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Die Reise um die Erde in vierundzwanzig Stunden

Von Maurice Renard

Kurz vor zehn Uhr vormittags tat der Mann, den wir gerettet hatten, endlich die Augen auf. Und ich erwartete mir natürlich jene geradezu klassische Art von Erwachen, daß er sich mit immer noch fiebrigen Fingern über die Stirn fahren und mit noch ganz entkräfteter Stimme stammeln würde: »Wo bin ich? Mein Gott, wo bin ich denn?« Aber nichts dergleichen geschah. Der uns vieles, wenn nicht alles zu verdanken hatte – er blieb fürs erste noch ruhig liegen, den Blick nach innen gerichtet. Dann erst kehrte ein stählerner Glanz von hoher Intelligenz und ungewöhnlicher Energie in seine Augen zurück; aber dann wieder war er, so schien es, nur Ohr für die Umdrehungen der Schiffsschraube und den Gang der See gegen die Planken. Hierauf – er hatte sich mit einem Male in seiner schmalen Pritsche aufgesetzt – hierauf begann er die Kabine einer sehr eingehenden Inspektion zu unterziehen … alles das mit so wenig Rücksicht auf uns und so sehr über uns hinweg, als ob Gaétan und ich überhaupt nicht dagewesen wären. Ja, wir mußten es in der Folge erleben, daß er sich erst noch der kleinen Luke zukehrte und durch sie das Meer beobachtete, ehe an uns die Reihe kam und er einen nach dem andern ohne besondere Neugierde, wie auch nicht gerade mit ausgesprochener Höflichkeit inspizierte. Darauf verschränkte er die Arme und verfiel in tiefe Träumerei.

Nach seinem Äußern hatten wir diesen Unbekannten von schönem Gesicht und schönen Händen für wohlerzogen gehalten. Und auch sein Anzug (obschon er getrieft hatte vor Nässe und ebenso wie die Wäsche tüchtig eingeweicht war) hatte uns von seinem Besitzer als von einem Gentleman erzählt. Und nun ein solches Betragen! Mein Kamerad war schlechterdings empört, und ich selber war ziemlich verblüfft.

Doch dauerte meine Verblüffung nicht lange. Ach was, sagte ich mir, wenn man bloß nicht immer so voreilig urteilen wollte! Muß man dieses sonderbare Benehmen nicht ganz und gar zu Lasten einer Störung des Zerebralsystems schreiben – einer Störung, die nach einer derartigen Katastrophe selbstverständlich zu nennen ist?

»Haben Sie Schmerzen?« fragte ich. »Sagen Sie, bitte, tut Ihnen etwas weh?«

Der Fremde schüttelte nur verneinend den Kopf und gab sich erneut seinen Gedanken hin. Meine Befürchtungen verstärkten sich, und ich wechselte mit Gaétan einen Blick. Ich vermag nicht zu sagen, ob der Patient diesen Blick auffing, doch war mir, als ob sich um die Augen seines sonst so strengen Gesichtes ein Lächeln bildete.

»Wollen Sie vielleicht etwas trinken?« fragte ich.

Und da fragte er zurück, mit einem fremden Akzent:

»Sein Sie – Arzt?«

»Nein!« sagte ich lustig. »I bewahre! nein!«

Und als seine Augen fortfuhren zu fragen, fügte ich hinzu:

»Romancier, Schriftsteller … Sie verstehen?«

Er runzelte die Stirn, und das sollte ein Ja sein. Doch war es nicht unliebenswürdig und war fast wie ein Gruß. Dann reckte er gegen Gaétan den Unterkiefer vor, und das war eine der inquisitorischesten Gesten, die ich jemals in meinem Leben gesehen habe.

»Dieser Herr ist der Besitzer des Schiffes, Baron Gaétan de Vineuse-Paradol – und eben er ist es, der Sie an Bord genommen bat. Was mich betrifft, so bin ich der Reisegefährte des Barons.«

Indes, statt uns nun seinerseits Name und Art zu künden, worauf ich ihn doch geradezu mit der Nase gestoßen hatte – statt dessen beliebte der Mann, sich wieder einmal tiefstem Nachsinnen hinzugeben; und dann erst buchstabierte er schier, so mühsam kam das alles heraus:

»Wollen Sie mir gefälligst sagen, was denn eigentlich passiert ist? Mir fehlt von einem gewissen Augenblick an alle und jede Erinnerung …«

Diesmal offenbarte sich seine Aussprache: es war englischer Akzent in Reinkultur.

»Sehen Sie mal,« antwortete Gaétan ihm, »das war höchst einfach. Da war also 'ne Schaluppe, und in der Schaluppe waren Matrosen, und die Matrosen haben Sie herausgefischt.«

»Aber vorher, bester Herr, vorher!«

»Vorher? Na, selbstverständlich nicht vor der Explosion, sondern eben unmittelbar darauf!« witzelte mein Freund.

Des Mannes Gesicht spiegelte die höchste Überraschung wider.

»Was für eine Explosion, verehrter Herr?«

Ich legte mich ins Mittel:

»Ich will Ihnen alles, was wir über Ihren bedauerlichen Unfall wissen, genau berichten. Und ich hoffe, daß Ihnen das Ihre Erinnerungen so weit auffrischen wird, daß Sie Ihrem liebenswürdigen Wirte dann Ihrerseits einen Bericht von dem Vorfall geben können, dem er die Ehre Ihrer Bekanntschaft verdankt.«

Obwohl ich die Worte mit Absicht so gesetzt hatte, daß sie jedem andern dreimal unterstrichen vorgekommen wären – der Fremde reagierte nicht im mindesten. Er legte seine Arme um seine Beine, stützte sein Kinn auf seine Knie und wartete auf meine Aufklärung. Ich aber sprach:

»Sie befinden sich hier auf der Dampfjacht »Océanide« des Herrn de Vineuse-Paradol. Kapitän: Duval. Heimatshafen: Le Havre. Zweitausenddreihundertvierundachtzig Tonnen Gehalt. Läuft ihre fünfzehn Knoten. Wir kommen von Havanna.

Unsere Fahrt vollzog sich in der glücklichsten Monotonie, bis uns vor drei Tagen eine Havarie an den Maschinen passierte und wir zu stoppen gezwungen waren. Heute haben wir den 21. August; also war das am 18. Man ging sofort an die Reparatur der gebrochenen Kurbelstange, und der Kapitän wollte den Aufenthalt auch gleich dazu benutzen, um sein Steuerruder auszubessern. Wir befanden uns zur Zeit der Panne auf dem vierzigsten Grad nördlicher Breite und 37 Grad 23' 15'' westlicher Länge, nicht allzu weit von den Azoren, zwölfhundertneunzig Seemeilen von der portugiesischen und siebzehnhundertsiebenundachtzig von der amerikanischen Küste entfernt, mithin schon auf der zweiten Hälfte unseres Weges. Erst heute in aller Frühe ging unsere Weiterreise vonstatten.

Den vorvorgestrigen 18. August – Windstille und die See wie Öl. Nicht eine Mütze voll Brise und nicht ein Schnapsglas voll Strömung. Ein Segler hätte mit vollen Segeln während zwölf Stunden nicht einen Faden Länge hinter sich gebracht, und die »Océanide« – aller Willkür der Elemente preisgegeben – blieb vollkommen auf ein und demselben Fleck. Das war natürlich nicht allzu angenehm. Aber da uns der Kapitän versichert hatte, daß wenigstens die Reparaturarbeiten vom Fleck gingen, so nahmen wir die Episode nicht allzu tragisch. Und nur infolge der ungeheuren Hitze, die (da wir ja nicht fuhren) nicht einmal ein bißchen Fahrwind erträglicher machen konnte, beschlossen wir, den Tag über zu schlafen und lieber während der Nacht auf Deck zu sein. Also daß wir das Frühstück um acht Uhr abends und das Diner um vier Uhr morgens einnahmen.

Und das war vorgestern, Freitag, den 19., daß wir – zwischen jenem abendlichen Frühstück und jener nächtlichen Mittagsmahlzeit – auf Deck promenierten und im Mondschein unsere Zigarren schmauchten. Der Himmel wimmelte von Gestirnen. Und alle Sterne bis zu den Planeten funkelten. Dazu regnete es unaufhörlich Sternschnuppen, und ihre weißen Bahnen hafteten so lange, daß man hätte meinen können, eine mystische Kreide zeichne Parabeln auf die schwarze Himmelstafel. Ich ward nicht müde, bei dieser grandiosen Geometriestunde aufmerksamster Schüler zu sein. Alles rings um uns wetteiferte mit der Großartigkeit dieses Schauspieles. Absolute Stille herrschte. Unser Schiff schlief wie tot. Und nur unsere Kautschuksohlen glitten leise, leise über die Planken.

Wir hatten vielleicht zum zwanzigstenmal unsere Tour um das Oberdeck gemacht, als von Steuerbord her weit, weit draußen ein großes Sausen aufkam. Fast zu gleicher Zeit sahen wir ziemlich hoch am Himmel einen schwachen Schein auf derselben Seite aufgehen. Und der kam auf unsere Jacht zu und mit ihm das Sausen. Das Sausen wurde stärker, schwoll an, entschwand fernhin und verklang, während das Leuchten (mit einer für einen Himmelskörper bescheidenen Geschwindigkeit) über uns hin- und den entgegengesetzten Horizont hinabfuhr – so wie eine bequeme, ja sogar etwas faule Sternschnuppe.

Wir zwei waren übrigens sogleich der Meinung, daß das nur ein Meteor gewesen sei. Und die Schiffswache pflichtete uns bei, obschon sie, wie sie sagte, in all den dreißig Jahren, die sie nun zur See fuhr, niemals etwas annähernd Gleiches gesehen hatte. Der Kapitän, den das Sausen gleichfalls heraufgelockt hatte, gab ohne weiteres die Möglichkeit einer Feuerkugel zu, nachdem er unsere Berichte angehört hatte. Er verzeichnete im Bordbuch unterm 20. August: Halb ein Uhr nachts ein schwach leuchtender Meteorstein die Atmosphäre gerade zu Häupten der »Océanide« passiert – in einer Kurve genau von Osten nach Westen, also genau dem vierzigsten Parallelkreis folgend, wo wir vor Anker liegen.«

Bei dieser Stelle fixierte ich den Unbekannten scharf. Der aber umarmte seine Beine unterhalb seiner Knie nur noch fester, schloß die Augen und – wartete auf die Fortsetzung.

»Sie können sich wohl denken,« fuhr ich ein wenig enttäuscht fort, »daß das Meteor nun bei uns zum Tagesgespräch wurde. Und ein jeder hatte da natürlich seine eigene Mutmaßung. Ich? Ich blieb an rein äußerlichen Dingen kleben, die mir aufgefallen waren – an der Proportion zum Beispiel der Geschwindigkeit seines Falles zu der Dauer des Geräusches. Der Herr Baron hingegen hatte eine weniger banale Ansicht. Nach seiner Meinung nämlich war es sehr leicht möglich, daß die Feuerkugel – von der wir glaubten, daß sie über den Horizont herauf- und über uns hinweggesprungen sei – ebensogut aus dem Ozean herausgeschleudert worden sein konnte. Diese Hypothese war zwar ein wenig kühn, aber je phantastischer die Theorien waren, um so mehr bestachen sie uns. Auf die Art wollten wir die Bestürzung vor uns selber entschuldigen, die uns ergriffen hatte. Denn das brüske Auftreten dieser Masse haarscharf über unserem Schiff hatte uns weidlich durchgeschüttelt, und wir alle waren ein Seufzer der Erleichterung, daß das Projektil wenigstens eine anständige lichte Höhe über uns bewahrt hatte. Sein Sausen hatte es fertiggebracht, daß wir die Köpfe wider willen tief in unsere Schultern steckten, was der erfahrene Feldzügler so schön »einen Schlüsselbeinknix vor der Engel machen« nennt.

Kurz und gut: wir wünschten nie wieder derartige Experimentalastronomie mitmachen zu müssen. Was aber nicht verhinderte, daß sich das Phänomen letztvergangene Nacht wiederholte … ein wenig später zwar, gegen ein Uhr, aber dafür mit um so dramatischeren Komplikationen.

Den gestrigen Tag gab Herr de Vineuse, der es satt hatte, hier auf offenem Meer und noch dazu unter einem so gefährlichen Himmel länger herumzuliegen, den Befehl: es müsse den ganzen Tag und die ganze Nacht an den Reparaturen durch gearbeitet werden. Ablösung von zwei zu zwei Stunden. Die eine Abteilung an die zerbrochene Kurbel in den Maschinenraum, die andere ans Steuerruder in einer Schaluppe. Und die Arbeiter in der Schaluppe haben ihre Ausbesserung soeben beendet und gehen gerade daran, das Steuer wieder aufzumontieren – da kommt die Feuerkugel aufs neue angesaust!

Die Nacht ist an Sternenfeuern gerade so reich wie die vorhergegangene – und da kann nun, wer immer es will, sehen, wie jener bläßliche Schein sich entzündet, höher steigt und auf uns zugleitet … Herr de Vineuse glaubt zu bemerken, daß die Geschwindigkeit geringer als gestern ist, und nach meiner Wahrnehmung dünkt mich der Ton des Sausens um eine halbe Note tiefer und auch seine Intensität verringert. Gleichwohl war das Tempo dieses Asteroiden immer noch ganz leidlich. In einigen Sekunden erklomm der himmlische Zigeuner den Zenit, und es schien außer Zweifel, daß er in seiner bekannten Kurve hinter jenen Horizont hinabtauchen würde. Mutter Erde hatte in ihm eben etwas wie einen neuen Satelliten zugekriegt, eine Minuskel von einem Mond, ein Streichhölzlein, gemessen an jenem anderen, Jahrtausende alten Mond.

Aber da geschah plötzlich etwas – als ob eine Sonne sich mit einem Male in einen Blitz verwandelt hätte! Aus und vorbei war's mit der Planetenbahn von Osten nach Westen, zu Ende war's mit allem Sausen – und dafür eine fürchterliche Detonation! Ich erhielt von einer unsichtbaren Faust einen wütenden Stoß in die Herzgrube, die Luft wurde so erschüttert, daß wir zu ersticken drohten, die »Océanide« erbebte bis in die Rippen, ein Wind sprang auf und legte sich im selben Augenblick wieder, und Wellen hüpften, um sich sofort wieder zu glätten.

Dann vernahmen wir sehr deutlich, wie ein wahrer Hagel von Gegenständen herab ins Meer fiel. Darunter etwas, das ganz nahe bei der Schaluppe tief untertauchte, wieder heraufkam und schwamm. Und das waren Sie, mein Herr, verzweifelt angeklammert an die Riegel einer Blechtüre – aber aus einem merkwürdigen, über alle Maßen leichten Blech, denn sonst hätten Sie ja wohl nicht damit schwimmen können …

Man fischte Sie auf – Sie waren bewußtlos. Und da man doch nicht wissen konnte, ob Sie der einzige an Bord dieses … dieses Meteorsteins gewesen waren oder nicht, so ließ der Kapitän das Wasser in einem Umkreis von zwei Meilen absuchen. Und somit wohl das ganze Feld der Katastrophe. Aber man stieß auf nichts als metallische Trümmer. Allenthalben metallische Trümmer. Die leuchteten wie von einem Widerschein, wenn ich mich so ausdrücken darf, und schwammen so famos und wackelten dabei, wie nur Bojen schwimmen und wackeln. Von einem lebenden Wesen, wie gesagt, keine Spur.

Was Sie anging, mein Herr, so haben wir Sie ausgekleidet, schlafen gelegt und bei Ihnen gewacht – während jener ganzen Absuche. Ich glaube, daß sich Ihre Ohnmacht gegen Morgen in einen gesunden Schlaf verwandelte – ungefähr in dem Augenblick, als wir unsere Weiterreise nach Le Havre antraten, wo wir aller Voraussicht nach in weniger als acht Tagen anlangen werden.

So! Und damit wäre nun – unsererseits – alles gesagt …

Bleibt nur noch, daß es uns vergönnt sei, zu erfahren, wen zu pflegen wir das Vergnügen hatten.«

Aber der Mann wiegte mit dem Kopfe und antwortete nicht.

»Und … und … das Metall?« fragte er endlich, »das schwimmende Metall … die Trümmer?«

»Nu, wenn schon?« scherzte Gaétan, »lassen Sie die man hübsch bleiben, wo sie geblieben sind! Das heißt dort, wo Sie sich an eins von ihnen – an die bewußte Blechtüre – so leidenschaftlich angeklammert hatten. Duval, unser Kapitän, hat nämlich auf den ersten Blick bemerkt, daß das alles altes Aluminiumeisen war, von einer so hundsmiserabeln Qualität – zu schade zum Mitnehmen!«

Da lächelte der Unbekannte, und das ermutigte meinen Freund, in ihn zu dringen:

»Nun also los mit dem Geheimnis! Wir werden's schon nicht gleich auf See noch patentieren lassen. Ein Ballon also, was?«

Aber der andere bat um Kleider und ein Frühstück. Gaétan ließ ein Jachtkostüm und Leibwäsche aus seinem Kleiderkasten bringen.

»Haben Sie keine schwarzen Kleider?« fragte der Mann.

»Nee. Wozu auch?«

»Es ist gut – ich hätte nur lieber gehabt –«

Währenddessen gab ihm Gaétan Uhr und Börse zurück.

»Aber da sind ja wohl Ihre Initialen eingraviert: C und A?«

»Ich heiße Archibald Clarke, zu dienen, und bin Amerikaner aus Trenton im Pennsylvanischen. Alles übrige werde ich Ihnen gleich nach dem Frühstück berichten, würden Sie, bitte, zuvor noch so liebenswürdig sein und mir ein Rasiermesser borgen?«

Wir ließen den Mann allein und erwarteten ihn im Speisesaal.

Das mußte man sagen: er machte sich in Gaétans Messeuniform famos. Sympathisch von Physiognomie, vollendete Kinderstube, kurz – ein prächtiger Bursche.

Mr. Archibald Clarke speiste gewissenhaft und trank ebenso – ohne eine Silbe verlautbar werden zu lassen. Zum Kaffee goß er sich ein kleines Glas Scotch whisky ein, genehmigte eine Claro (einen Dollar das Stück), reichte uns nacheinander die Hand und sprach:

»Ich danke Ihnen, meine Herren!«

Für das Frühstück oder für die Errettung aus Wassersnot? – diese Frage schwebt heute noch.

Mr. Clarke tat ein paar herzhafte Züge aus seiner Zigarre und fing behaglich an zu erzählen, wobei er nicht selten nach einem Ausdruck und oft auch nach einem Gedanken suchen mußte. Der geneigte Leser wird es mir nicht verübeln, daß ich – zu seiner eigenen Bequemlichkeit – das drolligste, aber auch unverständlichste Kauderwelsch, das sich wohl je ein Bürger der United States geleistet hat, ein wenig korrigiere. Und daß ich die unzähligen Pausen, die sich Mr. Clarke aus den verschiedensten Gründen gestattete, ebenfalls ausmerze.

* * *

»Sicherlich«, hub er an, »ist Ihnen der Name Corbett nicht unbekannt? Die Corbetts von Philadelphia. Oder doch? Unbekannt? Ja? – Nun, im Grunde ist das ziemlich natürlich. Wer soll in Frankreich etwas von diesem fernen Erfinderpaar gehört haben, das eigentlich all die Entdeckungen der letztvergangenen Jahre gemacht hat – nur daß die beiden stets das Pech hatten, sie zu derselben Zeit mit anderen, in der Popularisierung prompteren Gelehrten zu machen? Edison, das Ehepaar Curie, Berthelot, Marconi, Renard – sie alle haben nichts erfunden, was nicht mein Schwager Randolph und meine Schwester Ethel Corbett gleichfalls erfunden hätten; nur daß es all jenen immer ein klein bißchen früher geglückt ist. Na, und deswegen kennt man sie wohl auch in Frankreich nicht.

Bei uns da drüben sind die beiden gleichwohl Berühmtheiten. Vor kurzem noch wußten die Zeitungen überm großen Teich nicht genug zu erzählen von dem Wagemut der beiden. Das war gelegentlich eines gefährlichen submarinen Experimentes. Tatsächlich geht es nun schon mehrere Monate in einem fort, daß schier alle Tage Neues entweder über ihre tieftaucherischen oder über ihre aerostatischen oder auch über ihre automobilistischen Pläne verlautet – kurz, über Versuche in jedem Genre. Und da geschah's – und da geschah's – entschuldigen, bitte, die Herren, daß ich mich so unbehilflich ausdrücke, aber die fremde Sprache geniert mich und knebelt meine Gedanken – und außerdem muß ich Sie um strengste Diskretion bitten, denn ich werde auf ein Geheimnis zu sprechen kommen, auf das ich kein Recht habe.

Wie? Ich danke Ihnen im voraus, meine Herren!

Und da geschah's, daß den 18. August, gerade, wie ich aus dem Bureau gehen will, ein Telegramm von Ethel Corbett mich, Archibald Clarke, ersten Buchhalter der Kabelmanufaktur Roebling Brothers, Trenton, Pennsylvania, dringend bittet, mich ohne Aufschub nach Philadelphia zu verfügen.

Ich verstand ganz und gar nicht … Seit einer gewissen, noch dazu sehr schäbigen Erbschaftsangelegenheit war eine Spannung zwischen uns eingetreten, und wir hatten uns seitdem mit keinem Auge mehr gesehen. Was mußte da geschehen sein? Und was sollte ich nun machen? Ich schwankte in meinen Entschlüssen – bis mich die umständliche und überreichliche Aufschrift der Depesche belehrte, wie sehr meiner Schwester daran gelegen sein mußte, daß mich die Aufforderung ohne jede Verzögerung erreichte. Es war also sicherlich etwas äußerst Wichtiges. Und schließlich bleibt Familie doch immer Familie – nicht wahr?

Eine Stunde später setzte mich die Pennsylvania Railroad glücklich an der West Philadelphia Station ab, und ich fuhr in einem Zansom nach Belmont hinaus. Nämlich da draußen wohnen die Corbetts. In dem herrlichen Fairmount Park, am Ufer des Schuylkill River. Also für alle Arten von Submarine günstig gelegen.

Mein Cab fuhr erst durch die Westvorstadt, dann über eine Brücke und tauchte schließlich ins Grüne ein. Ehe wir an die Brücke gelangten, war die Nacht hereingebrochen – aber eine Nacht so überreich an Sternen, daß ich schon von weitem das Haus meines Schwagers erkannte. Ein unansehnliches, winziges Haus – nur daß es sich gar so unansehnlich und winzig ausnahm, weil es an das immense Atelier gelehnt stand, nahe bei dem monumentalen Hangar und vor dem schier unübersehbaren Automobil- und Flugfeld.

An diesem Riesenblock von Gebäuden war heute nur ein einziges Fenster der Wohnung erleuchtet, wo sonst doch – oh, die Nachtwachen der Corbetts sind sprichwörtlich in ganz Pennsylvanien! – wo sonst jede Nacht entweder das Glasdach des Ateliers oder die Türen und Fenster des Hangars zum Fest der Arbeit illuminiert waren …

* * *

Jim, der Neger, empfing mich, ohne ein Licht in der Hand, und führte mich ins Zimmer Corbetts – das einzige Zimmer, das heute erleuchtet war.

Mein Schwager – bettlägerig, gelb und fiebernd. Meine Schwester kam sogleich herzu. Seit vier Jahren hatte ich sie nur auf Bildnissen in den Zeitschriften gesehen. Sie hatte sich nicht verändert. Ihr Kleid war von jenem knabenanzuggleichen Schnitt wie ehedem und ihr kurzes Haar noch immer kaum grau.

»Guten Tag, Archie,« begrüßte mich Randolph. »Ich war mir keinen Augenblick im Zweifel, daß du dich beeilen würdest. wir brauchen dich nötig –«

»Das hab' ich mir gedacht, Ralph. Also was muß ich?«

»Helfen –«

»Mann, streng' dich nicht an!« unterbrach ihn meine Schwester. »Ich werd' es ihm statt deiner und so kurz wie möglich sagen, die Zeit drängt.

Also, Archie, wir haben da etwas fabriziert … Aber so beruhige dich doch! Ralph befindet sich in keinerlei Gefahr. Nichts als ein bißchen Fieber mit der Verpflichtung, Zimmer und Bett zu hüten. Ich bitte dich, unterbrich mich nicht!

Also, wir haben da etwas fabriziert. Ganz im geheimen. Ralph, Jim und ich. Ein sehr interessantes Ding. Und aus Furcht, daß uns wieder mal ein anderer damit zuvorkommen könnte, haben wir uns von allem Anfang an gegenseitig fest versprochen, die Sache, sowie sie fertig ist, auch gleich auszuprobieren. Da muß zu unserm Pech dies Schnupfenfieber daherkommen! Ausgerechnet heute! Das Experiment verschieben? Ausgeschlossen! Aber zu dem Manöver sind drei Mann nötig! Wer also Randolph ersetzen? Ich. Mich ersetzen? Jim. Und Jim ersetzen? Du – hab' ich mir gedacht.

Dein Posten braucht keine Abrichtung und braucht auch keine allzu große Geistesgegenwart – nur ein bißchen Disziplin im Verlauf der Prüfung und recht, recht viel Diskretion hinterher. Ich kenne deine Qualitäten, Archie. Mehr als jeder andere kannst du uns nutzen. Also willst du?«

» All right! Vergessen wir alles, was zwischen uns gewesen ist, liebe Schwester. Ich bin gekommen, um mich nützlich zu machen.«

»Aber dieses will ich dir im voraus gesagt haben: es ist nicht ohne Gefahr. Und es ist auch – wie soll ich mich da gleich ausdrücken! – kurz und gut: dieser Sport, den wir versuchen werden, möchte dir leicht als über alle Maßen ausgefallen, als übertrieben, bizarr, als äußerst monströs erscheinen …«

»Das ist mir einerlei. Ich bin gekommen, um mich nützlich zu machen. Also zeig' mir das Zimmer, in dem ich nächtigen kann. Ich werde mich auf der Stelle hinlegen, um morgen so früh wie möglich zu eurer Verfügung zu sein.«

»Morgen?« rief Corbett. »Aber das soll ja gar nicht morgen sein, sondern heute, jetzt, gleich, sofort! Da – eben schlägt's elf Uhr! Also los, los, los, mein Junge! Keine Minute verloren!«

»Was? Das Experiment zu nachtschlafender Zeit?«

»Ei gewiß. Es findet im Freien statt. Also, wenn wir's am Tage machten, so sag' doch selber, Archie, wie könnte da unser Geheimnis vor all den adleräugigen Ingenieuren, die uns unaufhörlich belauern, Geheimnis bleiben!«

»Im Freien? Meinetwegen denn. Aber was für eine Art von Experiment ist es?«

Doch da wurde Ethel ungeduldig.

»Jetzt komm schon! Außer du hast dir's anders überlegt!« rief sie. »Alles ist bereit. Das Funktionieren des Apparates wird dir seinen Zweck besser erklären als die beste Schilderung. Was? Den Anzug wechseln? Eine Bluse anziehen? Bloß keine Maske machen – wir sind hier nicht auf dem Theater!«

»Auf Wiedersehen, Archie,« sagte Randolph noch. »Also auf morgen abend denn!«

Was war das?

»Sag' mir das eine noch,« fragte ich meine Schwester, indem ich ihr wie ein Hündchen nachlief. »Auf morgen abend denn, hat er gesagt! Ja, soll es denn auf eine Reise gehen? Auf morgen abend? Ralph hat doch auch gesagt, daß das Experiment nicht bei hellem Tageslicht sein soll. Also müssen wir doch spätestens mit dem ersten Morgengrauen aufhören! Wo werden wir mithin den ganzen Tag verbringen? Ethel, wo soll die Reise hin?«

»Nach Philadelphia.«

»Nach wie? Nach Phi–? … Ja, aber wir sind doch hier in Philadelphia!«

»Ach, mein lieber Bruder, bist du ein … Wir werden eben einen kleinen Umweg machen und dann wieder hierher zurückkommen.«

Ich schwieg. Erstens, weil mir ahnte, daß jede weitere Frage vergeblich gewesen wäre. Und zweitens, weil ich auf meinen Weg durchs Dunkel zu achten hatte. Ethel wollte die Aufmerksamkeit aller Zudringlichen und Spione nicht erwecken, was sicher geschehen wäre, wenn nun mit einem Male in der Nacht Lichter im Hause hin und her gewandelt wären.

Meine Schwester ging immer vor mir her, erst einen unendlichen Korridor entlang und dann quer durch das Atelier.

Hier konnte man wenigstens sehen. Durch das gefensterte Dach strahlten die Sterne und der aufgehende Mond auf ein wahres Chaos der seltsamsten Formen hernieder. Um an das entgegengesetzte Ende dieses Saales zu gelangen, mußten wir auf Zickzackwegen an phantastischem Allerlei vorbei. Und da galt's vor allen andern Dingen erst einmal über eine Barriere aus lauter armierten Balken hinwegzusetzen, die alle ziemlich feindselig dreinschauten. Sodann mit merkwürdigen Geschöpfen aus Stahl nicht in Kollision zu geraten, von denen jedes auf vier Rädern hockte. Und dann wieder einen Bogen um ein paar unbeschreibliche Mühlen zu machen, mit so gewundenen Flügeln, daß sie nach Propellern aussahen. Meine liebe Ethel freilich, die schlüpfte überall glatt hindurch. Ich aber, ich hatte mich erst vor einer gewissen Pneumatik zu retten, die sich wie ein getretener Wurm krümmte; und in dem glorreichen Gefühl, dieser tückischen Falle gerade noch entronnen zu sein, stolperte ich auch schon über ein Tau, das sich aus purer Niedertracht auseinandergewickelt hatte. Dann, nach meinem sieggekrönten Kampf mit dieser hanfenen Boa, war es gerade, als ob ich einer Riesenspinne ins mörderische Netz liefe: ein Garn verstrickte mich in seine dünnen Maschen – und dabei versank ich auch noch rettungslos in einen Sumpf, der sich dann freilich als eine nicht völlig geleerte Ballonhülle entpuppte. Gleich darauf hatte ich eine Karambolage mit den Flossen einer Art von Haifisch, der ganz aus Eisen war – und als ich mich endlich befreit hatte, war es nur, um mit meinem Kopf gegen ein hölzernes Vogeltier anzurennen. Damit aber schien die Fee der Erfindungen meinen Heldenmut zur Genüge erprobt zu haben, denn dann stand ich mit einem Male unserm Jim im Hangar von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

Dieser Hangar war so groß wie das Schiff einer Kathedrale und diente vielen Luftballonen als Garage. Die standen an den beiden Längswänden entlang, und der Mond ließ ihre mehr oder weniger aufgeblähten Wänste leuchten. Aber ob kugelrund, ob spindelförmig oder ob eiähnlich – all diese Ballone drückten sich an die Wände, als ob sie in Ehrfurcht und Scheu zurückgewichen wären vor einem Etwas in der Mitte der Halle, einem Etwas, das sehr langgestreckt war und wie von innen heraus glühte. Und Ethel zeigte auf dies Langgestreckte und sprach: »Das da, das ist es!«

Sie wandte sich an Jim und unterhielt sich leise mit ihm.

»Ah, also das soll's sein!« gaffte ich erst mehr, als ich wirklich sah. »Hm! Das muß man sagen: ein Automobil – ein geradezu kolossales! Wenn nicht – dann vielleicht ein Schiff?«

So weit ich das in diesem Halbschatten zu erkennen vermochte – es waren genug Bogenlampen da, nur brannte keine von allen, – war das Ganze gewissermaßen eine gigantische Messerklinge, weniger schneidend als sehr, sehr spitz. Ich finde keine bessere Vergleichsmöglichkeit. Zirka vierzig Meter lang, von vorn bis zum ersten Drittel sich etwas verdickend und nach hinten zu wieder stark verjüngt – wohl um die Luft oder das Wasser so recht nach Herzenslust durchschneiden zu können.

Am Heck ein Steuerkreuz. Ah! dachte ich bei mir, es ist doch mehr ein Schiff! Oder nein! es ist vielmehr ein Automobil!

In der Tat, das Vehikel ruhte auf stämmigen Rollen. Mit Gummireifen versehenen und auf eine abnorm starke Federung aufmontierten Rollen. Zwischen diesen Rollen war unter dem Apparat noch etwas wie schwarze Blöcke, die ich aber nur schlecht unterscheiden konnte.

Und das Ganze leuchtete. Indessen – wenn es überhaupt verstattet sein mag, zwei so entgegengesetzte Begriffe miteinander zu verkuppeln – es leuchtete wie erloschen.

Ethel schob mit dem Fuß einiges auf dem Boden herumliegende Werkzeug zur Seite und öffnete an der einen Flanke dieses Titanenschwerts – gegen die Mitte zu – eine Tür. Und da gemahnte mich eine Ampel, die mich aus dem Bauche dieses Dinges heraus anblendete, an die Existenz einer Kabine. Ein winziger Verschlag – vier Meter lang, zwei Meter hoch und einen Meter breit. Dabei faßte diese Hütte drei Sitze, die einer hinter dem andern angebracht und ganz komfortable Automobilsitze waren. Vor den beiden vorderen funkelte ein ganzes System von Hebeln, Handgriffen und Pedalen. Unmittelbar hinter dem Rücksitz aber befanden sich nur zwei Griffe, die mir die Steuerungshandhaben zu fein schienen.

»Dies ist dein Platz,« kündigte mir Ethel an. »Du wirst am Steuer sitzen. Und ich vor dir. Und Jimmy vor mir. Oh, nur keine falsche Bescheidenheit! Du brauchst deswegen kein Steuermannsexamen absolviert zu haben, mein lieber Junge. Ich wenigstens glaube, daß du nicht allzuviel zu steuern haben wirst. Die Anwendung des Steuerruders ist bei uns nur eine Ausnahme. Es ist sehr wohl möglich, daß du nicht einmal den kleinen Finger zu rühren haben wirst.«

»Mir auch recht! Aber wozu sind denn dann all die andern verteufelten Dinger da?«

Ethel hörte nicht. Jim hatte sie nach vorn an den Bug gerufen. Und sie ließ mich in all meiner Fiebrigkeit einfach vor der Kabine stehen.

Was für eine Kabine, meine Herren! was für ein Kommandosteg! Was für Hähne, Ringe, Scheiben, Sektoren, Gestänge, Leinen, Stricke, Taue, Schlangen- und Kühlrohre, Schlüssel und Schrauben, Drähte, Schieber und Indikatoren! Und noch viel andere ähnlich schleierhafte Vorrichtungen! Nichts im ganzen Raum kam mir einigermaßen christlich und geheuer vor, jene drei Fauteuils vielleicht ausgenommen und höchstens noch an der Vorderwand die große Uhr.

Im großen und ganzen nämlich sah diese Uhr wie irgendeine andere Präzisionsuhr aus. Nur, wozu war unter dem Zifferblatt diese Weltkarte da, die mit ihrer einen Hälfte bis in das Uhrgehäuse hineinreichte und die überhaupt so aussah, als ob sie sich um eine Vertikalachse drehen könnte! (Mit einer ähnlichen Vorrichtung, erinnerte ich mich, demonstriert man faulen Schülern sonst den Wechsel von Tag und Nacht.) Und wozu war außerdem noch ein Kurvenzeiger da, der um die ganze Erde herum auf Philadelphia zu zeigte. Da ich mir dies alles nicht im geringsten erklären konnte, setzte ich lieber meine Inspektion fort.

Da war ein Korb, starrend von Flaschen und Lebensmitteln, der mich nur noch neugieriger machte. Ja, Herrgott, sollte es denn mit einem Male gar keine Kneipen mehr geben! Wenn wir den morgigen Tag schon irgendwo zubringen mußten, warum dann nicht in einer anständigen Kneipe nahe am Fluß oder nahe an der Straße? Ach so: die alte Furcht vor Spionen! Nun, dann konnte man wenigstens behaupten, daß die Vorbeugungsmaßnahmen, die man da im Korbe aufgestapelt hatte, exquisit zu nennen waren! Aber – aber – Fenster? Gar keine Fenster? Wie soll man bloß lenken? murmelte ich. Wie auf den Weg achten können, wenn's wirklich ein Automobil – oder wie Untiefen entgehen, wenn's submarin – oder wie Kirchtürmen, Bergen und Birnbäumen ausweichen, wenn es was Aviatisches ist? Und überhaupt: wo blieb aller Mechanismus? Wo war der Motor? Am Kopf? Am Schwanz? Oder unter der Kabine? Diese unsere Kabine nahm ein Viertel von der Höhe und ein Zehntel von der ganzen Länge ein; sie war also sozusagen der Magen im Bauch des Walfisches. Was gab es in den andern drei Vierteln Höhe und neun Zehnteln Länge dieses großen Fischleibes, darin wir die Jonasse sein sollten?

In diesem Augenblick rief meine Schwester, und ihre Stimme scholl freudig und kühn und bebte vor Glück und Wagemut:

»Jim! Das Tor vom Hangar aufgemacht! Es ist höchste Zeit, daß wir unser Steckenpferd herauslassen!«

Der Nigger heulte vor Lachen und öffnete durch irgendeine sinnreiche Vorrichtung die ungeheuren Flügel des Tores. Vom First bis zum Fuß der Gebäudes wurde ein Streifen gestirnten Himmels sichtbar. Der verbreiterte sich, und da lag das weite Feld, ganz in Mondweiße, in einem Halbkreis von silberigen Hügeln umstanden. Ein kleiner See inmitten des Feldes spiegelte den flammenden Himmel wider. Und vor alle dem unser Riesenschwert: gleichwie vor der Paradiesespforte! Welche fürchterliche unbekannte Kraft mochte diese verheerende Waffe wohl durch die Lüfte sausen – dieses Monument auf Rollen dahinrasen lassen, das in diesem Augenblick doch noch so hilflos schien wie ein gestrandetes Schiff?

Meine Schwester drehte das Licht drinnen ab.

»Machen wir rasch!« sagte sie. »Ich möchte gern präzis um Mitternacht starten. Ja, sag' einmal, was ist dir denn, Archie!«

»Du – du vergißt wohl ganz, den Motor anzudrehen!«

»Hahaha!« lachte Ethel, als ob ich einen unsterblichen Witz gemacht hätte. »Das müßte so eine niedliche Arbeit geben! Was, Jimmy?«

»Ja, ja,« gurgelte der Nigger unter scheußlichem Wiehern. »Erinnern sich Madame noch an den Unfall mit dem Modell in verkleinertem Maßstab!«

»Vorwärts, Archie, und faß nun ein bißchen mit an!« kommandierte mein Schwesterlein.

Sie schob an. Jim – und auch ich (trotz meiner großen Verwirrung) – wir wollten gleichfalls anschieben, als ich (zu meiner noch größeren Verwirrung) bemerkte, daß der metallene Koloß dem gelindesten Ansetzen einer einzigen weiblichen Schulter schon nachgab und auf das leichteste und leiseste dahinfuhr: seinem unbekannten Schicksal entgegen.

»Oh, wie fein ausbalanciert der heute ist!« konstatierte meine Schwester. »Ich hätte geglaubt, daß zum mindesten zwei Mann nötig wären, um ihn herauszuschieben. Nein, laß nur mich ganz allein machen – es ist ja das reinste Kinderspiel.«

Sie schob das Untier in westlicher Richtung – nicht zum Schuylkill River, sondern im Gegenteil mitten ins Feld hinein – was meine nautische Hypothese sofort zuschanden machte. Ich folgte. Jim konnte es sich nicht verkneifen, im Fandangoschritt neben mir her zu tanzen.

»Sei mir nicht böse, lieber Bruder, aber ich will dir den ganzen Mechanismus lieber erst unterwegs auseinandersetzen. Für den Moment bin ich zu sehr beschäftigt.«

Welch eine innere Erregung in diesen Worten mitzitterte! Seit wieviel Monden fiebernder Tätigkeit mußte sie diesen einen Augenblick herbeigesehnt haben!

Nun, unter freiem Himmel, sah der Apparat nicht mehr so riesig und auch nicht mehr so furchtbar aus. Von vorn gesehen schien er überhaupt nichts weiter als wirklich nur eine Säbelscheide, durchs Vergrößerungsglas erschaut, – oder genauer noch: eine Säbelspitze.

Ethel inspizierte jene Blöcke oder Klötze zwischen den Rollen.

»Alles in Ordnung!« meinte sie dann. »Nicht eine Mütze voll Wind: wir hätten uns die Witterung gar nicht schöner wünschen können. Einsteigen!«

Jim schloß die hermetisch sichernde Tür hinter uns zu. Und war der Atem der Natur diese Nacht an sich schon unhörbar gegangen, nun konnten unsere Ohren selbst diese Stille nicht mehr auffangen. Aus und vorbei.

* * *

Erst war ich der Meinung gewesen, daß unsere Kabine stockfinster wäre. Ich wollte schon loswettern über diese Blinden- und Gefangenenexpedition zugleich – da wurde mein Blick von einem blassen Schein angezogen, von einem milchigen Leuchten über dem Sitz meiner Schwester.

Es war eine Art Oberlicht, und das leuchtete inwendig. Doch ich will versuchen und es Ihnen beschreiben: ein freihängender, nach unten gerichteter, großer, halbkugelförmiger Trichter, dessen Hals sich außerdem noch so wie ein Fernglas nach Belieben ausziehen ließ. Diesen Trichter zog Ethel herab, bis er sich wie eine Käseglocke über ihren Kopf stülpte und ihn mit Mondlicht bleichte. Dann sagte sie zu mir, ich sollte mich einen Augenblick auf ihren Platz setzen.

Und wie groß war meine Verwunderung, als ich mit einem Male wähnte, ich befände mich durch irgendeine köstliche Magie wieder im Freien! Auf die Innenfläche des Trichters projizierte sich die ganze Umgebung, der Himmel mit seinem Halbmond, die Milchstraße, die unermeßliche Tiefe des Firmaments und all das Riesellicht der zahllosen Sterne, das weiße Feld und der silberige Hügelkranz. Als ich mich herumwandte, erblickte ich die Silhouette von Philadelphia mitsamt der alles überragenden William-Penn-Statue und mit dem Heiligenschein, der über dem heidnischen Nachtleben jeder Weltstadt flackert. Zuletzt sah ich in diesem Trichter auch das unansehnliche und winzige Häuschen der Corbetts, in dem Randolph nun auf seinem Fieberbett sehr an uns denken mochte. Ich war begeistert von dieser lebenden Miniatur. Vielleicht kann ich Ihnen einen Begriff von allem geben, wenn ich Sie an das erinnere, was der Photograph erblickt, wenn er unter sein Tuch kriecht, um zu sehen, was er auf die Platte bekommen wird. Nur daß beim Photographen dann das Bild auf dem Kopf steht und bloß ein Ausschnitt ist und kein Panorama wie hier – ein absolut scharfes Panorama aus acht Meter Höhe – aus eben der Höhe, in der dieses vollendete Periskop auf dem Dache unserer Maschine angebracht war.

Also des Rätsels Lösung: wie man von hier drinnen aus wohl lenken könnte!

Ich muß gestehen, daß ich mit dem größten Vergnügen noch stundenlang unter dieser Zauberglocke sitzengeblieben wäre – wäre meine Schwester nicht wieder auf ihren Posten gezogen. Sie schalt:

»Findest du dieses bißchen Linse wirklich so feenhaft oder tust du nur so! Jedes Unterseeboot unserer Flotte besitzt ein fast ebenso kommod eingerichtetes Periskop. – Sind wir genau in der Richtung, Jim!«

Der Trichter streute seinen phosphoreszierenden bläulichen Schein umher, und alle Instrumente traten aus ihren Schatten heraus.

Jim beugte sich über eine Bussole.

»Zu Befehl, Madame,« sprach er und lachte nicht mehr. »Genau von Osten nach Westen.«

»Gut. Archie, Steuer gefaßt! Und geradeaus gehalten, bis dir ein anderer Befehl wird! So wie bei einer Ruderpartie! All right, Archie?«

» All right!«

» All right, Jim?«

» All right!«

» Well! Ach–tung! Gewichte gelöst!«

Der Nigger trat auf zwei Pedale zu gleicher Zeit. Ich hörte unter unsern Füßen zwei Aushebungsvorrichtungen – die eine mehr bug-, die andere mehr heckwärts – zu gleicher Zeit in Aktion treten. Etwas Schweres fiel dumpf auf den Rasen. Mir war's, als ob eine bis ans Herz rührende Kraft mich neu aus meinen unterschiedlichen Körperteilen zusammensetzte: den Kopf auf den Rumpf, den Rumpf an die Beine und die Beine auf den Fußboden – mit einem Wort: ich erlebte die seekrankheiterregende Sensation, die das brutale In-die-Höhe-Schnellen eines Fahrstuhls in dir erzeugt. Aber nur einen Augenblick lang, nur so lange, als ich brauchte, um dieses Gefühl zu haben. Dann war alles, wie wenn nichts gewesen wäre.

»Halt!« schrie ich, »was war denn das?«

Zu meinen Füßen leuchtete etwas.

Ich beugte mich nieder. Und plötzlich schloß ich die Augen, und meine Hände verkrampften sich in die beiden Steuerungsgriffe. Der Boden unter meinen Füßen war aus einer so durchsichtigen Masse, als ob überhaupt kein Boden da wäre, und durch dieses klaffende Loch sah ich Philadelphia tiefer – tiefer – und immer tiefer versinken – mit einer sich pro Sekunde wohl hundertmal überschlagenden Geschwindigkeit. – Wir flogen! Wir stiegen!

* * *

Ethel hatte sich um meinen Schrei nicht im mindesten gekümmert. Sie sah angestrengt auf ein Zifferblatt und las mit lauter Stimme ab, was der Zeiger zeigte:

»300 – 400 – 600 – 1000 – Jim, sehen Sie auf Ihrem Statoskop nach, ob's stimmt! 1050 – 1100 – Stimmt's?«

»Zu Befehl, Madame!«

»Dreißig Kilo Ballast auswerfen!«

Der Diener trat auf ein Pedal.

Wieder hörte ich eine Aushebungsvorrichtung, und ich sah deutlich, wie einer der Schattenstreifen zwischen dem Abgrund und uns an Volumen verlor und immer durchsichtiger wurde. Aber diesmal war's natürlich kein Fallgewicht mehr gewesen, denn das wäre einem nächtlichen Spaziergänger da unten nicht auf das beste bekommen. Für derartige Fälle war fein vorgesorgt worden: wir konnten uns von hier innen aus eine äußerliche Stelle unseres Bauches aufschlitzen und Sandsäcke oder Wasserschläuche auslassen. Freilich, wie die Corbetts aus einem hermetisch verschlossenen Raum eine solche direkte Kommunikation mit der Außenwelt fertiggebracht hatten, das hätt' ich gern gewußt, Meine Schwester jetzt über diesen Punkt zu befragen, das ging nicht an. Sie war hypnotisiert von ihrem barometrischen Zifferblatt und bestand rein aus Zahlen:

»1450 – 1475 – 1500 Meter! Endlich! Ach, 1540? Das ist zuviel!«

Und sie griff nach einer herniederhängenden Kette und hing sich daran. Auf diese Weise geschah über uns – was ich unsern Speicher nennen möchte – ein Schnurren. Die Nadel am Barometer zuckte auf 1500 zurück.

»Das wäre geschehen!« erklärte Ethel.

Dann, nachdem sie auf die Uhr über der Mütze des Niggers gesehen hatte:

»Fünf Minuten vor zwölf. Sehr gut. Abfahrt Punkt Mitternacht!«

Abfahrt! Was meinte sie damit! Ich starrte auf ihren schwesterlichen Nacken und auf ihr männlich kurzes Haar. Dann aber konnte ich nicht länger an mich halten:

»Abfahrt? Was soll denn das wieder heißen! Sind wir denn nicht längst schon abgefahren!«

»Nein!«

»Na, dann – wohin wollen wir denn eigentlich?«

»Um die Welt, mein gestrenger Herr Bruder!«

»Wa–wa–? Ach, mach doch keine faulen Witze, ja! Um – um –«

»Um die Welt! Und zwar in einem einzigen Tag! – Sind wir auch ganz genau eingestellt, Jim?«

Alle Fährnisse und Schrecknisse eines Aufstiegs statt mit einem erfahrenen Piloten mit dieser Tollhäuslerin – die Augen gingen mir über. Währenddem sah ich wie durch einen Schleier diesen unseligen Nigger eine Wasserwage konsultieren.

Und so bekam er denn glücklich heraus, daß unser Flugschiff seine Nase nicht genügend hoch trüge. Aber ein bißchen Ballast würde wohl machen, daß wir die nötige mathematisch genaue horizontale Lage wieder einnähmen. Nur waren wir unter derlei Praktiken um zwanzig Meter höher geraten. Doch Ethel erklärte, daß das nicht von der geringsten Bedeutung sei, befragte eine Bussole, lächelte und murmelte dazu:

»Wir sind mit der Nase genau horizontal in ostwestlicher Richtung!«

In dem Augenblick, als die Uhr zwölf schlug, ertönte der Befehl:

»Motor – los! Kontakt hergestellt!«

Da hatte Jim auch schon einen großmächtigen Umschalter auf die Sekunde pünktlich und anscheinend erfolgreich bemüht.

Sogleich wurde die unsichtbare Maschine – hinter der Rückwand – mit einem sehr leisen, aber sehr eindringlichen Brummen lebendig. Das Brummen schwoll an. Und in dem Maße, in dem die Maschine ihre Kraft verdoppelt, verfünffacht, verzehnfacht spielen ließ, wurde erst ein feiner Luftzug hier herinnen, der sich alsbald zu einem regelrechten Wind ballte und schließlich nicht übel wirbelte. Und draußen, da mußte wohl ein Sturm sein, ja – ein Orkan. Ein wahrer Samum, was sage ich, ein wahrhaftiger Blizzard tobte da wohl ums Schiff – eine neue ärgere Sündflut – ein Etwas, das die Welt noch nicht erlebt und das wohl auch ihren Untergang bedeuten sollte. Als ob ein Hagel von grimmigsten Wurfspießen die doch aufs beste verwahrten Fugen bedrängte! Eine Sturmkolonne der wütendsten Vipern hätte nicht annähernd so höllisch zu zischen vermocht! Kurz: da draußen mußte eine weltenmörderische Wut hausen – erlebten doch wir hier drinnen sogar einen Tornado im kleinen!

Das pfiff und sang und trommelte und tschinellte um unser Schiff, und gar um den Vordersteven war's, als ob in einem fort eine schwere Menge Seide zerrissen würde. Die Wände unserer Zelle erbebten (wohl durch die Arbeit des Motors), und als ich die vibrierende Wand anfühlte, war sie minder kühl, als sie mit Rechten sein sollte. Die Temperatur stieg empfindlich. Das Thermometer sprang nur so hinan. Bald hatte ich das Gefühl, als wäre dies alles nur ein Ofen, und der Ofen würde von außen geheizt. Es wurde mir klar, mit welch einer nie geahnten Geschwindigkeit unser Vehikel dahineilen mochte. Und was mir zuvor herzzerreißende Gewißheit geschienen hatte – ich glaubte an den Wahnsinn Ethels nicht mehr. Dazu verriet meine wackere Schwester so gar keinerlei Überraschung: sie benahm sich gerade, als ob sie diese schwindelnde Schnelligkeit mit allem Drum und Dran als das Selbstverständlichste von der Welt vorausgesehen hätte.

Auf ihr Kommando kalfaterte Jim die Türen und machte jeden Luftzug dicht, indem er Werg in die Ritzen meißelte. Ethel aber sah derweil auf einen langen Zähler, auf dem der Zeiger immer weiter vorrückte, und sagte neue Zahlen her:

»500 – 600 – 1000 – 1200 – 1250!«

Wobei ich sagen muß, daß sie die Zahl 1250 wie einen Sieg ausrief, und daß der Zeiger auf dieser Zahl 1250 stehenblieb, genau so, wie die Quecksilbersäule im Thermometer von nun an nicht mehr stieg, und so, wie die höllische Musik draußen fortan nicht noch wütender mehr anschwoll.

»1250! Es ist erreicht!«

Nachdem meine Schwester einen Blick auf die Uhr geworfen und etwas wie einen Überschlag ihrer Berechnung gemurmelt hatte, meinte sie zu Jim, auf die Erdkarte deutend:

»Jim, zwölf Uhr drei Minuten fünfundvierzig Sekunden stellen Sie den Zeiger auf Thorndale ein. Auf Thorndale, nicht wahr? Zwölf Uhr drei Minuten fünfundvierzig Sekunden nämlich passieren wir Thorndale.«

Und Jim setzte sich in Bereitschaft, drehte an der Erdkarte so lange, bis der Zeiger auf Thorndale stand; und auf die Zehntelsekunde pünktlich drückte er auf einen Knopf, und die Walze mit der Erdkarte, die zweifellos mit dem Räderwerk der Uhr verbunden war, fing an, sich langsam um sich selber zu drehen – und zwar von links nach rechts.

Mir aber wurde zum Ersticken.

»Ethel!« Ich rang nach Luft. »Aber das ist ja gar nicht möglich! Wir können doch nicht in drei Minuten fünfundvierzig Sekunden – bis Thorndale –«

»Kleinigkeit!« versetzte Ethel, während sie allerlei Bedienungsmanöver ausführte. »Thorndale ist längst passiert. In diesem Augenblick kreuzen wir die Bahnlinie zwischen Valley und Siousca. Sieh doch selber auf die Erdkarte – und dann sieh hierher!«

Und ich sah auf den Zähler, und der zeigte unbeweglich auf 1250.

»Nämlich das ist ein Tachometer,« fuhr sie fort, »ein Geschwindigkeitsmesser. Und der steht momentan auf über zwanzig Kilometer achthundert Meter pro Minute. Das macht ungefähr zwölfhundertfünfzig Kilometer in der Stunde.«

»Donnerwet–! Wir machen also zwölfhundertfünfzig Kilometer in der Stunde?«

»Wir? Wir machen gar nichts!«

»Was heißt denn das nun wieder?«

»Wir rühren uns nicht vom Fleck! Die Luft ist's, die derart an uns vorübersegelt! Unser Kahn steht absolut still – die Atmosphäre bloß wütet drauflos. Deswegen habe ich ja auch unsern Apparat Aerofix getauft!«

»Wie?«

»Einen Moment nur – so! Ich mußte nur diesen Hahn da erst noch zudrehen – aber jetzt steh' ich dir ganz zur Verfügung. Halt! – auf daß in dich wie in unsre Kabine doch endlich Licht kommen möge –«

Sie drehte das elektrische Licht an, so daß im Periskop über uns aller Mond- und Sternenschein wie vor Tageshelle verblaßte.

»Die Luft, sagtest du, soll's sein, die derart an uns vorübersegelt?« Meine Neugierde war bis zum Paroxysmus gesteigert.

Meine Schwester hub an:

»Brüderlein, du bist doch sonst ein Rechengenie. Solltest du also noch niemals daran gedacht haben, wie lächerlich kostspielig es die Menschheit eigentlich anstellt, wenn sie irgendwie reisen will? Wie sie sich nur unter dem teuersten Aufwand von Dampf, Benzin oder Elektrizität fortzubewegen versteht – auf einem Ball, der doch in immerwährender Bewegung ist! Ich würde mich nicht im geringsten wundern, wenn die Erde eines Tages stillstehen würde vor Erstaunen darüber, daß es noch keinem Menschen eingefallen ist, über der Erde einmal auf ein und demselben Fleck zu bleiben und ruhig abzuwarten, ob dann nicht alle Punkte auf demselben Parallelkreis an ihm vorbeidefilieren würden und er an einem ixbeliebigen Orte einfach herabzusteigen brauchte!«

»Blendwerk der Hölle!«

»Und siehst du: diesen ziemlich selbstverständlichen Gedanken, den haben Randolph und meine Wenigkeit aufgenommen und dann auch gleich ausgeführt – wie Figura zeigt!«

»Dieser Aerofix?«

»Ja. An ihm hastet alle Luft und alle Erde vorüber. In bezug auf diese beiden verhält er sich vollständig unbeweglich. Die Schwerkraft, der unser Flugschiff unterworfen ist, bewirkt, daß wir in stetig gleicher Entfernung vom Erdmittelpunkt bleiben – nur die Bewegung der Erde um sich selber, die machen wir kraft unseres Motors nicht mehr mit. In diesem Sinne will dieses unser Stillstehn verstanden sein. In einem andern Sinn freilich tun auch wir immer noch mit, nämlich was den Lauf unseres guten alten Planeten um die liebe Sonne und die Bewegung unseres ganzen Sonnensystems um eine noch zentralere Sonne im unendlichen All anbetrifft.

»Nur … da ja die Erde von Westen nach Osten sich dreht, scheinen wir uns von Osten nach Westen in vierundzwanzig Stunden herumzukugeln – oder noch genauer gesagt: in dreiundzwanzig Stunden sechsundfünfzig Minuten vier Sekunden. Ganz so wie die Sonne.«

»Aber,« wagte ich da einzuwerfen, nicht ohne vorher ein paar Überlegungen auf einen Fetzen Papier hingekritzelt zu haben, »wenn ich mich recht erinnere, so hat die Erde doch einen Umfang von vierzigtausend Kilometern. Diese Strecke in vierundzwanzig Stunden zurückgelegt, macht eine Geschwindigkeit von sechzehnhundertsechsundsechzig Kilometer pro Stunde.«

»Gar nicht so übel für ein kaufmännisch erzogenes Gemüt! Da guckt wirklich ein Stückchen erster Buchhalter heraus! Aber dennoch fehlgeschossen, mein teuerster Reisegenosse, denn die Erde hat doch den Umfang von vierzigtausend Kilometern nur am Äquator. Wenn wir also beispielsweise über Quito aufgestiegen wären, dann würde unser Tachometer tatsächlich eine Geschwindigkeit 1 666 666 66… aufweisen müssen. Wir aber haben uns über Philadelphia erhoben, auf dem vierzigsten Grad nördlicher Breite, der nur dreißigtausend Kilometer mißt, und das macht eben nur zwölfhundertfünfzig Kilometer pro Stunde. Möchtest du dir nicht einmal vorstellen, mein lieber Peary oder Amundsen, wie's über einem der beiden Pole wohl wäre? … und ob wir da wohl nicht immer ein und denselben Fleck unter uns, eine Aussicht auf ein und dieselbe Eisplatte hätten, die gerade wie eine Grammophonplatte rotiert?

Übrigens mußt du dieses eine wohl bedenken: je höher wir unser Schiff in die von diesem terrestrischen Walzer mit fortgerissenen Lüfte aufsteigen lassen (je größer mithin der Durchmesser des Kreises wird, den wir scheinbar um den Erdmittelpunkt beschreiben), um so größer wird auch die Geschwindigkeit der an uns vorüberwalzenden Atmosphäre. Und um so schwieriger müßte es dann eigentlich für uns werden, uns unbeweglich zu erhalten (das heißt, der immer wilder anstürmenden Luft zu widerstehen), wenn nicht die Luftsäule mit zunehmender Höhe an Dichtigkeit abnehmen würde. Du verstehst? Und so durchschneidet der Bug unseres Schiffes in jeder beliebigen Region mit ganz der gleichen Leichtigkeit die Luft: zwei Phänomene, die sich völlig das Gleichgewicht halten …«

»Aber warum wählen wir gerade fünfzehnhundert Meter Höhe?«

»Weil die höchste Erhebung rund um den vierzigsten Parallelkreis diese fünfzehnhundert Meter absolute Höhe über dem Meeresspiegel nicht erreicht. Etwas tiefer? Möchtest du wirklich mehr oder weniger gelinde an die Rocky Mountains anfahren?«

»Folgen wir diesem vierzigsten Parallelkreis auch jederzeit ganz genau?«

»Ganz genau! Bis … vielleicht … eines schönen Tages unsere Maschine sogar diese ihre Fixation beliebig zu ändern imstande sein wird: entweder vermittelst der Anziehungskraft der Gestirne oder aber auch mit Hilfe der planetarischen Bewegung der Erde selber. Es handelt sich dabei nur darum, der Sonne gegenüber auf ein und demselben Fleck zu bleiben, und alsobald werden die Fahrten (scheinbar natürlich nur Fahrten), die kreuz und die quer über die Erde möglich werden. Aber soweit sind wir noch nicht, nein … nein! Bislang können wir nichts weiter, als dem Gegenstand unserer Wahl wie ein Verliebter folgen. Das Steuer dient zu nichts, als uns beim Start in die gehörige Richtung einzustellen und eventuellen allzu stürmischen Rivalen zu entwischen. Wir sind Globetrotter aus Muß, sowie wir uns dazu einmal freiwillig entschieden haben, mein lieber Bruder. Da – die Bussole! Ihr Zeiger würde während vierundzwanzig Stunden um kein Haar abweichen, wenn da nicht die magnetische Deklination wäre, wenn der geographische und magnetische Pol zusammenfielen. Wir haben Norden allzeit zur Rechten …«

»Also«, stammelte ich, »sind wir morgen wieder in Philadelphia, nachdem wir erst den ganzen vierzigsten Parallelkreis umwandelt haben? Und das war es, was du einen kleinen Umweg machen genannt hast?«

»Sehr richtig! Sieh dir den Planigloben unterhalb der Uhr an. Der zeigt nicht nur unsere jeweilige Lage an, sondern gibt uns auch noch ein vollständiges Bild unserer scheinbaren Bewegung. Der unbewegliche Zeiger daran, das sind wir, das ist unser Aerofix. Und immer nach vierundzwanzig Stunden kommt derselbe Ort wieder unter ihm vorbei. Morgen nacht zwölf Uhr: Philadelphia! Das heißt, wir werden eine kleine Verspätung erleiden, indem wir beim Start doch erst (nicht in Gang, sondern) ins Stehen kommen mußten und an unserem Ziele aus dem Stehen sozusagen wieder auf den irdischen Trab kommen müssen. Diese beiden Manöver erfordern etwas Zeit, wie du dir wohl denken magst. Ja sogar, wenn ich – was mir übrigens unmöglich wäre – morgen über Philadelphia den Motor jäh abstellen würde, dann würde der Luftstrom mit aller ihm zu Gebote stehenden Wucht auf uns hereinstürzen, und von dieser unserer Vorderwand schlechterdings nicht ein Atom übrigbleiben …«

Schweiß perlte mir auf der Stirn, und die Innenflächen meiner Hände wurden naß.

»Diese Hitze!« murmelte ich. »Und erst dieses Gesause! Du mußt schier brüllen bei deiner kleinen Abhandlung, und dennoch verstehe ich dich kaum.«

»So sehr reibt sich die Luft an uns! Du findest also auch, daß es zum Ersticken ist?«

Sie machte an den Türen ein paar Klappen auf. Diese waren durch Röhren, die am Schiffsheck im Sinne der Luftströmung endigten, mit allem Draußen verbunden. Und man muß schon sagen: die Ventilatoren funktionierten ausgezeichnet. Denn sogleich verbreitete sich eine köstliche Kühle hier drinnen.

Meine Schwester aber sprach derweil:

»Du kannst dir gar nicht denken, welche Mühen und Ängste es uns gekostet hat, bis wir ein Mittel gegen diese fürchterliche Hitze gefunden hatten! Da kam Ralph auf die Idee einer Schutzschicht, mit der der Schiffskiel verputzt wurde, einer isolierenden Schicht mußt du wissen …«

Darauf löschte sie das elektrische Licht. Als sich meine Augen von der jähen Dunkelheit erholt hatten, sah ich, daß sich Ethel neu mit dem Periskop behelmt hatte und von milchigem Licht ganz umflossen war.

»Ihre Hoheiten die Rocky Mountains!« verkündete sie. »Sieh nur mal, Archie!«

Der ganze Trichter war von einer magischen Himmelsbläue erleuchtet. Wolken schwammen da und da. Die ferneren ohne besondere Hast, die näheren wie flockige Blitze. Wieder andere, die uns just den Weg versperrten, verlegten mir damit die Aussicht, wenn auch nur für die Zeit eines Augenzwinkerns. Den Horizont herauf … ich wollte natürlich sagen: über den Rand des Oberlichts … strebte ein ungeheurer Schattenfleck sternenwärts. Auf das bizarrste gezackt und blendende Lichter um die Gipfel, war das die Bergkette, die mit Volldampf auf uns zukam.

Die wie aus einer Riesenfaust gegen uns geschleuderten Gletscher schienen opalisierende Streifen – schienen Kometenschweife. Eine flüchtige Helle glitt über unsern transparenten Fußboden hin. Bergrücken zuckten. Bergspitzen sprangen auf. Als ob eine ganze Herde von Bergen von einem panischen Schrecken erfaßt einherstürmte.

Bis mit einem Male alles abschüssig wurde und versank und sich so tief hinab verlor, daß mein Auge es nicht mehr erreichte. Und ein Firmament, aller Wolken bar, auf den Plan trat und die Innenwand unseres Periskops mit einem göttlich schönen tiefen Blau färbte …

Dann ward ein Funkeln von ungezählten Facetten, unnennbare Feuer, wie ein Kirchenfenster aus eitel Diamant – – – und da befiel unsern Nigger eine tolle Ausgelassenheit! Er erstickte schier, buckelte sich ganz zusammen und rasselte endlich einen halblauten Willkomm dem Stillen Ozean.

Ethel bestätigte mir:

»Ja, da wär' er also, der alte Bursche. Drei Uhr dreiundzwanzig. Und wirklich, er kam pünktlich zum Rendezvous!«

Ich schrie hellauf:

»Wir fallen!«

»Keine Bange! Unser Aerofix erfreut sich nicht umsonst einer soliden Bauart, geliebter Bruder!«

»Na ja!« sagte ich und schämte mich in meinem Herzen und wollte nicht länger feige scheinen und machte lieber große Worte. Das ist es ja, was ich sage! Ein prächtiges Flugzeug …«

»Papperlapapp! Ein Ballon, Archibald! Ein richtiggehender Ballon mit Gas! … Kein Schrauben- und kein Flächenflugzeug vermöchte sich in dieser toll gewordenen Atmosphäre zu halten. Darum eben ein Ballon! Du wirst begreifen, daß bei einem Aerofix Gondel und Motor ungemein solid mit der Hülle verbunden sein müssen. Sonst gäbe das keine kleine Verwirrung in allem, was da Tauwerk oder Verwindung hieße – davon, daß die Hülle gleich zu Anfang platzen würde, überhaupt nicht zu reden. Unser Apparat ist ein einziger Kiel, und das Metall, aus dem er hergestellt ist, ist eine Legierung von Aluminium und einer Substanz, die nicht schwerer wiegt als Kork und jeden Stahl an Widerstandskraft weitaus übertrifft. Dieser Kahn ist durch eine horizontale Scheidewand in zwei Etagen geteilt. Der erste Stock über uns ist voll von einem Gas, das nur seine Erfinder kennen und das einen sechsmal so starken Auftrieb wie Wasserstoff hat. Zu ebener Erde hat er drei Räume. In der Mitte die Kabine, in der ich dir diese kleine Lektion zu erteilen das Vergnügen habe; nach vorn heraus einen sehr bescheidenen Raum für die Corbettakkumulatoren, unsere sehr bequeme und schier unerschöpfbare Elektrizitätsquelle, und nach hinten heraus endlich die Kammer, worin der Motor –

Ach, dieser Motor, dieser Motor! Du wirst sehen, der macht uns noch unsterblich! Wobei du aber nun durchaus nicht an Millionen von Pferdekräften denken sollst. I wo! Der Aerofix hat nichts mit einem Dampfboot gemein, das mit gerade so viel Erfolg gegen einen Strom ankämpft, daß es nicht abgetrieben wird und seinen einmal eingenommenen Platz eben noch behauptet. Was wäre das auch schon für eine gar große Erfindung? In einem solchen Fall wäre das Corbettsche Flugschiff nicht viel mehr als das schnellste Luftfahrzeug (zwölfhundertfünfzig Kilometer Geschwindigkeit pro Stunde) und würde nur so tun, als ob es unbeweglich wäre. Was in der Theorie wohl ausführbar schiene (eine einfache Rechnung, kaum mehr als eine Multiplikation) … in der Praxis aber dem wahnsinnigen Unterfangen gleichkäme: eine Mücke mit soundso viel hundert Pferdekräften ausstatten zu wollen!

Nein, unser Motor treibt den Aerofix absolut nicht irgendwie an, sondern schaltet ihn nur von der Bewegung der Erde um ihre eigene Achse aus. Unser Motor ist weiter nichts als ein Trägheits-, als ein passiver Widerstandsgenerator … verstanden? Und wenn er auch ganz dieselbe effektive Arbeit leistet wie eine Maschine, die unter so staunend schwierigen Umständen von Osten nach Westen fliegt, so ist doch all sein zahlenmäßiger Kraftaufwand fast nicht der Rede wert.«

»Ja, aber wie?« bat ich. »Nach was für einem Prinzip?«

»Tja, das kann ich dir leider nicht sagen … Also, bitte … Corbett würde sehr, sehr unzufrieden mit mir sein …«

»Du kennst meine Diskretion!«

»Eine einzige vage Andeutung, Archie! Aber mehr auf keinen Fall!

Du erinnerst dich doch an jene Kreisel, Gyroskope genannt, mit denen wir als Kinder spielten und die zum Beispiel auf einem ausgespannten Faden in jeder möglichen und unmöglichen Lage tanzen, ohne je herabzufallen. Sie bilden mit ihrer Unterlage die ausgefallensten Winkel und schienen allen Gleich- und Schwergewichtsgesetzen ungestraft zu spotten. Und erinnerst du dich vielleicht auch, welche Anwendung dieses Kinderspiel kürzlich in England erfuhr? Wie der Ingenieur Louis Brennan mit ihrer Hilfe den fulminanten Einschienenwagen konstruierte? Der Witz bei der ganzen Sache ist der, daß jeder Körper, in den solche Gyroskope eingebaut sind, in jeder labilen Lage stabil bleibt – gerade als ob er mit einer sehr großen Geschwindigkeit ausgestattet wäre. Jede Verwendung eines Gyroskops ist also ein Ersatz für eine erforderliche Geschwindigkeit.

Diese Kraft nun haben wir durch eine Spezialdisposition bis auf ein Vielfaches von ihr erhöht. Hinter uns, Archie, wirbeln sechs Gyroskope.«

»Aber wenn die nun auf einmal nicht mehr wirbeln?«

»Da müßte schon ein äußerst unvorhergesehener Unfall eintreten, mein Lieber. Brennan hat demonstriert, daß von dem Augenblick an, da du die Gyroskope abstellst, sie während vierundzwanzig Stunden noch weiterlaufen. Davon ermöglichen die ersten acht Stunden noch jegliche Praktik – was meines Erachtens mehr als genug Zeit ist, ohne allzu jähe Übergänge wieder mit der Erde in gleichen Schwung zu kommen und sich nebenher einen bequemen Landungsplatz zu sichern. Der Unfall könnte also nur durch die … durch die … kurz, durch unsere Spezialdisposition an den Kreiseln verschuldet werden. Und was das betrifft …«

»Ethel! Du erschreckst mich!«

Meine Schwester sah mich verächtlich an. »Du hast doch mitangesehen, Archie, wie kinderleicht ich den Apparat allein aus dem Hangar an den Start geschoben habe. Und da waren am Bauch des Fisches Gewichte angebracht, die den Auftrieb neutralisierten. Der Ballon wog also nicht mehr als die paar Pfunde, die ihn am Erdboden festhielten. Diese Kompensationsgewichte gehen automatisch von der Kabine loszuhaken und dann heidi! … Ach, Archie, glaube mir nur, die kleinste Kleinigkeit ist vorgesehen! Wir haben erst mit einem verkleinerten Modell – so groß wie ein Seelenverkäufer – experimentiert. Durch irgendein Versehen wurde, im Atelier noch, der Motor angedreht. Sofort hat sich der Aerofix auf französisch empfohlen. Durch die Mauer hindurch … hoch über einen Hügel von Belmont hinauf … wo er immer noch ist …«

»Ja, aber könnte sich durch die Hitze nicht irgendwie das Gas entzünden?«

»Da kannst du ganz beruhigt sein! Diese riesige und explosible Blase könnte sich nur durch einen Funken oder eine Flamme: durch ein offenes Licht entzünden. Und wie sollte das wohl?«

»Ja, ja, schon gut … Mir ist dein ganzes System nun klar, Ethel … obschon ich von allem Anfang an dieses dein Autoimmobil für einen veritabeln Motor-Car gehalten hatte!«

»Wegen der Räder und ihrer Federung? Das dient zu nichts als zum Landen. Du läßt dich herab, stößt sanft auf, und der Schwung macht dich noch ein paar Meter dahinrollen, ehe du stoppst. Das ist wie beim gewöhnlichen Flugzeug.«

Mein Begriffsvermögen schwand, einen so paradoxen Traum glaubte ich zu erleben, und meine Blicke ließen von dem sich drehenden Planigloben nicht mehr ab, der ein so deutliches farbiges Bild von unserer Wallfahrt um den vierzigsten Parallelkreis darstellte.

»Das viele, viele Wasser,« murmelte ich, »das immer noch mehr zu werden scheint! Ist das Meer unter uns … und wie tief ist es wohl?«

»Eintausend bis zweitausend Meter. Wir sind zwischen dem hundertvierzigsten und hundertsechzigsten Meridian.«

»Es ist bald fünf Uhr?«

»Ja, das heißt: in Philadelphia ist es bald fünf. Nicht aber an den Orten, die jeweils gerade unter uns sind. An all diesen ist es an jedem soeben Mitternacht. Unser Aerofix, unbeweglich im Raum, ist ebenso unverrückbar, was die Zeiteinteilung der Menschen angeht. Wir bereisen nur Orte, an denen es gerade Mitternacht ist.«

»In der Tat, die Sonne will immer noch nicht aufgehen.«

»Aber wie könnte sie denn, Archie! Sie ist doch fortwährend auf der entgegengesetzten Seite der Erde. Sie und unser Apparat spielen sozusagen Guckguck! miteinander, aber nie Dada! Unsere jeweiligen Antipoden haben jeweils gerade Mittag. Wir versäumen auf diese Art einen ganzen Sonnentag und erleben dafür eine ganze lange Nacht mehr … Später, wenn die Erfindung ausgebeutet werden und jedermann seinen Aerofix besitzen wird, wird man – sehr wahrscheinlich – bei immerwährendem Tageslicht reisen wollen. Die Feinde der Dunkelheit werden ewig in den Tag hineinleben können, angesichts eines nie endenden Sonnenunterganges oder, je nach Liebhaberei, einer unaufhörlichen ersten Morgenfrühe. Sieh dir doch den Himmel im Periskop an: die himmlische Kuppel spiegelt sich unbeweglich in der porzellanenen Kalotte wieder, unbeweglich … bis auf den Mond. Das ist immer noch der Himmel von heute nacht zwölf Uhr über Philadelphia und bleibt's auch: als ob die himmlische Pendüle stehengeblieben wäre …«

»Eine Pendüle aber ist in Gang,« erwiderte ich. »Und das ist die in meinem Magen! Eben repetierte sie zweimal zwölf … Essensstunde. Du mußt wissen, daß ich seit gestern, seit meinem dritten Frühstück …«

Wir speisten.

Sie haben sich ja vorhin, als mein Hunger sich äußerte, selber überzeugen können, daß mich Essen erst immer wieder zum ganzen Manne macht. Und so geschah mir auch nach jener Mahlzeit. Nachdem ich mich an ausgezeichneten Konserven delektiert und eine kleine Flasche Brandy eingenommen hatte, war mein Mut wieder da – ich kümmerte mich den Teufel was um dieses Messers Schneide, die so schmal war wie der Seitengang eines Schlafwagens. Nur ein Gefühl von Steifigkeit, und als ob mir alle Glieder meines Leibes zerschlagen wären, machte sich bemerkbar – das war die Reaktion auf den Schock, den ich erlebt hatte.

Dann drückte mir in dem lauwarmen Halbschatten eine wohlige Verdauung die Lider zu. Die Winde sangen ein Wiegenlied, und die Gyroskope stimmten summend ein. Zwischenein hörte ich nur noch etwas, wie daß die Uhr schlug und Ethel dazu meinte, ein Viertel des Weges hätten wir nun hinter uns – und da war ich auch schon hinüber.

»Nee, du! Aber das gibt's hier nicht! Ich glaube gar, du schläfst! Auf! auf! Ich kann dich einen um den andern Augenblick dringend nötig haben! Hier heißt's wach sein und alle Mann auf dem Posten!«

»Na ja … schon gut …«

»Bedenke doch, dies köstliche Japan, das wir eben passieren!«

»Ich pfeif' auf Japan! Weißt du das! In einer Dusterheit, als ob's Kienruß schneien würde!«

»Friede! Archibald! Friede! Hübsch ruhig sitzengeblieben!«

Der Nigger buckelte sich zusammen, und seine Schultern wackelten, als ob er sich aufs neue über etwas freute.

Aber Ethel mit ihrem herrischen Ton hatte mich eingeschüchtert. Ich fragte nicht eben freundlich:

»Wo sind wir denn nun?«

»Schon hinter Peking. Über der Wüste Gobi.«

»Immer noch fünfzehnhundert Meter über dem Erdboden?«

»Nein, fünfzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel. Die Wüste liegt achthundert Meter hoch …«

Schweigen. Stille. Denn ich hörte den immerwährenden Lärm von Wind und Motor schon rein gar nicht mehr. Zumindest nicht anders mehr als die tausend Geräusche irgendeiner sonstigen tiefsten Einsamkeit und Verlassenheit …

Und lange, lange während dieser Zeit hatte ich gegen den Schlaf anzukämpfen.

Da munterte mich zweimal hintereinander blinder Lärm einigermaßen auf.

Das erstemal: ein wenn auch sehr schwacher Stoß gegen den Bug. Irgend etwas Weiches war uns im Weg gewesen. Meine Schwester beruhigte mich gleich: sie hätte durch das Periskop sehr deutlich zwei große Flügel gesehen.

Das zweitemal: springt mit einem Male ganz entsetzt der Neger auf und stottert, ob wir wohl immer noch genau in der Richtung seien, und falls das nicht mehr der Fall sei, so sei das fürchterlich, wegen der Kaschmirberge, die an die dreitausendachthundert Meter hoch seien; aber er selber könne sich keine Rechenschaft mehr ablegen, er sei wie blöd.

Ein Glas Brandy brachte ihn wieder zu sich. Nachdem ihm seine Kaltblütigkeit und sein klarer Kopf zurückgegeben waren, nahm er schön seinen Platz vor der Uhr wieder ein.

Und endlich schrie meine Schwester so hell wie ein Kellner in einem Speisewagen: »Zu Tisch die Herrschaften, zu Tisch! Es ist Mittagszeit!«

»Mittag?« machte ich. »Jawohl, Mittag um Mitternacht!«

Das chinesische Firmament besetzte unser Oberlicht mit seiner kosmographischen Kuppel, so daß es gerade wie eine jener Himmelskarten aussah, die man Uranoramen nennt. Die Schwärze dieser Nacht schien einen Stich ins Grüne zu haben. Wolken, die unsern Kumuluswolken ähnlich sahen, verdeckten bald und enthüllten dann wieder die ewig sich gleichbleibenden Sternbilder. Einzig das Stück Wassermelone, das sich Mond nannte, war angeschwollen und hatte sich gegen Südosten verfügt.

Das Dejeuner war so reichlich wie ein Souper gewesen. Und das Diner wollte darin nichts nachlassen. So kam's, daß wir ihm nicht allzu große Ehre antun konnten … Der mitternächtliche Nachmittag ging unendlich lang hin. Das Kaspische Meer, die Türkei, Griechenland, Kalabrien, Spanien, Portugal waren unsichtbar und fremd unter uns vorübergeglitten. Eine unüberwindliche krankhafte Reizbarkeit machte, daß ich die transparente Diele trampelnd mit meinen Füßen bearbeitete … ich führte mich wie wahnsinnig in der schmalen Zelle auf … und vor kindlichem Vergnügen strahlte ich, als ich endlich – gegen dreiviertel zwölf – den Befehl erhielt, mich bereitzuhalten. Meine Schwester erklärte, daß man nun den Motor abstellen und die Gyroskope bremsen würde, um so gemach wieder in den Erdenschwung zu kommen und in Philadelphia landen zu können.

Die Lampe leuchtete, Jim warf den großen Kommutator herum, ein paar Hebelvorrichtungen gerieten in schaukelnde Bewegung. In der Kammer am Heck hörte man die Bremse einsetzen, das Gebrumm nachlassen, das Gesause schwächer werden. Der Zeiger des Tachometers ging zurück.

Ich mit fiebrigen Händen am Steuer. Meine Schwester hatte mir noch einmal eingeschärft: ohne einen Befehl nicht mucksen! Zuweilen verlängerten sich unter mir die beiden Feuer eines Atlantikdampfers zu weißen und roten Schweifen.

Ich hielt's nicht mehr aus vor Ungeduld. Als ich mich über die Schulter meiner Schwester vorbeugte, sah ich in ein höchst ärgerliches Gesicht.

»Was ist?«

»Wir werden nicht schnell genug langsamer! Wenn das so weitergeht: Adieu, Philadelphia!«

Die Uhr zeigte zwölf Uhr dreißig. Die Luft pfiff noch wütend. Ich trocknete nervös an meiner Stirn herum.

»Wenn wir nur innerhalb der Bannmeile landen!« meinte ich. »Und wenn's auf hundert Kilometer von der Stadt wäre.«

Der Nigger schüttelte mit dem Kopf.

»Nein, Jim? Nein, nicht wahr?« fragte meine Schwester. »Alle Mühe vergebens, ich habe die Schuld, es ist zu spät!«

»Ach was, zu spät!« schrie ich da. »Halte nur erst einmal richtig an, und dann fahren wir eben rückwärts!«

»Archibald, du bist ein Esel! Unser Flugschiff – du hast es selbst gesagt – ist kein Automobil, sondern ein Autoimmobil. Wir und rückwärtsfahren? Ja, wenn Mutter Erde so liebenswürdig wäre, sich einmal – extra für uns! – ein bißchen nach der entgegengesetzten Seite herumzudrehen! Aber wozu auch? Wir haben Gas genug, wir haben Ballast genug, wir haben Elektrizität genug und haben Lebensmittel genug; das einzige Vernünftige, was uns bleibt, ist, noch einmal um den Planeten herumzufahren und morgen um die Zeit ein bißchen früher auszuschalten und zu bremsen. Motor angedreht, Jim! Bremsen – frei!«

Und noch während sie also kommandierte, schwand ein nebliger, mit Johanniswürmchen besternter Fleck unter uns vorbei: Philadelphia …

»Armer Randolph!« seufzte Ethel. »Wird er sich grämen um uns!«

Ohne erst noch einmal Atem zu holen, setzte sie mir in der geschwätzigen Art von Leuten, die einen Tadel schon über sich ergehen sehen und ihn erst gar nicht zu Worte kommen lassen wollen, alles mögliche auseinander. Wie wir am besten Belmont wieder erreichen, nachdem wir morgen um die Zeit in irgendeinem engeren Umkreis gelandet sein werden. Das heißt, in keinem weiteren Umkreis als zwanzig Kilometer. Und daß von da ein Ackergaul den Apparat zum Hangar ziehen müsse, den wir ums Morgengrauen bestimmt erreichen würden.

»Ich verstehe immer Morgengrauen, Ethel! Ich habe ein wahres Heimweh nach Morgengrauen! Mir ist, als ob die Sonne für immer erloschen wäre! Aber ja, ich bin gekommen, um mich euch nützlich zu machen, ich gebe mich ja schon wieder zufrieden! Aber das eine versprichst du mir doch: morgen um die Zeit bestimmt in Philadelphia?«

»Ich schwöre es dir! Morgen um ein Uhr und etliche Minuten. Du mußt nämlich wissen, daß wir mit den Manövern von vorhin an die sechzig Minuten Zeit verbummelt haben.«

Jim stellte die Weltkarte von neuem ein. – – –

* * *

Diesmal traf Ethel sogleich die nötige Einteilung, wie jedes von uns ein bißchen schlafen könnte. Ethel und Jim sollten abwechselnd Wache halten. Was mich betrifft, so sollte ich nach Belieben über meine Zeit verfügen.

Umfallend vor Müdigkeit, streckte ich mich auf dem Glasboden aus, den Fuß meines Sitzes zwischen meinen Beinen. Scheinbar schlafend, lieferte ich mich auf lange Stunden den qualvollsten Bildern aus.

Kein Traum war so fabelhaft wie diese Wirklichkeit! So war mir das Erwachen der Anfang eines Alps, der noch schrecklicher war als alle geträumten. Das Periskop – die reine Kellerbeleuchtung! Und Ethel schlafend in diesem Licht – wie Tote schlafen. Jimmy eine bronzene Wache. Und unbarmherzige Nacht um uns. Ewige Mitternacht!

Das Grauen kam … daß ich nur noch mit den Händen stammeln konnte. Die fuhren mir herum … und stießen mit einem Male gegen etwas Glattes, Kaltes … und das war eine Brandyflasche. Gluck, gluck, gluck, gluck … in drei Sekunden … das Grauen war weg.

Wie lange diese Herzseligkeit anhielt? Genau so lange, bis der unheimliche Gast wiederkam und ich ihn mit einem tüchtigen Schluck wieder bannte. Es schmeckte übrigens gut, und mich dürstete quasi immer wieder nach Mut … ohne daß ich auch nur ein einziges Mal an die Folgen dachte. Entschuldigen die Herren, bitte, diese kleine Beichte. Aber sie ist zum Verständnis des folgenden notwendig.

* * *

Gegen sieben Uhr abends über den Balearischen Inseln kommandierte meine Schwester: Vorbereitung zum Stoppen.

»He, Archie! Aufgewacht! Du hast lang genug geschlafen! Steuer gefaßt!«

»Zu Befehl, Madame Corbett,« sagte ich mit dem übermütigsten Lächeln. »Ganz zu Ihrer Verfügung!«

Bei dem frisch angedrehten Licht der Lampe musterte ich meine Schwester. Sie hatte mich einen ganzen »Tag« nicht gesehen und wußte natürlich auch nicht, ob ich geschlafen hatte oder nicht. Und meine Heiterkeit schien ihr weiter nichts als die Befriedigung über unsere bevorstehende Landung in Belmont.

Die Bremsen traten in Aktion, und der Wind flaute ab. Meine Kollegen vom Dienst hatten unaufhörlich an allen möglichen Hebelvorrichtungen zu tun – und ich schämte mich meiner Untätigkeit. Ein falscher Ehrgeiz packte mich, sowie ich auch nur daran dachte, welche Dienste ich mit meinen beiden Steuergriffen zu leisten imstande sein würde. Ah, man sollte nur so staunen, welche Pilotentalente in mir schlummerten! Wie ich diesen braven Mann meiner Ethel und jenen Kretin von Nigger ausstechen würde! Eins – zwei – nach Backbord hin – eins – zwei – nach Steuerbord – eins – zwei – nach Backbord hin – eins – zwei – nach … Oh! alle Minen wollte ich springen lassen!

Und nur, um mal bißchen zu probieren, wollte ich um Haaresbreite nach links halten. Doch versteht es sich von selbst, daß das Steuer nicht nachgab. Unsere Geschwindigkeit war noch viel zu groß und der Luftwiderstand deshalb noch viel zu wütend, als daß ich das geringste hätte ausrichten können. Meine Steuergriffe waren also nur zum Anschauen da! Das machte mich rasend. »Oh, du wirst schon, paß nur einmal auf, ich werde dich schon zur Räson bringen – und wenn ich selbst nicht mit heiler Haut aus dieser ganzen Geschichte –«

Und da gab es wirklich nach. Und das leider nicht nur um Haaresbreite, sondern gleich um ein tüchtiges Stück.

Ich war mit einmal nüchtern. Wenn die andern bloß nichts davon merken!

Aber die andern hatten mit ihren eignen Manövern genug zu tun. Und ich konnte derweil den Schaden vielleicht wieder reparieren. Ich hielt also nach der entgegengesetzten Seite. Aber durch mein Ungestüm von vorhin hatte ich am Gestänge, das durch die ganze Motorkammer lief und am Heck nach außen mündete, wohl ausgerechnet an dieser Mündung etwas verbrochen, das erst wieder gutzumachen war, wenn man in diese Motorkammer ein- und an Ort und Stelle vordrang.

Indes, davon hatte ich keine Ahnung und arbeitete also bis zur Verzweiflung weiter und … bis mich eine heillose Wut ankam.

Ich drückte und drückte und drückte … und dann ließ es mit einem Male auch nach dieser Seite nach … und sogleich entstand irgendwo ein sehr feines Pfeifen.

Ethel horchte auf.

»Allmächtiger Gott, Jim!« schrie meine Schwester. »Das Gas entweicht! Schnell, schnell!«

Jim stürzte nach der Seite, wo die Gyroskope waren. Ich aber wußte überhaupt nicht mehr, wo ich war, und machte einfach eine Tür auf.

Aber da war keine Zeit mehr, auch nur halbwegs hinauszuspringen.

Eine glühende Hitze … ein betäubender Donnerschlag … eine blendende Helle …

Ich klammerte mich an einen Türflügel und verlor die Besinnung.

* * *

Das Ende vom Lied kennen Sie ja besser als ich selber.

* * *

Mr. Archibald war mit seinem Bericht zu Ende. Und mit offenem Munde sahen wir ihn seine letzte Claro zu einem Stümpchen rauchen und den letzten Likör genehmigen. Die Zigarrenkiste war durch ihn bedenklich erleichtert, und in der Whiskybottel war Ebbe eingetreten. Wir hatten den Redner während der ganzen Zeit nur durch manches Ach! und Oh! des Entsetzens und der höchsten Verwunderung unterbrochen; abgesehen davon, daß ich ihm immer zur rechten Zeit mit einem Ausdruck oder einem Endchen Satzkonstruktion zu Hilfe kam.

Mr. Clarke stand von seinem Stuhl auf und sah durch eine der Luken hinaus aufs Neer … »Ja, ja, das war kein Spaß!«

»Sie sind also auch davon überzeugt,« warf ich ein, »daß Ihre Frau Schwester und der Nigger verloren sind?«

»Und ob!« antwortete der Amerikaner.

Und warf seinen Zigarrenstummel hinaus in die See, als ob das für ihn nicht das Grab seiner Ethel, die Grube Jims und das Trümmerfeld des wunderbaren Aerofix hätte sein müssen!

»Würden Sie mir dieses eine erklären?« fing ich nach einer Weile wieder an. »Als der Aerofix die beiden Male über die »Océanide« wegfuhr, war das Sausen jedesmal ein anderes. Das erstemal ließ sich das Sausen erst hören, als der Apparat schon sichtbar war, und hielt auch dann immer noch an, als der Aerofix längst zum westlichen Horizont hinabgetaucht war. Das zweitemal aber traten die Gehör- wie die Gesichtserscheinung zu gleicher Zeit auf und wären wohl auch zu gleicher Zeit dann wieder –«

»Das ist aber doch äußerst einfach, lieber Herr! Das erstemal waren wir auf der Höhe der »Océanide« beinahe noch in voller Geschwindigkeit und also schneller als der Schall, der pro Sekunde nur sechsundvierzig Meter sechsundsechzig Zentimeter macht! Das zweitemal reisten wir über Ihnen nur noch annähernd gleich schnell wie der Schall … soll ich Ihnen das genauer vorrechnen?«

»Nein, danke!«

»Dieses Problem haben wir übrigens schon in der Schule gehabt: der Blitz aus einer Kanone und der Donner –«

»Ach was!« rief Gaétan da. »Sie haben bei Ihrer ganzen Erzählung doch eine ungewöhnliche Auffassungsgabe an den Tag gelegt. Also verraten Sie uns lieber noch einiges über den Aerofix und besonders über die leichten Akkumulatoren.«

»Ich habe Ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit alles gesagt, was ich wußte. Schon um mich dafür erkenntlich zu erweisen, daß Sie mich in so dankenswerter Weise aus dem Wasser aufgefischt haben … Ja, wenn statt meiner ein Professor oder ein Ingenieur in der Kabine gesessen hätte! Der hätte – und selbst wenn es meine unglückliche Schwester nicht gewollt hätte – doch ungleich mehr von allem gehabt als ein simpler erster Buchhalter.«

Nach diesen geschickt gesetzten Worten schwieg Mr. Clarke abermals. Und so oft wir in ihn drangen, uns noch mehr von dem Aerofix zu erzählen, wich er aus, als ob er an diesen betrüblichsten und schrecklichsten Fall in seinem noch so jungen Leben nicht erinnert werden möchte.

* * *

Das ging so bis zu unserer Ankunft in Havre. Aber nicht nur, daß er sich über diese seine Reise auf ein und demselben Fleck ausschwieg – er verriet auch sonst nichts. Welche Mühe kostete es uns, ihm auch nur ein paar Einzelheiten über Trenton, die Kabelindustrie im allgemeinen und sein geschätztes Haus Roebling Brothers im besonderen zu entreißen. Dabei ließ er eigentlich nur mich an sich herankommen. Er war ausgesprochen höflich, aber ebenso lakonisch zu seinem Wirt.

Als die »Océanide« den Kai angelaufen war, grüßte Mr. Clarke uns wie ein Korvettenkapitän und war auch schon an Land. Jegliche Unterstützung Gaétans hatte er entschieden abgelehnt.

Als er fort war, da war uns erst recht wie in einem Traum … Wir hielten Umfrage an Bord, stießen aber auf nichts als Trinkgelder, die er zurückgelassen hatte. Und die waren darnach! Mr. Clarke hatte an Mannschaft und Dienerschaft wie ein Nabob ausgeteilt. Dann aber ergab sich etwas noch Seltsameres: der Amerikaner, der geradeswegs aus Pennsylvanien gekommen war, hatte in französischen Banknoten und Louisstücken bezahlt!

Ich fuhr nach Paris, während Gaétan sich im Automobil auf sein Schloß Vineuse-sur-Loire begab. Nur eine Bitte hatte mir Gaétan vorher noch aufgetragen: »Du brauchst ja nicht gerade mit Tinte drauflos zu wüten … aber so ein bißchen schreibst du die Schauerballade mir zu Gefallen wohl nieder?«

Schon ein paar Wochen nach meiner Wiederankunft in Paris waren meine Akten über Mr. Clarke und sein unfreiwilliges Bad im Atlantischen Ozean zu wahren Monsterprozeßakten angeschwollen.

Nämlich ich hatte alle einschlägigen Bulletins der Observatorien, die auf dem vierzigsten Parallelkreis lagen, gesammelt, und kein einziger dieser Berichte vom 19., 20. und 21. August laufenden Jahres verzeichnete etwas von einem Meteor oder einer sonstigen Erscheinung.

Daß keine von all diesen Beobachtungsstationen weder ein Feuer- noch ein Lichtphänomen registrierte, ging noch an. Ethel Corbett hatte ja über einem Kontinent stets alles elektrische Licht abgedreht. Aber daß keiner dieser Sternenwärter das große Sausen gehört haben sollte?

Und dann kam etwas Niederschmetterndes: Gewiß gab's in Philadelphia einen Fairmountpark und am Ufer des Schuylkill River ein Belmont mit einem von einer Hügelkette umstandenen weiten Feld, »das sich vorzüglich zu einem Flugfeld eignen müßte«, wie die liebenswürdige Auskunft besagte … aber von einem Ehepaar Corbett nicht die Spur.

Und in Trenton existierte neben einer ausgedehnten ehrsamen Topfmanufaktur und außer etwas anfechtbaren altägyptischen Skarabäenfabriken wohl die Kabelmanufaktur Roebling Brothers, die sogar in sehr beträchtlichem Ansehen stand … nur reagierte kein einziger Buchhalter und auch sonst kein Angestellter auf den wundervollen Vornamen Archibald oder auf den öden Familiennamen Clarke.

Und so war unser Mann aufs neue zu dem Geheimnisvollen, Unbekannten und Schiffbrüchigen geworden.

* * *

Monate gingen hin, ohne daß ich etwas von diesem Pseudo-Clarke gehört hätte, und ich hatte mein Verfahren gegen ihn längst eingestellt … da kam gestern der folgende Brief. Zwiefach kuvertiert. Auf dem ersten äußeren Kuvert – Aufgabestempel Paris, Postamt 106, Place du Trocadéro. Auf dem zweiten inneren Kuvert eine andere Handschrift, und der ganze Brief von dieser selben Hand geschrieben:

 

»Herrn Maurice Renard
Schriftsteller
212, Avenue Armand-Fallières
Paris (XV.)

Sehr geehrter Herr!

Ich bitte Sie wegen meines Betragens an Bord der »Océanide« um Entschuldigung. Sie werden es ja längst herausbekommen haben, daß ich damals in die traurige Wahrheit ein wenig Komödie mengte, zu der aber Sie und Herr de Vineuse-Paradole mir zumindest den Stoff geliefert hatten.

Also ich bin keineswegs der amerikanische Buchhalter Archibald Clarke, sondern Ingenieur, Franzose, und der Apparat, mit dem ich in jener Nacht experimentierte, da ich den Vorzug hatte, Ihre Bekanntschaft zu machen, war auch nicht eigentlich ein Aerofix. Oh, ich hätte Ihnen die Maschine bis in ihre einzelsten Einzelheiten schildern können, aber meine Erfindung ist so umwälzend und so einfach zugleich, daß ich es für geraten hielt, Ihnen auf Ihr Drängen lieber etwas anderes zu erzählen. Wer waren Sie denn? Ich kannte Sie nicht. Sie hatten mir zwar das Leben gerettet – ich aber hatte ein noch viel köstlicheres Gut zu bewahren!

Wie ich dazu komme, mich heute wenigstens halb zu demaskieren? Weil gestern der Flugapparat Nr. II vollendet worden ist! Nun können mir Indiskretionen nicht mehr schaden. Die Maschine ist all right, auf und davon zu fliegen. In einigen Tagen vielleicht schon werden Sie von meinem Triumph hören und somit auch erfahren, wer ich bin. So viel indes kann ich Ihnen heute schon verraten: meine Erfindung ist mehr wert als solch eine Reise auf demselben Fleck.

Ich ermächtige Sie gerne – eine kleine Gegenleistung! –, mit diesem Stoff anzufangen, was Sie wollen. Ich selber besitze keinerlei schriftstellerischen Ehrgeiz. Aber wenn Sie Ihren geschätzten Lesern damit vielleicht eine kleine Freude machen können, dann tun Sie's bitte, und tun Sie's bitte schnell!

Für heute noch: Ihr ergebener
Archibald Clarke.«


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