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III.

Es war Freitag und, wie jeden Freitag, großer Markt in Sofia. Meilenweit strömten seit Sonnenaufgang die Bauern, soweit sie nicht im Felde standen, die Bauernweiber mit ihren Kindern auf Büffelwagen, auf kleinen Wägelchen mit einem mageren Pferdchen davor oder auf einem Esel reitend zur Stadt. An diesem Tage sah Sofia immer wie ein riesiges Dorf aus. Das stand der jungen Residenz ganz natürlich zu Gesicht, kehrte sie doch so für einen Tag in der Woche zu dem Leben zurück, das noch vor wenigen Jahrzehnten ihr eigenes gewesen war.

Das glatt und sauber gewordene Gesicht dieser Stadt nahm dann wieder für vierundzwanzig Stunden seine ursprünglichen Züge an.

Es gab Sofioter, die schämten sich an jedem Freitag ein wenig des Aussehens ihrer Stadt, aber den Fremden war sie an diesen Tagen jedenfalls am interessantesten, denn an den übrigen Tagen sah die Stadt in ihrem modernen Teil nicht viel anders aus wie irgendeine andere kleine Residenz, die weiß, was sie der Neuzeit schuldig ist.

Es gab aber unter den Sofiotern auch nicht wenige, von denen jeden Freitag ihr neumodisches, städtisches Wesen abfiel, ohne daß sie sich besonders darum zu bemühen brauchten, ja ohne daß sie sich dessen selbst bewußt wurden, denn die meisten von ihnen waren vor zwanzig, dreißig Jahren ja auch noch im Büffelwagen gefahren oder auf einem Esel geritten.

In der Nähe der alten Sveti-Kral-Kathedrale war das bäuerliche Leben am unverfälschtesten. Da standen, saßen oder hockten auf dem Boden die Männer und Weiber in ihren bunten Trachten, vor sich auf bunten Tüchern oder auf der nackten Erde, was sie zum Kauf anzubieten hatten: Zwiebeln, Knoblauch, Hühner, Lämmer, Eier, Ferkel und dergleichen.

Zwischen den Bauern bewegten sich die Sofioter, prüften und feilschten. Sie hatten alle noch den sachverständigen Griff des Bauern, womit er Huhn und Schwein taxiert. Und auch das Bauernherz war wieder da, das um Pfennige handelt, als hinge aller Seelen Seligkeit daran.

Schon seit einer Stunde schlenderte Friedrich Franz durch dies ländliche, bunte Treiben, das ihm Spaß machte, und immer wieder setzte er seinen Kodak in Bewegung.

Da erblickte er Maria Petrow, elegant, städtisch wie immer, die zu einer Bäuerin trat. Er begrüßte sie und führte ihren Handschuh an die Lippen. Maria Petrow griff resolut mit den Glacéhandschuhen zwischen die Lämmer und Ferkel. »Lämmer und Ferkel sind meine Spezialität, da verläßt sich Papa nur auf mich.«

Sie hob ein Ferkel, das ihr besonders zusagte, an den zusammengebundenen Hinterbeinen hoch und begann mit der Bäuerin zu handeln, gänzlich unberührt davon, daß das Ferkel zwischen ihren behandschuhten Fingern zappelte und quiekte, als stecke es schon am Bratspieß.

Leutnant Gonthard schlenderte daher, erblickte Maria Petrow mit dem zappelnden Ferkel, blieb wie versteinert stehen und wurde puterrot.

Endlich wurde Maria Petrow handelseinig mit der Bäuerin, bezahlte und ging weiter. Das Ferkel hing jetzt still und unbeweglich mit den Hinterbeinen am Handschuh der jungen Dame.

Sie erblickte Gonthard, winkte ihn herbei, der verlegen näher kam und immer wieder einen entsetzten Blick auf das Ferkel warf.

Friedrich Franz amüsierte sich sehr darüber, während Maria Petrow es gar nicht merkte.

Maria Petrow bog in die Maria-Luisa-Straße ein, wo ihr Auto hielt und auf sie wartete.

Der Diener sprang vom Sitz und öffnete den Wagenschlag.

Ein prächtiges Auto mit Seidenkissen, Blumensträußen und allem Luxus der Neuzeit.

Maria Petrow schob das Ferkelchen, das sich abgezappelt hatte und nun völlig apathisch war, sich vor die Füße wie eine Wärmflasche.

Friedrich Franz lachte laut auf.

Erst sah Maria ihn verwundert an, dann lachte sie mit.

»Sie haben recht, es geht bei uns wirklich noch ein bißchen bunt durcheinander.«

»Jedenfalls gelangt das Ferkelchen auf eine sehr elegante und sehr moderne Art zu seiner Bestimmung. Daß dies per Auto geschieht, erlebe ich zum erstenmal.«

Nun fiel auch Maria Petrow das verlegene Knabengesicht Gonthards auf, und endlich verstand sie diese Verlegenheit. Er schämte sich ein wenig für sie. Sie reichte ihm die Hand. »Bin ich in Ihren Augen sehr tief gesunken, Herr Leutnant?«

Gonthard stammelte allerhand von ungewohntem Anblick, gab seinem Herzen einen Stoß und behauptete, dies Hausfräuliche stehe ihr besonders reizend, konnte sich aber doch nicht entschließen, ihr die Hand zu küssen, die eben erst ein Ferkel gehalten hatte.

»Kommen die Herren heute abend in das Moderne Theater zur Stambulowa?«

Beide Herren versicherten, daß sie anwesend sein würden.

»Dann also auf Wiedersehen heute abend!«

Maria Petrow nickte den beiden zu, das Auto setzte sich in Bewegung und entschwand bald ihren Blicken.

»Was man hier alles erlebt«, sagte Leutnant Gonthard halblaut und noch immer erschüttert. Es schüttelte ihn leise.

»Zum Andichten eignet sich diese Maria mit dem Ferkel schwerlich«, meinte Friedrich Franz trocken.

»Warum eigentlich nicht, was ist eigentlich dabei?« redete Gonthard sich selbst halblaut zu. »Es gibt genug deutsche Gutsbesitzersfrauen aus den besten Familien, die es gegebenenfalls genau so machen würden.«

»Na, sehen Sie, nun sind Sie wieder glücklich«, scherzte Friedrich Franz.

Die beiden bogen in die Zar-Befreier-Straße ein, die voll war von Gymnasiasten mit grünen Tellermützen, von Bäuerinnen in roten und blauen Röcken, von Bauern in dunkelblauen Jacken und weißen Hosen, von Damen in hellen Frühjahrstoiletten. Bald roch es nach Knoblauch, bald nach Pariser Parfüms. Mit eingekniffenen Schwänzen und ängstlichen Augen schlichen die Straßenhunde durch die Menschenreihen. Der Freitag war immer ein recht störender Tag für sie.

Gymnasiasten sangen leise vor sich hin, eine Kuh brüllte, junge Mädchen lachten, ein Esel schrie gottsjämmerlich ohne erkennbaren Grund. Vielleicht war ihm sehr wohl, vielleicht sehr übel zumute.

In der Nähe der Sobranje machten die beiden halt und sahen zwei Polizisten zu, die sich die Lunge aus dem Leibe schrien, um die Bauernfuhrwerke zu veranlassen, nicht über den schönen modernen Platz zu fahren und ihn mit ihren Ferkeln, Kühen, Hühnern und Kälbern zu verbauern, sondern in Seitengassen um den schönen Platz herumzufahren.

Da kam schon wieder ein Bäuerlein im dicken Schafspelz, die Haut nach außen, gemächlich mit seinem Büffelgespann quer über den Platz. Die Polizisten schrien, der Bauerstellte sich taub und trieb mit seinem langen Stecken die Büffel ganz gemächlich weiter quer über den Platz. Die Polizisten sprangen herzu, fuchtelten mit ihren Haselnußgerten, ohne die bulgarische Polizisten ebensowenig denkbar sind wie russische, wild durch die Luft und schrien auf das Bäuerlein ein, das sich durch nichts in seiner Ruhe stören ließ, ebensowenig wie die beiden Büffel.

Die Polizisten griffen nach der kurzen Kette des Leitbüffels und zogen so das Fuhrwerk eigenhändig beiseite. Der Bauer rührte sich nicht, als ginge ihn die ganze Sache nichts an, er stocherte weiter gemächlich mit seinem langen Stecken dem Leitbüffel in die Flanken, der sich dadurch ebenfalls nicht weiter aus der Ruhe bringen ließ.

Kaum hatten die Polizisten dies Fuhrwerk unschädlich gemacht, kam schon wieder ein anderes daher, und die ganze Prozedur begann von neuem. Immer wieder.

»Sie müssen unsere Bauern für ungewöhnlich dumm halten«, hörte Friedrich Franz eine Stimme hinter sich und fuhr herum.

Dr. Schiwatschew, ein junger Jurist und Dichter, begrüßte die beiden. »Unsere Bauern sind aber gar nicht so dumm, wie sie sich anstellen. Sie sind nur so eigensinnig, wir Bulgaren sagen: eigensinnig wie Esel, und voll tiefer Abneigung gegen alles Städtische. Übrigens gehört ihnen der Grund und Boden von halb Sofia. Sie fahren absichtlich über diesen Platz, um die Städter zu ärgern, diese armen Schlucker, die ihr bißchen Geld in Kleidern und Essen und Trinken vertun. Wir ärgern uns darüber natürlich, schon der Fremden wegen, aber ganz zu tiefst sind wir davon überzeugt, wir würden es in ihrem Falle auch nicht anders machen ... Und deshalb geben wir schließlich ja auch immer nach ... Sehen Sie, die Polizisten brüllen schon lange nicht mehr so laut und sind schon lange nicht mehr so energisch hinter jedem Bauernkarren her, sie überlegen schon, ob sie nicht die wirklich Dummen sind, und ich möchte wetten, in zehn Minuten sind sie verduftet und überlassen den Platz endgültig den Bauern ..., sie stammen ja selbst von Bauern ab.«

Der eine Polizist hatte sich in der Tat schon bis zum Ministerium des Äußeren zurückgezogen, und der andere sah ihm sehnsüchtig nach.

Die drei Herren spazierten wieder nach dem Innern der Stadt zu.

»Donnerwetter, wer is denn das?« stammelte Leutnant Gonthard und sah wie entgeistert einer jungen Dame nach, die eben an der Seite von Leda Serafinow an ihnen vorübergegangen war.

»Kommen Sie heute abend ins Moderne Theater?« fragte Dr. Schiwatschew.

»Selbstverständlich«, erwiderte der Leutnant, fast ein wenig gekränkt.

»Dann werde ich Sie der jungen Dame vorstellen, die solchen Eindruck aus Sie gemacht hat«, sagte Dr. Schiwatschew.

»Eine frappante Erscheinung«, meinte Friedrich Franz.

»Und eine mindestens so interessante Blutmischung«, sagte der junge Bulgare. »Seitdem sie hier ist, sieht man Leda Serafinow immer mit ihr. Beide wissen, wie gut die eine der anderen zu Gesicht steht.«

Leutnant Gonthard verabschiedete sich hastig. Es war ihm anzusehen, daß er den Spuren der beiden jungen Damen zu folgen gedachte.

»Haben Sie etwas Besonderes vor?« fragte Dr. Schiwatschew.

Friedrich Franz verneinte.

»Dann begleiten Sie mich vielleicht aufs Gericht, es ist vielleicht nicht uninteressant für Sie?«

Friedrich Franz war einverstanden.

Sie gelangten durch eine Seitengasse auf einen großen leeren, stummen Platz, der wie vergessen zwischen hohen alten Häusern lag. Der Platz sah alt und verwahrlost aus, die Häuser nicht weniger.

Sie traten in eins der größten dieser Häuser. Trotz der hellen Sonne draußen war es in dem Gang stockdunkel. Es roch nach Moder, und man stolperte über Holzscheite, die rechts und links aufgestapelt waren. Es ging eine enge Wendeltreppe in die Höhe, die unter jedem Schritt leise ächzte. Ein schmaler, dunkler, langer Gang. Poesieloser sieht es auch nicht in einem kleinen preußischen Gericht aus. Nur riecht es hier außerdem noch sehr intensiv nach Knoblauch, dachte Friedrich Franz, dem dieser Geruch äußerst zuwider war, und dem er nirgends entgehen konnte.

Das Verhandlungszimmer war ein kleiner, staubiger Raum, in dem sich ein langer Tisch mit mancherlei Akten befand, sowie ein Stuhl.

Weiter nichts.

Dr. Schiwatschew brachte einen Stuhl aus einem Nebenraum, schob ihn in eine Ecke und bat Friedrich Franz, dort Platz zu nehmen, während er sich selbst an dem Tisch niederließ und in einigen Akten blätterte.

Wie selbstverständlich der Mann es findet, daß ich mich für derlei interessiere, dachte Friedrich Franz. Weil ich ein Bundesgenosse bin, habe ich mich einfach für alles Bulgarische zu interessieren, basta.

»Ein wenig Bulgarisch verstehen Sie ja?« fragte der junge Jurist, der aus Mangel an Personal jetzt schon als Richter amtierte.

Friedrich Franz nickte.

»Ich habe hier den Fall eines alten Bauern, er wird von seinem Nachbarn beschuldigt, ihm ein Kalb niedergeschossen zu haben.«

»Erschossen?« fiel Friedrich Franz verwundert ein. »Geht man denn hier sogar mit dem Schießprügel auf Kälber los?«

Der junge Richter lächelte. »Irgendein Gewehr hat bei uns jeder, und wenn es auch nur eine uralte Büchse mit einem Steinschloß ist. Eine solche scheint dieser Bauer benutzt zu haben. Aber er leugnet, das Kalb erschossen zu haben. Er bringt sogar einen Zeugen, der sein Alibi beweisen soll für die Zeit, in der das Kalb gefallen ist.«

Dr. Schiwatschew läutete. Es dauerte eine Weile, dann schob sich ein alter, weißhaariger Bauer durch die Tür, ohne ein Wort zu sagen, den Blick auf den Boden gerichtet. Langsam schob er sich auf seinen Opanken näher und näher an den Aktentisch. Dann hielt er an und spuckte kräftig aus.

Niemand sprach ein Wort.

Dann hob der Bauer die Augen und sah mißtrauisch auf den jungen Mann, der hinter dem langen Tisch saß und in Akten blätterte. »Du, was machst du da?« fragte der Bauer.

»Ich mache die Akten zurecht.«

Wieder maß der alte Bauer den jungen Mann lang und voller Mißtrauen. Dann schien ihm eine Erkenntnis zu kommen, und er sagte: »Dann bist du also der Schreiber?«

»Jawohl, ich schreibe«, antwortete der junge Mann und sah nun seinerseits den alten Bauern an.

Wieder eine lange Pause. Dann deutete der Bauer auf Friedrich Franz. »Was treibt denn dieser da?«

»Dieser da? Er lernt, wie man es machen muß.«

Wieder eine Pause. Dann tritt der Bauer noch etwas näher an den großen Tisch, beugt sich vor und flüstert: »Du, Schreiber, wie ist denn der Richter?«

»Wie soll er sein?«

»Ist er ein guter Mann?«

»Natürlich ist er ein guter Mann. Warum soll er denn ein schlechter Mann sein?«

»Das ist so eine Sache«, meinte der Bauer unsicher und spuckte wieder kräftig aus.

»Du bist Dimiter Karaschew aus dem Dorfe Banki, über siebzig Jahre alt.«

Der Bauer nickte.

»Du bist angeklagt, deinem Nachbarn, dem Iwan Makedonski, ein Kalb erschossen zu haben.«

»Höre einmal gut zu,« fiel der Bauer ein, »ich werde dir erzählen, was sich zugetragen hat, und dann wirst du mir einen Rat geben, Schreiber, und wirst mir sagen, ob der Richter ein guter Richter ist oder ein schlechter Richter.«

Umständlich kramte der Bauer in seinen Taschen und brachte ein Kilo Butter und drei Eier hervor, die er ostentativ auf den Tisch legte, möglichst nahe dem jungen Mann, den er für den Gerichtsschreiber hielt.

»Also höre«, begann der Bauer. »Iwan Makedonski hat ein Kalb, das er nicht hütet, wie es sich gehört. Wenn es hungrig ist, geht es auf mein Maisfeld und frißt sich satt. Das gehört sich doch nicht, nicht wahr? ... Ich gehe also hinüber und sage ihm das. Er verspricht auch, besser auf das Kalb achtzugeben. Aber gegen Abend ist das Kalb wieder auf meinem Maisfeld, das an mein Haus stößt, so daß ich es jederzeit übersehen kann. Ich gehe wieder hinüber und sage es dem Nachbarn. Er verspricht mir, das Kalb im Stall festzubinden. Aber am folgenden Tag ist es wieder in meinem Maisfeld. Ich gehe zum drittenmal hinüber, denn dreimal soll man verzeihen, wie geschrieben steht. ›Iwan Makedonski,‹ sage ich, ›dreimal habe ich dir verziehen, wie es sich gehört und geschrieben steht, aber das sage ich dir, kommt dein Kalb noch einmal auf mein Maisfeld, schieße ich es nieder.‹ Und um nicht vom Zorn übermannt zu werden, gehe ich, ohne eine Antwort abzuwarten. Dreimal hatte ich ihn gewarnt. Sage selbst, ist das nicht genug?«

Dr. Schiwatschew nickte.

»Am andern Abend sitze ich am Fenster und sehe auf mein Maisfeld, da kommt schon wieder das Kalb und tritt im Mais herum und frißt sich voll. Nun ist es genug, denke ich, lade die Flinte, und das Kalb ist tot.«

»Also gibst du zu, das Kalb erschossen zu haben?« fiel der junge Richter ein.

Der Bauer stutzte einen Augenblick. »Ich sage dir doch, Bürschchen, ich lud die Flinte, und plötzlich war das Kalb tot. Mehr sage ich nicht. Iwan Makedonski hingegen sagt mehr, er sagt, ich habe das Kalb erschossen. Wie kann er das sagen, wo er doch nicht danebenstand? Er sagt selbst, daß er im Stalle war, einen Schuß hörte, und als er herzulief, war das Kalb tot. Wie kann er beweisen, daß es mein Schuß war, der das Kalb getötet hat. Wie kann er das? Das ist eine Bosheit von ihm und nichts weiter, sage ich ... Und nun hat er mich verklagt, obwohl er nichts beweisen kann.«

»Erlaube mal, Onkelchen ...«

»Höre nur weiter gut zu, Bürschchen«, fiel der alte Bauer ein. »Du bist noch sehr jung, wenn du erst älter bist, wirst du mich besser verstehen ...«

Er stockte und kratzte sich nachdenklich hinter den Ohren.

Hastig wurde die Tür eines Nebenzimmers aufgerissen, und ein schwarzbärtiger Herr mit goldener Brille rief dem Richter zu: »Noch einen Augenblick Geduld, ich komme gleich.« Die Tür flog wieder zu. Der schwarzbärtige Herr war der Verteidiger des Bauern.

»Überlege es also noch einmal, Bürschchen«, begann der Bauer von neuem. »Ich greife zur Flinte, und das Kalb ist tot. Aber es ist kein Zeuge, der gesehen hat, daß es meine Flinte war, welche das Kalb erschoß. Iwan Makedonski war ja im Stall, verstehst du? ... Wie könnte man mich also verurteilen? Wenn der Richter ein guter Richter ist, kann er das nicht ... Sage, Schreiber, weißt du, ob der Richter ein alter Mann ist mit weißen Haaren und Verstand?«

»Weiße Haare hat er noch nicht, Onkelchen, auch sehr alt ist er noch nicht, aber warum soll er keinen Verstand haben?«

Der Bauer seufzte. »Woher soll er den Verstand haben, wenn er noch keine weißen Haare hat und die Welt nicht kennt?«

Dr. Schiwatschew schwieg und musterte interessiert den Angeklagten, der offenbar noch etwas auf dem Herzen hatte, aber sich nicht recht getraute, damit herauszurücken.

»Da ist noch eine andere Sache, verstehst du, Bürschchen? Wenn der Richter ein guter Richter ist, muß er mich freisprechen.«

Ängstlich und listig zugleich musterte der Bauer wieder den jungen Mann und schob die Eier und die Butter noch etwas näher an ihn heran.

»Da ist nämlich noch Christow Makarow in unserem Dorf, kennst du den?«

Der junge Mann verneinte.

»Dann will ich dir sagen, daß dies ein verständiger und kluger Mann ist, der sich auskennt in der Welt. Er war schon einmal in Amerika.« Der Alte hielt an. Er versprach sich offenbar viel von dieser Mitteilung. Dann seufzte er wieder und blickte fast mitleidig auf den jungen Mann vor sich. Er dachte sicherlich, so ein junges Bürschchen weiß wirklich sowenig vom Leben wie ein Hühnchen, das eben erst aus dem Ei gekrochen ist.

Seufzend und ganz langsam, vielleicht verstand das Bürschchen ihn dann doch noch, hub der Alte wieder an: »Christow Makarow also, der in Amerika war, verstehst du, ist nämlich ein Mann, der für mich zeugt, und der dem Richter beweisen wird, daß ich an jenem Nachmittag, wo das Kalb erschossen wurde, überhaupt nicht in Banki war. Was sagst du jetzt, Schreiber?«

»Soso!«

»Und was glaubst du, wird der Richter dazu sagen? Nun ist es doch wohl klar, daß er mich freisprechen muß?«

Dr. Schiwatschew beugte sich über den Tisch näher zu dem Bauern und schob dabei Eier und Butter weit von sich.

»Nun höre du einmal gut zu, Onkelchen!«

Ein leichtes Lächeln ging über das junge Gesicht. Es wollte Friedrich Franz scheinen, als sei es dem listigen Lächeln des alten Bauern sehr verwandt.

»Du fragst mich, Onkelchen, was der Richter zu dem allen sagen wird? Höre gut zu. Er wird sagen: ›Dimiter Karaschew aus dem Dorfe Banki, gib dir weiter keine Mühe, du hast das Kalb mit deiner alten Flinte erschossen, du und kein anderer.‹«

Der Bauer fuhr zurück. »Das ist unmöglich, Schreiber!«

»Doch, es ist möglich, es ist sogar sicher, daß er dich verurteilen wird, Dimiter Karaschew, denn höre gut zu, Onkelchen: Ich bin nämlich nicht der Schreiber, Onkelchen, sondern der Richter, verstehst du? Und du hast mir selbst erzählt, daß du das Kalb erschossen hast, wenn es auch niemand außer dir gesehen hat.«

Der Bauer stieß einen beträchtlichen Fluch aus und sah hilfesuchend durchs Zimmer. Sein Blick blieb an Friedrich Franz hängen. »Sage du, ist das wirklich der Richter?«

»Es ist der Richter.«

»Oh, ich Esel, ich alter Esel!« jammerte der Bauer, schlug sich auf den Mund, warf dem jungen Richter einen bösen Blick zu und spuckte energisch aus.

Eine Tür wurde aufgerissen, und der Verteidiger sprang zum Tisch. »Wir bestreiten alles. Dimiter Karaschew hat gar nicht geschossen, er war an dem Tag überhaupt nicht im Dorf. Christow Makarow wird das bezeugen ...«

»Sei stille, du!« sagte der Bauer zornig. »Es ist zu spät. Ich bin ein alter Esel und habe dem Richter alles verraten, der mir wie ein Schreiber vorkam. Mache du nicht noch neue Dummheiten.«

Der Advokat war starr. Lächelnd erklärte ihm der Richter die Sache.

»Du bist wirklich ein Esel, Dimiter!« lautete die Antwort.

Der Bauer nickte resigniert und kramte wieder in einer Tasche. »Es war kaum ein Kälbchen, noch gar kein Kalb, armselig wie eine verhungerte Ziege.«

»Rede nicht mehr viel daher, Onkelchen, es nützt dir doch nichts, bezahle das Kälbchen.« Seufzend zog der Bauer eine Börse hervor.

»Iwan Makedonski verlangt sechzig Lewa für das Kälbchen, Onkelchen. Du wirst zunächst vierzig Lewa bei der Gerichtskasse hinterlegen, davon zehn für die Gerichtskosten, und das weitere wird dir geschrieben werden.«

Der Richter erhob sich, der Anwalt zerrte den Bauern zur Tür, der sich noch nicht ganz zufrieden geben wollte.

Als der Anwalt die Tür öffnete, rief von draußen ein Schreiber ins Zimmer: »Revolution in Rußland, der Zar ist abgesetzt!«

Friedrich Franz von Kaufmann sprang wie elektrisiert vom Stuhl. »Also endlich!«

Alles griff nach den Hüten und eilte ins Freie.

»Sie sagen gar nichts?« fragte Friedrich Franz verwundert.

»Ich bin noch ganz fassungslos,« erwiderte Dr. Schiwatschew, »kommen mußte es ja, aber nun es geschieht, wenn es wirklich wahr ist ... Das ist gerade für uns eine ungeheuerliche Nachricht, das ist ...« Der Bulgare konnte vor Erregung nicht weitersprechen.

Sie eilten über den Platz, der immer noch leer und stumm dalag. In der Maria-Luisa-Straße brüllten die Zeitungsjungen ihre Extrablätter aus, die ihnen aus den Händen gerissen wurden.

Überall bildeten sich Gruppen, die das ungeheuerliche Ereignis besprachen. Sogar die Bauernfuhrwerke, die aus der Stadt wieder in die Dörfer strebten, hielten an. Die Bauern machten lange Hälse und lauschten. Der Zar von Rußland abgesetzt? Revolution? ... Die Bauernhirne konnten es nicht fassen. Die Gesichter blickten erschrocken drein, die Köpfe duckten sich in die Schultern wie bei einem Unwetter. Wieder trieben sie die Büffel und Pferdchen an. Nur fort aus der Stadt mit ihren verfluchten Neuigkeiten, nur nach Hause ...

»Kommen Sie mit ins ›Café Bulgarie‹«, sagte Dr. Schiwatschew.

Eilig schritt Friedrich Franz neben ihm her. Das »Café Bulgarie« war der Mittelpunkt alles politischen Klatsches, alles politischen Lebens. Da mochte es jetzt recht erregt zugehen.

Deutsche Offiziere begegneten ihnen. Man schüttelte sich die Hände und gratulierte einander.

Ein österreichischer Oberleutnant kam des Wegs, winkte nach rechts und links, strahlte über das ganze Gesicht und rief immer wieder: »Nu gibt's Frieden!«

Die ganze Bevölkerung Sofias schien auf den Straßen zu sein. Überall wilderregte Gesichter. Die in lachender Erregung waren, gehörten Bulgaren, welche mit Überzeugung zum Vierbund hielten. Aber es fehlte nicht an erregten Gesichtern, die bleich und verstört dreinblickten.

Mit Friedrich Franz und Dr. Schiwatschew bewegten sich ganze Scharen von Menschen in derselben Richtung nach dem Café Bulgarie.

»Was wird Dr. Danew nun sagen?« hörte Friedrich Franz hinter sich einen Bulgaren spöttisch seinen Nebenmann fragen.

Vor dem »Hotel Bulgarie« staute sich die Menge. Einige begannen die Nationalhymne zu singen, andere fielen ein.

Vor dem bulgarischen Kriegsministerium nebenan ging der Posten gleichmütig auf und ab. Am Eingang zum Café drängten sich die Menschen, lachend, schimpfend. Im Innern war kein Stuhl mehr frei. Zwischen den Stuhlreihen standen die Menschen, gestikulierten und redeten aufeinander ein.

Friedrich Franz und Dr. Schiwatschew waren bei dem Gedränge vor dem Café voneinander getrennt worden. Friedrich Franz gab sich keine Mühe, im Café wieder mit ihm zusammenzukommen. Es interessierte ihn viel mehr, allein und nur mit eigenen Augen zu sehen.

Auf den ersten Blick machte das Café den Eindruck eines aufgescheuchten Bienenschwarms, der nicht weiß, wo und wie er wieder zur Ruhe kommen soll.

In der Mitte des Lokals waren einige Marmortische zusammengeschoben worden. Hier saßen Radoslawisten mit ihren Gesinnungsgenossen und strahlten. Dem einen oder andern mochte zu tiefst im Herzen wohl immer noch ein bißchen Furcht vor Rußland gesessen haben. Ein Rußland ohne Zaren, ein kaum vorstellbarer Zustand, da war nichts mehr zu fürchten.

Friedrich Franzens Blick flog nach einem Tisch an der Rückwand, dem Stammtisch einer Gruppe erbittertster Feinde des jetzigen Ministerpräsidenten, alte Herren in weißem Haar, mit weißen Bärten und zerknitterten Gesichtern. Alle waren sie versammelt und tuschelten miteinander in höchster Erregung.

Ein sozialistischer Abgeordneter, klein, behend, sprang auf Friedrich Franz zu, schüttelte ihm beide Hände und sagte strahlend: »Nun werden wir was erleben, das ist der Anfang der Sozialisierung der ganzen Welt, der ganzen Welt!«

Schon schüttelte er einem andern beide Hände und versicherte ihm dasselbe.

An einem langen Tisch zur Linken saßen Freunde und Mitarbeiter des »Mir«, mitten unter ihnen Bulgariens Nationaldichter mit dem guten Gesicht, dessen kluge graue Augen hinter den Brillengläsern leuchteten.

Friedrich Franz spitzte die Ohren nach diesem Tisch, der ihn besonders interessierte. Aber gerade diese Herren benahmen sich weniger aufgeregt als die meisten andern, sie hatten sich sehr in der Zucht und unterhielten sich langsam, ohne viele Gesten, und leise. Für sie und ihre Partei konnte das Ereignis ganz besonders starke Folgen haben. Lange waren sie mit dem zaristischen Rußland gegangen, nicht aus irgendwelcher Vorliebe für Rußland, sondern weil sie glaubten, Bulgariens Interessen seien an der Seite Rußlands am Ende immer noch besser gewahrt als an der Seite einer anderen Großmacht. Aber sie waren praktische Politiker und standen in der äußeren Politik treu zu dem jetzigen Ministerpräsidenten, nachdem die Würfel einmal gefallen waren.

Friedrich Franz trat noch einige Schritte näher an den Tisch und spitzte wieder die Ohren. Trotzdem konnte er von der leise geführten Unterhaltung nichts verstehen.

Peter Karakinow tauchte auf, trat zu Friedrich Franz und sagte laut: »Wir Mazedonier haben längst gewußt, daß es so kommen würde, deshalb haben wir von Anfang an auf das richtige Pferd gesetzt, auf Deutschland.«

Leise fügte er hinzu: »Hübsch kann das heute abend werden.« Friedrich Franz verstand nicht gleich, was gemeint.

»Die Stambulowa hat Glück mit ihrem Wohltätigkeitsfest ausgerechnet an diesem Tag ... Es kann sehr lebhaft werden ... Das dürfen Sie sich keinesfalls entgehen lassen.«

»Ich denke auch gar nicht daran,« erwiderte Friedrich Franz trocken, »ich habe ja Leda Serafinow eine Loge abgekauft, die werde ich doch nicht schwimmen lassen!«


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