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XX.

Schwarze Fahnen hingen an Serafinows Haus in der Schipkastraße, die Fenster waren schwarz ausgeschlagen, die Haustür war mit schwarzem Tuch verhängt.

In ihrem früheren Mädchenzimmer war Katharina Gantschew, geborene Serafinow aufgebahrt. Sie ruhte in einem weißen Kleid auf weißen Kissen in einem reich mit Silber beschlagenen Sarg. Friedlich und zufrieden lag sie da. Wie es die Sitte wollte, waren die Wangen der Toten leicht geschminkt, die seinen Augenbrauen noch ein wenig mit dem Stift nachgezogen worden.

Kerzen auf hohen silbernen Leuchtern brannten in dem künstlich verdunkelten Zimmer, in dem es schwer und süß nach Weihrauch duftete.

Den ganzen Tag war die schwarzverhängte Haustür in Bewegung. Alle Freunde und Bekannte des Hauses, alle Nachbarn erschienen, gingen in langer Prozession um den Sarg herum und nahmen Abschied von der Toten, indem sie sie auf die Stirn küßten.

In der Frühe des nächsten Tages wurde Katharina zu Grabe getragen. Priester in reichen Gewändern schritten voraus, murmelten Gebete und intonierten dazwischen mit tiefer Stimme liturgische Gesänge. Knaben in weißem Ornat schwangen Weihrauchgefäße.

Ihnen folgten vier Freunde des Hauses, die den silbergeschmückten Deckel des Sarges trugen.

Dann kam der offene Sarg in seinem von Blumen überschütteten Wagen.

Hinter dem Sarg schritten Christo Serafinow und Leda nebst den nächsten Anverwandten. Nur Frau Adda fehlte.

Sie hütete das Bett.

Es war ein großer Zug, der sich langsam durch die Straßen der Stadt bewegte.

Die Priester sangen oder murmelten Gebete, die Knaben schwangen die Weihrauchgefäße.

Erst als der Zug die Stadt verließ, bestiegen die Trauergäste ihre Wagen und Autos, um hinter dem Leichenwagen im Schritt dem Kirchhof zuzustreben, der weit außerhalb der Stadt lag.

Friedrich Franz von Kaufmann hatte sich mit Leutnant Gonthard zusammen einen Wagen genommen. Friedrich Franz sah ernst und angegriffen aus. Vielleicht hätte er das Unglück verhindern können, wenn er die junge Frau selbst nach Hause gebracht hätte, als sie ihn besucht hatte.

Friedrich Franz schauerte leicht zusammen, als man den Kirchhof erreichte. Hier hätte er wirklich nicht begraben sein mögen. Unendlich trostlos sah er für europäische Begriffe aus. Um das eine oder andere Grab hatten sich die Angehörigen wohl noch ein wenig bekümmert, aber um die meisten kümmerte sich augenscheinlich überhaupt kein Mensch. Das war wohl noch so aus der Türkenzeit her. Aber es war auch kein richtiger türkischer Friedhof mehr, auf dem alles wuchs und zerfiel, wie es wollte, und dem die Natur selbst, ohne von Menschenhand behindert zu werden, gar bald wieder ihre eigenen Züge verlieh, die nichts wissen von Freud und Leid, sondern nur von Werden und Vergehen. Hier störte Menschenhand nur das Vorhaben der Natur, und deshalb wirkte der Kirchhof trostlos, ja verkommen.

Die Priester sangen lauter, der Wagen hielt an. Die nächsten Angehörigen und Freunde des Hauses traten näher und küßten die Tote wieder und immer wieder. Ein Schluchzen und Weinen ging durch die Reihen der bulgarischen Frauen und Mädchen.

Der Bischof lehnte ein kleines Gefäß mit Reis und eines mit Mehl an die Schultern der Toten, und einen Beutel mit Geld legte er über ihre gefalteten Hände. Bei den Füßen der Toten lagen schon ein Paar Schuhe und ein Schirm. Sechs Tage wandert nach altmazedonischem Glauben der Tote über die große Brücke, die vom Diesseits zum Jenseits führt, eine beschwerliche Wanderung, sechs Tage und sechs Nächte lang. Deshalb gibt man ihm Essen und Geld mit, Schuhe und einen Schirm für die beschwerliche Reise, damit er gut über die lange Brücke kommt und nicht klagen muß über die Angehörigen, die im Diesseits bleiben, sie hätten ihn nicht ausreichend mit Wegzehrung versehen und mit allem, was die beschwerliche Reise erleichtern kann.

Dann wurde der Sarg geschlossen und in die Erde gesenkt, während die Priester Gebete murmelten und der Bischof Wein über das Grab sprengte, damit es der Toten nicht schon gleich zu Anfang an einer Herzstärkung auf dem Weg über die Brücke fehle.

Friedrich Franz sah immer wieder auf Leda. Unbeweglich, wie aus Stein, war sie, keine Muskel des blassen Gesichtes zuckte, das Auge hatte keine Träne, kein Seufzer hob die Brust.

Nun traten die Trauergäste zu dem gebeugten Vater, zu der erstarrten Schwester der Toten, murmelten Beileidsworte und drückten den beiden die Hand.

Friedrich Franz konnte sich nicht dazu entschließen. Er wandte sich ab und suchte sich einen andern Weg zum Ausgang des Kirchhofs, wo eine große Zahl von Bettlern versammelt war, um Almosen zu empfangen, wie es sich gehört.

Wie gern hätte er Leda ein Wort des Trostes gesagt, aber er wußte keins. Womit soll man trösten in dem Riesensterben dieser Zeit? Was ist da der Schmerz des einzelnen, wo gibt es da noch einen individuellen Trost? Auch bedrückte es ihn schwer, daß er wohl der Mensch war, mit dem die Verstorbene zuletzt gesprochen hatte. Hatten nicht die Eltern ein Anrecht darauf, von ihm darüber zu erfahren? Die Verstorbene hatte ja nur darum gebeten, Leda gegenüber das Gespräch zu verschweigen, den Eltern gegenüber war seine Junge nicht gebunden. Aber es wäre ihm leichter gewesen, mit Leda darüber zu sprechen als mit den Eltern. Also schwieg er vorläufig wohl am besten allen gegenüber.

Friedrich Franz wanderte zu Fuß der Stadt zu. Er mochte jetzt nicht mit Gonthard in demselben Wagen sitzen. Gonthard konnte ja nicht wissen, was alles in ihm vorging. Wer hätte gedacht, daß ihm noch einmal eine bulgarische Beerdigung mehr ans Herz greifen würde als irgendeine andere ... Und sie griff ihm ans Herz, und sie griff ihm vor allem Ledas wegen ans Herz. Er mußte ihr wenigstens dazu verhelfen, daß die Erstarrung wieder von ihr abfiel, daß sie weinen konnte, daß sie wieder ein Mensch wurde. Er hatte das Mittel dazu in der Hand und außer ihm vielleicht überhaupt niemand. Aber die Erzählung von seinem Beisammensein mit Katharina war eine zweischneidige Waffe. Das mochte ihr die erlösenden Tränen bringen, aber es mußte auch zugleich ihren Stolz aufs schwerste verletzen, wenn Friedrich Franz ihr wirklich wörtlich alles erzählte; und das war er doch wohl der Toten schuldig.

Friedrich Franz konnte in seinem Hotel keine Ruhe finden. Es trieb ihn immer wieder auf die Straße in die Nähe von Ledas Wohnung, trotzdem er sich sagen mußte, daß sie an diesem Tage schwerlich ausgehen würde.

Er spähte nach der schwarzverhangenen Tür, aber sie öffnete sich nicht. Er sah sich die Augen aus nach den Fenstern, die mit Flor schwarz ausgeschlagen waren, aber niemand zeigte sich an den Fenstern. Das Haus sah selbst wie ein großer Sarg aus. Er ging wiederholt an dem Haus vorüber, aber kein Laut drang aus seinem Innern.

Schon in aller Frühe des nächsten Tages schlich er wieder um das Haus herum. Da sah er, wie ein Phaeton vorfuhr und an der Haustür hielt. Er drückte sich eng an den Gartenzaun eines Nachbarhauses, um nicht erkannt zu werden. Leda trat aus der Haustür und stieg in den Wagen, der sich langsam in Bewegung setzte. Er eilte hinter dem Wagen her, und als ihm ein anderer Wagen entgegenkam, winkte er ihn heran, sprang hinein und bedeutete dem Kutscher, daß er hinter dem Phaeton, in dem Leda saß, her zu fahren habe.

Leda fuhr zum Kirchhof, Friedrich Franz fuhr hintendrein.

In der Nähe des Kirchhofs ließ er halten, machte dem Kutscher klar, daß er hier auf ihn zu warten habe und nicht beim Eingang des Kirchhofs und schlich sich leise dem Eingang zu, wo Leda ihren Wagen schon verlassen hatte.

Er sah ihre hohe schwarze Gestalt Über den Friedhof schreiten und spähte nach einem Versteck.

Nicht weit von Katharinas Grab stand eine alte Pappel. Zu ihr schlich er sich, als er gesehen hatte, daß Leda auf dem Grabe ihrer Schwester in die Knie gesunken war.

Er sah, wie sie ein Tellerchen mit Reis am Kopfende des Grabes niedersetzte und einen Becher mit Wein.

Lange war es still. Dann hörte er, wie Leda zu sprechen begann, halblaut, monoton, und es durchfuhr ihn ein jäher Schreck. Geradeso hatte damals Katharina ihre Lebensgeschichte erzählt, in demselben Tonfall, wie er ihn gestern von den Popen und früher schon in der Kathedrale Cyrill und Methodi vernommen hatte.

Murmelte sie Gebete, oder was war es sonst, was sie da so eifrig und monoton in den Totenhügel hineinsprach?

Jetzt verstand er den Satz: »Onkel Peter hat ein Telegramm aus Berlin geschickt. Er ist sehr erschrocken und sehr traurig, daß er nicht hier sein kann. Ich soll dich grüßen von ihm.«

Friedrich Franz fühlte, wie sich ihm die Haare auf dem Kopf vor Entsetzen aufrichteten. War Leda wahnsinnig geworden?

»Gestern abend kam Maria Petrow noch zu mir. Sie hatte ganz rotgeweinte Augen und kann es noch gar nicht fassen, daß du fortgegangen bist. Sie läßt dich grüßen.«

Friedrich Franz hielt sich am Stamm der Pappel fest. Leda sprach monoton und so schnell weiter, daß er immer nur von Zeit zu Zeit einen Satz verstand.

»Vater kommt um zwölf Uhr und bringt neuen Reis und neuen Wein. Er hat die ganze Nacht kein Auge zugetan, so weh tut es ihm, daß du ihn verlassen hast. Er läßt dich grüßen. Mutter kommt, wenn es dunkel wird, mit Reis und Wein. Sie weint und weint und will sich nicht beruhigen. Sie läßt dich grüßen.«

Eine Weile schwieg Leda. Dann begann sie wieder zu murmeln, doch so leise, daß Friedrich Franz kein Wort verstehen konnte.

Dann bekreuzigte sich Leda und sagte laut: »Morgen um diese Zeit komme ich wieder. Ich grüße dich, Kathrine.«

Sie erhob sich und ging ruhigen Schrittes dem Ausgang zu. Sechs Tage und sechs Nächte wandert die Seele über die große Brücke, die vom Diesseits zum Jenseits führt. Solange sie diesen Weg noch nicht zu Ende gegangen ist, steht sie noch in Verbindung mit dem Diesseits. Sie will hören, wie es Vater und Mutter und Schwester geht, sie will erfahren, was man in der Stadt über sie spricht, sie will getröstet und unterhalten sein, damit sie auf dem langen Weg nicht ganz allein und verlassen ist. So lehrt altmazedonischer Volksglaube.

Friedrich Franz stand immer noch fassungslos hinter der Pappel und blickte Leda nach, deren hohe schwarze Gestalt langsam und ruhig über den Friedhof schritt.

Kalter Schweiß war ihm auf die Stirn getreten. Es dauerte lange, bis er sich einigermaßen beruhigte. Leda hatte bei alledem doch ganz vernünftig und ruhig ausgesehen. Beunruhigend war höchstens, daß sie immer noch keine Tränen vergoß.

Aber was sollten diese Erzählungen an die Tote, die wie eine liturgische Formel monoton und halblaut heruntergeschnurrt wurden?

Es muß sich da wohl um irgendeinen alten mazedonischen Aberglauben handeln, von dem ich bisher nichts wußte, sagte er sich.

Er strich sich beruhigend durch das Haar und suchte wieder seinen Wagen auf.

Am andern Morgen um dieselbe Stunde erschien Leda wieder, und Friedrich Franz stand schon hinter der Pappel.

Leda unterhielt die Schwester von allem, was seit gestern in der Verwandtschaft und Bekanntschaft sowie in Sofia geschehen war. Und immer wieder hatte sie Grüße zu bestellen von diesem und jenem.

Auch diesmal vergoß sie keine Träne.

Vielleicht gehört das auch mit zu dem Ritus, überlegte Friedrich Franz. Man soll die Tote, mit der man spricht, nicht durch Weinen beunruhigen und ihr dadurch den Weg über die Brücke unnütz schwer machen. Friedrich Franz hatte sich inzwischen über den Brauch erkundigt, den er Leda ausüben sah, und der ihn im ersten Augenblick so befremdet, ja entsetzt hatte.

Leda erhob sich und ging ruhigen Schrittes wieder dem Ausgang zu.

Friedrich Franz blieb noch eine ganze Weile auf dem Friedhof. Nachdenklich schritt er zwischen den verwahrlosten Gräbern einher.

Er mußte mit Leda sprechen, er mußte ihr von der Unterredung ihrer Schwester mit ihm berichten, das Gefühl wurde immer stärker in ihm, als könne die Tote nicht früher zur Ruhe kommen.

Aber er konnte sich nicht entschließen, sie in ihrem Haus in der Schipkastraße aufzusuchen.

Als Leda am nächsten Tag mit ihrem Tellerchen frischen Reis und einem Becher neuen Weins am Grabe der Schwester erschien, trat Friedrich Franz von Kaufmann zu ihr.

Sie schien nicht sonderlich überrascht zu sein, sie begrüßte ihn durch ein Neigen des Hauptes, kniete am Grab nieder und erzählte der Toten, was sich seit gestern ereignet hatte.

Friedrich Franz blieb ein wenig hinter ihr stehen und wußte nicht recht, wie er sich benehmen sollte.

Nun war die Seele auf ihrer Wanderung auf der Brücke schon so weit gekommen, daß sie in das Diesseits nicht mehr hineinblicken konnte, daß sie nur noch hören konnte, was hier auf Erden vor sich ging. Deshalb hörte Friedrich Franz Leda plötzlich sagen: »Herr von Kaufmann ist auch auf den Friedhof gekommen. Er steht hinter mir und läßt dich grüßen.«

Leda bekreuzigte sich, erhob sich und wandte sich dem Ausgang zu. Friedrich Franz blieb an ihrer Seite. Er half ihr in den Wagen, nahm aber nicht neben ihr Platz, da sie ihn dazu nicht aufforderte, sondern drückte ihr nur die Hand und zog den Hut.

Am folgenden Morgen war er wieder an ihrer Seite und lauschte, was sie der Schwester zu erzählen hatte. Diesmal sprach sie der Schwester sogar von den Waffenstillstandsverhandlungen, die gestern in Brest-Litowsk begonnen hatten. Die kindliche Vorstellung, als könne die Tote das noch interessieren, als nähme sie immer noch teil an den Dingen dieser Erde, hatte wirklich etwas Rührendes.

Wieder half er ihr in den Wagen und blieb zurück. Nur noch zwei Tage habe ich Zeit, ihr alles zu erzählen, ging es ihm durch den Kopf. In zwei Tagen ist Katharina am Ende der Brücke angelangt, und dann ist es zu spät, dann hört sie nicht mehr, daß ich Leda alles erzählt habe. Es war wie eine Zwangsvorstellung. Sein Verstand sagte immer wieder, daß es nichts anderes sei, aber sein Gefühl beharrte nun einmal auf seinem Standpunkt und ließ sich davon nicht abbringen. Morgen spätestens mußte er mit Leda sprechen.

Als sie ihre Andacht am Grabe der Schwester beendet hatte und dem Ausgang zuschritt, Friedrich Franz zur Seite, wagte er es endlich, das Schwelgen, das bisher zwischen ihnen geherrscht hatte, zu brechen.

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Leda.«

Ihre bis dahin so ruhige Haltung änderte sich. Sie hob bittend die Hände, ihre Augen wurden feucht. »Jetzt noch nicht, bitte, nicht vor übermorgen, wenn es durchaus sein muß.«

»Es muß sein, Leda.«

Ganz verzweifelt sagte sie: »Dann warten Sie bis übermorgen, ich bitte Sie. Wir dürfen meine Schwester nicht jetzt noch beunruhigen.« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und stöhnte.

»Es handelt sich gerade um Ihre Schwester, Leda. Es würde sie nicht beunruhigen, es würde sie beruhigen, wenn Sie mir erlaubten, zu sprechen.«

Sie sah ihn forschend von der Seite an. Er machte einen ernsten und ehrlichen Eindruck.

»Muß es hier sein?«

»Ich glaube, es wäre am besten.«

Sie gab dem Wagen ein Zeichen, daß er langsam vor ihnen her fuhr.

»Ihre Schwester war bei mir im Hotel.«

Sie blieb überrascht stehen.

»Wann war das?«

»Am Vormittag des Tages, da sie ums Leben kam.«

»Wie war das möglich?« Sie starrte ihn entsetzt an.

»Es war so, wie ich Ihnen sage. Gegen Mittag jenes Tages war sie im Hotel, schickte mir ihre Karte und bat mich um eine Unterredung im Empfangszimmer.«

»Dann sind Sie der letzte, mit dem sie gesprochen hat?«

»Ich glaube wohl.«

»Ich bitte Sie, erzählen Sie. Wie war sie, wie sah sie aus, was wollte sie bei Ihnen?« Sie erhob flehend die Hände.

»Sie erzählte mir die Geschichte ihres Lebens.«

»Arme Kathrine, arme Kathrine!« Leda weinte in ihr Taschentuch.

Es lag ein Felsblock in der Nähe des Weges. Dahin führte Friedrich Franz Leda, die sich kaum auf den Füßen halten konnte.

»Hat sie Ihnen alles erzählt?«

Friedrich Franz nickte.

»War sie sehr böse auf Mama?«

»Nein, Leda, das war sie nicht.« Er stockte und überlegte, wie er das, was nun kommen mußte, vorbringen sollte.

Ledas Gesicht zuckte. Ihre Augen gingen unruhig hin und her.

Friedrich Franz erschrak, wie ähnlich sie jetzt der Schwester sah, als sie mit denselben unruhigen, flackernden Augen im Empfangszimmer saß.

»Ihre Schwester schien sich viel mehr Gedanken über ganz etwas anderes zu machen, und ich glaube jetzt, nur deshalb hat sie mir so ausführlich ihre ganze Geschichte erzählt.«

Leda wurde noch blasser, als sie bisher schon gewesen. Auch Friedrich Franz war blaß geworden vor innerer Erregung.

»Bitte, erzählen Sie weiter.«

»Ihre Schwester machte sich schwere Sorgen um Sie, Leda.«

Leda barg das Angesicht in ihren Händen.

»Sie verbot mir, mit Ihnen darüber zu sprechen.«

»Warum tun Sie es doch?« stieß sie hervor.

»Weil Ihre Schwester damals nicht wissen konnte, wie alles sich in wenigen Stunden ändern würde, weil Ihre Schwester noch gar nicht ahnte, daß der Tod so rasch dazwischentreten würde und allem ein ganz anderes Gesicht geben.«

Beide schwiegen wieder.

Dann sagte Friedrich Franz leise, indem er Ledas Hand ergriff, die sich ihm nicht entzog: »Sie war so rührend, Ihre Schwester, sie bat mich, ich möge gut zu Ihnen sein, Leda, und sie dankte mir so rührend, als ich ihr das versprach, und ich meine, ich müßte Ihnen das sagen, gerade jetzt, gerade heute, mir ist, als erwiese ich damit Ihrer Schwester den einzigen Dienst, den ich ihr noch erweisen kann, als beginge ich ein Unrecht gegen Ihre Schwester, wenn ich noch länger darüber schwiege.«

Leda erhob sich und rief dem Wagen zu, der nur wenige Schritte weiter haltgemacht hatte.

»Meine arme Schwester!« Ein Zittern lief durch Ledas Glieder.

Friedrich Franz half ihr sorgsam in den Wagen, breitete eine Decke um sie und zog den Hut.

»Darf ich Sie morgen wieder treffen?«

Sie reichte ihm die Hand, nickte stumm, um ihre Fassung zu bewahren, und der Wagen setzte sich in Bewegung.

Lange sah Friedrich Franz ihm nach.

Hatte sie verstanden, weshalb ihre Schwester ihn aufgesucht hatte? Hatte sie verstanden, weshalb sie ihn gebeten hatte, gut zu Leda zu sein? Hatte sie verstanden, weshalb er das der Schwester versprochen hatte?

Er preßte die Hand aufs Herz, das so stürmisch und unruhig klopfte. Er hatte verstanden, weshalb er Leda das alles sagen mußte, er wußte jetzt, weshalb er nicht länger schweigen konnte. Er liebte Leda und konnte nicht von ihr lassen.

Es war der sechste Morgen nach Katharinas Tode, der letzte auf dem Weg der Seele über die lange Brücke zum Jenseits.

Wieder standen die beiden an Katharinas Grab. Nachdem Leda ihr alles erzählt hatte, was Sofia und die Verwandten und Bekannten anging, hatte sie sich erhoben und gesagt: »Gestern hat Herr von Kaufmann mir erzählt, daß du bei ihm gewesen bist und mit ihm gesprochen hast, daß du ihm dein ganzes Leben erzählt hast, und daß du dir Sorgen machst um mich, mir könne es gehen, wie es dir gegangen ist. Ich danke dir, Kathrine, ich danke dir, ich danke dir.« Sie verneigte sich dreimal vor dem Grabhügel. »Herr von Kaufmann steht hier neben mir. Wir danken dir, Kathrine. Er grüßt dich, ich grüße dich, Kathrine.« Sie wankte. Er stützte sie vorsichtig.

»Komm, wir wollen gehen, es wird zuviel für dich,« flüsterte er leise, und sie ließ sich willig von ihm stützen und an den Wagen bringen.

Er breitete ihr die Decke über die Knie und schlug sie ihr um die Füße, denn es war kalt und rauh.

Sie gab ihm ihre Hand, die er küßte, während Tränen aus ihren Augen stürzten, ohne daß sie ihnen wehrte. Ihr Gesicht erschien immer noch wie aus Stein gehauen.

»Morgen nachmittag komme ich zu dir«, sagte sie leise, und der Wagen setzte sich in Bewegung.


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