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XIX.

Endlich traf die von Friedrich Franz von Kaufmann solange erwartete Nachricht aus Berlin ein, daß er seinen Sofioter Posten verlassen dürfe. Er wurde zum 1. Januar nach Kleinasien abkommandiert und hatte sich an diesem Tage wegen alles Weiteren in Konstantinopel beim dortigen Militärattaché zu melden.

Friedrich Franz atmete auf. Nur noch wenige Wochen, dann war der Schlußpunkt hinter seine hiesige Tätigkeit gesetzt, dann fing ein neues Leben an, um das bisherige möglichst bald gründlich zu vergessen.

Es war ihm angenehm, daß Peter Karakinow nach Berlin gereist war. Er wußte jetzt wohl schon das Nötige, ohne daß Friedrich Franz zu weiteren Auseinandersetzungen gezwungen wurde. Das hatte sich gut und freundlich getroffen.

Er machte sich sofort auf den Weg zur Gesandtschaft, um sich zu informieren. Er fühlte den Drang, mit einer deutschen amtlichen Stelle in Sofia darüber zu sprechen. Er hatte das Gefühl, als sei er seiner Abberufung dann erst sicher, als könne sie erst dann nicht mehr rückgängig gemacht werben.

Auf der Gesandtschaft traf er nur den Legationsrat, der gerade im Begriff war, das Bureau wieder zu verlassen, und sich ein wenig wunderte, daß Herr von Kaufmann das nicht sofort merkte und sich danach richtete. Aber der Mann war wohl zu aufgeregt dazu.

Der Legationsrat ließ sich seufzend wieder auf den harten Stuhl vor seinem Schreibtisch sinken und beutete auf den anderen harten Stuhl.

»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, Herr Graf, daß ich zum 1. Januar nach Kleinasien gehe.«

Das Monokel trennte sich vom Auge. »Nach Kleinasien? Was wollen Sie denn da?«

Friedrich Franz setzte ihm die Sache auseinander.

»Davon weiß ich ja noch gar nichts.« Der Legationsrat rief nach dem Sekretär.

»Ist denn heute überhaupt keine Post gekommen?«

»Ich wollte sie dem Herrn Legationsrat gerade bringen.«

Der Sekretär legte einige Briefe auf den Tisch.

»Schon gut.«

Der Sekretär entfernte sich wieder.

Langsam öffnete der Legationsrat die Briefe. »Aha, da haben wir es schon«, sagte er befriedigt und las. »Da kann man Ihnen ja wohl gratulieren, Herr von Kaufmann?«

»Die Gratulation wird dankbar angenommen, Herr Graf.«

»Unsereiner hat es nicht so gut wie Sie«, seufzte der Legationsrat elegisch. »Ich wäre wahrhaftig auch lieber an der Front als hier.

Der Legationsrat erhob sich. »Auf Wiedersehen, Herr von Kaufmann. Wir sehen uns ja noch vor Ihrer Abreise.«

Friedrich Franz empfahl sich. Der Legationsrat wartete mit der Uhr in der Hand genau zwei Minuten und entfernte sich dann ebenfalls.

Eine Minute mehr hätte er mir schon gönnen können, dachte Friedrich Franz ärgerlich und wandte sich dem Borispark zu, um in einem kleinen Spaziergang Abschied zu nehmen. Das Wetter konnte jeden Tag umschlagen, darin war es mit dem Spazierengehen nichts mehr. Der erste der sieben Sofioter Winter, die es jedes Jahr gab, stand vor der Tür mit Regen und Glatteis oder Schnee und starker Kälte.

Der Gendarm stand an der Brücke und grüßte militärisch. Friedrich Franz grüßte wieder, und jetzt erst kam es ihm zum Bewußtsein, daß er vor allen Dingen Abschied nehmen wollte von dem Plätzchen, wo er und Leda voneinander getrennt worden waren für immer.

Die Luft war rauh und dunstig, ganz anders wie damals an dem heißen Sommertag.

Keine Blätter mehr an den Bäumen, keine Blumen mehr auf den Beeten, die Rosensträucher hatte man schon mit Stroh umwickelt. Unendlich traurig und melancholisch sah es aus.

Ganz langsam wanderte er weiter, und das Herz wurde ihm schwer.

Er sprang über den Graben und suchte die Stelle, wo er damals Leda getroffen hatte. Hier war es gewesen. Der dünne Birkenstamm, den er damals geknickt hatte, um sich eine Art Sitz zu bereiten, befand sich noch an derselben Stelle. Nur war er derweil völlig verdorrt.

Hier hatten sie sich damals auf den Boden niedergelassen, und dann hatte Leda die verhängnisvolle Frage getan.

Jetzt hatte et ja nichts mehr mit Politik zu tun, er hatte ja selbst so laut, daß sie es hören mußte, gesagt, daß er wieder zur Front ging. Warum hatte sie darauf nichts erwidert? Jetzt, wo die Politik nicht mehr zwischen ihnen stand, hätte man sich doch aussprechen, wieder versöhnen und wenigstens als gute Freunde auseinandergehen können. Er war längst dazu bereit, Leda zu verzeihen, daß sie damals versucht hatte, ihn auszufragen, ihn aufs Glatteis zu führen, ihm eine Schlinge zu legen.

Er starrte zwischen den mageren Bäumchen nach dem Borispark, ob sie nicht vielleicht wieder hierherkäme wie damals. Er war so milde und weich und versöhnlich gestimmt.

Aber Leda war nicht zu erblicken.

Seufzend verließ er das Gebüsch und wandte sich wieder der Stadt zu. Hier war er damals neben Leda einhergeschritten, beide stumm und böse aufeinander. Keiner hatte vor Zorn ein Wort zu sagen gewußt. Warum machte man sich nur das Leben so schwer?

Er schüttelte ärgerlich über sich selbst den Kopf. Warum grübelte er darüber immer noch nach? Warum fühlte er sich mit einmal wieder melancholisch und traurig, statt froh und ruhig, weil er seine Versetzung durchgesetzt hatte?

Als er im Hotel die Treppe hinaufstieg, kam ihm der Pikkolo mit einer Visitenkarte entgegen, die er ihm hinhielt. »Madame Katharina Gantschew, née Serafinow« stand auf der Karte. Was sollte das wohl?

Der Pikkolo suchte ihm verständlich zu machen, daß die Dame ihn unten im Empfangszimmer erwarte.

Kopfschüttelnd folgte er dem Pikkolo. Née Serafinow, das war also offenbar Ledas Schwester, die aufgeregte und nervöse Dame von neulich.

Er öffnete die Tür zu dem Empfangszimmer und schloß sie wieder vorsichtig hinter sich. Die Dame war ihm neulich schon etwas unheimlich vorgekommen.

Katharina saß zusammengekauert in einer Ecke des Zimmers und starrte durch die große Glasscheibe auf die Straße, von der man sie nicht erkennen konnte, da über die ganze Scheibe ein dünner Mullvorhang hing.

Zögernd kam Friedrich Franz näher und räusperte sich. Die Dame schien nicht gehört zu haben, daß er eingetreten war.

»Gnädige Frau wünschen mich zu sprechen?«

Sie fuhr erschrocken herum, wie aus tiefen Gedanken erwacht, und starrte ihn mit ihren heißen, unruhigen Augen einen Augenblick wie geistesabwesend an. Jetzt erkannte sie ihn wieder und bat ihn, Platz zu nehmen.

Er setzte sich und wartete.

Plötzlich schlug Katharina die Hände vor das Gesicht und stöhnte: »Mein Gott, ich schäme mich so!«

Die Dame machte entschieden einen geistig unnormalen Eindruck.

»Was werden Sie von mir denken, Herr Baron? Einmal haben wir uns gesehen, und schon habe ich ein Anliegen an Sie.«

»Ich stehe ganz zur Verfügung, gnädige Frau. Ich weiß zwar offen gestanden nicht recht ...«

»Kennen Sie meine Geschichte?« unterbrach sie ihn hastig.

Friedrich Franz fühlte sich mehr als unbehaglich. Was sollte er der aufgeregten Dame darauf antworten?

»Ganz Sofia spricht doch natürlich wieder davon«, sagte sie heftig. »Das wird doch alles wieder durcheinandergerührt und aufgewühlt. Ich sehe es ja jedem Menschen an, dem ich in die Augen blicke. Ihnen hat man die Geschichte sicherlich auch erzählt.«

»Mein Gott, gnädige Frau, das ist eine Privatangelegenheit. Verzeihen Sie mir, ich wünsche nicht, taktlos zu sein.«

»Dann werde ich Ihnen erzählen!« – und ehe er sich noch dagegen verwahren konnte, begann sie.

Sie benahm sich so seltsam und erregt, daß er es nicht wagte, sie zu unterbrechen. Wer weiß, ob sie das nicht beleidigt hätte, ob es dann nicht zu einem Skandal gekommen wäre. Die Dame machte wirklich einen halb unzurechnungsfähigen Eindruck. Er war es wohl der Familie Serafinow schuldig, die sicherlich nichts von diesem Besuche wußte, die Dame zunächst einmal ruhig anzuhören, bis er merkte, was sie mit ihrem Besuch bezweckte. Alles Weitere würde sich dann ja finden. Aber er nahm sich vor, ganz ruhig und besonnen, zu bleiben, was auch geschehen mochte. Das war er Leda schuldig.

Katharina starrte unausgesetzt, während sie sprach, auf die Straße. Sie sprach, als wenn sie die Geschichte auswendig gelernt hätte und nun hersagte. Es war ihm äußerst peinlich, das mit anhören zu müssen. Er war doch nicht ihr Beichtvater. Aber er hörte ruhig und scheinbar aufmerksam zu. Es handelte sich ja immerhin um Ledas Schwester.

Wenn draußen auf der Straße jemand vorüberging, stockte sie für einen Augenblick, als verlöre sie den Faden. Kaum aber war der Mensch da draußen vorbeigegangen, ging es wieder am Schnürchen.

Die Art, in der sie sprach, wirkte auf Friedrich Franz allmählich angreifend. Sie sprach ganz monoton, halblaut vor sich hin, die Augen immer der Straße zugewandt.

Friedrich Franz zermarterte sich den Kopf, woran ihn diese Art erinnere, die ihn immer mehr beunruhigte. Er hatte in diesem seltsamen Rhythmus und Tonfall schon sprechen hören. Bei welcher Gelegenheit war das doch?

Richtig, jetzt fiel es ihm ein. Die bulgarischen Popen schnurrten in dieser Art ihre liturgischen Gebete herunter. In der Kathedrale Cyrill und Methodi, die er einige Male besucht hatte, war ihm das aufgefallen. Diese Monotonie hatte etwas unendlich Trauriges und Lähmendes.

Mein Gott, wenn sie doch bald zu Ende kommen wollte! dachte er voller Unruhe. Katharina murmelte weiter und erzählte in diesem Ton die ganze Geschichte ihres Lebens und ihres Unglücks.

Nun schwieg sie und starrte stumm durch die Scheibe auf die Straße.

Auch Friedrich Franz schwieg. Was hätte er dazu auch sagen sollen? Es war gewiß sehr traurig, was sie erlebt hatte, es war ihr ja auch deutlich anzusehen, wie das Unglück sie an den Rand der Verzweiflung trieb, es mochte ihr ja auch eine Art Erleichterung verschaffen, sich gerade einem Fremden gegenüber das alles einmal vom Herzen zu reden, einem Fremden gegenüber, dem sie wohl nicht wieder im Leben begegnen würde. Vielleicht war sie nur deshalb gerade zu ihm gekommen. Sie wußte ja, daß er fortging und nicht wiederkam. Sie tat ihm aufrichtig leid ... Aber warum saß sie immer noch regungslos da und starrte auf die Straße? Hatte sie vergessen, daß er hier neben ihr saß? Sollte er sich leise erheben und fortschleichen, um sie in ihren Gedanken nicht zu stören?

Er räusperte sich, aber sie beobachtete es nicht.

Da sagte sie laut: »Meine Mutter ist an dem allen schuld, die unselige Politik!«

Nun löste sie ihre Augen von der Straße und blickte ihn an. »Nicht wahr, Sie haben mich verstanden, was ich gesagt habe?«

Er nickte zustimmend.

In ihr bleiches Gesicht stieg eine jähe Röte. Sie umklammerte mit ihren heißen, mageren Händen seinen Arm. »Ich bitte Sie, helfen Sie mir, daß es Leda nicht auch so geht wie mir!«

Friedrich Franz fühlte, wie er ebenfalls rot wurde. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Die Dame war krank, man sollte sie nach Hause und ins Bett bringen.

»Ich weiß, Leda ist nicht so schwach wie ich, sie ist stärker als ich, viel stärker. Es dauert länger, bis sie zerbrochen wird, es wird noch qualvoller sein, weil sie mehr Widerstandskraft hat. Ich sehe das alles, ich weiß es ganz genau. Aber ich will nicht, ich will nicht, daß sie wird wie ich.«

Die heißen mageren Hände ließen seinen Arm nicht los, die unruhigen, flackernden Augen brannten in den seinen.

Nur ruhig bleiben, sagte er sich, nur nicht widersprechen, sie weiß ja selbst nicht, was sie sagt und tut, so exaltiert ist sie.

»Sie versprechen mir, Leda nicht mehr böse zu sein?«

Er nickte zustimmend. Das konnte er leicht versprechen, er war ihr längst nicht mehr böse. Nur war es ihm rätselhaft, was die Schwester darüber wußte, wie sie zu solchem Wissen kam ... Wenn sie doch nur seinen Arm loslassen wollte ... Wenn jemand das Empfangszimmer betrat, was sollte er von der Sache halten?

»Helfen Sie nur!« flehte sie wieder.

»Gewiß, gern, gnädige Frau«, sagte er. Man muß auf sie eingehen, dachte er, man muß ihre fixe Idee ernst nehmen, dann beruhigt sie sich wohl am schnellsten. Schon fühlte er mit Genugtuung, wie sich ihre heißen Hände etwas lockerten.

Wieder schlug sie die Hände vors Gesicht. »Was werden Sie von mir denken? Ich weiß, es ist unweiblich, es ist zudringlich, ich bin Ihnen fast eine Fremde, wie komme ich dazu, Sie zu bitten ...«

Er versuchte, sie zu beruhigen. Er tat, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, als hätte er gar nichts anderes erwartet, als daß sie zu ihm käme wie zu einem alten Freund.

»Und Sie dürfen Leda nichts davon sagen, daß ich bei Ihnen war. Das würde ihr Stolz nicht ertragen. Versprechen Sie mir das!«

Das versprach er gern, es lag ihm gewiß nicht daran, Leda in eine peinliche Lage zu bringen.

»Oh, wie soll ich Ihnen nur danken?« Tränen traten in ihre Augen. »Nun wird alles gut, nun kann ich beruhigt sein, nun war ich doch noch zu etwas gut auf der Welt.«

Ihre Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß. Wie zu einem Heiligenbild sah sie zu ihm auf.

Man muß sie so bald als möglich in eine Anstalt bringen, dachte er. Vielleicht wird sie da doch wieder normal und gesund.

»Ich wußte es ja, daß Sie ein guter Mensch sind, ich sah es auf den ersten Blick.«

Sie stand auf.

»Seien Sie gut zu ihr, ich bitte Sie!«

»Ich bitte Sie, gnädige Frau ...

»Ich danke Ihnen!« Ehe er sich dessen versah, hatte sie ihm die Hand geküßt und war aus dem Zimmer gehuscht.

In einem Zustand tiefster Verwirrung blieb Friedrich Franz in dem Empfangsraum zurück. Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen, aufs Herz getreten. Es war ihm unmöglich, sofort einen klaren Gedanken zu fassen. Er fuhr sich durch die Haare, als wolle er sich am eigenen Schopf aus diesem Wirrwarr herausziehen.

Wie nach seiner Rettung griff er nach einer Zigarette und zündete sie an.

Er stand auf und wanderte durch das Zimmer.

Wie sollte er sich das alles erklären? Madame Gantschew war krank, kein Zweifel, sie war menschenscheu, sie fürchtete sich vor Menschen, wie er neulich auf dem Bahnhof beobachten konnte. Trotzdem hatte sie alle Rücksichten beiseitegelassen, alle Hemmungen überwunden und war ihm direkt ins Haus gekommen, ihm, einem ihr doch wildfremden Menschen. Und nicht nur das. Sie hatte ihm wie einem besten Freund ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Und auch das war noch nicht alles. Sie hatte sozusagen für Leda bei ihm geworben. Das war doch wohl der Gipfel des Krankhaften, des Unnormalen. Leda wußte freilich nichts davon. Das hatte Madame Gantschew ausdrücklich betont Sie war ohne ihr Wissen und Zutun gekommen. Das hinwiederum setzte doch zum mindesten voraus, daß Madame Gantschew davon überzeugt war, mit diesem Schritt Leda einen Dienst zu erweisen. Das setzte aber weiter voraus, daß Madame Gantschew Gründe dafür haben mußte, wenn vielleicht auch nur eingebildete Gründe ... Es schien wirklich so, als solle er in diese Sache nur noch tiefer verstrickt werden in einem Augenblick, wo er glaubte, sie endgültig überwunden zu haben.

Nun dachte er plötzlich auch wieder an das sonderbare Benehmen Evelines ihm gegenüber, als er sie allein bei Serafinows traf. Im Grunde genommen liefen Evelines Andeutungen damals auf dasselbe hinaus, und man mochte über diese junge Dame denken, was man wollte, krankhaft veranlagt, irgendwie geistig gestört war sie sicher nicht. Was trieb ein junges Mädchen und eine junge Frau zu einem so ungewöhnlichen Schritt? War er allein blind und hatte keine Augen mehr im Kopf? Sahen diese Frauen wirklich klarer als er, ja am Ende auch klarer als Leda selbst?

Jetzt fiel ihm ein: Mein Gott, ich hätte Madame Gantschew in ihrem erregten Zustand nicht allein lassen sollen, ich hätte sie zum wenigsten begleiten sollen. Wer weiß, was sie noch alles anstellt. Aber jetzt war es zu spät, ihr noch nachzugehen, jetzt war sie wohl schon wieder zu Hause.

Katharina Gantschew hatte sich den Schleier dicht vor das Gesicht gezogen und ging mit schnellen Schritten, ohne nach rechts oder links zu blicken, die Zar-Befreier-Straße entlang.

Ihr war ganz leicht und frei ums Herz. So leicht und frei wie schon lange nicht mehr. Die beiden liebten sich und hatten sich verzankt. Beide waren eigensinnig, maßlos eigensinnig, wie sie das sonst nur bei Bulgaren kannte. Keiner wollte den ersten Schritt zur Versöhnung tun, und jeder wurde immer verbitterter über den andern, weil er diesen ersten Schritt nicht tat. So kamen sie immer weiter auseinander und quälten sich und marterten sich. Oh, sie kannte das ja aus ihrer eigenen Vergangenheit. Nun aber war sie dazwischengetreten. Herr von Kaufmann gefiel ihr. Leda würde sicher glücklich mit ihm werden.

Immer schneller schritt sie aus, so daß ihr Atem flog. Wie gut, daß alles so gekommen war. Hätte sich Herr von Kaufmann anders benommen, hätte er mit Leda nur gespielt, sie würde ihn niedergeschossen haben. Dazu war sie fest entschlossen gewesen.

An der Krakrastraße machte sie halt, um ein wenig Atem zu holen. Dann aber bog sie nicht in die Krakrastraße ein, um zur Schipkastraße zu gelangen, sondern ging die Zar-Befreier-Straße weiter dem Borispark zu. Seit über einem Jahr war sie diesen Weg nicht mehr gegangen.

Wieder beschleunigte sie ihre Schritte, und ihre Augen strahlten in einem übernatürlichen Feuer. Vor einem Jahr hatte sie zwei Menschen unglücklich gemacht. Jetzt hatte sie zwei Menschen glücklich gemacht. Das hob sich auf, das gab auch ihr wieder freie Bahn.

Sie lief fast durch den Park wie auf ein bestimmtes Ziel zu, von dem sie unwiderstehlich, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, angelockt wurde. Dabei dachte sie immer noch an Leda und freute sich, wie sie nun glücklich werden würde.

Die Hand aufs Herz gepreßt, das stürmisch klopfte, sprang sie über einen Graben und stürmte, als gälte es einen Wettlauf, in das Gebüsch, das dahinterlag.

Ja, ja, hier war es gewesen, wo sie sich mit Dobri heimlich getroffen hatte. Hier hatte er ihr seine Verse vorgelesen, hier hatten sie sich geherzt und geküßt. Und da war ja ein Birkenbäumchen geknickt, gerade geeignet, um sich darauf zu setzen, wie auf ein Bänkchen. Ihr war, als erwarte er sie hier. Sie ließ sich auf dem geknickten Stämmchen nieder und schlug den Schleier weit zurück. Ihre Augen strahlten immer noch in einem überirdischen Feuer, ihre Lippen wurden weich und sehnsuchtsvoll und öffneten sich leicht, sie hob ihre Arme und breitete sie auseinander, als gälte es, jemanden zu umfangen. Oh, wie leicht und frei war es ihr ums Herz. Nun stand sie an der großen Brücke, die vom Diesseits zum Jenseits führt, wo Dobri ihrer harrte. – – – –

Serafinows warteten vergeblich auf ihre Älteste. Sie telephonierten an alle Bekannten, aber Katharina war nicht bei ihnen gewesen. Als es auf den Abend zuging und Katharina immer noch nicht erschien, wurde sogar Frau Adda sehr erregt und bestand darauf, daß man der Polizei Mitteilung machte. Die ganze Stadt wurde nach der Verschwundenen abgesucht. Endlich fand man sie in einem Gehölz hinter dem Borispark. Sie hatte sich mit einem Revolver ins Herz geschossen.


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