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25. Aschenbrödel.

Vgl. Grimm, Märchen, vollständige Ausgabe, Nr. 21.

In einem Walde, der von der ganzen, weiten Welt abgelegen war, und wo man selten eine andre Stimme hörte als die Stimme der Vögelein, die da sangen, oder als das Girren der Tauben und Brüllen der Hirsche, lag von allen Menschen ungewußt zwischen höchsten Bergen ein wunderliebliches Tal, und in dem Tale stand ein kleines, kleines Häuschen, mit Stroh gedeckt und mit hellen Fensterscheiben, und an dem Häuschen war ein Gärtchen, wohl nicht so groß als der Garten Eden, worin Adam und Eva einst gelebt haben, aber gewiß ebenso schön. Das Häuschen war wohl eines der kleinsten Häuser, die jemals gebaut sind, denn es hatte nur zwei ganz kleine Kammern, gerade geräumig genug, daß in jeder ein Bett, ein Stuhl und ein kleines Tischchen stehen konnte. In der einen Kammer wohnte ein alter Mann, dessen Kopf schon schneeweiß war, und in der andern ein kleines Mädchen mit blonden Löckchen und rosenroten Wängelein und mit den hellsten und freundlichsten, himmelblauen Äugelein. Wie der Mann hieß, das weiß ich nicht, aber das kleine Mädchen hieß Nanthildchen. Diese beiden wohnten ganz allein im Hanse. Sie lebten aber ganz verschieden; denn der Mann saß den ganzen Tag in seinem einsamen Kämmerchen und studierte Bücher verborgener Weisheit; das Mädchen aber lief in dem Garten herum und spielte sich von einer Blume zur andern und von einem Vogelnest zum andern. Des Nachts aber, wann das Mägdlein im süßen Schlaf lag, wandelte der Meister in dem Garten und auf der Waldhöhe und betrachtete den Lauf des gestirnten Himmels; denn er war ein gewaltiger Sternkundiger. Gesprochen, glaube ich, ist in keinem Hause auf Erden weniger als in diesem Hause, denn der Alte war fast immer still und in sich gekehrt und sprach nimmer ein Sterbenswort mit dem Kinde als des Morgens, wo er sie im Katechismus und in Gottes Wort unterwies, und des Abends, wo er vor dem Schlafengehen mit ihr betete. Selten hat er ihr an den langen Winterabenden wohl einmal eine Geschichte erzählt; er hat ihr aber die allerhübschesten Geschichten- und Märchenbücher mit den niedlichsten Bildern geschenkt, worin sie lesen und sich die Zeit vertreiben konnte, wenn der Tag zu kurz war. Aber unendlich lieb hat der Mann das Kind gehabt und das Kind wieder den Mann, welchen es Vater nannte. Er hat es oft stundenlang auf seinem Schoß und an seiner Brust gehegt und es also an seinem Herzen einschlafen lassen; und dann sind ihm wohl die Tränen in die Augen gekommen, und er hat die Hände gefaltet, gebetet, die Augen gen Himmel gehoben und gesprochen: »Allmächtiger, Barmherziger, laß dieses süße Kindlein glücklicher sein, als ich gewesen bin!« Den ganzen Tag aber, solange die Sonne am Himmel stand, spielte das Kind in seinem Garten unter den Blumen und Vögeln, die hier nie aufhörten zu blühen und zu singen. Denn in diesem freundlichen und anmutigen Tale war ein ewiger Frühling und Sommer, und Blüten und Früchte sah man immer nebeneinander. Auch aßen Nanthildchen und ihr Vater nichts anderes als Früchte und Brot und tranken Milch und Wasser dazu.

So hatte das Kind in seiner Einfalt und Unschuld fortgespielt und war zwölf Jahre alt geworden unter seinen Blumen und unter den Engelein Gottes, die oft unsichtbar und in der Gestalt von Vögeln und Schmetterlingen um sie scherzten, und war gewiß das allerholdseligste und freundlichste Kind auf Erden. Da hatte sich einmal ein Prinz, und zwar ein königlicher Prinz und der einzige Sohn des Königs, der über die Länder herrschte, auf der Jagd in den Bergen verirrt und war in das heimliche, verborgene Tal hinabgekommen und zu dem Gärtchen, worin das Mägdlein spielte. Und das Kind hatte sich über den schönen Jüngling gefreut und hatte ihm Lilien und Rosen gebracht, und er hatte sich auch gefreut und das Kind auf seinen Arm genommen und es vieltausendmal geküßt und geherzt. Und darauf, als er die Jagdhörner seiner Begleiter heranblasen gehört, hatte er es freundlich gegrüßt und war weggegangen einen Seitenpfad den steilen Berg hinan und hatte beim Abschiede gerufen: »Spiele fröhlich, Nanthildchen, ich komme bald wieder und bringe dir was Schönes mit!« Und als der Abend gekommen war, hatte Nanthildchen dem Vater alles erzählt, und er hatte den Kopf dazu geschüttelt und bedenklich ausgesehen. Das hatte ihm aber am wenigsten gefallen, daß das Kind, als sie von dem Jüngling erzählte, einmal über das andere ausrief: »O er war auch gar zu schön, viel, viel schöner als du, wenn du mich am allerliebsten hast und mir das Liedchen singst:

Nanthilde, süßes Röselein,
Blüh, blüh im hellen Sonnenschein!
Blüh, blüh, mein süßes Röselein,
Geschirmt von Gottes Engelein!«

Bei diesen letzten Worten des Kindes waren ihm die hellen Tränen in die Augen getreten, was ihm nicht leicht geschah, und er hatte aufstehen und weggehen müssen, damit er dem Kinde die Bewegung seines Herzens verberge.

Und als der dritte Tag nach diesem vergangen war und der vierte kam, da kam auch der schöne Prinz wieder geritten; und er kam diesmal in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit in einem goldnen Kleide mit Knöpfen von Demanten besetzt. Und er hat wohl an die zwei Stunden mit dem süßen Mägdlein in dem Garten gesessen und mit ihr gespielt und sich ihre Blumen und Vogelnester zeigen lassen und sie dann auf den Schoß genommen und ihr allerlei anmutige Geschichten erzählt. Endlich hat er ihr ein blaues, seidnes Kleidchen gegeben und ein feines Goldringelein, in welchem ein Demant funkelte, und dabei gesprochen: »Behalte das, Nanthildchen, und trag' es zu meinem Andenken!« Darauf hat er das Kind auf seinen Arm gehoben und es geküßt und ist weggeritten und hat ihm noch mit den Händen zugewinkt und zugerufen: »Gott behüte dich! Ich komme bald wieder.«

Und als die Sonne untergegangen war und das Kind den Abend zu seinem Vater in das Kämmerchen trat, sprach er: »Mein Kind Nanthildchen, was ist dir? Du siehst ja so rot aus, als wenn du eben auf der Schmetterlingsjagd gewesen wärest!« Und sie hat geantwortet: »O er ist wieder dagewesen, der schöne, junge Mann, von welchem ich dir jüngst erzählte; und er war noch viel schöner als damals, und er war so prächtig und hatte Knöpfe an seinem Rock, die wie die Sterne funkelten, und ich habe mit ihm im Garten umherspringen und ihm alle meine schönsten Blumen zeigen und mit ihm spielen müssen; und er ist viel länger geblieben als das erstemal und hat mir noch viel freundlicher gedeucht; und er will auch oft wiederkommen und mit mir spielen, hat er gesagt; und sieh mal, was er mir Schönes geschenkt hat!« Und sie zeigte in heller Freude das seidene Kleid und den goldnen Ring. Und der Alte besah sich das und ward blaß wie der Schnee, als er den Ring umkehrte und die Worte las, die darin geschrieben standen. Aber er schwieg und sagte kein Wort. Als aber das Kind zu Bett gegangen war, trieb es ihn unruhig hinaus, und er schaute in den Sternenhimmel und rief mit großer Bewegung: »O du ewiger Sternenfürst! Noch keinen Frieden? Und ich muß wieder von hinnen und all diese stille Traulichkeit und Lieblichkeit verlassen? Denn auch hier finden mich, die mir nach der Seele stehen. Ja, fort! Fort! Und morgen noch fort, ehe die Sonne über die Berge ins Tal guckt!«

Ich muß aber nun sagen, wer der alte Mann war, dem die weißen Locken schon die Scheitel herabhingen. Er war aus dem Lande der alten Franken von weiland und war der Sohn eines Frankenkönigs, der in der Stadt Metz im Ardenner Wald wohnte. Es hatte sich aber in den Tagen seiner Jugend begeben, daß ein anderer König der Franken, der in Burgund wohnte, plötzlich seinen Vater überfallen und ihn und alle seine Kinder, Söhne und Töchter, erschlagen hatte bis auf einen einzigen, einen Knaben von zehn Jahren, den ein treuer Diener auf seinem Rücken durch den Ardenner Wald weggetragen und an einen verborgenen Ort geflüchtet hatte. Und dieser junge Knabe war der alte Mann mit den schneeweißen Locken gewesen, der jetzt in den Sternenhimmel schauete. Und er hatte in seiner Jugend viele Abenteuer und Gefahren durchlebt und auch mehrmals um das Reich seines Vaters gestritten; aber es hatte ihm nicht gelingen wollen. Darauf war er ins Morgenland gezogen, ins Gelobte Land, und hatte gegen die Unchristen gekämpft in Syrien, Babylonien und Ägyptenland und hatte dort viele verborgene Weisheit gelernt. Und da war ihm von einer Sultanstochter, die er im Kriege gefangen, getauft und gechristet und darauf sich als Gemahl beigelegt hatte, das einzige Töchterlein, das er hatte, geboren. Als ihm aber jenes sein holdes Weib gestorben war, da hatte es ihm unheimlich gedeucht in Asien, und hatte eine unbeschreibliche Sehnsucht ihn in seine Heimat zurückgetrieben. Er wollte dort aber in seinem fünfzigsten Jahre nicht mehr um Königskronen streiten sondern um die himmlische und unverlierbare Krone, ob er die gewinnen möchte. Und so hatte er sich mit seiner Weisheit und seinen Schätzen wohl zwanzig Meilen abwärts Metz im tiefsten Walde seine stille Heimat gesucht und dort schon acht Jahre mit seinem Töchterchen gewohnt. Der junge Prinz aber war der Enkel des Königs, der seinen Vater und dessen Geschlecht vertilgt hatte. Und das wußte er wohl.

Er schlief die ganze Nacht nicht sondern wachte und betete im Freien und auch in dem Kämmerchen über seinem Kinde. Und ehe noch der Tag anbrach und es kaum dämmerte, weckte er Nanthildchen auf und sagte: »Steh auf! Steh auf, mein Kind, und halte hier dein letztes Morgengebet mit mir; denn wir müssen reisen. Jener schöne Jüngling, den du gesehen hast, darf mich nimmer sehen; denn wisse, er ist mein Todfeind und sein ganzes Geschlecht mit ihm.« Und Nanthildchen hat diese Worte des Vaters mit Erstaunen und Schrecken gehört, und zum erstenmal in ihrem Leben hat sie gezittert. Und der Alte hat sich Träger geschafft, Gott weiß, woher, die ihm seine Bücher und Schätze trugen, und er hat sein Kind an die Hand genommen und einen Feuerbrand an das Häuschen gehalten und dabei gerufen: »Hier wohne nimmermehr ein Sterblicher!« Und so ist das Häuschen hinter ihnen in hellen Flammen aufgegangen und hat ihnen auf ihrem Pfade nachgeleuchtet; Nanthildchen aber hat bitterlich geweint, als auch der liebliche Garten fern hinter ihnen lag. Und so sind sie vier Tage gewandert durch Wald und Gebirg, bis sie in eine Gegend gelangten, die noch viel einsamer und verschlossener war als die, wo sie gewohnt hatten; und da hat der Alte sich wieder ein stilles, verborgenes Tal gesucht und ein Häuschen gebaut und ein Gärtchen angelegt gleich den vorigen. Es ist aber wunderbar gewesen, wie geschwind die Bäume dort gewachsen sind, und wie bald der bunteste Blumenflor dort wieder in Blüte geprangt hat, daß einer hätte glauben können, es sei Zauberei dabei gewesen.

Der Prinz ist den andern Tag nach ihrer Flucht aus dem Tale wieder den Berg herabgekommen zu der Stelle, wo er das süße und englische Blumenkindlein gefunden, und hat sie in dem Garten und unter allen Blumen, in allen Lauben und an allen Quellen gesucht, aber nirgends mehr eine Spur von ihr finden können. Aber als er zu der Stelle gekommen, wo jüngst das Häuschen noch gestanden, und wo nun schwarze Kohlen und graue Aschen lagen, ist er in sich gewaltig erschrocken und hat eine Weile so starr dagestanden, als sollte er augenblicklich zu Stein werden. Darauf flogen ihm mancherlei wilde und verworrene Gedanken durch die Seele; der traurige Gedanke aber ist endlich fest darin gesessen, daß Räuber gekommen und sie erschlagen und verbrannt oder auch den Alten erschlagen und das schöne Kindlein mit sich weggeführt hätten; denn das deuchte ihm zuletzt unmöglich, daß an solche Huld und Lieblichkeit ein Mörder die Hand legen könne, und mit dieser Vorstellung tröstete er sich doch ein wenig. Und er ist lange Zeit in dem Garten traurig auf und ab gegangen und hat jede Blume und jedes Sträuchlein mit einer Träne begossen; denn nun, da sie weg war, fühlte er erst, wie lieb ihm das Kind Nanthilde gewesen. So ist er endlich schmerzenreich zu Hause geritten und hat seinen Gram und seine Sehnsucht nicht bergen können; denn er hatte nur einen Gedanken und ein Leben, und das war Nanthilde und immer Nanthilde.

Und der König, sein Vater, ward bestürzt, als er ihn so bleich, stumm und traurig erblickte, und fragte ihn um die Ursache seiner Traurigkeit. Der Prinz aber antwortete ihm: »Mein Herr König und Vater, dein Sohn und Diener hatte im einsamen Waldtale, wo er jagen gegangen war, ein schneeweißes Reh gefunden, das zahm war wie ein Kind, und mit dem er scherzen und spielen konnte, und das Reh war seiner Seele lieb geworden – und siehe! Nun sind Räuber gekommen und haben das niedliche Tierchen getötet oder gestohlen. Darum ist mir das Herz so voll Traurigkeit. Und wenn du mich lieb hast, sei nun gnädig und erlaube, daß deine Zimmerleute mit mir da hinabziehen und mir ein Häuschen bauen, worin ich zuweilen wohnen und die fröhlichen und unschuldigen Waldvögelein klingen und zwitschern hören kann, wenn mir des Schellengeklingels und Zungengeflüsters der Schmeichler und Schönsprecher in deinen königlichen Sälen zuviel wird!« Und der alte König lächelte und sprach ja und schickte seine Zimmerleute über das Gebirg hinab, und der Prinz ritt mit ihnen und zeigte ihnen, wo und wie sie ihm das Häuschen bauen sollten. Er wollte aber eben ein solches Häuschen haben, wie er weiland auf der Brandstätte gesehen, und es sollte auch da wieder hingebaut werden. Und sie waren in zwei Tagen fertig mit dem Bau und verwunderten sich des Prinzen, daß seine Herrlichkeit unter einem so niedrigen Dache wohnen wollte.

Und die Leute raunten sich nun mit halber Stimme zu, der Prinz sei närrisch geworden; einige aber gruben tiefer und meinten, er suche die Weisheit und dürfe sich das nur vor seinem Vater, dem König, nicht merken lassen; die Weisheit aber wohne nicht in dem großen Glanz und Getümmel noch in der Könige Häusern sondern müsse in der Einsamkeit gesucht und erfleht werden. Und der Prinz wohnte hinfort fast immer im Walde und kam selten in die Städte und auf die königlichen Schlösser. Jäger war er auch nicht mehr, und die Hirsche und Rehe mochten ruhig um ihn spielen und die Auerhähne locken und die Tauben girren und die kleinen Nachtigallen, Finken und Zeisige singen – kein Hund und kein Hifthorn und kein rasselndes Geschoß störte den stillen Frieden dieser verborgenen Waldgründe. Prinz Hilderich war nun ein fleißiger und frommer Gärtner geworden, der Unkraut von den Beeten jätete und Bäume und Blumen pflanzte und begoß. Denn die Bäume und Blumen standen und blüheten noch wie vormals, und da wähnte das sehnsüchtige Herz die Füße und Hände der geliebten Kleinen wieder zu berühren. Wenn er aber von der Arbeit ermüdet war, dann ist er gesessen, wo er mit dem holdseligen Kinde gespielt hatte, und an der Stelle gestanden, wo er sie zuerst am Zaun stehend gefunden, und wo sie ihm ein Sträußchen von Rosen und Lilien gereicht hatte. Da ist der arme Prinz oft stundenlang gestanden und hat in Sehnsucht bergan geschaut, den Pfad hinauf, welchen er in glücklichen Tagen heruntergekommen war, und hat in seiner Sehnsucht den Tag und die Sonne vergessen, und der Mond und die Sterne sind oft aufgegangen, ohne daß er gewußt, es sei anders am Tage.

Armer Prinz, wie würdest du dich gefreut haben, wenn deine Augen hätten in das Gärtchen hinüberreichen können, wo deine Nanthilde jetzt wohnte, zwanzig Meilen weiter, und wo sie ebenso stand wie du und mit den Sternen kosete und mit sehnsüchtigen Augen die hohen Berge hinanschaute und seufzete: »O mein altes, süßes Gärtchen! Wo bist du geblieben? Wo ist er geblieben? – Und er soll des Vaters Todfeind sein und kann doch mein Todfeind nicht sein – wie ist das doch? Nein, das ist er nicht, ein Bösewicht ist er nicht, gewiß, das ist er nicht; und der Vater irrt sich sicherlich und weiß nicht, wen er meint. O wenn er nur hier wäre, und der Vater könnte ihn sehen! Dann wurde es wohl klar werden.«

So saß der einsame Prinz hier in seinem Gärtchen und verlebte seine traurigen und auch wieder seligen Tage in Sehnsucht und Schwärmerei und ward ein ganz anderer Mensch, als er vorher gewesen. Der mutige, feurige und rüstige Jüngling, der er sonst war, der Ringer, Jäger und Reiter war gar nicht mehr in ihm zu erkennen. Auch fing die Stärke seines Leibes und die Schönheit seiner Gestalt an zu verfallen, so daß der König, der nur diesen einzigen Sohn hatte, sehr traurig war und mit seinen Freunden ratschlagte, wie er ihn dem unwürdigen Müßiggange und der leeren und nichtigen Träumerei entrisse. Es lebte nun an seinem Hofe ein weiser Mann, des Königs Freund und auch des Prinzen Freund, der ging einmal zum Könige und sprach zu ihm: »Herr König, ich wette, diese Krankheit, die dir so schlimm deucht, ist von sehr natürlicher Art und noch heilbar. Wenn ich die Menschen kenne, so hat der Prinz irgend ein Bild im Traum gesehen oder sich aus Sonnenschein und Morgenrot eins gewoben und in dem Blumengarten seines jungen Herzens gehegt, oder ihm ist auch irgendwo leibhaftig das junge, weiße Reh erschienen, von welchem er dir verblümt gesprochen; und das ist die Krankheit und Sehnsucht und das einsiedlerische Gärtchen und Häuschen im Walde, die einem königlichen Jüngling von achtzehn Jahren freilich nicht wohl stehen. Und gegen ein solches Übel weiß ich kein anderes Mittel, als er muß die Stätte ändern. Darum, Herr König, laß ihn in die Welt reisen auf Ritterschaft und mich mit ihm, und ich will sehen, ob ich Freude und Heldentum neu in seiner Brust entzünden und ihn wieder gesund machen kann. Vielleicht auch, wenn die mannigfaltigsten Bilder des Lebens seine Jugend umspielen und umflattern wie bunte Vögel den Frühling, daß jenes zu feste Bild dann aus seiner Seele weicht oder doch in milderen und helleren Farben darin spielt.«

Und die Rede des weisen Reginfrid (so hieß der Rat und Freund des Königs) gefiel dem alten Könige wohl, und er hieß ihn sogleich in den Wald reiten und den Prinzen an den Hof bringen. Und als sie vor den König traten, sprach er also zum Prinzen: »Mein Sohn, ich habe dir in allem immer den Willen und die Lust gelassen, wie sie deinem Herzen gefallen; aber nun muß ich mich deswegen wohl selbst schelten, und es kann mich nicht länger gutdünken, daß du, der einmal Männern gebieten soll, mit den Tieren und Vögeln des Waldes allein lebst und mit Blumen und Schmetterlingen wie ein verliebter junger Schäfer spielst. Deine Jahre sind gekommen, du mußt in die Welt hinaus, in den Kampf der Männer, wo um Glorie und Heldentum gerungen wird! Du sollst auf Ritterschaft reisen, und dieser treue Ritter Reginfrid, dein Freund und mein Freund, soll dein Geleiter sein. Und nun tu mir den Willen und rüste dich; denn ehe die dritte Sonne aufgeht, mußt du auf der Straße sein.« Dieser Befehl des Königs klang dem Prinzen wie ein Donnerschlag; er wollte noch dagegen bitten und sprechen, aber sein Vater erzürnte sich und sprach: »Sei würdig und gehorche! Ich will keines Seufzerlings Vater heißen.«

Der alte Reginfrid rüstete und bereitete alles und ritt den vierten Tag mit dem Prinzen aus dem Schloßhofe. Und sie ritten über Ströme und Berge, und nach drei Wochen kamen sie in das Land des Königs von Hispanien. Und Reginfrid hielt nirgends an, sondern trieb die Reise immer weiter bis in den äußersten Süden und Osten. Denn weil er des Prinzen Sehnsucht kannte, wollte er ihn gern bis ans Ende der Welt bringen, damit die Heimkehr nicht zu geschwind sein könnte. Und sie kamen nach Lissabon am äußersten Westmeer und mieteten dort ein Schiff nach Joppe, und von Joppe ritten sie zur heiligen Stadt Jerusalem hinauf und von da nach Damaskus und Babylon und so immer weiter durch die Grenzen der Perser bis nach Indien und in das Land der Chinesen. Und sie hatten manche Abenteuer zu Wasser und zu Lande erlebt, und der Prinz hatte in Kämpfen mit Riesen und Drachen und in Erlösungen gefangener und bezauberter Prinzessinnen seinen ritterlichen Mut und sein königliches Herz stattlich erwiesen; aber keine einzige dieser Prinzessinnen, wie jung und schön sie auch waren, hat ihm dieses sein Herz auch nur mit einem leichten und zarten Hauch der Lust anwehen, geschweige durchwehen können; das heißt: eigentlich frisch und froh ist er nimmer geworden, auch hat er nimmer von der süßen Krankheit sprechen wollen, die ihm die Brust zernagte, wie oft und wie stark der Ritter auch an diese verschlossene Brust klopfte. Aber der kluge und weise Reginfrid gab acht auf ihn und auf all sein Tun, wie der Falk auf die Tauben, die er fangen will, und er blieb fest bei dem Glauben, daß Hilderich von Liebe krank sei. »Denn«, sprach er, »wieviele liebliche und duftige Blumen der Schönheit haben wir gesehen! Wieviele holdseligste und adligste Prinzessinnen und Kaiser- und Königstöchter haben wir aus Türmen und Zauberschlössern erlöst! Und sie haben sich mit all ihrer Lieblichkeit und Schönheit dem Heldenjüngling ans Herz legen wollen, und er ist kalt geblieben wie der Schnee, der über Felsen hinweht. Nein, das wäre unnatürlich und unmenschlich, wenn es nicht Liebe wäre.«

Zwei Jahre hatte der Prinz dies herumirrende, abenteuernde Leben ertragen und alle Qualen der Sehnsucht nach der geliebten Heimat, woher ihm das leuchtende Bild seiner Jugend entgegenfunkelte und in immer hellerer Schöne vor seinen Blicken aufging. Endlich ward es ihm zu mächtig, und er ward so krank, daß sein weiser Begleiter fürchtete, er werde ihn in der Fremde und bei den Heiden begraben müssen. Als er ihn nun so todesbleich und elend sah, ist er eines Tages vor ihm auf die Knie gefallen, hat ihm die Hand genommen und mit Küssen bedeckt und mit tausend heißen Tränen begossen und dann diese Worte gesprochen: »Stirb nicht! O bei dem allmächtigen Gott bitt' ich dich – lieber Hilderich, stirb mir nur hier nicht! O ich kenne deine Krankheit und muß und will sie heilen. Wenn du liebst (und ich fühle und weiß, du liebst), so liebe auch mit Hoffnung! Denn ohne die grüne Hoffnung ist die schönste Liebe welk. Sei jung und mutig, wie du ein Jüngling bist! Liebe und hoffe, und hoffe und liebe! Denn wie dunkel es dich auch dünke, es kann ja mit Gott noch alles lichter Sonnenschein werden.« Und der Prinz erstaunte ob der Rede des Mannes, und sie hatte ihn so weich gefunden und gemacht, daß er endlich sein süßes und schmerzliches Geheimnis gebeichtet hat. Und Reginfrid war froh und sagte: »Geliebter Prinz, glaube und vertraue, Gott ist mit in diesem wundersamen Spiel. Gewiß, das süße Kind lebt, so grausam hat der Himmel nicht mit dir spielen wollen; du wirst sie wiederfinden, und alles Leid wird Freude werden.« Und er hauchte dem Kranken so viel Hoffnung und Mut in die Brust, daß er von Stund an gesund ward und in wenigen Tagen wieder zu Roß saß.

Jetzt aber legten sie der Rückreise scharfe Sporen an, und es ging wie auf Windesflügeln ohne Rast und Ruh' aus dem Morgenlande immer gen Westen, und der Prinz hätte den Vogel Greif der Wüste Kobi haben mögen, um recht geschwind zur Stelle zu sein, wohin seine Sehnsucht spornte. Da, als sie des Weges ritten in Persien am Kaspischen Meer hin und Hilderich einmal unter grünen Bäumen und blühenden Rosensträuchen ein ländliches Gärtchen und Häuschen sah und ein kleines Mädchen mit blonden Locken, welches die Blumen begoß, sprach er: »So ungefähr war es dort in meinem stillen Bergtale, und solche goldne Locken trug mein Nanthildchen und solche weiße, linnene Kleider! Aber weh mir, denn nimmer wird der stolze König, mein Vater, mir die Tochter eines Gärtners zum Gemahl geben.« »Er wird es, weil er muß, wenn sein Sohn leben soll,« sprach Reginfrid. »Und warum sollte eines armen Mannes Kind nicht Königin sein können? Hast du nicht die schöne Geschichte gehört von dem Könige in England, der eines armen Schäfers Kind aus einem Adlerneste herunterholte, und das Kind ward so wunderschön, daß er es seinem Sohne zur Frau gab? Gott, der größte und künstlichste Meister, macht oft die herrlichsten Menschenkunstwerke in den Hütten der Hirten und Bauern und läßt die weisesten und tapfersten Kaiser und Könige, wenn er will, zuweilen Weichlinge und Ungeheuer zeugen. Und ist dein Nanthildchen die holdseligste und unschuldigste aller Jungfrauen im Lande, wie sollten wir vor ihr nicht gern als vor unserer Königin knien? Darum mutig und fröhlich in Hoffnung weiter!«

So hat Reginfrid den Prinzen getröstet und frischen Lebensmut und Liebesmut in seiner Brust angeblasen, und sie sind immer gegen Westen geritten, bis sie wieder zum Lande der Franken und zur lieben Heimat gelangten.

Und der alte Mann und seine Tochter hatten ein Jahr still in ihrem Tale gewohnt, und Nanthildchen hatte jeden Tag vergebens über den Gartenzaun geguckt, daß ein freundlicher Mann kommen und sie grüßen sollte; aber er war nimmer gekommen. Es kam aber etwas anderes, das nicht so lieb war, in ihr Häuschen, nämlich eine Frau mit zwei Töchtern. Diese brachte ihr Vater einen Tag mit, und sie blieben da, und er befahl Nanthilden, sie solle die Frau Mutter und die beiden Töchter Schwestern nennen, und sie tat das. Aber die Frau hatte kein Mutterherz, und ihre Töchter hatten kein Schwesterherz zu Nanthilden, und das fühlte sie wohl und hielt sich deswegen allein zu ihrem Vater. Wie und warum die nun dahin gekommen sind, das weiß ich nicht; genug, der Alte hatte sie eines Abends mitgebracht und hat die Frau seine Frau genannt. Die Leute sagen aber, es war nicht seine Frau sondern die Frau eines Ritters, der vormals im Morgenlande mit ihm gewesen war, und weil dieser sein Freund nun gestorben war, so nahm er die Wittib und ihre Töchter mit in sein Haus und kleidete sie in köstliche Kleider und hängte ihnen goldne Ringe und Spangen um und gab ihnen alles, was ihr Herz nur begehren konnte; denn er war sehr reich. Aber auch er war am meisten mit seiner Tochter Nanthilde und nahm sie jetzt manche Nächte mit unter den Sternenhimmel und lehrte ihr die verborgene himmlische Weisheit und was Gott und der Heiland den Heiligen und Frommen in stillen Stunden von oben zuflüstern und zuwinken. Und Nanthilde war jetzt eine wunderschöne Jungfrau und dabei recht inniglich fromm und freundlich.

Prinz Hilderich und Ritter Reginfrid waren endlich am Ende des dritten Jahres ihrer abenteuernden Ritterschaft zu Hause gekommen, und der alte König hatte sich darüber so gefreut, daß er vor lauter Freuden gestorben war, und so hatte Hilderich nach ihm das Königreich überkommen. Aber er hatte noch ein anderes Königreich im Herzen, das ihm mehr war als die königliche Krone der Franken und Burgunden, und das ihm Tag und Nacht keine Ruhe ließ, und das war das liebliche Blumenkindchen, das er in dem einsamen Tale gesehen hatte, und das ihm wie ein Wunder erschienen und wie ein Wunder verschwunden war. Wieviel und oft er nun auch auf seinem königlichen Thron sitzen mußte, viel lieber saß er auf der grünen Rasenbank, wo er mit Nanthildchen gesessen und gespielt hatte, und in seinem strohenen Häuschen, wo er sich träumte, daß sie sitzen und mit ihm kosen könnte; und dann seufzete er oft recht schwer: »Ach, was ist die königliche Krone und aller Glanz der Welt gegen den Glanz der Liebe?« Sein redlicher Reginfrid aber tröstete ihn immer mit der Hoffnung und sprach: »Nur immer in den Wald und ins Gebirg, wann Ihr Zeit habt, Herr König! Als Jäger, als Pilger, als Gärtner, als Köhler, als Schäfer und Hirt, kurz in allen Wald- und Feldgestalten alle Berge und Täler in der Runde zwanzig und dreißig Meilen weit durchgewandert und durchgespäht, und wir werden unsre Königin endlich wohl finden! Ich für meinen Teil will auch nicht müßig sein und treu suchen helfen.«

Das glaubte denn Hilderich so gern und wanderte und ritt alle Berge und Täler rastlos auf und ab und ließ keine Köhlerhütte und kein Hirtenhäuschen und Strohhalmdach, das er fand, unbesucht und unbegrüßt. Und er fand auch Frauen und Mädchen die Hülle und die Fülle, und auch recht feine und liebliche; aber was er suchte, das fand er nicht. So war er eines Tages auch in die wilde Gegend gekommen, wo der alte, weise Mann mit der Frau und ihren Töchtern wohnte. Und es traf sich, daß der Alte mit seiner Tochter auf die höchste Bergspitze geklommen war, damit er die Sonne jenseits auf dem Blachfelde untergehen sähe, und siehe, unsern suchenden König hatte seine Sehnsucht auch hieher geführt – und er sah Nanthilden und staunte vor Schrecken und Wonne. Aber in demselben Augenblick war sie auch weg. Denn der Alte schrie bei dem Anblick des Königs Weh mir! und riß sie wie ein Sturmwind mit sich dahin durch das dichteste Gebüsch hinab. Hilderich stand durch Staunen, Freude und Schrecken festgebannt, und ehe er sich besinnen konnte, ob sein Gesicht Traum oder Wirklichkeit gewesen, war auch keine Spur des geliebten Bildes mehr da.

Es ward Nacht, und der König verlor sich die Nacht im Walde. Er suchte und ließ suchen – keiner fand das Tal, wo der Alte wohnte, und doch, glaube ich, ist vor den Spürenden und Suchenden kein Häslein oder Füchslein in seinem Lager geblieben. Doch war Hilderich glückselig, denn er konnte sich sagen: »Ich habe sie wiedergesehen, und endlich werde ich sie wohl finden und behalten!« Und damit tröstete ihn auch sein treuer Reginfrid. Viele aber haben gesagt, der Alte sei ein Zauberer gewesen, und darum habe niemand sein Häuschen und Gärtchen finden können. Das kann man aber nicht glauben; denn dann hätte er den Prinzen von sich und seiner Tochter doch wohl durch Zauberei wegbringen und fernhalten können.

Der Alte, der aus den Augen des Königs Hilderich geschwinder als der Blitz mit seiner Tochter verschwunden war, hatte sich vor Schrecken und Ärger so erschüttert, daß er hart erkrankte und in wenigen Tagen eine Leiche war. Mit ihm war auch Nanthildens Glück gestorben. Die fremde Frau im Hause mit den beiden Töchtern, welche sie Mutter nannte, hatte sie gar nicht freundlich und mütterlich gemeint So, anstatt hatte es gemeint., aber sie hatte doch freundliche Gebärden gemacht und sich verstellt und gezwungen, als der alte Herr, den sie fürchtete, noch lebte. Kaum aber hatte er die Augen zugetan, so fuhren in sie und in ihre Töchter sieben Teufel der Bosheit, und sie brachten jetzt an den Tag, was sie sich früher nicht hatten merken lassen dürfen. Nanthilde, die schöne und unschuldige Nanthilde, das freundliche und sonnenscheinige Kind, das seines Vaters Liebling und Augapfel gewesen war, ward von den drei Greulichen zur gemeinen Küchenmagd, ja zum Aschenbrödel erniedrigt und litt es alles geduldig und war still und gehorsam, denn sie erinnerte sich der Worte ihres Vaters, die er gesprochen, als die Fremden zuerst in das Haus gekommen waren: »Nanthildchen, dies soll nun deine Mutter sein, und ihr sollst du gehorsam sein.«

Die Frau, die eine recht tüchtige, alte Wetterhexe war, was sie bisher immer versteckt hatte, freute sich, als der Alte gestorben war, und lachte, als Nanthildchen weinte. Sie legte sogleich ihre Hand auf den hinterlassenen reichen Schatz des alten Herrn und ließ sich ein großes, prächtiges Haus bauen und veränderte das ganze, sonst so stille Leben in ein sehr lautes und lärmendes. Da kamen nun Kutscher und Diener und Kammerjungfern und Waschjungfern, und viele hundert Bergknappen wurden bestellt, welche die hohen Felsen durchbrechen und zersprengen und von ihrem prächtigen, neuen Schlosse einen weiten und offenen Weg zu der großen Landstraße bahnen und legen mußten. Denn sie wollten nun auch große und glänzende Gesellschaft halten und Menschen sehen und von ihnen gesehen werden und hatten die Einsamkeit bei dem Alten nur ertragen, weil sie mußten. Weil nun die Alte und ihre Töchter auf Nanthilden erzneidisch waren wegen der wunderbaren Lieblichkeit und Schönheit, womit Gott vom Himmel sie begabt hatte, so suchten sie sie auf alle Weise recht häßlich und garstig zu machen, damit sie wegen Schmutzes und Lotterlichkeit Vernachlässigung. von niemand angesehen würde. Sie zogen ihr sogleich ihre schönen Kleider aus und schnitten ihr die langen, blonden Locken ab und plünderten sie von allem ihrem Geschmuck und Geschmeide und gaben ihr schlechte Kleider und Hadern aus dem gröbsten und schwersten Werg und ließen sie Winter und Sommer barfuß gehen, und sie mußte Holz hauen und Wasser tragen und Kessel und Töpfe scheuern und die Öfen heizen und am Feuerherde in der Asche sitzen und liegen; denn auch ihr Stübchen und Bett hatten sie ihr genommen. Und sie sagten frohlockend bei sich: »So wird sie wohl grau und runzlig und häßlich werden und einen breiten und krummen Rücken und dicke und krumme Finger und plumpe und platte Füße bekommen, ja zuletzt viel greulicher werden als unsereins!« Das letzte hätten sie auch sagen können, aber das sagten sie nicht. Der abscheuliche Neid und Haß gegen das fromme und freundliche Unschuldchen glühte aber in ihnen, weil sie selbst erzhäßlich waren. Und weil dies alles noch nicht genug war, und sie immer noch schön blieb gegen ihnen wie der Tag gegen der Nacht, ließen sie sie fast hungern und dursten und gaben ihr nur Kleienbrot zu essen, womit die Hunde gefüttert werden, und geboten ihr, sich nimmer zu waschen noch den Schmutz abzutun sondern Haupt, Gesicht und Hände und Füße mit Asche und Staub zu beschütten und damit begrauen zu lassen, damit kein Aug' die helle Rosenfarbe, womit Gott sie geschmückt hatte, sehen könnte. Und das alles tat und litt das liebe Kind geduldig und hieß in dem ganzen Hause bei der Herrschaft und Dienerschaft bald nur der dumme und häßliche Aschenbrödel.

Nur einen Trost hatte Nanthildchen, den durfte sie sich aber vor den Bösewichten nicht merken lassen; denn hätten sie ihn gewußt, so hätten sie ihr den auch wohl versperrt. Dieser Trost war die stille Nacht, die fromme und verschwiegene Freundin aller betrübten und zärtlichen Seelen. Wenn alles schlief und auch der schnurrende Kater auf dem Feuerherde seine Augen zugetan hatte, um die tote Mitternacht machte Aschenbrödel sich aus ihrem Schmutze auf, worin sie in der Asche liegen mußte, wusch sich Hände und Gesicht, zog sich ein weißes Hemd an und band sich eine weiße Schürze vor, und leise, leise schlich sie durch den Garten hinaus an den Wald, wo ihr Vater unter einer grünen Buche begraben lag, und weinte und betete auf seinem Grabe und schaute mit Augen der Sehnsucht und Liebe zu den ewigen Sternen hinauf und dachte: »Wird er jemals wiederkehren, den dein Vater seinen Todfeind nannte, und der doch nicht wie ein Todfeind aussieht? Wirst du den schönen Jüngling je wiedersehen, vor welchem du jüngst noch wie ein Blitz wegschießen und verschwinden mußtest?« Bei diesem Gange durch die stille Nacht fand sie immer Trost und ward ihr lind und fröhlich ums Herz, und sie meinte, das sei eine Freude von oben, weil sie nach ihres Vaters Gebote so gehorsam war und alle Schmach so geduldig ertrug; und es war auch wohl eine Freude und ein Friede von Gott. Und das war auch wohl eine himmlische Gabe und eine Gnade Gottes, daß sie fast jede Nacht zwei, drei Stunden so wachen und doch ihre viele Tagesarbeit verrichten konnte. Immer aber, wann sie in die Küche zurückkam, zog sie geschwindest ihre garstigen und zerrissenen Kleider wieder an und machte sich, damit ihre Plagerinnen nichts merkten, mit Asche und Schmutz scheußlich.

So mußte Aschenbrödel in Schmutz und Knechtschaft leben und ward oft und viel mit Schelten und Schlägen und Backenstreichen gemißhandelt und von jedermänniglich mit keinem andern Namen genannt und gerufen als der häßliche dumme Aschenbrödel. Sie schwieg aber geduldig und dachte: »Gott wird es wohl wissen, warum ich dies leiden muß; und er weiß und tut alles am besten.« Hätte aber einer es nur gewußt, der mächtigste Mann im ganzen Lande, wie geschwind würde dieser Glanz aus der Niedrigkeit und Verachtung erhoben sein! Gott aber wußte es wohl, und er schickte Aschenbrödel noch einen Trost, und das war ein sehr großer Trost.

Gleich den Tag nach ihres Vaters Begräbnis, als ihr die schönen Kleider vom Leibe gerissen und die langen, blonden Locken abgeschnitten wurden und sie zur gemeinsten Magd eingekleidet und in die Asche hinabgestoßen ward, kam ein weißes Täubchen geflogen, das sonst nicht im Hause gewesen war, und baute sein Nest bei andern Tauben dicht über der Küchentüre und wies sich, wenn es Aschenbrödel erblickte, immer sehr freundlich und munter und schlug dann mit den Flügeln und girrte gar lustig. Und Aschenbrödel, die nun so einsam und verlassen war, gewann das weiße Täubchen bald sehr lieb, und es entspann sich eine besondere Freundschaft zwischen den beiden. Das kluge Täubchen aber ließ sich nichts merken, wann Aschenbrödel nicht allein war; denn wären die beiden Schwestern oder die Stiefmutter so etwas gewahr geworden, daß ihr das Täubchen lieb war, sie würden dem frommen Tierchen aus Bosheit augenblicklich den Kopf abgerissen haben. Darum hielt sich das Täubchen, das gewiß ein besonders kluges Vögelchen sein mußte, bei Tage unter den andern Tauben fast immer ganz stille. Nur wann Aschenbrödel draußen allein Holz haute oder Wasser trug oder allein in der Küche stand und an dem Feuerherde wirtschaftete, kam es geflogen und girrte und freuete sich und aß die Brotkrumen und Erbsen, welche Aschenbrödel ihm aufgehoben hatte. Aber des Nachts, sobald Aschenbrödel aus der Türe ging in den Garten oder zu dem Grabe ihres Vaters, gleich war auch das weiße Täubchen da und flog auch nicht von ihr, sondern girrte und schmeichelte und streichelte mit dem Schnabel und mit den Flügeln und saß auf Aschenbrödels Schoße und pickte ihr den Tau von ihren schönen Lippen und trank die Tränen, die aus ihren Augen flossen. Und Aschenbrödel hat das Täubchen über die Maßen liebgewonnen und oft gesagt, indem sie es innig herzte und an sich drückten »Mein liebes, liebstes weißes Täubchen! Hättest du nicht ein Federkleid an, ich könnte glauben, du wärest ein Engelein Gottes, welches das arme, verlassene Nanthildchen trösten soll. Denn lieb und klug genug bist du dazu!« Das war aber noch das besonderste an dem Täubchen, daß es, wann Aschenbrödel die Küche fegen und die Öfen und Zimmer putzen und das Holz auf dem Herd zurechtlegen und die Töpfe, Schüsseln und Teller scheuern mußte, immer mit dabei war und so emsig half, als wäre eine zweite Magd da gewesen. Alle Augenblicke flog sie dann zum Wassereimer und tauchte die beiden Flügel ein, wusch Schüsseln und Teller und säuberte Tische, Bänke und Fenster, ja die Flur fegte sie oft mit den beiden Flügeln rein und brauchte diese gleichsam als zwei Besen, so daß, wenn sie es im Hause klappern hörte und merkte, daß die Leute wach wurden und aufstanden, sie oft ganz schwarz und schmutzig von Aschenbrödel weggeflogen ist und sich an dem nächsten Bach hingesetzt und sich wieder weiß gewaschen hat. Ach, wie mußte der arme Aschenbrödel weinen, wenn er dies sah, wenn er sah, wie das Täubchen sich weiß waschen und auf dem Dache in die Sonne setzen und seine Flüglein trocknen konnte, und er das nicht durfte! Bei keiner Arbeit aber hat das Täubchen dem Aschenbrödel so flink und geschickt geholfen, als wenn er Erbsen, Linsen und Bohnen auszulesen hatte; da hat es mit seinem Schnäbelchen die schwarzen und wurmstichigen auf das geschwindeste wegzupicken verstanden.

König Hilderich, nachdem er das englische Bild, das jetzt in einen Aschenbrödel verwandelt war, in der ganzen Gegend ringsum vergebens gesucht hatte, ist endlich auch in dieses verborgenste Tal gekommen. Aber dort hat er kein kleines strohenes Haus mehr gefunden, sondern da stand schon wie durch Zauberkünste in die Luft emporgestiegen ein prächtiges und schimmerndes Schloß. Und als die alte, böse Hexe gehört hat, der König ist da, ist sie mit ihren Töchtern hinausgetreten und hat den König hereingeladen. Und sie haben sich alle auf das glänzendste geschmückt gehabt und von den Perlen und Demanten der schönen Sultanstochter gefunkelt. Und der König ist sehr freundlich und gnädig gewesen, wie der Könige Art ist; und sie haben bei sich gedacht: » Wenn er dich doch zu seiner Königin machte!« denn das Gerücht war umhergeflogen, er ziehe durch Berg und Tal umher und suche sich eine Braut. Und der König, der in den schönen Garten gehen wollte, der ihm fast vorkam wie der Garten, in welchem er seine süße Nanthilde zuerst erblickt hatte, hat auch Aschenbrödel gesehen, der draußen stand und Holzbündel klein hieb. Und er hat gefragt: »Wer ist das garstige und unglückliche Geschöpf mit den abgeschorenen Haaren und den schmutzigen, zerrissenen Kleidern, das da Holz haut?« Und sie haben geantwortet: Der garstige und dumme Aschenbrödel. Aschenbrödel aber hat ihn sogleich erkannt und seine Worte gehört, und es ist ihr in der Seele gewesen, als sollte sie antworten: »Nein, es ist nicht wahr! Aschenbrödel bin ich nicht sondern Nanthilde!« Aber sie hat sich gedemütigt und geschwiegen und gedacht: »Der Prinz ist nun der König, und was kümmert der sich um die arme kleine Nanthilde, mit welcher er einst gespielt hat, und die nun in so abscheulichem Schmutz vor ihm steht?« Doch in ihrem Herzen hat sie in so bitterm Jammer geweint, daß ein Teufel mit ihr hätte Erbarmen haben können. Denn es war die unschuldigste und süßeste Liebe, die in ihr weinte.

In solchem Suchen war König Hilderich an manchen Ort gekommen, wohin er nicht gewollt hatte, und hatte manches häßliche Gesicht gesehen, welches er nicht verlangt hatte; aber das einzige, was er suchte, und was für ihn in der Welt einzig war, konnte er immer noch nicht finden. Es saß ihm aber fest in seinem Herzen, sein Kleinod müsse in dieser Gegend irgendwo verborgen sein, wo es ihm zuletzt wie ein Engel des Himmels plötzlich erschienen und wieder verschwunden war. Nun begab sich eine Kleinigkeit, die sein krankes und sehnsüchtiges Herz in neue Flammen setzte und zu vielen prächtigen Festen und Tänzen Gelegenheit gab. Er fand einmal fast hart an der Stelle, wo er die holdseligste Sonnenuntergangserscheinung gehabt hatte, und wo er manchen Abend und manche Nacht in wehmütiger Sehnsucht saß, einen weißen Schuh; und den Schuh hatte das süße Kind da in den Büschen stecken lassen, als ihr Vater sie so geschwind aus des Prinzen Anblick davongerissen. Sogleich bildete er sich ein, der Schuh müsse von ihrem Fuße sein: »Denn welches Weib,« sprach er, »denn sie hätte ein Füßchen so fein und zart, daß es in diesen Schuh ginge?« Diesen Schuh zeigte er seinem Freunde, dem treuen Ritter Reginfrid, und sagte: »Den Schuh habe ich wohl, aber immer fehlt mir noch der lebendige Fuß dazu, das süße, englische Kind, wonach wir nun so manche Monate jagen. Hilf mir nun mit deinen klugen Gedanken und laß uns sinnen, wie wir diesen Schuh füllen!« Und der alte Ritter rieb sich die Stirn und rollte seine Gedanken wie auf einer Mangel viel auf und ab und hin und her, dann rief er: »Ich hab's! Ich hab's! Und gelingt das nicht, so möchte ich glauben, alle Kunst sei am Ende. Und höre, Herr, was du tun sollst:

Sende Botschafter und Ehrenholde Herolde. in alle Flecken, Dörfer und Städte ringsum aus und laß es durch die Hoftrompeter ausblasen und durch die Hofzeitung verkündigen und auf alle Kirchen- und Rathaustüren nageln, du werdest glänzende und königliche Freibälle im grünen Walde halten während der schönen Sommerzeit, wo Von allen schönen Prinzessinnen und Jungfrauen, die darauf erscheinen wollen, kostbare und rechte königliche Ehrenpreise gewonnen werden können; der höchste Preis aber solle derjenigen zufallen, die einen Fuß aufweisen könne, der in den Schuh passe, der am Eingange des Ballsaales werde ausgehängt sein, der herrlichste Demant in ganz Europa, wohl zehn Millionen Dukaten wert. Laß aber dabei verkünden, es solle bei diesen Festen ganz ein buntes und mannigfaltiges und Sommerleben der Alter, Geschlechter und Farben sein, die fröhliche Gleichheit und Freiheit des Naturlebens, wie Lenz und Sommer sie bringen, und die Tochter des Schäfers so willkommen sein wie die Tochter des Grafen.«

Und dieser Vorschlag gefiel dem Könige wohl, und er hatte große Lauben gebaut mitten im Walde und viele tausend Geiger und Pfeifer dazu bestellt und viele Hunderttausende Frauen und Jungfrauen jedes Alters und Standes gesehen, arme und reiche und schöne und häßliche – und all seine andern Preise war er los geworden, aber den besten Preis hatte er zu seinem Schmerz immer noch behalten. Denn wieviele Füße hatten in den Schah treten wollen, aber keiner hatte hineingepaßt! Der König ließ dann nach diesen ersten Versuchen auch einen großen, prächtigen Laubsaal bauen oben auf dem Berge, wo er den Alten und Nanthilden gesehen hatte, und ließ die Wege und Stege dahin bahnen und bereiten. Und der Abend des Festes kam, und hunderttausend Fackeln und Lampen leuchteten durch den Wald bis ins tiefe Tal hinab, und jede Buche und Eiche schien ihren eigenen Mond zu haben, und viele tausend Musikanten spielten auf, so daß die kleinen Waldmusikanten, die Amseln, Drosseln, Finken und Nachtigallen, beschämt aus dem Reviere flohen. Und die alte Hexe und ihre Töchter lebten bei dem Glanze und Klange gewaltig auf. Sie hatten sich zu diesem Feste die glänzendsten, neuen Kleider machen lassen und alle ihre besten Perlen und Juwelen ins Haar und vor die Brust gesteckt; aber wie sehr sie auch blitzten, schön wurden sie dadurch nicht sondern erleuchteten nur ihre Häßlichkeit. Die alte Hexe aber, als sie es von der Bergspitze herab funkeln sah und klingen hörte, schmunzelte bei sich: »Hab' ich es nicht gedacht? Gewiß, er hat das Aug' auf eine meiner Töchter geworfen – und Juchhe! Sei fröhlich, Königin Mutter! Denn warum hätte er seinen Ballsaal grade oben auf dem Berge gebaut, wenn er nicht verblümt sagen wollte: Kommt herauf und leuchtet, ihr Sterne der Schönheit, die ihr unten im Tale verborgen funkelt, und verdunkelt hier oben meine Fackeln und Kerzen?« Und mit diesen stolzen Gedanken setzte sie sich mit ihren beiden Töchtern in den Wagen, und sechs prächtige Schimmel trabten mit ihnen den Berg hinan.

Alles war aus dem Schlosse gelaufen, damit es die Herrlichkeit da oben mit ansähe. Aschenbrödel allein war zurückgeblieben – denn die alte Hexe hatte geboten: »Hüte mir das Schloß, Aschenbrödel, und weiche nicht von der Stelle!« Und sie stand traurig in des Hauses Hintertüre und schaute mit wehmütiger Sehnsucht zu dem Glanze und Klange hinauf. Denn das eine Bild, das ihr in ihren Kindertagen an dem Gartenzaun erschienen war, blühete ewig in ihrem zärtlichen Seelchen. Und als sie so einsam und traurig da stand, flog gleich das weiße Täubchen zu ihr hinab und setzte sich auf ihre Schulter und streichelte ihr mit den weichen Flügeln die Wangen und sah ihr so wunderfreundlich in die sehnsüchtigen Augen. Und es war ihr, als redete das Täubchen mit ihr und flüsterte ihr zu: »Was stehst du hier so traurig? Geh doch auch hinauf und schau zu und sieh den geliebten König, den schönsten und ritterlichsten aller Männer! Du kannst dich ja so verkleiden, daß niemand dich kennen kann.« Und Nanthildchen kam große Lust an, und sie ging und suchte, ob sie noch wohl Kleider hätte, wovon die alte Hexe, ihre Stiefmutter, nichts wüßte. Doch wieviel sie umher suchte, alles hatten die Bösen und Neidischen ihr weggenommen; sie fand nichts Gutes und Nettes und weinte bitterlich. Als sie nun so in traurigen Gedanken einherging und im Gefühle ihres Elends das Köpfchen hangen ließ, leuchtete ihr auf einmal von einem Stuhle etwas Schimmerndes entgegen, und sie erblickte erstaunt das schönste, rote Ballkleid und eine Maske dabei und weiße, seidene Strümpfe und Schuhe. Und nun säumte sie nicht lange, fragte auch nicht, wie es dahin gekommen, noch wer es gebracht habe, sondern ging hin, wusch sich, kämmte sich, kleidete sich, spiegelte sich und lief flugs auf geschwindesten Füßen der Liebe den Berg hinan. Und das weiße Täubchen flog mit ihr bis dicht vor den Saal und girrte und klatschte mit den Flügeln in einem fort, als wollte es sagen Glückauf! Glückauf! Dann flog es ins Tal zurück.

Und zitternd und bebend vor Freude und Schüchternheit trat Aschenbrödel in den Saal, wo viele Tausende im buntesten Gewimmel sich durcheinander drängten. Sie aber wollte nichts als ihren geliebten König Hilderich sehen; und sie sah ihn viel und freute sich in ihrem Herzen. Aber sie stellte sich immer so, daß er sie nicht sehen konnte. Er aber ging und schaute rings umher und schaute am meisten immer nach den Füßen; denn er hoffte, aus dem Schuh werde ihm das Glück kommen. Und es ist wahr, Aschenbrödel hatte, als er hereintrat, auch den Schuh besehen und sogleich erkannt, daß, es sein verlorener Schuh war, und sich erstaunt und bestürzt aber auch gefreut, daß der König ihn gefunden und so großen Preis auf seinen Fuß gesetzt hatte. Aber demütig in seinem Herzen ließ es sich nichts merken; denn es sagte: »Was sollte ich mit dem herrlichen Demant, wenn ich ihn auch gewönne? Denn die böse Stiefmutter würde mir ihn gewiß wegnehmen und mich künftig nur desto baß besser, mehr. dafür plagen, und auch deswegen, weil ich ohne ihre Erlaubnis das Haus verlassen habe.« Endlich aber ist der König Nanthilden gewahr geworden, und da er auf die hohe, schlanke Gestalt geschaut, sind plötzlich alle Leute um sie her vor Ehrfurcht ausgewichen, und er hat nun auch die zartesten aller Füße gesehen und vor Freuden außer sich gerufen: » Welche Füße! Das ist sie! Das ist sie!« Nanthilde aber ist erschrocken und hat sich schnell in den dichtesten Haufen hineingeflüchtet und so in geschwindester Eile aus dem Saale heraus und durch den Wald zu Hause. Der König hat aber in dem ganzen Saal und draußen unter allen Bäumen und in allen Büschen nach der schönen roten Maske gesucht und suchen lassen; aber keiner hatte nur die Spur von ihr gesehen, und sie fanden sie nicht.

Als es ein Uhr nach Mitternacht war, da ist trompetet und ausgerufen worden: » Jetzt beginnt die Schuhprobe, und der große Demant kann gewonnen werden.« Es sind aber die meisten Frauen und Mädchen beschämt weggegangen, weil sie verzweifelten, ihre Füße in jenen weißen Schuh hineinpressen zu können. Nur einige sind geblieben, und diese haben sich zerquält und zermartelt, aber keine hat den Fuß hineinzwingen können. Auch die alte Hexe mit ihren beiden Töchtern ist geblieben, und sie hat bei sich gesprochen: »Gewiß sucht er eine Braut, und dieser Schuh soll ihm ein Zeichen sein; denn Könige und Prinzen haben oft die wunderlichsten Einfälle und sind nicht selten von der Wiege an durch Sterndeuter und Wahrsager auf dergleichen Sonderlichkeiten hingewiesen. Aus einer bloßen Grille schenkt man keinen Demant weg, der viele Millionen wert ist.« Und sie ist seitwärts gegangen mit ihren beiden Töchtern und hat ihnen die Zehen abgeschnitten, daß die Füße kürzer würden. »Denn was schadet's,« sagte sie, »wenn man nur den kostbaren Demant gewinnt oder gar Königin wird?« Sie hatte aber rote Strümpfe über den frischen Schaden gezogen, damit nichts gemerkt werden könnte. Und endlich kamen sie auch an den Schuh, und wieviel sie ihn auch zerrten und zwängten, die Füße wollten nicht hinein; sie waren und blieben viel zu breit. Der König aber und Reginfrid, die bei dem Schuh standen, hatten bei diesen und bei andern das Blut durch die Strümpfe greinen sehen und gedacht: »Was doch die Eitelkeit und Habsucht tut!« Der König ließ aber sogleich ausblasen und trompeten, daß, wer gefunden würde, daß sie sich den Fuß verkürzte, damit er in den Schuh ginge, die solle als eine gemeine Übeltäterin, welche die Königliche Majestät habe betrügen wollen, gerichtet werden. Und die alte Hexe und ihre Töchter hatten dies noch ausrufen gehört, als sie in den Wagen stiegen, und waren mit Schrecken und großer Angst eilends den Weg zu ihrem Schlosse heruntergefahren. Es kam auch nach dieser Verkündigung von dem Könige Schrecken über viele, und keine einzige Tänzerin trat mehr zur Schuhprobe heran, und das Spiel war für diesen Abend vorbei.

Traurig und erschrocken kam die alte Hexe mit ihren Töchtern heim; und Aschenbrödel lag schon wieder in seinem Schmutz und in der Asche, und von der Herrlichkeit des Balles und von der roten Maske war auch keine Spur mehr an ihr. Die Alte aber mußte ihren Töchtern ganz stillchen die Füße verbinden und durfte sich von dem Unglück nichts merken lassen. Und die drei gingen gar betrübt zu Bett und ächzeten und stöhneten jämmerlich wegen der abgeschnittenen Zehen. Als nun alles im Hause still ward und die Lichter sich auslöschten, machte Aschenbrödel sich nach ihrer Gewohnheit auf, wusch sich und zog ihre reinen, linnenen Kleider an und ging, sich auf ihres Vaters Grab unter der Buche setzen. Ihr war aber außerordentlich unruhig, beklommen und wehmütig um das Herz, doppelt wehmütig, weil oben auf dem Berge noch alle Kerzen und Lampen brannten. O wieviele Kerzen brannten und leuchteten auch in ihr!

Ebenso brannte und leuchtete es auch in dem Könige. Als Trompeten und Saitenspiel schwiegen, und der letzte Jubel des Festes in einzelnen matten Tönen zu verhallen begann, ging er, ein nächtlicher Wandrer, unter den Fackeln und Lampen dahin und rief: »O menschliche Jämmerlichkeit und Nichtigkeit! Allen diesen Glanz kann ein Wort von mir entzünden und auslöschen und sich in eitlem Stolz gebärden, als könne er auch Sonnen und Sterne machen – und ach, das einzige Licht kann ich nicht machen, wobei ich die dunkle Unbekannte und doch so Bekannte, die ich nun so lange schon vergebens suche, finden könnte!« Und er eilte mit fliegenden Schritten voll trauriger Unruhe aus dem Glanze und suchte den Pfad abwärts in den Wald hinein, wo es dunkler war. Und so war er in den Garten gekommen bei Aschenbrödels Schlosse und hatte dort eine Weile in stiller Trauer mit allen Bäumen und Blumen gesprochen, bis das Morgenrot im Ost hernieder zu dämmern begann. Da erschien ihm das liebe Kind im weißen, linnenen Gewände gleich einem nächtlichen Geiste von fern auf dem Grabe kniend und betend. Und er schlich sich sanft hin, bei sich sprechend: »Ich muß doch sehen, was das Wesen da ist, das die Einsamkeit sucht.« Und er ist gar leise hinzugeschlichen und hat hinter Büschen gelauscht, daß sie ihn nicht erblickte. Aber was hat er sich erlauscht? Als das Kind sich aufgerichtet, um heimzugehen, und die Augen aufgeschlagen, da hat er den Stern der Schönheit gesehen, wonach er so lange vergebens gespäht, und ist vor das Kind getreten und hat es angeschaut und gesprochen: »Wohin eilst du so, Nanthildchen? Kennst du denn deinen alten Spieler nicht mehr, dem du den schönen Blumenstrauß geschenkt hast?« Und sie hat laut aufgeschrien vor Freude und vor Schmerz und bestürzt und erschrocken wieder davoneilen wollen. Er hat sie aber nun nicht entfliehen lassen sondern ihre Hände gefaßt und gestreichelt und geschmeichelt und geküßt und ihr so liebe, freundliche Worte zugesprochen, daß sie gern geblieben ist. Und sie haben an des Vaters Grabe mit Entzücken gesessen und Himmel und Erde miteinander vergessen. Und die Sonne stand schon hoch am Himmel, und sie dachten nicht daran, ob es Tag oder Nacht war. Da hat es mit scharfem Klang aus dem Schlosse geklungen: » Aschenbrödel! Aschenbrödel! Wo bist du?« Und Nanthildchen ist bei diesem Rufe zusammengefahren und erschrocken aufgesprungen und hat gesagt: » Laß mich! Ich muß gehen.« Denn jene Stimme war ihren Ohren eine fürchterliche Gewohnheit geworden. Der König aber, erstaunt, hat sie gefragt, was das sei, das sie so in Angst jage, und sie hat ihm geantwortet: »Ich bin jener Aschenbrödel, den du in so schändlichem Zustande in unserm Schlosse gesehen hast; und jetzt begreife ich wohl, daß sie mich so unter Schmutz und Elend versteckt haben, damit du mich nicht kennen solltest!« Und der König hat noch viel mehr gefragt, und sie hat ihm nun den ganzen Jammer erzählt, wie er seit ihres Vaters Tode ihr widerfahren. Der König, nachdem er alles von ihr gelernt, hat dann im Grimm gerufen: »Scheußlich! Abscheulich! Für jedes Goldhaar, das sie in deinen Locken dir abgeschnitten, soll ein Faden genommen werden, und drei lange Stricke will ich draus machen und die drei Unholdinnen lebendig an Pferdeschweife binden und zu Tode schleifen lassen! Ja, brennen sollen sie! Lichterloh brennen! Und ihre Asche soll in alle Winde verstreut werden!« Aber Nanthildchen ist ihm in die Rede gefallen und hat gebeten: »O mein König und Herr, vergib, vergib ihnen! Um meiner Liebe und um Gottes Gnade und Glücks willen vergib ihnen! Es ist ja nun alles gut, und ich bin nicht mehr der Aschenbrödel.« Und sie hat so lange gebeten, bis er es ihr zugesagt.

Und darauf ging der König mit ihr hinab an das Schloß und rief der alten Hexe. Und sie kam und erschrak sehr, als sie den König erblickte; denn sie glaubte, er wolle ihren Töchtern die Füße besehen, was es mit ihren Zehen für eine Bewandtnis habe, und wie der weiße Schuh so mit Blut vollgelaufen gewesen. Die Armen aber lagen ächzend und wimmernd im Bette und hatten vor Schmerzen die ganze Nacht kein Auge zutun können. Noch mehr aber erschrak die alte Hexe, als sie Aschenbrödel weiß und hell wie die junge Morgensonne in weißen, linnenen Kleidern neben dem Könige stehen sah. Und schon wollte sie finster schauen und schelten, aber sie faßte sich geschwind und bezwang ihren grimmigen Mut so weit, daß sie ihr Gesicht zu einem leidigen Lächeln zusammenzerrte und mit den Knien bis zur Erde tiefste Verbeugungen knixte. Der König aber sah ernst und zornig auf sie, nahm Nanthilden bei der Hand und sprach: »Schau her! Dies ist meine Gebieterin und Braut, du aber bist eine Erzbübin und Teufelin und würdest mit deinen Töchtern zu Asche verbrannt und in alle vier Winde geworfen werden, wenn dieser dein Aschenbrödel nicht so freundlich wäre und für ihre Plagerinnen gebeten hätte!« Und die Alte fiel Nanthilden zu Füßen und umklammerte ihre Knie und schrie: »Gnade! Gnade!« Der König aber sprach: »Fort von hier! Die Luft, wovon dieser Engel gelebt hat, soll von eurem Atem nicht länger verpestet werden. Zum dritten Male darf die Sonne dich und deine verruchten Töchter nicht mehr bescheinen! Deine Schätze und die Juwelen und Demanten, die du dir diebisch gestohlen und dieser deiner Herrin entwendet – dies und alles andre magst du mitführen; aber dies Tal, wo wir das freundliche Strohhäuschen der Liebe wieder aufbauen wollen, dürfen deine verbrecherischen Augen nimmer wiedersehen.«

Und der König ging zornig aus dem Hause des Unglücks, von welchem nach wenigen Tagen kein Stein mehr auf dem andern war, und führte sein Herzallerliebstes mit sich den Berg hinan. Und das treue weiße Täubchen hat auch nicht hinten bleiben gewollt und ist mitgeflogen, und Nanthilde hat es freundlich auf die Hand genommen. Und das Täubchen ist nimmer wieder von ihr weggeflogen, sondern bei ihr geblieben bis an ihr Lebensende und hat in späteren Tagen auf den Wiegen ihrer Kindlein gesessen und sie umgirrt und mit ihnen gespielt: am fröhlichsten aber ist es gewesen, wenn der König und seine Königin nach dem kleinen Strohhäuschen im Tale gefahren sind, und wenn es dort im Blumengarten hat herumflattern können. Das ist aber das sonderbarste gewesen: als Nanthilde endlich nach vielen Jahren selig gestorben, da ist auch das weiße Täubchen verschwunden und an den bekannten und geliebten Orten nimmermehr gesehen worden.

Wir erzählten, wie der König seine geliebte Braut von dem Schlosse den Berg hinaufführte. Von da nahm er sie mit in seine Stadt und in seine Königsburg und zeigte sie bald allem Volk als seine Königin. Und alle Menschen, welche sie sahen, sagten, es sei die allerschönste Prinzessin, die je auf der Erde gelebt habe. Das hat er aber auch gelernt aus den Papieren ihres Vaters, welche die alte Hexe ihm schickte, daß sie eine königliche Prinzessin der Franken und seine Muhme war. Und er hat sich dieses Fundes gefreut und gesprochen: »Wir wollen den Haß und Mord der Geschlechter für alle ewige Zeiten durch Liebe versöhnen!«

Und sie haben beide Wort gehalten, und hat nie ein glücklicheres und sieghafteres Menschenpaar auf Erden gelebt. Als Nanthilde aber schon eine große und mächtige Königin war, ist sie doch fleißig zu dem Gärtchen gefahren, wo sie als Kind gespielt, und wo ihr König und Gemahl sich das strohene Häuschen gebaut hatte, und auch zu jenem zweiten Gärtchen, wo nach Austreibung der alten Hexe ein zweites Häuschen wieder gebaut worden war. Bei diesem Gärtchen hat sie neben der Buche an ihres Vaters Grabe eine Kirche gebaut, wo sie oft in Andacht gebetet und sich in Freude der alten Zeiten und in Demut der Nichtigkeit und Hinfälligkeit aller irdischen Güter erinnert hat.

Und sie und König Hilderich haben viele Jahre miteinander gelebt und einen Sohn gezeugt, der hieß Dagobert, zu deutsch Lichthell, und ist in seiner Zeit ein großer und gewaltiger König geworden. Und Aschenbrödel ist zu einem sehr hohen Alter gelangt und ist endlich selig gestorben und in dem Kirchlein an der grünen Buche begraben. Und nun weiß keiner die Stelle mehr, und Gärtchen und Häuschen und Kirche und Buche sind lange von der Erde verschwunden; aber die Geschichte von Aschenbrödel haben alle Menschen erzählen gehört.



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