Kaiser und mir speisen«, sagte ich schließlich. »Es fehlt mir jetzt an Zeit, mich mit Ihnen zu unterhalten. Sie sollen mir von ihrem Vaterlande Böhmen erzählen.«

Nun erst konnte ich die Stimme hören, auf die ich gewartet hatte. Sie war als Klang, was das Auge als Glanz und Farbe war: eine Stimme, deren Schwingung uns bis in unsere letzte Stunde lebendig bleibt, wenn wir sie nur ein einziges Mal vernommen haben. Auch mit ihrem Nachtönen würde ich nun leben – und sie würde mich vielleicht in dunklen Stunden daran erinnern, daß es irdische Sinnbilder der Vollkommenheit gibt, die uns auf dem mühevollen Wege der eignen Entfaltung zur Bestätigung werden ...

 

Ich war sehr bewegt, als ich bald den Erzbischof verließ. Ich konnte mir nicht erklären, was mein Wesen gerade heute aufgelockert und dem außergewöhnlichen Eindruck erschlossen hatte. Und ich war müde an dieser Abendtafel, wo der junge Kaiser sprach und Woytech nur mit großer Zurückhaltung antwortete.

 

Ostern, das schon auf den 23. März fiel, wurde in dem nahen Quedlinburg begangen. Wie der Kaiser in Magdeburg am Grabe seiner ersten Gemahlin Edgitha von England gebetet hatte, so nun an dem seiner Mutter Mathilde. Sie soll eine harte, herrische Frau gewesen sein – und nur am Ende ihres Lebens mit Almosen für die Armen verschwenderisch, wie alle, die ihren Nächsten vielleicht nicht genug von ihrem Herzen gegeben haben.

Der Hoftag, der nun abgehalten wurde, zeigte mir den äußeren Glanz der deutschen Macht. Es hatten sich ausländische Gesandte aus Ungarn, aus Bulgarien, aus Byzanz, aus Dänemark, ja sogar aus dem afrikanischen Fatimidenreiche eingefunden und Geschenke gebracht.

Nach Schluß des Quedlinburger Hoftages drängte es den alten Kaiser nach Merseburg, wo er dem heiligen Laurentius als Dank für den Sieg gegen die Ungarn im Jahre 955 ein Bistum gegründet hatte. Es schien, daß er, getrieben von seiner Todesahnung, alle Orte wiedersehen wollte, die er besonders liebte und sechs lange Jahre nicht gesehen hatte. Der Hoftag hatte ihn angestrengt, besonders die Verhandlungen über das Bistum Prag mit Herzog Boleslaw von Böhmen. Aber nun lebte er auf.

Der April war mit viel Blüte in die Saaletäler gezogen. Es war für den Kaiser eine Freude, seine Schwägerin, die Herzoginwitwe Judith von Bayern, in Merseburg zu finden. Sie kam zwar niemals ohne ein besonderes Anliegen, aber er sah sie gerne um sich, weil sie sich immer bemüht hatte, zwischen ihm und seinem rebellischen Bruder Heinrich einen Ausgleich zu schaffen. Sie behauptete, vor allen Dingen gekommen zu sein, um mich kennenzulernen. Denn sie wisse nicht, ob sie nach der Heimkehr in ihr Frauenkloster Niedermünster bei Regensburg noch einmal den Entschluß zu einer weiten Reise aufbringen werde. Sie machte den Eindruck einer Frau, die von den Dingen der Welt nichts mehr wissen will: einer bedeutsamen Frau. Nicht ein Hauch von Freude umspielte dieses einsame Gesicht. Ich begriff, daß ihr die Hofhaltung des Romanos und der Anastasia keine schönen Erinnerungen gelassen hatte. Sie sprach nicht von ihrem Besuch in Byzanz, sah mich aber oft von der Seite an, wie wenn sie feststellen wolle, ob in meinem Bilde eine Erinnerung an diese ihr unverständliche Welt zu finden sei. Sie lobte mein Deutsch und bewunderte die Smaragden des Tsimiskes. Meine Ohrringe, meinte sie, große, ebenfalls mit Smaragden ausgelegte Halbmonde aus Weißgold, gäben mir ein orientalisches Aussehen. Daß ich die Fingernägel nicht mit Henna färben ließ, schien ihr Genugtuung zu bereiten. Ich hatte das Gefühl, daß ich ihr sehr gleichgültig gewesen wäre, wenn sie nicht mit mir als der zukünftigen Kaiserin hätte rechnen müssen. Aus einer flüchtig hingeworfenen Bemerkung konnte ich erraten, daß auch sie die Tage des Kaisers für gezählt hielt. Und die langen Gespräche unter vier Augen, die sie mit ihrer Freundin Adelheid führte, haben wohl der Möglichkeit eines Thronwechsels gegolten.

So waren durch die Begegnung mit dieser Frau auch in mir wieder die Sorgen wachgeworden, und den früheren schlaflosen Nächten fügte sich eine neue zu.

Von Merseburg reisten wir in die Pfalz Memleben, wo König Heinrich, der Vater des Kaisers, gestorben war und begraben lag. Dort geschah das stumm Erwartete in grausamer Plötzlichkeit: Der Kaiser verschied am 7. Mai, kurz vor Pfingsten, an einer Herzlähmung. Ohne Todeskampf schlief er am Nachmittag ein.

Die Herrschaft war in Ottos Hände übergegangen. Ich war die regierende deutsche Kaiserin geworden.

 

Schon einen Tag nach Ottos Tode hatte der Hofstaat dem jungen Kaiser den Treueeid geleistet. Die Übernahme der Regierung vollzog sich ohne Störung. Die Kaiserin Adelheid hatte sich eingeschlossen. Ich war froh, daß ich mich nur mit Otto und Willigis zu besprechen brauchte. Es war klar, daß die Politik des verstorbenen Kaisers weitergeführt werden würde: Reichsgedanke vor Stammes- und Sippengedanke. Damit meinten wir, ohne es auszusprechen, daß das Tun und Lassen Adelheids beobachtet werden müsse: besonders in der bayrischen und lothringischen Angelegenheit.

Es war notwendig, nach der Beisetzung des Kaisers einen Reichstag nach Worms einzuberufen und die hohen Würdenträger Deutschlands um die Person des neuen Herrschers zu versammeln. Die Tagung wurde vom 16. bis 28. Juni abgehalten. Es wäre kindisch gewesen zu glauben, die zur Schau getragene Einheit dieses Hoftages hätte einer inneren Einheit entsprochen. Es genügte mir, die Gesichter eines Heinrich von Bayern, eines Burchard von Schwaben und seiner (um vierzig Jahre jüngeren) Gemahlin Hadwig zu betrachten, um zu wissen, woran ich war. Diese Herzogin Hadwig hatte ich nun also endlich kennengelernt. Welcher Hochmut und welcher Anspruch! Man hätte meinen sollen, es gäbe nur die bayrische und die schwäbische Dynastie auf der Welt. Sie sprach Griechisch mit mir, das sie schon als Kind gelernt hatte, und sie sprach es nicht schlecht. Aber sie betonte vor sich selbst zu sehr, wie gut sie es ihrer Meinung nach beherrschte. Ihr Deutsch war nachlässig und anmaßend. Ich fragte mich mit Entsetzen, was ihre Ehe mit diesem alten Schleicher Burchard gewesen sein müsse, der ein Oheim der Kaiserin Adelheid war, und hoffte für sie, ihr Alkoven möge von entschädigenden Geheimnissen wissen. Die Feindschaft gegen mich, welche aus jeder ihrer Gesten sprach, belustigte mich. Denn diese Feindschaft war töricht. Es wäre – für eine Frau in ihrer Lage, für eine baldige Herzoginwitwe von Schwaben – klüger gewesen, sich mit mir auf guten Fuß zu stellen. Ihre besondere Bemühung galt der Neubesetzung des Bistums Augsburg, das zu Schwaben gehörte. Der uralte Bischof Udalrich war krank und konnte von einem Tag zum anderen sterben. Er war einer der überzeugtesten Verfechter der ottonischen Reichspolitik gewesen: für den Kaiser, und gegen die Herzöge. Damit diese Politik nach seinem Tode fortgesetzt werden könne, hatte er den Abt Werinhar von Fulda zu seinem Nachfolger bestimmt. Eben diese Nachfolge fürchteten die Herzöge von Schwaben und Bayern. Sie wollten einen »ihrer« Leute auf dem Augsburger Bischofsstuhl, damit die Herrschaft der Sekundogenitur über ganz Süddeutschland eine neue Festigung erfahre. Und zwar hatte man Heinrich, den Schwestersohn der Judith, also den Vetter des Bayernherzogs und der Herzogin Hadwig, ins Auge gefaßt. Der Kaiser, von seiner Mutter Adelheid bearbeitet, konnte sich zu keinem Nein entschließen: Er wolle seine Regierung nicht mit einer Absage an seine Verwandten beginnen ... Ich erwiderte ihm, eine Versündigung an der Reichsidee sei schlimmer. Er solle doch nicht glauben, daß er von Bayern und Schwaben jemals Dank für sein Entgegenkommen ernten werde ... Antwort: Ich sähe immer schwarz. Er müsse sich vor Ansteckung hüten und dürfe nicht ganz den Zusammenhang mit seiner Familie verlieren ... Ich konnte ihn hassen, wenn er solche lächerlichen Argumente seiner Mutter nachplapperte. Und ich konnte auch diese hassen, wenn sie ihre Trauerschleier durch die Sippe wehen ließ und gar nicht merkte, wie man sie für geheimgehaltene Zwecke ausbeutete.

Man machte mir zum Vorwurf, daß ich mich um den Reichstag nicht sehr kümmere, alle Empfänge Adelheid überlasse und es vorziehe, stundenlang mit Hugo von der Wetterau über Land zu reiten. Mein Gott: ich hatte Grund, allein die Lage durchzudenken oder mich mit einem Freunde auszusprechen ...

Wie hatte sich mein Leben in sechs Wochen verwandelt! Wo waren die ersten neun Monate meiner Ehe hingeschwunden? Hatte ich sie geträumt?

 

Nein, sie waren Wirklichkeit, und sie würden lange nachleuchten in das Leben, das nun begonnen hatte. Ich trauerte ihnen nicht nach, so große Wehmut mich auch manchmal befiel, nur ein Jahr wie andere Menschen jung gewesen zu sein. Natürlich war ich jung, an den Jahren gemessen. Aber kann eine Seele unbekümmert blühen nach dem Stande ihrer Jahreszeit, wenn der Geist des angewiesenen Ranges über sie die Herrschaft ergreift? Wenn das Daimonion der Berufung sich zum Gesetz eines Lebens aufschwingt und auch die zarteste Regung in seine Kreisung hinüberreißt? Wie ich mich quälte um mich selbst in jenen Stunden der Selbstbesinnung und Überprüfung, wie ich mich zur Rechenschaft zog, ob ich ein Recht habe, mich dem Kaiser mit der Härte meiner Erkenntnisse aufzuerlegen, und ob es nicht besser sei, ihn selbst die Dinge so gestalten zu lassen, wie er es für gut befand? Ich schämte mich, wenn mich eine solche Anwandlung von Schwäche befallen hatte. Ich sah in ihr ein Zugeständnis an den Geist dieser Hofgesellschaft – und wies, erbittert gegen mich selbst, den Gedanken von mir, der mir gesetzten Aufgabe untreu zu werden. Ich fühlte mich überlegen. Aber dies war meine Sache und konnte niemals ausgesprochen, sondern nur bewiesen werden. Ich fühlte mich deswegen überlegen, weil ich an dieser Sippenwirtschaft unbeteiligt war, an all diesen »angeheirateten« Oheimen und Tanten, Vettern und Basen durch halb Europa hin. Was gingen die mich an? Einem einzigen Menschen war ich verpflichtet außer mir selbst und Tsimiskes: meinem Gatten, dem Kaiser. Auch wenn ich ihn morgen zu lieben aufhören müßte, würde ich ihm verpflichtet bleiben, denn nur durch ihn und für ihn konnte ich ja mich selbst erfüllen auf der einzigen Stufe, auf der es für mich eine Erfüllung gab: der kaiserlichen. Ich sagte mir, daß es sich hundertmal lohne, sich für diese Stufe zu opfern, und sollte auch »Erfüllung« eines Tages den Namen des Opfers annehmen müssen.

Jedesmal, wenn ich meine Gedanken in eine solche Klarheit gebracht hatte, fühlte ich mein Leben verzehnfacht durch mein Blut treiben und meine Lust an meinem Dasein sich bis zur Ekstase steigern. Ich wußte, daß ich mich auf mich selbst verlassen könne. Aber ich wußte auch, an welcher Stelle ich, für lange Jahre vielleicht, meinen Kampf auszutragen haben würde: nur bei dem Kaiser und nur im unerbittlich abgeriegelten Zenakel meines byzantinischen Hofstaates. Niemals durfte ich mich in die Händel dieser Sippe einmischen. Mochte man mich hassen und verleumden: es durfte mir nichts gelten. Hugo von der Wetterau war der einzige Mensch, der dies verstand. »Was Eure Majestät mir auseinandersetzen«, sagte er eines Tages zu mir, als wir in einem Bauernhof Wein tranken und rohen Schinken auf Schwarzbrot aßen, »steht jenseits von Bestätigungen durch Dritte. Es gibt überhaupt keine Bestätigungen von Mensch zu Mensch, wo es um Allerletztes geht.« – »Aber was Sie mir soeben sagen«, rief ich fast erschüttert, »ist ja die unwiderleglichste Bestätigung aller Beschlüsse, die ich in den letzten Tagen über meine zukünftige Haltung gefaßt habe. Ob der Kaiser vergessen kann, woher er kommt, und mich eines Tages aus eignem Erkennen verstehen wird, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich mir selbst treu bleiben muß, auch wenn er mich niemals versteht. Ich werde mit ihm sein: so oder so!« Hugo schaute gegen die Sonne, die noch hoch stand. Über seinen ruhigen Zügen lag eine ergreifende Ergriffenheit. Ich mußte denken: »Wenn dieser Mensch der Kaiser wäre ...« Aber ich wies den Gedanken zurück: »Auch er wäre nicht hart genug. Er würde schon über den Dingen stehen, ehe er sie geformt hat.«

Es wäre Zeit gewesen, umzukehren. Aber der Geist des Aufruhrs, der mir diesen Nachmittag geschenkt hatte, wollte noch nicht von mir weichen. Ich hatte keine Lust, die Gesichter der Hoftafel zu sehen, die langweiligen Witze eines Dietrich von Metz zu hören oder das endlose Familiengewäsch eines Burchard von Schwaben. Ich entschied also, daß wir über die Schiffsbrücke auf das rechte Rheinufer reiten und bei einem Domänenpächter an der Bergstraße zu Nacht speisen würden. Hugo erschrak beinahe. »Ich trage ja die Verantwortung«, lachte ich. »Sie haben meinem Befehle zu gehorchen. Sie können doch Ihre Kaiserin nicht im Stich lassen!« Und ich sandte einen der Reitknechte mit dem Bescheide nach Worms, ich werde erst zur Tisane erscheinen.

Ein Abend, der mir gehörte! Das hatte es seit vielen Wochen nicht mehr gegeben. Wie das Gras duftete! Wie das Schilf im Lichte glänzte! Wie die Erlenbüsche glühten! Und wie uns die schattengefüllten Mulden des Odenwaldes zu sich herüberzogen, noch tiefere Bläue und violettes Verschwimmen im Golde versprechend!

Und dennoch fiel das Gespräch in die nächsten Dinge zurück: »Ist es nicht ganz natürlich«, sagte ich zu Hugo, »daß nun alle, die sich nur gezwungen in das straffe Regiment des toten Kaisers fügten, versuchen werden, wieder Ellbogenfreiheit zu bekommen? Ein achtzehnjähriger Kaiser, gegängelt von einer Mutter, die aus ihren bayrischen Vorlieben niemals ein Hehl gemacht hat? Eine ›landfremde‹ Kaiserin, die nichts, aber auch gar nichts getan hat, sich die Zuneigung dieser ›großen‹ Herren und Damen zu gewinnen? Zu allem Überfluß auch noch eine Byzantinerin, eine Weltstädterin, die aus ›Luxus und Laster‹ – das Wort stammt von Dietrich von Metz – in die ihr fremde Luft der deutschen Feudalität verpflanzt wird? Beide, Kaiser und Kaiserin, ohne Erfahrung in westlichen Dingen und ohne ›auctoritas‹? Und eine solche, unbezahlbare Gelegenheit sollte man sich entgehen lassen? Ah, ich höre das böse Gemurmel durch die dicksten Wände der Königspfalzen – und ich müßte keine Frau sein, wenn ich nicht auch den Dreck der Küchen und Ställe dazu hörte! Mag der Kaiser hundertmal ungewarnt sein: ich bin gewarnt! Das genügt fürs erste. Aber auch Willigis ist es! Die Kaiserin Adelheid irrt, wenn sie glaubt, dieser große Schweiger werde sich für ihre Ausgleichspolitik gewinnen lassen! Auch er kommt, wie ich, von draußen! Auch er denkt, wie ich, nur ein einziges: das Reich! Auch er kann, wie ich, Möglichkeiten errechnen, ohne sie – vor der Zeit – auszusprechen! Und noch eine andere Frau denkt im geheimen das gleiche: die Äbtissin von Quedlinburg, die echte Tochter ihres großen Vaters. Sie wird ganz auf meiner und des Kaisers Seite sein, wenn es – sprechen wir das Wort ruhig aus – zu Erhebungen kommen sollte! Ich bin mißtrauisch, ich bin unerhört mißtrauisch. Und ich sehe es als meine wichtigste Aufgabe an, mißtrauisch zu bleiben: auch wenn man mir morgen oder übermorgen ich weiß nicht welchen Honig auf die Lippen streichen sollte! Byzanz ist eine gute Schule, und der Basileus Tsimiskes ist ein guter Berater, abwesend oder anwesend! Rüsten Sie sich, Hugo, als des Kaisers und mein Gesandter an seinen Hof zu gehen. Es könnte bald nötig werden, daß wir einen der ›Unsrigen‹ in Byzanz brauchen. Ich könnte Unserer Dynastie dort drüben am Bosporus den Rücken decken müssen ... Theophano und Tsimiskes sind in ihren letzten Zielen – das gleiche! Haben Sie schon daran gedacht, daß sich nun – nach Ottos Tod – vielleicht auch Lothar von Frankreich wieder regen und den von seinem Vater beschworenen Vertrag von Visé brechen könnte? Es ist Willigis, der mich auf diese Möglichkeit hinwies. Und Willigis dürfte wohl auch von seinem größten Feind nicht als Phantast bezeichnet werden.«

Als wir wieder über die Schiffsbrücke zurückritten, kam uns der Kaiser auf seiner kastanienbraunen Stute entgegen. Er lachte wie ein Knabe: »Auch ich, Theophano, habe mich, Ihrem göttlichen Beispiele folgend, aus dem Staube gemacht. Sie sind sich wegen Augsburg an die Köpfe geraten, haben aber vergessen, daß ja vorläufig Udalrich noch lebt.« – »Ich hoffe, Sie selbst, Otto, werden ihnen morgen früh mit der Nachricht aufwarten, daß Sie heute abend auf einem Ritt unter Sternen beschlossen haben, die Wahl Werinhars von Fulda unter allen Umständen durchzusetzen.« – »Das werde ich sehr wahrscheinlich tun.«

Aber der Kaiser hatte sich über Nacht wieder dahin besonnen, lieber noch zuzuwarten – was ihm eine mehr als bittere Lehre eintrug.

 

Udalrich starb am 4. Juli, als der Hof längst den Rhein verlassen hatte. Nur der erkrankte Herzog Burchard von Schwaben war in Worms zurückgeblieben. Als die Boten mit der Todesnachricht in Worms ankamen, wo sie den Kaiser noch vermuteten, hielt er sie davon ab, ihm nach Aachen nachzureisen. Erst im August, als der Hof wieder am Rhein war, machten sie sich erneut auf den Weg. Bei Gernsbach aber wurde ihnen mitgeteilt, daß der Herzog Burchard von Schwaben gemeinsam mit dem Kaiser den Grafen Heinrich, Judiths Neffen, und nicht den Abt Werinhar von Fulda zum Nachfolger Udalrichs gewählt habe. Das war eine ungeheuerliche Lüge. Niemals hatte Otto diese Wahl vorgenommen. Ein Akt der Hochstapelei aber war es, daß ein Bote Burchards, der sich als Beauftragter des Kaisers ausgab, sogar in Augsburg erschien und die Wahl Heinrichs auf kaiserlichen Befehl von dem Kapitel verlangte.

Als Otto im September in Magdeburg erfuhr, welcher niedrige Mißbrauch mit seinem Namen getrieben worden war, tobte er, daß die Diener aus dem Zimmer liefen. Erst am Abend kam ich mit ihm in ein Gespräch: »Sie kennen das lateinische Sprichwort: Et in malo bonum ... Vergessen Sie – zum Scheine – den Streich. Bestätigen Sie diesen Bischof auf seinem ergaunerten Stuhl, um jetzt, wo es zu spät ist, Wirren zu vermeiden. Halten Sie sich aber, ohne nur ein Atom Ihres Vorhabens zu verraten, zum Schlag gegen diejenigen bereit, die Ihnen diese Suppe eingebrockt haben. Von dem alten, krebskranken Burchard wird Sie ja der liebe Gott wahrscheinlich bald befreien. Was Sie aber danach zu tun haben, braucht Ihnen nach allem Geschehenen wohl niemand mehr nahezulegen.«

Tatsächlich erreichte uns am 1. Dezember in Duisburg die Nachricht, daß Burchard in seinem siebzigsten Jahr am 11. November gestorben sei.

Ich hatte niemals mehr mit dem Kaiser über ihn und den Augsburger Skandal gesprochen. Noch in der gleichen Nacht wurde Liudolf's Sohn Otto – Glaukós – zum Herzog von Schwaben ernannt und die Herzoginwitwe Hadwig jeden Anspruchs auf die Herrschaft für verlustig erklärt. Nur der persönliche Besitz ihres Mannes und einige Klostergüter wurden ihr gelassen.

Nun tobten Adelheid und alle, welche an die Möglichkeit eines neuen Kuhhandels zugunsten Hadwigs geglaubt hatten. Selbstverständlich wurde mir die Schuld an dieser »Ungeheuerlichkeit« in die Schuhe geschoben. Ich hätte jeden Eid leisten können, daß ich keinen Anteil an der ersten, wahrhaft männlichen Entscheidung des Kaisers hatte. Also nahm ich es auch ruhigen Gewissens auf mich, der Kaiserin Adelheid, als sie mich in dieser Angelegenheit zu sprechen verlangte, einen ablehnenden Bescheid zugehen zu lassen.

Schon damals konnte auch sie nicht mehr bei mir ein- und ausgehen wie sie wollte. Ich hatte meinem Hofstaat das strengste byzantinische Zeremoniell auferlegt, um endlich Ruhe vor unerwünschten Bittstellern, Ratgebern, Pfaffen und Anschmeißern zu haben. Auch dem Alkovengewäsch blieb mein Ohr verschlossen. Ich verbrachte die langen Winterabende im vertrautesten Kreis fast wie in Byzanz. Die Räucherbecken brannten von Sandelöl, die Kerzen waren in den Wandleuchtern entzündet, die Ikonen dunkelten vor den Purpurlampen – und die Stimmen der Vorleser zauberten herauf das Gemach der webenden Penelope, den Saal des Alkinoos, das Zelt des Achilleus – oder den Duft der Göttersagen, in denen alle Liebe und alles Leid der Welt eingefangen sind. Der Kaiser war mir gerade damals zum rücksichtsvollsten Freund geworden. Ich wollte nicht, daß er seine Freunde vernachlässige, aber es gab keinen Abend, an dem er nicht noch bei mir seinen böhmischen Met getrunken hätte. Glaukós fehlte uns allen. Und bald würde uns auch Hugo von der Wetterau fehlen. Ich mußte durch einen deutschen Vertrauensmann Tsimiskes auf Möglichkeiten vorbereiten, die sich in Frankreich entwickelten. Niketas war Byzantiner und viel zu unbeteiligt an den westlichen Geschehnissen, als daß er diese Aufgabe – in meinem Sinne – hätte lösen können.

 

Es ereigneten sich im Dezember in Lothringen Dinge, welche keinen Zweifel mehr an der Haltung des Königs Lothar von Frankreich ließen. Daß der Kaiser die lothringischen Unruhen ernst nahm und sogar einen Winterfeldzug nicht scheute, bestärkte mich in meinem Gefühl der Sicherheit. Und daß mich die Kaiserin Adelheid mied, verursachte mir gewiß keine schlaflosen Nächte. Noch weniger Hadwigs Wut über meine (vermeintliche) »byzantinische Hinterhältigkeit«, für die sie mir noch heimzahlen werde.

In Lothringen hatten die Grafen Reginar und Lantbert, welche von Otto I. als Rebellen nach Böhmen verbannt worden waren, sich nun aber – unter Lothars Begünstigung? – wieder in ihrem Lande eingefunden hatten, die Besitzer ihrer beschlagnahmten Güter im Hennegau getötet. Der Kaiser glaubte in diesem Raubzug den Beginn einer allgemeinen Revolte sehen zu müssen und entschloß sich, sofort einzugreifen. Die Kriegsvorbereitungen fielen in die Weihnachtswochen, welche wir in Utrecht verbrachten. Dort auch erreichte mich die erste persönliche Botschaft des Kaisers Tsimiskes: ein Bericht aus seinem Hauptquartier am Euphrat, begleitet von hundert schwarzen Perlen aus den Fischereien der Inseln Bahrein. Den Krieg gegen Swiatoslaw von Kiew hatte er schon 972 mit einem entscheidenden Siege beendet und ganz Ostbulgarien dem oströmischen Reiche einverleibt. Ein Triumphzug in Byzanz hatte diese Erfolge besiegelt. Die politische Lage hatte ihm jedoch keine Rast erlaubt, sondern die Eröffnung der Feindseligkeiten gegen den Kalifen von Bagdad zur Pflicht gemacht ... Der Brief war im August geschrieben, »in den heimatlichen Bergen« ... Ich sah sie vor mir, die fliedergrauen Hügel jenes Dreiecks, das der Zusammenfluß der beiden Euphrat bildet – und es schien mir, einen Augenblick lang, ich atme den Duft ihrer endlosen Kamillenfelder ...

Schon Januar 974 brachte den deutschen Sieg über die Grafen Reginar und Lantbert. Sie fanden – natürlich – am französischen Hofe Zuflucht. Es war Otto trotz der Genugtuung, welche ihm dieser Sieg verlieh, klar, daß die niederlothringische Frage einer Lösung zugeführt werden müsse. Es gehörte wieder ein Herr ins Land, der die kleinen Feudalgewalten in Schach hielt. Eine ewige Unordnung durfte dem französischen König nicht als Vorwand dienen zum Eingreifen, besonders dann nicht, wenn vielleicht an einer anderen Stelle des Reiches ernsthafte Unruhen ausbrachen.

Ich hatte in Quedlinburg, wo wir das Osterfest im April feierten, zum erstenmal Gelegenheit, unter vier Augen mit der Prinzessin Mathilde über die lothringische und bayrische Frage zu sprechen. Ich war erstaunt und glücklich, aus ihrem Munde Worte zu hören, die ich selbst hätte formen können. Diese bedeutende Frau hatte – nicht aus Erfahrung, sondern aus eingeborenem politischem Instinkte – begriffen, daß es unmöglich ist, eine hohe staatsmännische Aufgabe durchzuführen, wenn man nicht einem unantastbaren Leitgedanken folgt. Sie mißbilligte das ewige »Ausgleichen« und »Abrunden« ihrer Mutter Adelheid. Adelheids Vorliebe für die bayrische Dynastie erschien auch ihr als eine Gefahr für den Staat. Die Kaiserinwitwe konnte und wollte es nicht wahrhaben, daß die bayrische Clique eine Clique von lauernden Hochverrätern sei, welche Ansprüche an die kaiserliche Dynastie aus der Tatsache ableitete, daß Otto I. seinem hochfahrenden und ehrgeizigen Bruder Heinrich das Herzogtum Bayern anvertraut hatte. Die Unverschämtheit eines solchen Anspruches war erstaunlich. Es war kindisch, sich das Wohlwollen und die Friedfertigkeit solcher heimlichen Rebellen durch allerhand Begünstigungen erkaufen zu wollen, wie sie im Mai wieder – auf Adelheids ausdrücklichen Wunsch – dem Bischof Abraham von Freising zugestanden worden waren. Rechnete denn Adelheid wirklich so falsch? Oder wollte sie nicht hören, was schon die Spatzen von den Dächern pfiffen: nämlich, daß Heinrich von Bayern die seiner Schwester Hadwig angetane »Schmach« niemals hinnehmen, sondern bei der ersten Gelegenheit »bis aufs Blut« rächen werde?

Schon Ende Juni hatten wir die Probe auf das Exempel: Heinrich von Bayern, unterstützt von Abraham von Freising, von Herzog Boleslaw II. von Böhmen und Herzog Miesko von Polen, trat in den Aufstand. Daß der Böhme und der Pole mit im Spiel waren, bewies, daß es gegen das Reich selbst ging. Da sich der Erzbischof Friedrich von Salzburg, der Bischof Piligrim von Passau und der Graf Berthold vom Nordgau sogleich der Sache des Kaisers anschlossen, konnte die Revolte schon im August niedergeschlagen werden. Herzog Heinrich wurde nach Ingelheim, Abraham von Freising nach Corvey in Haft gegeben ... Otto waren die Schuppen von den Augen gefallen. Er hatte begriffen, daß die Frage der deutschen Dynastie von dem Bayernherzog aufgerollt worden war. Der Verlust der bayrischen Suprematie in ganz Süddeutschland sollte nicht nur wettgemacht, sondern überholt werden. Heinrich hatte losgeschlagen, weil er seine letzte »Chance« ausspielen wollte: War nämlich der neue, durch Hadwigs Entthronung geschaffene Zustand erst einmal zur Gegebenheit geworden, so schien es unmöglich, gegen ihn anzugehen ...

Adelheids Stellung am Hofe wurde sehr erschüttert durch diese bayrische Revolte. Es half ihr nichts, Tag für Tag zu betonen, sie habe vom ersten Augenblick an die Absetzung der Herzogin Hadwig für einen Kardinalfehler gehalten ... Otto wurde ungezogen. Er lachte sie einfach aus: Ob sie vielleicht schon einen zweiten Gatten für Hadwig bereit gehalten habe? Oder ob die grollende Wittib – der bayrischen Machtpolitik zuliebe – abermals willens gewesen sei, ihre »Liebe« zu »verschenken«? Vielleicht sei diesmal ein Siebzehnjähriger der Auserwählte gewesen? Einer von den Kärntner Grafenbuben, mit nackten Knien und einem Gamsfederl auf dem Hut? Adelheid schoß aus ihrem Sessel hoch, raffte die gewaltige Witwenschleppe und rauschte zum Saale hinaus, mühsam gefolgt von Majolus von Cluny, der damals wieder bei uns am Hofe war.

Solche Auftritte, in die ich mich niemals einmischte, waren jetzt an der Tagesordnung. Aber wir hatten keine Zeit, uns allzulange mit ihnen zu beschäftigen. Denn es kamen Nachrichten aus Norden und Süden, die unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Der Dänenkönig Harald war in die Elbgrenzländer eingebrochen – der deutschfreundliche Papst Benedikt VI. war in der Engelsburg durch den Abenteurer Franco di Ferruccio, der sich als Bonifatius VII. selbst die Tiara aufgesetzt hatte, erdrosselt worden – der aufständische Herzog Landulf von Salerno war nach Byzanz entflohen. Also Erhebung an allen Ecken und Enden, nachdem Ottos I. hypnotisch-bindende Kraft verschwunden war: eine Entwicklung, über die man sich nicht sehr zu verwundern brauchte. Es galt natürlich zunächst, die Dänen in ihre Grenzen zurückzuweisen. Dies gelang rasch. Harald mußte sich zu hohen Tributzahlungen bereitfinden. In Rom aber hatte der kaiserliche Geschäftsträger, Graf Sikko, schon Anfang August gründliche Arbeit gemacht. Er hatte Franco di Ferruccio vom päpstlichen Stuhl verjagt, jedoch nicht verhindern können, daß dieser Abenteurer mit dem Kirchenschatz nach Byzanz entfloh, das gerade damals die Freistatt ausländischer Glücksritter und Lumpen war. Adelheid bestürmte den Abt Majolus, die Tiara anzunehmen: Er sei der einzige Mann, der in Rom Ordnung zu schaffen und dem päpstlichen Namen wieder sein Prestige zurückzugeben vermöge. Auch Otto schien diese Auffassung zu teilen. Aber Majolus lächelte: Ob man wirklich glaube, er werde die überweltlichen und überzeitlichen Werte Clunys, für die er sich sein ganzes Leben eingesetzt habe, der Politik opfern? Sich auf diese schmutzigen Händel einlassen? Sich mit dem verkommenen römischen Adel herumschlagen? Nein, so sehr ihn auch das kaiserliche Angebot ehre: er müsse es ablehnen. Zu dem Amte des Papstes gehöre ein anderer Mann als er. Man möge sich des Bischofs von Sutri erinnern. Der sei Anhänger der Clunyschen Reform, wie viele der großen römischen Familien, und außerdem mit den Crescentiern verwandt. Otto befolgte diesen guten Rat und gab dem Empfohlenen im Oktober die Tiara. Der neue Papst nannte sich Benedikt VII.

 

Wir feierten das Weihnachtsfest diesmal in der Pfalz von Pöhlde. Diese nördliche Landschaft war mir sehr ans Herz gewachsen. Der Strenge der unendlichen Tannenwälder fehlte die Düsterkeit. Sie war voll dunkler Güte. Sie nahm schweigend in Schutz. Oft lag ich nachts im Fensterbogen und atmete den Harzgeruch, der die Lungen weitete und bis auf den Grund des Blutes hinunterstieg. Oder ich lauschte, in meinem Bette liegend und das Auge in der Stille einer Kerze ausruhen lassend, in den Wind, der die Fichtensäume entlang strich und oft wie Orgelklang aufbrauste. Wie habe ich ihn lieben gelernt, diesen Wind der norddeutschen Ebenen, in dem schon das atlantische Meer ist, oder die baltische See, und ein Raunen aus jenen slawischen Ländern, welches der deutschen Größe den Weg wies.

Ich sprach lange mit Willigis über die östlichen Fragen. Dieser Mann dachte selbständig. Er bediente sich niemals entliehener und verbrauchter Schlagworte (wie Adelheid). Die imperiale Idee hieß bei ihm nicht Aachen–Rom. Er griff weit nach Osten, griff auch nach Frankreich hinüber, umspannte den Norden, machte im Süden aber an der Stelle halt, wo die deutschen Machtmittel endeten. Schon Rom – ohne Flotte – gegen die Sarazenen zu halten war schwer. Um wieviel schwerer wäre es gewesen, die süditalischen Provinzen gegen die byzantinische Flotte zu behaupten! ... Wir unterrichteten uns gegenseitig. Ich machte ihm klar, was Byzanz in Wahrheit sei. Er belehrte mich über die innere Lage Deutschlands seit dem Zerfall des karolingischen Reiches. Er fühlte sächsisch, aber er dachte, wie der große tote Kaiser, karolingisch. Er kam in jenen ruhigen Dezembertagen oft zu mir ...

Am Weihnachtsabend traf ein Brief von Tsimiskes ein, auch diesmal von so wundervollem Schmuck begleitet, daß das Staunen über diese Arbeiten aus den Werkstätten von Ephesos kein Ende nehmen wollte. Ich sagte, daß man über kurz oder lang in Deutschland ebenso schöne Kunstwerke herstellen werde. Denn ich hatte den Entschluß gefaßt, die Bemühungen des großen Brun um sein Lieblingskloster St. Pantaleon in Köln wiederaufzunehmen und meine besondere Fürsorge den Goldschmieden zu widmen. Es war nötig, in diesem Lande ohne Hauptstadt Orte zu gründen, die allen Künstlern zur Heimat werden konnten ... Mir selbst aber war es zum Bedürfnis geworden, meinem durch politische Fragen überbelasteten Leben ein Gegengewicht zu schaffen, indem ich die künstlerischen Anlagen meines Wesens spielen ließ.

Tsimiskes' Brief war im Oktober in Byzanz geschrieben. Er berichtete von den mesopotamischen Erfolgen. Der Emir Bochtejar war besiegt, der Kalif Al Mothi in Tribut gezwungen worden. In der Hauptstadt wucherte wieder das Unkraut der Intrigen. Die Gegner regten sich an allen Ecken und Enden. Der Patriarch zeigte sich so feindlich, daß er in ein Kloster am Skamandros verbannt und durch Anton von Studion ersetzt werden mußte. Der Usurpatorpapst aus Rom, Franco di Ferruccio, versuchte Einfluß auf die Politik zu gewinnen. Sein gestohlenes Gold ging in den deutschfeindlichen Kreisen der Hochfinanz um. Es wäre unklug gewesen, ihn verhaften zu lassen. Er wies den Weg in manches Verschwörernest.

Diese Nachrichten gaben mir viel zu denken. Ich war sehr hellhörig geworden seit Burchards Gaunerei. Wurde da von römischen, von byzantinischen und von deutschen Rebellenkreisen nicht ein gemeinsames Spiel gegen die »Autokraten« Tsimiskes und Otto gespielt? Ich ließ noch am gleichen Abend Niketas sagen, daß er in wenigen Tagen in das byzantinische Hauptquartier reisen müsse.

Ich war froh, daß das Land nun einschneite. Ich konnte ruhiger denken mit dem Blick in das kühle, ausgleichende Weiß, das am Abend manchmal rosa wurde wie die Farbe der Zyklamen ...

 

Im Januar 975 starb in Mainz der Erzbischof-Erzkanzler Ruotbert, der uns nicht besonders nahegestanden hatte. Wir hatten keine Mühe, seinen Nachfolger zu bestimmen. Es konnte nur ein einziger sein: unser Freund Willigis. Die Erzkanzlerschaft des Reiches in den Händen dieses Mannes zu wissen war für mich eine unendliche Beruhigung.

Ich wußte, daß dem Reich Erschütterungen bevorstanden, die eine sichere Führung der Außen- und Innenpolitik verlangten. Es waren Nachrichten aus Frankreich zu uns gedrungen, die keinen Zweifel darüber ließen, daß König Lothar Schlimmes im Schilde führte. Adelheid wollte dies in Abrede stellen. Aber die ungewöhnliche Vorliebe, die sie für ihren Schwiegersohn hegte, entwertete ihre Meinung. Sie sah sehr oft, was sie sehen wollte: nicht aber, was in Wirklichkeit war. Ich begann damals, die lothringische Frage in allen ihren Zusammenhängen durchzudenken. Sie wurde für mich zu einer Kernfrage der kaiserlichen Politik. Obwohl mir Beweise fehlten, war ich davon überzeugt, daß zwischen Heinrich von Bayern und Lothar von Frankreich geheime Abmachungen bestanden. Es kam mir also sehr erwünscht, daß der Kaiser im Herbst eine Strafexpedition gegen Boleslaw II. von Böhmen vornahm. Daß man zu Ende des Jahres endlich an die Errichtung des Bistums Prag denken konnte, war nur dem Erfolg dieses Kriegszuges zu danken. Als erster Bischof wurde Dethmar ernannt. Er unterstand dem Erzbistum Mainz, konnte aber seinen Posten noch nicht antreten.

Die Reise nach der elsässischen Pfalz Erstein war beschwerlich. Denn der Winter war von ungewöhnlicher Strenge. Tag und Nacht flammten die Eichenäste in den ungeheuren Kaminen. In meinen Wohnräumen waren die Wände mit Pelzen verkleidet worden. Ein Brief des Kaisers Tsimiskes, im syrischen Hauptquartier abgefaßt, versetzte mich in Unruhe, obwohl er wieder von Siegen berichtete. Emesa, Balbek, Damaskus und Beirut waren genommen. Aber dies galt mir wenig vor dem Eingeständnis des Kaisers, daß seine Gesundheit viel zu wünschen übriglasse und eine Rückkehr nach Byzanz notwendig sei. Dieser Satz stach mir ins Herz. Die Worte ließen nicht erkennen, wie sie aufeinander zu beziehen waren. Aber meine Ahnung verschaffte mir Klarheit. Denn schon Hugo von der Wetterau, der den Kaiser auf diesem Feldzug begleitete, hatte mir Schilderungen über die innerpolitischen Verhältnisse im oströmischen Reiche und die Umtriebe in der Hauptstadt gegeben, die mich Schlimmes befürchten ließen. Es war mir klar, daß die Synkletikoí die Sozialpolitik des Tsimiskes bekämpften. Vielleicht war es unklug von ihm gewesen, schon Reformen anzukündigen, bevor alle Feldzüge beendet waren. Aber er hatte dies sehr wahrscheinlich getan, um die Armee auf Tod und Leben an sich zu ketten. Und doch mag ihm sein Temperament einen Streich gespielt haben: Er konnte nicht mit der Proklamierung einer Idee hinter dem Berg halten, wenn diese Idee ihn leidenschaftlich erfüllte. Mein Vater, und vor allem Bardas Skleros, hatten ihn oft genug gewarnt. Seine Natur hatte ihn immer wieder zu allzu großer Freimütigkeit hingerissen. Auch war ihm seine Spottlust gefährlich. Wären schon Berichte von Niketas in meiner Hand gewesen, so hätte ich mir vielleicht ein klareres Bild von der byzantinischen Lage machen können. Ich wußte nur durch einen kurzen Brief, daß er nach beschwerlicher Reise in Antiochia angekommen sei. Warum erwähnte ihn Tsimiskes mit keiner Silbe in seinem Schreiben? Hielt er es für gefährlich, einen Namen zu nennen? Fürchtete er Überfälle auf den kaiserlichen Kurier? Waren die Kurkuas gefährdet? Quälende Ungewißheiten ... Noch während ich saß und grübelte, kamen die Eilboten des Niketas. Ich lief ihnen entgegen. Anastasia Dalassena war so erschrocken, daß sie sich in ihrem Sessel nicht rühren konnte. Der Bericht lautete, Niketas sei in Byzanz festgehalten worden. Von dem Parakimuménos Basileios. Erst nach zwei Monaten Wartens sei ihm die Weiterreise »auf seine armenischen Güter« erlaubt worden. Es sei ihm trotzdem gelungen, den Kaiser auf dessen Heimreise in Kilikien zu erreichen. Alles Weitere stehe in dem Brief, der sich in doppelter Ausfertigung in den Dolchgriffen der Wehrgehenke befinde. Der Fürst Niketas ersuche Ihre Majestät, kein Antwortschreiben zu senden, sondern weitere Nachricht aus Byzanz abzuwarten ...

Ich raffte mich zusammen, ließ den beiden Offizieren ihre Zimmer anweisen und bat sie zur Abendtafel. Dann ließ ich die Griffe der Dolche öffnen und las ... Meine Ahnungen waren richtig gewesen. Die Revolte gegen den Kaiser Tsimiskes wurde von dem Parakimuménos im geheimen vorbereitet. Die Siege in Kleinasien hatten die Feudalfamilien in ungeheure Aufregung versetzt. Sie glaubten sich und ihre Vermögen verloren, wenn Tsimiskes seine Pläne durchführte. Nichts Besseres konnte dem Parakimuménos geschehen. Denn er war der reichste von allen und wußte, wie verächtlich sich Tsimiskes über ihn als einen Parasiten »am Staat« geäußert hatte. Nur die persönliche Anwesenheit des Kaisers in der Hauptstadt und sein schonungsloses Zuschlagen konnte die Lage retten. Selbstverständlich war Tsimiskes von allen seinen Anhängern umgeben. Auch Hugo von der Wetterau war bei ihm. Der entflohene Mörder-Papst war einer der schlimmsten Hetzer gegen das deutsch-römische Imperium. Aber er hielt sich der Vorsicht halber nicht in Byzanz auf. Man wußte nicht genau, wo. Jedenfalls in einem Hafen, von dem aus er rasch das Weite suchen konnte, wenn Tsimiskes Herr der Lage blieb, was, angesichts der Haltung der Armee, das Wahrscheinliche war. Hugo von der Wetterau würde unter allen Umständen einen Rückhalt an der Familie Skleros haben. Es war für ihn selbstverständlich, daß er auf seinem Posten verblieb. Die deutsche Politik stand vorläufig im Hintergrund. Von einem Haß gegen die Deutschen oder das deutsche Kaiserpaar war bei Absendung des Briefes nichts zu verspüren. Entscheidend blieb, daß die Gesundheit des Kaisers standhielt. Er litt an Fiebern und typhusartigen Störungen, welche die Ärzte auf den Genuß schlechten Wassers zurückführten ...

Ich ließ die Blätter auf meine Knie sinken. Eine jähe Angst befiel mich: Wir sind Ende Dezember: die Entscheidung muß ja schon gefallen sein ... Und wenn sie gegen Tsimiskes gefallen wäre? Das war nicht auszudenken ... Ich konnte es nicht abwarten, die Offiziere wiederzusehen ... Ich atmete auf, als sie endlich erschienen und meine Sorge gar nicht verstanden. Sie sagten, das ganze Reich stehe hinter diesem Kaiser, dem ein ungeheurer Triumph in Byzanz vorbereitet werde. Es sei ausgeschlossen, daß gegen einen solchen Herrscher irgendein Mensch aufkommen könne ... Ein Mensch! Diese Kinder! Ich wagte nicht zu sagen, was ich dachte ... Ein Mensch!

Ein Glück, daß Willigis am Hof war. Ich sprach lange mit ihm und dem Kaiser. Er beruhigte mich. Es sei das Schicksal aller Herrschenden, von einer Stunde zur anderen in solche Peripetien gerissen zu werden. Und es sei das oberste Gesetz des Herrschens, durch Vorgestelltes nicht Kräfte aufzubrauchen, die man zur Bändigung des Tatsächlichen benötige. So begreiflich meine leidenschaftliche Teilnahme an den Ereignissen in Byzanz sei, so dürfe ich doch nicht vergessen, auf welchen Platz mich das Schicksal gewiesen habe. Es werde immer einen Weg geben, die deutsch-byzantinischen Beziehungen zu regeln ... »Aber vielleicht nicht den, der ein Teil meiner Aufgabe ist!« erwiderte ich. – »Wir haben nicht die Macht, dem Schicksal vorzugreifen, Majestät. Wir können nur unser Letztes tun, es zu meistern.« Der Kaiser nickte ... Wir saßen eine Zeitlang schweigend, als die Kaiserin Adelheid gemeldet wurde ... »Ich höre, die Dinge in Byzanz gehen nicht ganz nach Wunsch?« Ich sah die Fragerin von Kopf bis zu Fuß an, während ich aufstand: »Ich glaube nicht, Majestät, daß dieser Satz die richtige Einschaltung in unser Gespräch ist. Es geht – auch für Sie – um Schmerzlicheres, als Sie vielleicht ahnen. Sie werden mich für heute abend entschuldigen müssen. Ich möchte mich noch mit den beiden Offizieren der byzantinischen Leibgarde über einige persönliche Angelegenheiten unterhalten, die mir am Herzen liegen, für Sie aber ohne Bedeutung sind. Ich habe Ihrem Sohne schon den Brief des Fürsten Niketas gegeben. Dieses Schreiben wird Sie besser unterrichten, als mein Mund es heute vermöchte. Vielleicht ist der Basileus zu dieser Stunde schon nicht mehr am Leben. Ihr hoher Sinn für ›Verwandtschaft‹ wird Sie vielleicht auch meine Sorge um einen solchen Verwandten begreifen lassen. Nehmen wir es von dieser Seite.« Ich verließ mit Anastasia Dalassena rasch den Raum, um nicht zu zeigen, daß mir die Tränen des Zornes aufstiegen. Ich stieß mit dem Fuß auf den Boden, als wir in meinem Zimmer angekommen waren: »Ich will diese Frau nicht mehr sehen ... Sie soll nach Burgund oder nach Italien gehen ... Sie ist überflüssig an meinem Hof!«


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