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Von Alfred Richard Meyer
Alle Professoren waren einmütig der Ansicht, daß mit der endlich durchgesetzten Abschaffung der Todesstrafe für ganz Europa das große goldene Zeitalter der Humanität begonnen habe. Antialkoholiker, die aus ihrer Askese heraus ungeheuerliche Gelder gespart hatten, ließen heiter auf den Straßen Sektflaschen knallen, und die eingefleischtesten Vegetarianer überzeugten sich, daß ihnen warmes, lebendiges Kaninchenblut und nur leichtangebratene Känguruhschwänze viel besser bekämen.
Es war eine glückliche Zeit, zugleich für manche eine gar überraschende Zeit, allerdings im negativen Sinne, da jeder Mord und Totschlag ins Land der Märchen oder doch der Asiaten geflüchtet schien. Auch die hartnäckigsten Warner vor Humanitätsdusel und Sentimentalität verstummten, und die russische Regierung kam sogar auf den glücklichen Gedanken, die noch übriggebliebenen, leider nicht mehr allzu zahlreichen Bomben ihrer Anarchisten mit Doppelwutki zu füllen. Handel, Wandel und Wissenschaften wuchsen zu einer unerhörten Blüte, bis –
Ja, bis die deutschen und die mit ihnen herzlichst befreundeten französischen Anarchisten – man hatte niemals ganz ehrlich mehr an beider Existenz geglaubt – eines schönen Tages sämtliche Großbanken in Berlin, wie zu einer Höhenrekordfahrt der schon ziemlich sagenhaft gewordenen Luftballons, in die Luft fliegen ließen. Man brauchte eben Geld. Annähernd fünfhundert Menschen, Direktoren, Kassierer, Buchhalter, Portiers, Scheuerfrauen, Briefträger, Laufburschen, juristische Beiräte, aber auch einige der Attentäter selbst waren dabei verschwunden; umgekehrt hatten sich einige Millionen an Goldstücken und Papiergeldern eingefunden, die man so lange in falscher Scham verborgen gehalten hatte.
Durch den Verrat eines Komplizen, der sich bei der allgemeinen Teilung der Beute um ein weniges benachteiligt fühlte, erfuhr die Polizei schnell genug die sämtlichen Namen der weitverzweigten Gesellschaft. Der Prozeß, an den sich unsere Kinder und Kindeskinder erinnern werden, hatte dann in erster Linie die große internationale Strafrechtsreform zur Folge, die freilich erst nach einem heftigen Kampf der widerstreitenden Meinungen zustande kam. Manchen Professoren ward hierbei die Genugtuung eines Augurenlächelns, daß nämlich ihre Urgroßväter doch nicht so ganz auf dem juristischen Holzwege gewesen waren; und die plötzlich wieder akut gewordene Frage des Scharfrichters scheiterte einzig und allein daran, daß niemand mehr diese profane Würde auf sich nehmen wollte.
Das Resultat der Justizreform und dann des Prozesses war jedenfalls dieses, daß die über eintausend Angeklagten, darunter allein vierhundert Frauen, zur Strafe der lebenslänglichen Deportation und gleichzeitiger Entmannung der Männer in letzter Instanz verurteilt wurden.
Frankreich stellte aus eigenem Antriebe sein großes Felseneiland Merdia im Stillen Ozean für die Verbannten zur Verfügung und war ganz Vaterstolz über die geniale Erfindung eines seiner Söhne, der die Insel einen halben Kilometer entfernt von der Küste rings mit einem nahezu hundert Meter hohen, elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun umgab, von den zahlreichen raffinierten Unterseeminen ganz zu schweigen. Auf diese Weise gedachte man, die Verbrecher in der humansten und sichersten Weise für die Allgemeinheit unschädlich zu machen.
Die Humanität des Zeitalters gebot auch, die Verurteilten für etwa fünf Jahre, in den bescheidensten Grenzen allerdings, zu verproviantieren. Ein deutsches Fluggeschwader sollte jeden Frühling einige hundert Säcke der primitivsten Nahrungsmittel auf die Insel werfen, und Erkundungsflüge würden wohl mit Befriedigung feststellen können, daß die Bevölkerung sich in heißem Kampf langsam, aber sicher aufrieb und schließlich ausstarb.
Die Umwandlung der Anarchisten in Eunuchen gestaltete sich zum Clou des diesjährigen internationalen medizinischen Kongresses. Der Vorschlag eines englischen Gelehrten, auch den meistens noch jugendlichen Frauen die Möglichkeit der Fortpflanzung zu nehmen, wurde als übertrieben vorsichtig einstimmig abgelehnt.
Jedes Lichtspielhaus der großen Städte setzte seinen Ehrgeiz darin, seinen eigenen Originalfilm von der Deportation, die sich unter Beachtung aller nur erdenklichen Maßnahmen vollzog, einem pp. Publikum noch am selben Abend vorzuführen, und in der nächsten Zeit fehlten nirgends in der »Wochenschau« Stimmungsbilder von der Insel Merdia, bis sie schließlich wegen ihrer Einförmigkeit und – jedermann mußte das schon zugeben! – Wohlanständigkeit langweilig und langweiliger bis zur gleichgültigsten Gleichgültigkeit wurden.
Daß aber Merdia inzwischen zu einem ganz gemütlichen Robinsoneiland, fern aller Leidenschaften, wurde, ahnte niemand. Der wildeste Anarchist war zahm geworden, und der Schmerz um einen dahingeschwundenen schöneren Teil des Lebens erlag nur allzubald dem Bewußtsein, in ein gar nicht so übles Schlaraffenland verpflanzt zu sein, das dennoch Jugend und Intelligenz immer wieder zu Taten erweckte. Nach einigen schnell genug als töricht erkannten Versuchen, aus dem Kreise des unsichtbaren Feuers zu entfliehen, wobei natürlich ein paar Menschen, um die es im Grunde nicht schade war, kaput gingen, schloß man sich mit starker Einmütigkeit zu einer, sagen wir mal: Republik zusammen, die ihr Ideal allein in sich selbst fand und dabei ganz von der zuversichtlichen Sehnsucht durchzittert war, einmal ihre Werte wieder hinaus in alle Welt tragen zu können.
Allerdings rechnete man hier immer noch mehr mit allen möglichen Befreiungsversuchen gleichgesinnter, erst im Entstehen begriffener Vereinigungen auf dem Festlande, als mit der Tatsache, die ihnen wirklich den Flug in die große Freiheit gestatten sollte.
Das kam so:
Fabian Armbrüstchen, der bekannte Sieger im Himalajameeting XIII, hatte bei einem der offiziellen Erkundungsflüge über der Insel Merdia das Mißgeschick einer Panne, die ihn aus ziemlicher Höhe herunterfallen ließ, und zwar glücklicherweise innerhalb des blitzenden Gatters ins Wasser. Man zog den nur leicht Verletzten und sein ziemlich zertrümmertes Flugzeug eilfertigst heraus, und Fabian erwartete gefaßt den Tod, den er nach den Meldungen der gesamten Presse auch »unter den entsetzlichsten Qualen« erleiden mußte. Besonders amerikanische Zeitungen wußten über die »satanischen Marterungen« der Anarchisten ganze Spalten mit grausamsten Einzelheiten zu füllen.
Aber direkt das gegenteilige Schicksal widerfuhr dem unfreiwilligen Eindringling in den Inselstaat, der nun ganz das Ideal einer Verwaltung zu verkörpern schien: nichts vom widersetzlichen Willen verschiedener Parteien, vielmehr einzig ein Streben nach möglichst vielseitiger Entfaltung aller Kräfte zugunsten eines Zieles, einer Zukunft. Denn auch so weit war die Humanität der Richter gegangen, daß sie den verurteilten alles Handwerkzeug und selbst einfache Maschinen für technische Betätigungen mitgegeben hatten. Vielleicht, daß dem harten Felsenboden doch noch Fruchtbarkeit und Schätze abzuringen wären! Mit derselben Liebe, in der diese schweigsamen Menschen ihre Felder bestellten, mit derselben Güte, die sie der Fortpflanzung ihrer Tiere widmeten, pflegten sie auch Fabian Armbrüstchens zerbrochenen Körper. Sie mußten wohl schon ihren Zweck damit haben!
Der völlig Genesene wurde vor eine Volksversammlung zitiert, an der sich sämtliche Bewohner der Insel beteiligten. Und alsogleich hub der Älteste zu dieser Rede an:
»Mein Herr! Sie wissen, wie sehr uns Männern hier das irdische Glück verkürzt ist. Sie dagegen, ein ganzer Mann, sind hoffentlich auch bereit, sich als solcher zu erweisen. Ihnen wird hiermit die ehrenvolle Bestimmung, nach besten Kräften dafür zu sorgen, daß das Geschlecht dieser Insel zu neuem Leben erblüht, daß unsere Kinder über unsere kurze Vergänglichkeit hinaus das große Werk vollenden, uns über die ganze Erde hin rächen, sich fruchtbar machen und Herrscher werden. Bei der Geburt des einhundertsten Kindes wird Ihnen, geehrter Herr Armbrüstchen, als dem ersten Menschen dieser neuen Welt ein Obelisk errichtet werden. Fühlen Sie sich Ihrer Aufgabe gewachsen? Das Leuchten Ihrer Augen bejaht es mir mehr, als es Worte könnten. Nun denn, auf zum heiligen Werke!«
Und so geschah es, daß Fabian Armbrüstchen sich an diesem Abend bei Lieschen Plinzenball einlogierte, am nächsten bei Nadja Sonjakoff, am übernächsten bei Helga Helgesen, sodann bei Mabel Brown, Hélène Monplaisir, Petronella Knödelhuber und so weiter die vierhundert Frauen durch, von denen keine über dreißig Jahre zählte.
Und da die Zeiten erfüllt waren, erwies es sich, daß die Arbeit Fabians segensreich gewesen war; und mit doppeltem Eifer widmete er sich wieder seiner verantwortungsreichen und ehrenvollen Tätigkeit. Daß der Obelisk so schnell errichtet werden würde, hatte er freilich selbst kaum geglaubt, und er war bescheiden genug, einen Teil seines großen Erfolges, seines Ruhmes freiwillig an die ihn in seinem Streben so liebevoll unterstützenden Frauen abzutreten.
Die Jahre gingen, und aus den Kindern wurden Jünglinge und Männer. Dank Fabian Armbrüstchens reicher flugtechnischer Kenntnisse gedieh der Bau der verschiedensten Flugzeuge zu bewundernswürdiger Vollkommenheit, so daß es ganz selbstverständlich war, wenn die Knaben mit ihrer Reifeprüfung gleichzeitig das Zeugnis als Luftpiloten erhielten. Und diese Reifeprüfung erstreckte sich zudem auch auf die Gebiete des Staatswohls, für die früher Herr Armbrüstchen allein verantwortlich gewesen war.
Als Fabian Armbrüstchen die ersten zwölf seiner Söhne von dem Platz vor dem Denkmal des ersten Menschen aufgleiten sah in den Äther, ohne daß auch nur eine Maschine dem gefährlichen Drahtnetz zu nahe gekommen wäre, da wußte er, daß er nicht umsonst gelebt hatte. Und er hatte recht!
Wie recht er freilich haben sollte, ahnte er nicht. Denn er wußte ja nichts von dem Kriege der hundert Tage. Er dachte nur, diese Söhne verbrecherischer Mütter würden die Tatmenschen sein, die eine erschlaffte und verträumte Welt aus ihrer Lethargie rütteln würden. Doch da wurde nichts draus.
Die großen Städte lagen wüst und leer. Fabriken und Kirchen standen wie Narben unter der Sonne. Die Menschen aber hatte der große Krieg der hundert Tage, in dem die elektrisch entladenen Stickstoffkugeln des Professors Kägebein erstmalig angewendet waren, erwürgt und zerfetzt.
Wieder schwebten die zwölf großen goldenen Vögel abendlich über Merdia. Und wenn heute in dem kleinsten europäischen Dorf »dem ersten Menschen« ein Denkmal gesetzt ist, so weiß jeder, daß es sich nicht mehr um einen sehr zweifelhaften Herrn Adam, sondern noch immer um Herrn Fabian Armbrüstchen handelt.