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Die Geliebte

Von Karl Vollmöller

Sie müßten sie sehen,« sagte er und hatte einen Ausdruck in seinen weit auseinander stehenden, flimmernden, rehbraunen Augen, als könnte er jetzt gleich tot zu Boden stürzen, wie jener junge Beduine vom Stamme der Tej, der die Sängerin liebte. Er legte seinen blassen, schmalen Kopf mit einem Ausdruck märtyrerhafter Verklärung gegen die gelblichbraune, verräucherte, ölgestrichene Wand des kleinen Kaffeehauses zurück, in dem wir saßen, ließ seinen Körper schlaff werden und seine Mundwinkel zucken. Ein dünner dunkelbrauner Bart gab seinem Gesicht eine peinliche Ähnlichkeit mit gewissen archaischen Christusbildern.

»Wenn Sie sie sehen könnten!« und seine langen feuchten Finger begannen wieder an einer Zigarette zu drehen, die er seit einer Viertelstunde unter dem Tisch auf den Knien hielt.

Es war kalt. Wenn die Tür geöffnet wurde, kam jedesmal ein eisiger Luftzug bis in unsere Ecke, und man sah draußen im Dunkel die Trajanssäule und das Eisengeländer des Forums. Wir waren die einzigen Gäste. Von Zeit zu Zeit kam eine der Unglücklichen, die an dieser Stelle ihr Wesen treiben, dick eingewickelt herein, trat fröstelnd an den Schanktisch und verlangte einen Punsch. Eine kaum Sechzehnjährige, Schlanke, Biegsame, die ich früher nie bemerkt, nahm uns gegenüber in der anderen Ecke allein an einem Tischchen Platz und blieb da sitzen. Später bemerkte ich mit einem unbeschreiblichen Gefühl von Überraschung und Unbehagen, daß sie nur ein Auge hatte: ein hellbraunes, kluges, spöttisches. Das andere war wie mit einem milchigen Häutchen überzogen.

»Sie müßten sie sehen!« begann er wieder und hatte jetzt einen entschlossenen Ausdruck um Mund und Kinn.

Auch ich hatte mich ganz an die Wand zurückgelehnt und empfand in unserer Stellung etwas wie eine körperliche Berührung, die mich beunruhigte. Aber ich war abgespannter als sonst und zufrieden, nur ruhig so dazulehnen. Es war das vierte oder fünfte Mal, daß wir uns in diesem Café der Heimatlosen nebeneinander gesetzt hatten. Seine verschlissenen roten Samtbänke, der entgoldete Stuck der blinden Spiegel, die gemalte niedere gelbliche Wölbung waren noch aus der Zeit des guten alten aussterbenden Kaffeehauses um 1780. Die kleinen weißen Marmortischchen standen je auf einem schweren gußeisernen Fuß, der im geplättelten Fußboden eingelassen war. Ein paar armselige Stühle aus gebogenem Holz, der Schanktisch und die grellen Reklameschilder aus Glas und Stanniol an den Wänden mahnten verstimmend ans gegenwärtige Jahrhundert.

Jemand fing an, Sägespäne auf den Boden zu streuen und sie wegzukehren. Es mußte zwei Uhr sein. Wir rührten uns nicht.

»Wollen Sie mit mir kommen fragte er mit einem Male heftig und doch zaudernd. Er gab sich sichtliche Mühe, in Blick und Stimme dem Moment ein gewisses Pathos zu verleihen, und versuchte, mich mit seinen schönen irrenden Augen ruhig zu fixieren. Ich wartete einen Moment und machte dann eine Bewegung, die Zustimmung oder Ablehnung bedeuten konnte. Er sagte nichts weiter, senkte den Kopf etwas auf die Tischplatte und zog mit dem Finger verworrene Linien im Wasser, das auf der Marmorplatte schwamm.

Der Mensch mit Schrubber und Aufwaschlumpen wischte jetzt unter unserem Tisch und hinter unsern Beinen.

»Nicht mehr schlafen können …« sagte er halb vor sich hin, und dann plötzlich aufsehend und mit einem milden Lächeln: »Sie gehören doch auch zu denen, die nicht mehr schlafen?«

Ich hatte längst gefühlt, daß das Vertrauen, dessen er mich zu würdigen anfing, seinen Ursprung in meinen nächtlichen Gewohnheiten haben mußte. Er hatte beobachtet, daß auch mir zuweilen ein irrer Blick entfuhr, wenn mir der Kellner unbemerkt ein neues Glas mit Wasser auf das ovale Kaffeebrett stellte, daß auch mir zuweilen noch die Finger von der Nachtglut der Arbeit zuckten oder daß ein halblautes geisterhaftes Wort den Weg über meine Lippen fand. In den letzten Tagen hatte das nahe Zusammensitzen eine erschreckende körperliche Transfusion zwischen uns geschaffen, der ich mich umsonst zu entziehen suchte. Ich spürte deutlich, wie meine Nerven in den seinen fieberten, wie seine asketischen Brünste die meinen anfachten. Jetzt zeichnete er mit einem unbeschreiblich wollüstigen Ausdruck eine geheimnisvolle gewölbte, schwellende Form auf den Marmor.

»Sie müßten sie sehen!« wiederholte er dann unvermittelt und stand auf. Ich hörte förmlich, wie ihm das Herz unter dem etwas abgeriebenen braunen Rock schlug. Er faßte mich hart am Arm, wie um mich ohne weiteres mit sich zu ziehen, blieb dann wieder stier und regungslos mitten im Café stehen und starrte durch die Scheiben der Tür ins Dunkel hinaus. Die hübsche junge Dirne mit dem einen lustigen Auge und dem anderen toten sah herausfordernd und etwas höhnisch auf, als wir den Kellner riefen und zahlten.

Wir gingen. Er zog mich rasch und keuchend unter dem Torbogen am Palazzo Venezia durch und geradeaus die enge Gasse entlang. Links erkannte ich für einen Moment im Ausschnitt einer breiteren Querstraße die Treppe und die Pinie von Aracoeli, die hohe Silhouette der nackten Backsteinfassade, die breiten, hellen Stufen des Kapitols. Dann zog er mich links in eine kleine gewundene Nebenstraße, die nach meiner Berechnung in der Nähe des Marcellustheaters münden mußte, dann plötzlich wieder nach rechts durch die letzten Häuserreihen des alten Ghetto. Ich gab es auf, mich zu orientieren.

Ich wußte nicht mehr von ihm, als daß er Rocco hieß und aus Latanzaro stammte. Er sprach mit dem trockenen fanatischen Ton und der angenehmen Herbe, die das Kalabresische vom Neapolitanischen und Sizilianischen unterscheidet. Er war schlank und dünnknochig, wie die meisten seiner Landsleute. Soviel ich aus unsicheren Andeutungen, die er widersprechend hinwarf und wieder zurückzog, entnehmen konnte, hatte er erst der Marine angehört, dann einem in Rom garnisonierten technischen Truppenteil. Ein paarmal hatten ihn Soldaten, die mit ihren Mädchen in unser nächtliches Kaffeehaus gekommen waren, militärisch und leicht verdutzt gegrüßt. Sein Anzug war unbeschreiblich vernachlässigt, aber mit jener unverkennbaren Nuance, die die zerstreute Nachlässigkeit des Gelehrten oder Künstlers von der der Not unterscheidet. Auf seiner Visitenkarte hatte er über dem bürgerlichen Namen die neunzinkige Krone.

Ich erkannte mit einem Male, daß wir den Torso Vittorio Emanuele gekreuzt hatten und über die Piazza Navona gingen. Der große Brunnen brüllte in der Stille der Nacht. Bei unseren Schritten erhob sich einer, der unter einer Steinbank geschlafen hatte, und löste sich im schwarzen Gähnen eines Seitengäßchens auf. Wir kamen ziemlich genau dem kolossalen Baugerüst des neuen Justizpalastes gegenüber an die hohen Kaimauern, stiegen die Rampe hinauf und traten wie auf Verabredung an die Uferbrüstung, um in den Fluß hinabzusehen.

Er schien wieder unsicher geworden zu sein und legte sich schweigend weit über die Steinplatten der Balustrade vor. Ich hatte im Gehen deutlich gefühlt, wie er fortwährend unschlüssig die Richtung wechselte, wie aus einem inneren Widerstreben, mich zu führen. Jetzt lehnte er erregt und unentschlossen da und umfaßte mit einem weiten Blick den nächtlichen Fluß, der in einem breiten königlichen Bogen, vom Ponte Margherita und von Norden kommend, genau in der Richtung von Ost nach West an uns vorüberrauschte und in einer nicht weniger königlichen Kurve hinter der Engelsbrücke wieder nach Süden bog. Die hohen abgeschrägten Ufermauern schimmerten weißlich wie reinster Marmor. Die unbewegte geometrische Strenge ihrer Linie erweckte das gleiche Wohlgefühl im Beschauer wie ein ägyptisches Flachrelief oder die Rumpflinien einer Segeljacht von Herreshoft. Ich fühlte, wie Rocco diesen doppelten Bogen in Form eines S einsog, schlürfte und genoß.

Aber der Ort, an den er mich führen wollte, war es nicht.

»Haben Sie sich einmal überlegt, daß die letzte Schönheit tödlich ist?« sagte er unvermittelt und fuhr dann rasch fort, als sei er über sein eigenes Wort erschrocken und suche mich abzulenken:

»Kennen Sie die Dolomiten? Ich sah einmal bei einem Paßübergang hinter dem Montaton einen See … ich glaube, die Gegend hieß Lagorai … einen kleinen Bergsee, in der Blässe der frühesten Frühe, in der allerersten bräutlichsten Ahnung des Morgens: die Sterne spiegelten sich noch im Wasser. Einen gewöhnlichen, nicht großen, todstillen Bergsee, aber mit einer Kurve des Uferrands … mit einer Kurve –«

Er machte eine umfassende runde Bewegung mit seinen langen, dünnen Armen und bog sich dann noch weiter über die gewölbten, kühlen Steinplatten der Uferbrüstung.

»Aber ich meinte eigentlich nicht die Dolomiten. Am Finsteraarjoch gibt es einen weichen abgerundeten Felssattel, jenseits des großen Gletscherfeldes, gerade der Hütte gegenüber, einen runden Bergsattel mit einer Linie, die von rechts herniederschwebt und links emporseufzt, … eine von den Linien, eine von den stärksten. Ich schlich mich nachts, als alle schliefen, vor die Hütte und hockte da im Frost, bis die Führer um halb zwei zum Aufbruch nach der Spitze weckten. In einer reinen, zarten Kontur stand dieser geschwungene Sattel gegen den fühllosen Sternhimmel, weich wie die eingebogene Lende einer Frau, warm wie ein großer Mollakkord auf der Orgel, kalt und wesenlos wie die Zahl. Der eisige leise Wind blies mitten durch die Fetzen und Locher meiner achtzehnjährigen Seele, der Widerschein des Gletscherfeldes durchleuchtete mich wie ein Gebilde aus Kristall … und mir war es, als würde ich nie, niemals wieder diese Stelle verlassen.

Freilich: erst war es die Landschaft! Bis in die Tiefen des Geschlechtlichen hinein war es die Landschaft, die mich erfüllte. In der Bucht von Palicastro sah ich einmal im vollen Sommermittag einen Berg, einen sanftgeschwellten, flachgewölbten, mildgeschwungenen, langgedehnten, niederen Berg von glattem, gleichsam poliertem Stein, in einer sanften Parabel aus der Ebene steigend und wieder zur Ebene sinkend, auf der reinen ungebrochenen Höhenlinie nichts als einen niederen viereckigen Sarazenenturm. Die Sonne stand voll im Himmel. Es war heißer Mittag, aber die Luft flimmerte nicht. Sie war zäh und ruhig wie schmelzendes Glas. Das Meer atemlos blank und spiegelnd wie Quecksilber. Die göttliche Kurve des niederen Berges von glattem, gelblichem Stein wölbte sich unter der stählernen Glocke des Himmels, weich wie die erhabene Hüfte einer Frau, unfruchtbar und grausam wie die letzte Schönheit. Ich empfand sie so stark, daß mein achtzehnjähriger reiner Körper sich reckte und dehnte, wie eine Schote, die von ihren Körnern gesprengt wird, und ich mußte mich einen Moment an den einzigen Baum in der Nähe lehnen, einen Feigenbaum, der im Steingeröll wuchs, denn in diesem Augenblick schüttelten mich zum erstenmal im Wachen die neuen Schauer des Samens …«

Ich muß wohl eine Bewegung gemacht haben, denn er richtete sich auf. Ich hatte ein brennendes Gefühl wie von einer unkeuschen Berührung. Was schleppte er mich da in der Nacht herum, um mir Intimitäten zu erzählen? Wenn ich ihm jetzt einfach glatt den Rücken drehte und ihn stehen ließe? Aber etwas unendlich Rührendes in feiner Haltung nahm mir den Mut dazu.

»Ich glaube, ich bekam damals etwas wie eine kurze Ohnmacht. Kennen Sie die Gebetsstellung der Malaien von Batu? Nein? Ich kannte sie auch nicht. Es ist eine besonders suggestive Stellung der tiefsten, fast tierischen Adoration, ein letzter Nachklang des alten Fetischdienstes. Der Bata wirft sich erst heftig in die Knie, stützt sich mit seinen beiden flach aufgepreßten Händen, die er möglichst weit vorstreckt, auf den Boden und biegt dann langsam, langsam den Kopf in den Nacken zurück. Als ich das zum erstenmal sah – es war in einer kleinen dunkeln Hafenmoschee in Padang, wo wir in Erwartung von Orders aus der Heimat vor Anker lagen, – war es mir, als fiele ich in einen tiefen Brunnen von Erinnerung und Vorerlebtem: das war genau die Stellung, in der ich mich damals vor dem Berg in Policastro kniend fand, als ich aus meiner Bewußtlosigkeit erwachte …«

Er saß jetzt ganz aufrecht auf der Balustrade, fuhr sich über das Gesicht, blickte unstät nach den nahen Häusern und dem fernen Himmel voll von Wolken und Sternen.

»Zuerst freilich war es die Landschaft. Sie besaß mich völlig: meine junge Seele und meinen noch keuschen Körper. Später war es die Frau. Ich entdeckte den Körper der Frau, wie ich die Landschaft entdeckt hatte. Und er besaß mich völlig, wie mich die Landschaft besessen hatte. Völlig. Rettungslos …«

Er hatte sich wieder über den Fluß gebeugt und schüttelte sich wie im Fieber. Brach plötzlich ab, sprang auf und packte mich am Arm, wie zuvor im Kaffeehaus:

»Kommen Sie!« Und er riß mich rasch am Kai entlang in der Richtung der Engelsbrücke mit sich fort über das rauhe, hallende, weißliche Pflaster.

»Dann, nach Frau und Landschaft, kam langerwartet, heißgesucht die Dritte – beiden gemeinsam und aus beiden geboren: die letzte Schönheit, die absolute Kurve …«

Mir schwindelte etwas. Die Nacht war kalt, mit einem trockenen, klingenden, durchsichtigen Ostwind, mit jagenden Wolken und stillen Sternen. Ich war abgespannter als sonst, und die körperliche Müdigkeit steigerte noch das Fieber der Phantasie.

Er sprach jetzt unaufhörlich und verzweifelt. Es klang, wie wenn man auf hoher See den letzten kleinen Anker an einer unendlich langen Kette über die kläglich rasselnde Dampfwinde ablaufen läßt und immer weiter ablaufen läßt und nie damit zum Grund kommt. Mit langen hastigen Schritten schleppte er mich den Lungotevere hinab. Die Hellen Paläste und Villen am Fluß froren schweigend, die Brücken hingen über ihren Geheimnissen, die Wasser rauschten. Und er predigte unaufhörlich in abgerissenen, bald drohenden, bald demütigen Sätzen etwas wie eine Religion der letzten Schönheit, aus Weib und Landschaft geboren und vollendet in der reinen mathematischen Kurve.

Er sprach ununterbrochen, wie um mich keinen Augenblick zu mir selber kommen zu lassen. Redete mit Donnerstimme und mit Engelszungen, schrie, brüllte und flüsterte. Bald hatten seine Reden für mich allen Zusammenhang verloren und schienen mir nur noch eine wirre Kette von Worten. Dann mit einem Male ward er wieder ruhiger und fing wieder in leisen fanatischen Tönen an von »Ihr« zu reden.

Am Ponte Sisto sah er nach Trastevere hinüber und schien zu schwanken. Aber er blieb schließlich doch auf der gleichen Seite des Flusses, und wir kamen seiner starken Krümmung folgend bis zur Tiberinsel. Droben von San Pietro in Montorio schien ein einsames Licht. Ich glaubte einen Moment, das frische kühle Rauschen der Aqua Paola zu hören, aber es war nur der Fluß, der sich an den Pfeilern der römischen Brücke brach.

Er schwankte wieder. Machte mir dann ein bedeutungsvolles Zeichen mit dem Kopf. Wir überschritten die beiden Brücken und die Insel, und er schlug jetzt entschlossen die Richtung nach der Ripa Grande ein.

»… zum erstenmal sah ich sie in einem entlegenen Vorort von Paris. Ich war damals mit Major Morris und mit Costa vom Generalstab dort, um bei Clément einen Lenkballon für die Regierung zu bestellen. In der dunkeln Werkstatt eines kleinen Modellisten war es. Es gab Staub und Spinnweben und draußen ein Gärtchen nach dem Fluß und eine Aussicht auf eine Brücke und auf die tausend Kamine von Clichy Neuilly und Levallois Perret. Und dann war sie da. Niemand achtete auf sie. Nur ich sah sie. Und ich sah sofort, daß sie vollkommen war. Sie hatte jene schöne gleichmäßige bräunliche Färbung. Ich erkannte sofort ihre Vollkommenheit …«

Wir kamen an San Michele a Ripa vorüber. Das schwerfällige Rasseln und Rattern der ersten Ochsenwagen hallte von der schweigsamen Fassade wider. Auf den Stufen vor der Kirche schlief ein Dutzend Menschen in den seltsamsten Lagen und Verrenkungen. Rocco ging zusehends langsamer, war es, weil wir uns dem Ziele näherten oder weil er anfing müde zu werden; Nun war es fast zwei Stunden, daß wir über das harte Pflaster gingen. Meine Fußsohlen brannten. Heiße Schauer von Müdigkeit liefen mir an den Beinen und über den Rücken empor. Aber mein Kopf war wach und fieberte.

Wir waren im Gebiet des Flußhafens. Am Ufer drängten sich die großen schwarzen Kohlenkähne von Civitavecchia, die Eisenkähne von Elba, die Marmorboote und Paranzen von Livorno, große Fischerbarken von Corre und von der adriatischen Küste, leichte Schuner mit Holz und Getreide aus Fiume. Kein Licht, kein Geräusch. Schwerer Schlaf über dem ganzen Gewirr. Nur ein größerer Dampfer und zwei Schlepper, die in der Mitte des Flusses verankert lagen, hatten Positionslaternen und qualmten ein wenig. Über dem Fluß drüben sah man die regelmäßigen Lichterreihen des modernen Quartiers unter dem Monte Testaccio, ein paar helle Fenster in einem der neuen Klöster auf dem Aventin, weiter drunten die Hallen des großen Schlachthofes und die dunkle Masse eines ungeheuren Gasometers. Ein langer lichterloser Güterzug fuhr weit unten langsam, langsam durch das Gitterwerk der Eisenbahnbrücke.

Bei der Porta Portese war es wie ein Feldlager. In langen Reihen stauten sich die hohen zweiräderigen Karren der Campagnabauern mit ihren Ladungen von Feldfrüchten, Gemüse und Schlachtvieh. Offene Kohlenfeuer brannten. Die Beamten des Oktroi standen in ihren abgetragenen Röcken herum und stocherten mißmutig von Zeit zu Zeit mit dem eisernen Haken in der Tiefe einer Ladung Heu herum. Im Bureau brannte ein grelles Azetylenlicht, und einer saß hinter dem Schiebefenster und schrieb.

Wir wanden uns mühsam durch die Wagenreihen. Rocco fing wieder an, rascher zu gehen, wir waren vor der Stadt.

»Seit der Zeit habe ich nur noch ihr gedient. Ich fühlte wohl, daß sie keine anderen Götter neben sich duldete. Deshalb ließ ich alles. Quittierte den Dienst. Dachte nur noch daran, ihr Bild zu machen, es hundertfach zu wiederholen. Suchte nur noch Wege, um immer tiefer und ausschließlicher ihr zu gehören. Wenn Sie einmal einen meiner alten Kameraden treffen – Sie kennen doch den Major? – dann fragen Sie nach mir. Sie werden sehen« (hier lächelte er schlau), »Sie werden sehen, daß sie mich alle für wahnsinnig halten. Gewiß tun sie das. Wie sollten sie auch anders! Denn sie hat noch keiner von ihnen gesehen.«

Wahnsinn! Ich fuhr unangenehm berührt zusammen. Der Begriff hatte schon seit einer Stunde im Hintergrund meines Gehirns gelauert. Es war einer von den Begriffen, die ich zu verachten pflegte. Wahnsinn – ich glaubte zuviel davon bei allen Menschen zu sehen, bei den scheinbar harmlosen und klaren oft mehr noch als bei den verschrobenen und zerklüfteten, und ich spürte zuviel davon in mir selbst, um mit diesem Begriff als etwas Bestimmtem, Unterscheidendem operieren zu wollen.

Wir gingen zwischen Feldern und Gärten. Rechts von der Straße lagen noch vereinzelte Häuser, in denen es sich morgendlich zu regen anfing. Zuweilen war ein Gewölbe im Erdgeschoß geöffnet und erleuchtet. Immer neue Karren kamen uns ächzend und rüttelnd entgegen.

Zum erstenmal kam mir der Gedanke, nicht weiterzugehen, umzukehren. Rocco ging immer rascher, stets einen halben Schritt vor mir. Wenn ich einfach stehenblieb und umkehrte?

Die ganze Gegend, die nächtliche Landstraße, die Gärten, die Häuser und der Fluß waren von einer unsagbaren zweideutigen Schauerlichkeit. Ich erinnerte mich jetzt, einmal diese Straße gemacht zu haben, vor Jahren, im Automobil, als wir von Ostia kommend den Weg verfehlt hatten. Und erinnerte mich deutlich, wie ich mich damals beim Nennen der Örtlichkeit sofort an die große Bluttat erinnert harte, die kurz vorher in der Gegend passiert war und die damals die Spalten der Zeitungen füllte.

Rocco schien mein Zaudern zu spüren. Er wandte sich um und blieb einen Augenblick stehen:

»Ich gehe Ihnen wohl zu rasch!«

Er lachte. Ich hatte ihn nie lachen gehört. Ich kann nicht sagen, daß sein Lachen angenehm klang. Er fühlte es offenbar selbst, denn schon hatte er wieder seinen leisen, gedämpften Ton:

»Gleich werden wir da sein … Ja, wenn der Major sie zu sehen kriegte! Oder Costa … Sie ahnen ja alle so etwas. Letzthin machte mir Costa ein verstecktes Angebot. Sie suchen ja selbst nach ihr. Machen schlechte, täppische Götzenbilder, von ihr, der Einzigen, Göttlichen. Ich mußte lachen, wie mich Costa provozierend in der staatlichen Werkstatt herumführte und mir in einem geheimen Magazin die fremde Mißgeburt zeigte, die für das neue Militärluftschiff bestimmt ist. Ich mußte lachen, denn nun wußte ich, wie Sie im Gehirn eines königlichen Beamten aussah. Er redete mir um den Mund von einem neuen Verfahren. Als ob es auf das Verfahren ankäme. Zeigte mir Holzproben. Verleimungsproben. Ich machte sie nämlich anfangs auch ganz aus Holz …«

Mein Gehirnzustand war nicht mehr einfach als »Schwindel« zu bezeichnen. »Gedankentaumel« wäre ein schwacher Ausdruck gewesen. Zu Tausenden und Tausenden waren seit zwei Stunden meine Gedanken und Vorstellungen um Sie zusammengeschossen, wie die Blasen von Wasserstoff und Sauerstoff, die sich in der Lösung um die beiden Elektroden sammeln, hatten dann wie Gasblasen im Wasser sich unaufhörlich losgelöst, waren emporgestiegen und zerplatzt. Mit seinen letzten Worten hatte er mir zum hundertstenmal eine ganze Phalanx von Vermutungen durchbrochen und in die Luft gesprengt.

Wer war Sie? Eine Frau? Dies war meine erste undeutliche Vorstellungsreihe gewesen. Sie tauchte unter, sobald wir das Café verließen, gleich bei der ersten Berührung mit der kalten Nachtluft. Eine Statue? Ich fing vor der Engelsbrücke an, daran zu zweifeln. Eine Maschine? – aus Holz?

Meine bescheidenen technischen Anschauungen kamen ins Wanken, stürzten wirr durcheinander ins Gegenstandslose.

»Hier!« sagte er und schob mich durch ein kleines Tor, an dem ich ohne seinen Griff vorbeigegangen wäre. Es lag in einer langen Mauer an der linken Straßenseite, an der wir seit einiger Zeit schon entlang gingen. »Flußseite,« sagte ich bei mir selbst, in meiner gewohnten, etwas pedantischen Art, mich immer orientieren zu wollen, und versuchte noch einen Blick auf die Straße zurückzuwerfen. Aber er hatte das Tor schon geschlossen und faßte meinen Arm fester.

»Fallen Sie nicht!«

Ich fühlte noch, ehe ich es sah, daß wir in einem Garten mit großen, kühlen Bäumen waren. Gras rauschte um meine Schuhe. Dann begannen sich langsam die zusammenfließenden Silhouetten einer doppelten Baumreihe vom Nachthimmel abzuheben. Allmählich lösten sich auch rechts und links von uns helle Stämme aus den tiefen Schatten. Nur Platanen konnten so hell sein. Wir umgingen ein stilles, lichtes, spiegelndes Rund, das sich mit einem Male mitten im Weg vor uns auftat. Meiner angespannten Aufmerksamkeit, die mir fast die Augen aus dem Kopfe trieb, schien der Weg schon unnatürlich lang. Ich hatte doch wohl die Entfernung zum Fluß unterschätzt. Ich suchte vergeblich am Himmel nach dem Lichtschein vom andern Ufer her, der doch eigentlich längst hätte sichtbar sein müssen. Vielleicht war der Garten gegen den Fluß durch eine hohe Mauer abgeschlossen. Rocco ging einen Schritt vor mir. Er hatte meinen Arm losgelassen. Ich hörte plötzlich ein leises Klirren und wäre fast auf ihn geprallt. Er stand über das Schlüsselloch einer großen Tür gebeugt. Über uns ragte die Wand eines langgestreckten niederen Gartenhauses mit Vortretendem Dach.

Er brauchte einige Zeit, um aufzuschließen, und ich sah mich mit fiebernden Augen und pochendem Herzen in der Dunkelheit um. Das Haus mußte unmittelbar an den Fluß stoßen. Ich hörte in der Richtung der Eisenbahnbrücke deutlich eine Rangierlokomotive, die Dampf abließ und von Zeit zu Zeit kläglich pfiff. Hinter uns unterschied ich ein fernes Frühsignal aus der Kavalleriekaserne von Trastevere. Warum mich diese Warnehmungen beruhigten? –

Eine kleine Tür, die in den rechten großen Torflügel eingeschnitten war, ging endlich auf. Rocco machte eine Bewegung. Ich trat mutig und hastig in das dunkle Innere. Er folgte mir. Beim Zuschlagen der Tür hörte ich, daß sie ein schweres, solides, gut geöltes Schnappschloß hatte. Rocco tastete an den Wänden. Man hörte seine Hände über den Kalk streifen. Er suchte offenbar nach einem elektrischen Kontakt. Dabei murmelte er unaufhörlich vor sich hin. Dies dauerte eine Weile.

Das erste, was mir im Dunkel auffiel, waren ein paar bläuliche Streifen von Licht an der Wand gerade dem Eingang gegenüber. Bald erkannte ich, daß es die Konturen von schlechtschließenden Fensterladen waren. Der eine, ganz links schien bis auf den Boden zu gehen. Die Ritzen waren weiter, deutlicher: eine Tür. In diesem Augenblick drang von drüben der Ruf des Fährmanns, der mit seinem Boot vom Schlachthof nach dem andern Ufer übersetzt. Nicht lange danach ganz in der Nähe ein deutliches Plätschern. Eine Tür unmittelbar nach dem Fluß!

Ein leichtes knipsendes Geräusch. Die bläulichen Ritzen verschwanden. Licht. Ganz oben an der gewölbten Decke glimmte mißmutig und gelblich der Kohlenfaden einer ausgebrannten Glühlampe. Der Raum, in dem wir standen, trug auf drei Seiten den Charakter einer gewöhnlichen, nüchternen Werkstatt: Holzspäne am Boden, zwei Werkbänke an der linken Wand, darüber an der Mauer hängend Raspeln, Sägen, Schraubzwingen und Winkel. Der Geruch von frisch bearbeitetem Holz, Leim und Politur. Hinter mir das große gewölbte Eingangstor, vor mir richtig zwei Fenster und eine Tür. Die vierte Seite des Raumes bestand aus einem Vorhang von schwerem, dunkelgrünem Brokat. Der Stoff war alt, aus vielen schmalen Bahnen zusammengesetzt und hier und dort verfärbt und verschlissen, aber in Farbe und Zeichnung von wahrhaft fürstlicher Schönheit. In der Mitte und an den Seiten war er mit schweren, alten Goldborten eingefaßt. Der Gegensatz dieser antiquarischen Pracht zu der Nüchternheit der Werkstatt stimmte mich plötzlich heiter. Ich fing an, alles unaussprechlich lächerlich zu finden. Rocco lief fortwährend erregt ab und zu, faßte einen Gegenstand, ließ ihn wieder los. Ich empfand etwas wie Verachtung gegen ihn und gewann dadurch an Sicherheit. Ich nahm mir vor, alles kühl und kritisch an mich herankommen zu lassen. Wozu eigentlich diese Komödie? Was braucht er diesen Trödelkram da aufzuschlagen? Wie eine Jahrmarktbude ist es: Treten Sie ein, meine Herrschaften! Nur herein! Es ist gleich vier Uhr morgens. Einzig in seiner Art. Haha!

Ich bemerkte plötzlich mit leisem Erschrecken, daß Rocco aufgehört hatte, hin und her zu laufen und nun ganz ruhig an einer Werkbank lehnte und mich ansah. In seinen weit auseinander stehenden, flimmernden, rehbraunen Augen lag plötzlich wieder ein Ausdruck, als könne er jeden Augenblick tot zu Boden fallen. Das rötliche, trübe Licht gerade über unserem Scheitel gab allen Dingen und uns selbst ein schattenloses, unwirkliches Aussehen.

Er hatte offenbar gefunden, was er vorhin so unruhig suchte. Er hielt etwas in der Hand, einen kurzen, runden Griff aus glänzend schwarzem Ebonit. Er spielte ein wenig damit, trat dann zu einem großen elektrischen Schaltbrett, das ich jetzt erst bemerkte. Der glänzend schwarze Griff in seiner Hand paßte auf die Umschalthebel des Kontaktbrettes. Er steckte ihn langsam auf, ohne etwas an der Schaltung selbst zu ändern. Trat wieder näher zu mir in die Mitte des Raumes. Blieb stehen. Meine Heiterkeit war verflogen. Ich wagte nicht, nach ihm hinzusehen. Empfand leichte Stiche beim Atemholen. Alle Bewegungen und Gedanken schienen mir unnatürlich verlangsamt, wie die Melodie einer Spieluhr, deren Feder zu versagen anfängt. Das Gefühl von Zeitlosigkeit und Unwirklichkeit wuchs und wuchs. Die Minuten schienen langsam stillzustehen. Die Zeit selbst erlag dem Bann des trüben, rötlichen Lichts, das mich mehr und mehr an das unbehagliche Dämmerleben in einer Dunkelkammer erinnerte oder an die zweideutige, kümmerliche Beleuchtung über einer Sitzung von Spiritisten.

»Kommen Sie!« sagte er ganz leise und mit einem ernsten, leidenden Ausdruck im Gesicht. »Aber denken Sie daran« – und hier ging ein abgrundtiefes, flackerndes Lächeln über sein Gesicht – »denken Sie daran, daß die letzte Schönheit tödlich ist …« Und jetzt wurde sein Lächeln für einen Moment zu einem fratzenhaften, starren Lachen, das dann plötzlich wieder verschwand, als sei es nie gewesen.

»Wollen Sie?« Er sprach schon wieder ganz zart und leise. Ich muß wohl mit dem Kopf genickt haben. Vielleicht sagte ich auch etwas. Er ging feierlich auf den dunkelgrünen Brokatvorhang zu. Und schon gewann jene unnatürliche Heiterkeit in mir wieder die Oberhand. »Treten Sie näher! Meine Herrschaften! Immer herein …« Er nahm den Vorhang in der Mitte ein wenig auseinander. Dabei bemerkte ich, daß er nicht, wie ich erst geglaubt hatte, lose zu Boden fiel, sondern unten straff gespannt war. Etwas wie lauer Schweiß rann an mir herab. Ich sah mich rasch und mit einem bewußt höhnischen Ausdruck noch einmal im kläglichen Halblicht der Werkstatt um. Lächelte dann ihm, der auf mich wartend dastand, voll perfider Bonhomie zu. Schlüpfte ihm nach durch die weit übereinandergreifenden Ränder des Vorhangs.

Ich begriff nicht sofort.

* * *

Der Raum hinter dem Vorhang war bedeutend großer, als ich vermutet hatte. Das Tonnengewölbe der Decke setzte sich wohl noch viermal so weit fort, als das für die Werkstatt abgetrennte Stück betrug. Nur dieses Deckengewölbe selbst erschien hell. Die Wände kamen mir in dem schwachen Licht, das hinter uns durch den Vorhang in den tiefen Raum hereinfiel, zuerst schwarz vor. Dann sah ich, daß sie mit demselben dunkelgrünen Brokat bespannt waren, aus dem der Vorhang gefertigt war. Der Fußboden war mit einer einfarbigen, glatten, hellen Matte belegt. In der Mitte lief eine zusammenhängende Reihe von Teppichen gegen den Hintergrund zu. Etwa halbwegs befand sich etwas wie ein flaches Podium, zu dem zwei niedere Stufen emporführten. In der Luft lag ein schwacher Geruch wie von alten Parfümen, Weihrauch und feinem Firnis.

»Kommen Sie doch,« sagte er leise. Seine Augen glänzten.

Wir gingen auf die Stufen zu. Jetzt erst erkannte ich auf dem Podium einen drei bis vier Meter hohen, schlanken aufrechtstehenden Körper, völlig in ein dunkles Tuch eingeschlagen. wieder schoß mir für einen Moment die Vorstellung einer Statue durch den Kopf. Aber als ich am untern Teil des Körpers nach der Andeutung einer Basis suchte, bemerkte ich, daß er gar nicht auf dem Boden aufstand, sondern frei in der Luft hing. Jetzt fiel mir auch eine leichte doppelte Schweifung des verhüllten Körpers an seinen beiden Enden ins Auge, etwa in Form eines sehr flachen Paragraphen. Während Rocco sich mit glänzenden Augen anschickte, das Tuch abzunehmen, warf ich einen Blick auf die Rückseite. Auf zwei senkrechten, dünnen eisernen Pfeilern lief etwa in Brusthöhe eine horizontale Welle und verschwand in der Mitte des Körpers unter dem Tuch. Am hinteren Ende der Welle saß ein runder Körper aus dunkellackiertem Metall, der mit dem zweiten Pfeiler verbunden schien. Kabel liefen von da nach dem Boden. Ein Elektromotor?

In diesem Augenblick wurde ich mit einem leichten Zusammenzucken gewahr, daß der große eingehüllte Körper lautlos seine Lage verändert hatte. Er hing jetzt wagrecht an seiner Achse in der Luft. Rocco hatte auf der einen Seite das Tuch schon zurückgeschlagen: eine dunkelbraune, sanftgeschwungene polierte Fläche kam zum Vorschein.

Und nun begriff ich.

Sie war in der Tat von jener absoluten überwältigenden Schönheit, die der Ausdruck der letzten Zweckmäßigkeit und Vollkommenheit ist. Von dem starken, gewölbten, vollen Mittelstück liefen flacher werdend und sich gleichzeitig verbreiternd die beiden leicht gekrümmten Windflügel, um zuletzt mit einer sanften breiten Rundung zu endigen. Als Nabe war in der Mitte des beseelten Körpers eine glatte, runde, blauangelassene Scheibe von Stahl eingelegt, auf der sich das schwache Licht in konzentrischen Kreisen spiegelte.

Ich erinnerte mich schwach, von ähnlichen Luftschrauben gehört zu haben. Gewiß. Aber woher kam hier der unwiderstehliche Ausdruck einer fast persönlichen individuellen Vollendung Eine fremde mystische Erweckung schien von diesem mattglänzenden Gebilde aus Kurve, Krümmung und Schneide auszugehen, von diesem geheimnisvollen körperhaften Geschöpf der körperlosen Linie, von dieser rätselhaften, verklärten Mischgeburt aus Tier und Zahl.

Völlig im Bann einer fiebernden Begierde und Ungeduld hatte ich unwillkürlich versucht, Rocco beim Abziehen der Hüllen behilflich zu sein. Aber die Verlockung, still mit der flachen Hand über die zarte Schwellung der äußeren Flügel und über die volle heftige Wölbung des Mittelstückes zu streichen, war noch stärker, und meine Hände glitten mit einem eigenen Wohlgefühl der Liebkosung hin und wieder über die glatte kühle Oberfläche der Politur.

»Vorsicht!« hörte ich neben mir die Stimme Roccos, der eben das letzte Ende des anderen Schraubenflügels aus seiner Umwicklung befreite.

»Vorsicht!«

Ich zog unwillkürlich die Hand zurück und spürte gleichzeitig am rechten Ballen ein leichtes Brennen und dann etwas warmes, das mir an den Fingern hinablief. Eine lange, saubere Schnittwunde lief mir quer über die Daumenwurzel. Ich verstand nicht ganz und suchte betroffen mit der linken Hand in meine rechte Hosentasche zu gelangen, in der ich ein reines Taschentuch vermutete.

»Lassen Sie!« stieß Rocco rasch hervor und hatte schon meine Hand gepackt, massierte die Wunde kräftig und hielt dabei meine Hand weit von sich weg, um das reichlich strömende Blut auf den Boden tropfen zu lassen.

»Ich bedauere sehr …« sagte er mit indifferenter Höflichkeit, die in einem seltsamen Widerspruch zu dem fieberigen Ausdruck seiner Augen stand, mit dem er das Rinnen des dicken dunkeln Saftes verfolgte. Nie war mir Blut so klebrig und schwarz erschienen. Ich hatte unterdessen in meiner rechten Brusttasche ein seidenes Tuch entdeckt und reichte es ihm stumm mit der linken Hand. Er sah noch ein paar Augenblicke mit starren Augen und zusammengezogenen Mundwinkeln dem Rinnen des Blutes zu, dann nahm er mit verändertem Ausdruck das Tuch, schlang es mir rasch und fest um Hand und Puls und machte einen Knoten.

»Hatten wir nicht von der Gefahr der Schönheit gesprochen!«

Er lächelte wieder undurchdringlich und betrachtete immer noch aufmerksam den improvisierten Verband. Plötzlich bekamen seine Augen von neuem den starren Ausdruck, den ich eben zuvor bemerkt hatte: ein kleiner, matter, dunkler Blutfleck begann sich auf dem weißen Tuch abzuzeichnen und wuchs dann rasch wie ein Tropfen Tinte auf Löschpapier.

»Gebrauchte ich nicht sogar das Wort tödlich?«

Ein unbeschreibliches Gefühl von Abneigung und Beklemmung überkam mich.

»Danke!« erwiderte ich kurz und zog meine Hand, die er immer noch mit beiden Händen hochhielt, an mich, wand ohne seine Hilfe ein zweites Taschentuch über das erste, machte mit den Zähnen einen primitiven Knoten und steckte sie mit gespieltem Gleichmut in die Rocktasche.

Ob er mein Gefühl erriet?

Wir standen eine Zeitlang schweigend nebeneinander. Wieder schien eine Lähmung die Minuten zu befallen. Das Blut sang in meinen Ohren. Dann traten wir beide wieder wie auf Verabredung näher an die Schraube heran. Ich bemerkte jetzt, daß rings an ihren Kanten entlang ein blanker Metallrand lief.

Er war meinem Blick gefolgt: »Sie wundern sich? – Ich sagte Ihnen ja, früher machte ich sie ganz aus Holz. Aber die Ränder waren zu empfindlich …«

Jetzt war er selbst es, der mit einem unendlich sinnlichen Ausdruck die polierte Wölbung mit der Hand verfolgte.

»Es stellte sich heraus, daß bei der hohen Umdrehungszahl die kleinsten Gegenstände, die in den Luftwirbel hineingerissen wurden, Strohhalme, Holzspäne, Mörtelstückchen, die Kante verletzten. Jetzt habe ich ringsherum eine Stahlschneide eingesetzt. Sehen Sie her! Sie müssen flach darüberstreichen, wie über ein Rasiermesser …«

Sein Ausdruck begann mir mehr und mehr zu mißfallen. Es war etwas ganz Neues in ihn gekommen, ein Fieber von verhaltener Grausamkeit, eine raubtierähnliche Sprungbereitschaft. Aber schon nahm mich das geschweifte Gebilde aus Holz und Stahl wieder ganz gefangen. Er spricht von Umdrehungszahl. Sie dreht sich also. Wie wird sie aussehen, wenn sie sich in die Luft wühlt …

Er berührte leicht meinen Arm.

»Finden Sie nicht, daß dies eine der Formen ist, unter denen wir uns noch eine moderne Gottheit vorstellen könnten? So in der Ruhe vielleicht weniger, als wenn sie sich bewegt …«

»Lassen Sie sie zuweilen laufen?« fragte ich zaghaft.

»Immer. Ihre vollkommene Göttlichkeit beginnt eben erst mit der Bewegung. Mit der Bewegung, von der man nicht weiß, ob sie sie hervorbringt oder im letzten Grund von ihr hervorgebracht wird. So in der Ruhe ist sie immer noch ein Körper, dessen Grenze Sie mit Hand und Auge abmessen können. Eine mathematische Materialisation ihres leichten Elementes, der Luft, aber doch immer Materie. Sobald sie sich bewegt, wird sie mit einem Male wieder körperlos, astral, gottähnlich, denn in der Rotation ist sie eigentlich nichts mehr als ein imaginäres Gebilde aus unendlich vielen im Raum sich schneidenden Linien von Kraft, ist sie nur noch reine mathematische Kurve …«

Ich gestehe, daß ich seinen Ausführungen nicht zu folgen vermochte, aber ich glaubte zu empfinden, was er sagen wollte, empfand vielleicht wirklich so oder ähnlich. Mein Verlangen, dies Wunder der Transfiguration, von dem er sprach, mit anzusehen, wuchs jedenfalls ins Maßlose. Ward stärker als alle andern Regungen. Ich blickte ihm seit einiger Zeit zum erstenmal wieder voll in die Augen. Sprach kein Wort.

Er verstand. Nickte. Berührte mich wieder leis am Arm.

»Einen Augenblick …«

Er machte mit dem Kopf ein Zeichen gegen die Werkstatt und ging langsam nach dem Vorhang zu. Mir kam plötzlich wieder sein Ausdruck von vorhin ins Gedächtnis, und ich folgte ihm in unwillkürlicher Beunruhigung ein paar Schritte weit. Er wandte sich kurz vor dem Vorhang um.

»Sehen Sie, hier stehe ich gewöhnlich, wenn ich das Morgen- und Abendopfer bringe … Näher hinzugehen rate ich Ihnen nicht. Es entsteht nämlich ein ziemlicher Luftwirbel. Und dann …« (hier lächelte er wieder bös und abgründig) »– nun wir sprachen ja bereits von der letzten Schönheit, die tödlich ist!«

Er verschwand durch die Öffnung des Vorhangs. Ich verstand, daß er zu dem elektrischen Schaltbrett an der Seitenwand der Werkstatt trat, um den Kontakt zu schließen. Ich hielt den Blick fest auf den wagerechten, dunklen, mattglänzenden Körper gerichtet, den ich im ungewissen Licht auf diese Entfernung gerade noch unterscheiden konnte. Ich hörte hinter mir den leichten federnden Klang, mit dem sich der Schalthebel umlegte. Ein leises, gleichmäßiges Summen und Spinnen vor mir: der große, geschwungene, wagerechte Körper aus braunpoliertem Holz war verschwunden. Nur die Nabe war noch als kleiner dunkler Fleck sichtbar, mit verschwimmenden, unsicheren Rändern, die sich als nebelhafte Ringe vom dunkleren Zentrum bildeten und ablösten. Alles andere ein durchsichtiger, flimmernder, kreisender Wirbel, mit zitternden konzentrischen und radialen Lichtern. Alle Dinge in dem tiefen schmalen Raum begannen zu leben. Die Stoffe an den Wänden fingen leise an, sich zu blähen und zu schwellen. Eine große Spinnwebe an der Decke zitterte und schlug hin und her. Auf der Matte raschelte es von allerlei winzigen Gegenständen, Halmen, Flocken, Spänen, die bisher unsichtbar gewesen waren und nun alle langsam und mit kleinen Sprüngen gegen den Brennpunkt des Luftwirbels vorrückten. Ich spürte die saugende Luftströmung in meinen Kleidern und meinem Haar. Als ich mich umwandte, um nach Rocco zu sehen, bemerkte ich, wie sich der Vorhang mir entgegenbauschte.

Ich hatte vielleicht mehr erwartet. Eine überraschendere, mächtigere, katastrophalere Wirkung. Aber seltsam anziehend und lockend war er doch, dieser geheimnisvolle belebte Körper, der unsichtbar und tödlich wie ein geschliffenes Schwert in der Luft kreiste.

Das Summen und Spinnen ging weiter, gleichmäßig, sanft, beruhigend. Ich machte unbewußt ein paar Schritte vorwärts, um besser zu sehen. In diesem Augenblick hörte ich hinter mir am Schaltbrett noch einmal das Geräusch des Kontakthebels und gleich darauf zum drittenmal. Ich stand einen Moment, ohne zu begreifen. Das Spinnen und Sausen vor mir schwoll zu einem wilden, hohen, singenden Ton. Einen Augenblick noch, und ein neuer Luftstrom, körperlich und unwiderstehlich wie ein Wasserfall, packte mich und riß mich vorwärts, dem unsichtbar kreisenden scharfgeschliffenen Schwert entgegen. Ich war anfangs zu überrascht, um überhaupt Widerstand zu leisten. Dann kam mir die volle Gefahr zum Bewußtsein, ich stemmte mich mit allen Kräften, bog den ganzen Körper nach rückwärts, sah mich verzweifelt nach irgendeinem Halt um. Nichts als Matte und Teppich! Alles glatt und eben. Ein betäubendes Heulen und Sausen erfüllte den Raum wie ein Heer von Geistern. Ein unsichtbares Fenster schlug irgendwo mit dröhnendem Krachen zu. Klirren von Scheiben folgte.

Durch den Wirbel der Schraube hindurch bemerkte ich plötzlich blaues Funkenknistern. Die Schleifbürsten des Motors lagen offenbar nicht gut an, und Rocco hatte vollen Strom gegeben. Ein deutlicher Gewittergeruch verbreitete sich. Ich wankte und bäumte mich wie eine Weide im Sturm. Meine Füße fanden auf dem weichen Teppich keinen Halt. Schritt für Schritt zwang es mich dem Wirbel entgegen. Bei einer besonders heftigen Anstrengung, nach rückwärts zu entkommen, verlor ich das Gleichgewicht, glitt aus, suchte mich wieder aufzurichten und fiel nach vorn in die Knie. Ich fühlte sofort, und zunächst mit einem Gefühl von Überraschung, daß ich so festeren Halt hatte. Es gelang mir, dem Luftstrom einige Augenblicke wenigstens Widerstand zu leisten. Mein Gehirn arbeitete jetzt rasch und sicher: es galt, der Luft möglichst wenig Angriffsfläche und dem Boden die größtmögliche Berührungsfläche zu bieten. Ich duckte mich noch mehr.

Dann kam mir auf einmal zum Bewußtsein, daß ich auf den Knien lag, die Hände weit vorgestreckt und flach auf den Boden gepreßt, den Kopf weit zurückgeworfen – die Gebetsstellung der Bata-Malaien!

Gleichzeitig glaubte ich hinter mir ein kurzes höhnisches Auflachen zu vernehmen, das nur von Rocco herrühren konnte.

Eine Art von Lähmung kam über mich, etwas wie eine psychische Vergiftung. Meine Nerven begannen zum erstenmal zu versagen. Ich hielt mich noch krampfhaft in der Verteidigungsstellung, die mir der Zufall gewiesen, aber dann fühlte ich auf einmal, wie langsam, langsam der ganze Teppich mit mir vorzurücken begann.

Ich glaube, ich schloß im ersten Moment dieser Entdeckung die Augen. Schauer von Ermattung und Resignation rieselten mir unter der Haut an allen Gliedern auf und ab. Ich warf mühsam noch einen raschen Blick nach dem Vorhang zurück, um abzuschätzen, wie weit ich schon vorgerückt war. Er bauschte sich und rauschte wie die Seide eines Kugelballons, der mit Gas gefüllt wird. Aber dabei bemerkte ich noch etwas anderes: nahe an der linken Seitenwand des Raumes, die nach meiner Orientierung gegen den Fluß lag, erblickte ich am Boden ein paar zusammengeknitterte Papierstücke, die sich kaum bewegten und nur manchmal etwas hin und her raschelten. Also drüben links an der Wand, keine fünf Schritt von mir, war es fast windstill? Es galt nur aus dem Zentrum des saugenden Trichters herauszukommen. Mein Gehirn arbeitete fieberhaft. Woher ich mich plötzlich erinnerte, daß angesaugte Luft in Form eines Konus dem Ansaugezentrum zuströmt …?

Mein Haar flatterte in dem rasenden Luftzuge nach vorn und peitschte mir in die Augen. Meine Kleider füllten und blähen sich zum Zerreißen. Und der Teppich unter mir rückte langsam, langsam vor.

Es dauerte noch geraume Zeit, bis ich den Mut zu handeln fand. Jeder Versuch zur Flucht zwang mich zunächst, meine Stellung zu ändern, und das war das Bedenkliche. Ich würde mich also rasch und energisch ganz auf den Rücken werfen und mich dann, die Füße stets der Schraube zugekehrt, um meine eigene Körperachse nach links rollen, bis an die rettende Wand.

Was nun folgte, mag sich in wenigen Sekunden abgespielt haben. Mir selbst erschienen es Minuten der Ewigkeit.

Ein neuer, etwas heftigerer Ruck des Teppichs gab mir den Mut der Verzweiflung. Ich warf mich mit aller Gewalt platt rückwärts auf den Boden und wälzte mich dann unter Aufbietung aller Kräfte nach links – wälzte mich, rollte, rollte, wälzte mich. Einmal … zweimal … dann gab ich es auf zu zählen. Es war keine Rede davon, eine bestimmte Richtung zu halten. Mit einem Male erhielt ich einen fürchterlichen Schlag auf den Kopf, der mich fast betäubte. Mit der rasenden, lächerlichen Gedankenraschheit solcher Augenblicke kombinierte ich: Richtung verfehlt, doch unter das Messer gekommen! Dann, als nichts weiter folgte und der Schmerz am Kopf schon zu versausen anfing, tastete ich um mich und bemerkte, daß ich mit dem Kopf an der Mauer lag.

Die Schraube sang und heulte noch immer. Die blauen Funken sprangen und knisterten heftiger als je. Der große Vorhang war zum Zerreißen geschwellt, wie der Ballonklüver einer großen Rennjacht bei vierzehn Meter Wind. Ein besinnungsloser Trieb, mich in Sicherheit zu bringen, wegzukommen, hinauszufinden, hatte mich ergriffen. Dabei eine unsinnige Angst an Rocco, an den flimmernden, weit auseinanderstehenden Augen und an dem bösen, abgründigen, neuen Lächeln Roccos vorbeizumüssen. Ich sah ihn im Geist am elektrischen Schaltbrett stehen und den Sekundenzeiger seiner Uhr verfolgen. Die kleine Tür nach dem Fluß kam mir in den Kopf. Ich brauchte nur an der Mauer, an der ich lag, entlangzulaufen, den Vorhang durchzureißen und die Tür zu sprengen. Unten mußte der Flußpfad für die Schleppkähne laufen. Sehr hoch konnten wir nicht über dem Niveau des Wassers sein. Rocco würde sicher die andere Tür bewachen und in der Überraschung keine Zeit finden, mir in den Weg zu treten. Ich sprang auf und lief …

Lief an der Mauer entlang in der Richtung auf den Vorhang zu, erst mühsam mit dem Luftstrom kämpfend, dann rascher und rascher, riß mit einer heftigen Bewegung den Vorhang auf ein langes Stück von der Mauer weg, legte geblendet von der ärmlichen Helligkeit der Werkstatt die fünf Schritte bis zur Tür zurück und warf mich sofort mit der ganzen Wucht meines Körpers dagegen. Die Bretter bebten, das Schloß und die obere Angel wichen beim ersten Anprall, die Tür neigte sich schief nach außen, ich war im vollen Anlauf, in dem es kein Halten mehr gab, und bemerkte im gleichen kleinen Bruchteil einer Sekunde, daß es draußen heller Tag war und daß es metertief unter mir ins Leere ging …

* * *

Als ich nach einer langen, qualvollen, unruhigen Bewußtlosigkeit wieder zu mir kam, hielt mich jemand, den ich nicht sehen konnte, von hinten an den Schultern und erklärte mir, daß der Mann, der da vor mir kniete, ein Arzt sei und jetzt gleich mit seinem Notverband an meinem gebrochenen Knöchel fertig sein werde. An einem leisen Schaukeln merkte ich, daß wir uns im Fährboot befanden. Ich versuchte mich aufzurichten, aber der Mann hinter mir war stärker als ich und wurde sogar sehr ungemütlich.

Meine erste Erinnerung an das Geschehene war niederschmetternd. Die Empfindung von sinnloser Blamage war so stark, daß ich vor Wut fast aufgeschrien hätte. Aber mit Rücksicht auf den energischen Helfer hinter mir nahm ich mich zusammen. Das erste, was mir zum Bewußtsein kam, war nämlich, daß Rocco gar nicht mehr in der Werkstatt gewesen war, als ich in meiner blöden Angst nach der Tür stürmte. Kein Zweifel. Ich erinnerte mich ganz genau: Rocco war verschwunden, die Werkstatt leer.

Schon fing der Schmerz wieder an, mit merkwürdigen, kreisenden, ziehenden Bewegungen aus meinem verletzten Fuß aufzusteigen, und als ich von neuem die Besinnung verlor, geschah es unter der beschämenden Erkenntnis, daß ich meine sinnlose Feigheit und törichte Exaltation mit einem komplizierten Knöchelbruch etwas teuer bezahlt hatte.

* * *

Paris, 3. März, nachts. Dieses Abenteuer vor Porta Portese kommt mir selbst immer unglaublicher vor. Ich wäre heute versucht, an der ganzen Geschichte zu zweifeln, wenn ich nicht auf dem rechten Fuß so erbärmlich hinken müßte. Ob die Sache je wieder ganz gut wird? Und dann ist da auch die dünne, weißliche Narbe am Ballen meiner rechten Hand. Die schwarze Wahrsagerin, bei der ich gestern war, bemerkte sie und sagte dann etwas, was ich gern vergessen möchte. Sie sprach von einem braunen Malaienmädchen mit blanken scharfen Zähnen … zutt! Was tut das zur Sache.

Nun, etwas muß schon daran sein. Wie wäre es sonst zu verstehen, daß ich mit meiner ausgesprochen philologischen Begabung mich plötzlich für Luftschrauben interessiere? Ich bin, glaube ich, nach Paris gekommen, um mich zu zerstreuen, aber eigentlich suche ich von früh bis spät doch nur nach Ihr. Ich habe sie in diesen Tagen zu Hunderten gesehen, aber so eine wie Sie war nicht darunter. Und dann diese unruhigen phantastischen Nächte …

Mittwoch. Schlimmer als unglaublich – die Geschichte fängt mehr und mehr an, ins Lächerliche zu entarten. Ich hätte sie doch nicht erzählen sollen. Aber wenn des Teufels Zufall im Spiel ist …

Ich traf Costa im Café de la Paix. Ich war gerade daran, meine Frühstückseier zu köpfen und die Morgenblätter zu lesen. Er kam direkt von der Gare de Lyon, hatte noch ganz feine schwarze Linien von Ruß an den Wimpern, sagte mir, er sei hergefahren, um den neuen Wrightapparat für die Regierung abzunehmen. Ich konnte die Frage nicht unterdrücken, ob die Wrightapparate auch Luftschrauben aus Holz haben. Er mokierte sich etwas über mein plötzliches Interesse an den Dingen der Gegenwart (wir hatten uns meist bei den archäologisch-kunsthistorisch-literarischen Tees der Fürstin Merschtschenski getroffen), und mokante Bemerkungen ertrage ich sehr schlecht. So kam es wohl, daß ich ihm zu meiner Rechtfertigung und seiner Beschämung die Geschichte erzählte.

»Dem armen Rocco tun Sie unrecht,« meinte er. »Er ist unbedingt ein Narr, aber einer von den harmlosen. Und dabei genial, unter uns gesagt, genial … Wär' er nicht …« und er machte die unzweideutige peinliche Geste.

Er fand die Geschichte übrigens auch zu lang. Ich sah ihn öfters ungeduldig mit dem Fuße wippen, denn er brannte vor Ungeduld, das neue Flugzeug zu probieren. Er nahm denn auch auf sein Frühstück nur rasch zwei Kognaks und raste in einem Taxi-Auto nach Issy. Ich blieb etwas beschämt zurück! Harmlos … und dabei mußte ich, ohne daß ein bestimmter vernünftiger Grund vorlag, an meinen linken Knöchel denken, der wohl nie wieder ganz ins reine kommen wird.

Ich werde nachmittags einen kleinen Modellisten in Asnières besuchen. Er soll die schönsten Holzpropeller machen.

Leutnant Costa ist ein reizender Mensch, nur etwas spöttisch. Wir haben uns auf fünf Uhr zum Tee bei Rumplmayer verabredet.

Ich glaube, ich werde hingehen, obschon ich sonst diese überfüllten Bonbonnieren vermeide. Es tut doch wohl, mit einem Menschen über gewisse Dinge reden zu können …

Nachts. Er kam natürlich zu spät. Als alles schon im Aufbrechen war und die kleinen runden Tischchen sich entblätterten. Ich sah ihn mit seinem ruckhaften, nervösen Schritt nach hinten kommen, eine zusammengefaltete Zeitung in der Hand, mit der er sich im Gehen auf den Schenkel schlug. Es war die Tribuna. Er entfaltete sie sofort und hielt mir eine lange Geschichte auf der dritten Seite unter die Augen. Drehte sich weg, bestellte Muffins und pfiff zwei, drei dünne Töne vor sich hin.

»Schauerliche Entdeckung von Porta Portese. Unglücksfall oder Selbstmord?« Was ist das unsagbar Verletzende, zum Wahnsinn Treibende am Ton dieser Zeitungsnotizen!

»Armer Rocco …« sagte Costa und fixierte eine Dame in aprikosenfarbenem Tuch am Nebentisch.

Ein schauerliches Detail: sein Schädel war von Ohr zu Ohr glatt durchgeschlagen, das ganze Gesicht wie durch einen saubern senkrechten Schnitt entfernt. Man fand ihn in kniender Stellung, die Hände weit vorgestreckt und flach auf den Boden gedrückt.

Donnerstag. Jede Nacht erscheint sie mir anders.

Heute nacht erschien sie mir, schlank, zart und dunkelbraun wie die Tahitierinnen von Gauguin. Aber ich wußte, daß sie ein Malaienmädchen war, ein Mädchen von den Bata-Malaien. Sie kam lächelnd aus mich zu und breitete die Arme aus. Als sie ganz nahe war, bemerkte ich, daß sie scharfe Zähne von geschliffenem Stahl hatte …

( Später:) Humbug, zu behaupten, daß es Schlafmittel gibt. Ich nehme vierfache Dosen Veronal und habe seit zweiundsiebzig Stunden nicht geschlafen, woher nur immer dieser Geruch von schweren Parfümen, Weihrauch und Firnis? – Wie sagte Rocco? Eine Gottheit zu lieben … Ich erinnere mich nicht mehr.

Ich frühstücke mit Costa in der Taverne Royale.

Warum hier im Hotel die Tribuna nicht aufzutreiben ist?

( Nachmittags:) Diesmal war ich es, der Costa die Tribuna mitbrachte und unter die Augen hielt: da die freiherrliche Linie der Familie Rocco sich weigert, die Erbschaft des so jammervoll verunglückten ehemaligen Marineoffiziers Andrea Rocco anzutreten, kommt der ganze nicht sehr umfangreiche Nachlaß, bestehend aus einem kleinen Anwesen von Porta Portese samt Inventar, sowie aus elektrischen und anderen Maschinen zur Versteigerung … Der Verunglückte beschäftigte sich bekanntlich …

Costa schien nicht besonders erschüttert. Er sagte nur: »Armer Rocco! Es wird kaum die Lizitationsspesen decken …« und sah einer Dame in Mauve nach, die eben zwischen zwei Herren nach der Treppe zu ging.

Ich habe mir gleich beim Nachhausegehen mein Billett besorgt und Schlafwagen bestellt, obschon ich weiß, daß ich nicht schlafen werde.

Paris-Rom-Expreß, Montag früh. Diese kleine Station war Polo. Ich habe doch geschlafen. Es sind noch genau achtundvierzig Bahnkilometer. Es ist kalt in der Frühe. Ich werde sie sehen. Sie wird mir gehören. Gott sei mir gnädig.


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