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Das Flugtreffen von Ardea

Von Gabriele d'Annunzio

Wie der Adler im sandigen Tal nicht mit einem einzigen Schwung sich erhebt, sondern mit immer kräftigeren Flügelschlägen seinen Anlauf nimmt, sich langsam in leichter Steigung von seinem Schatten trennt und dann endlich frei auf der Breite seiner Schwingen sich im Wind emporschraubt – erst zeichnen seine Krallen tiefe Spuren, dann werden sie leichter und leichter, bis sie zuletzt kaum noch den Sand zu ritzen scheinen und die letzte Spur fast unsichtbar wird –, so stürmte die Maschine auf ihren drei leichten Rädern in ihrer blauen Rauchwolke, die aussah, als brenne die dürre Heide unter ihr, dahin und erhob sich von der Erde.

Sie gewann rasch an Höhe. Unter dem Druck des Höhensteuers bäumte sie sich auf und vermied die Luftwirbel, die vom heißen Boden aufstiegen und sie zu drehen versuchten. Dann drehte sie in den Wind, mit oszillierenden Bewegungen, wie die Gabelweihe, wenn sie emporkreist, wie der Akrobat auf dem gespannten Draht. Neigte sich in der Kurve etwas gegen die erste Zielstange, richtete sich wieder auf, flog rasch und gerade wie ein Pfeil die grüne Linie der Pappelallee von Ghedi hinab, überflog die Gehöfte, kämpfte mit den Böen unter fortwährendem Anluven, schwebte im weißen Abglanz der Wolken, schön wie das Bild des Sonnengottes von Edfu, ganz nur Schwinge wie das Emblem über den ägyptischen Tempeln.

Giulio Cambiaso hatte nie so wie diesmal die Zusammengehörigkeit zwischen der Maschine und seinem Körper gefühlt, zwischen seinem geübten Willen und dieser bezähmten Kraft, zwischen seinen instinktiven Bewegungen und den Bewegungen dieses Mechanismus. Von den Flügeln der Schraube bis zur Flosse des Steuers fühlte er dies ganze schwebende Gebilde wie eine organische Verlängerung und Bereicherung seines eigenen Seins. Wenn er sich über die Steuerung beugte, um einen Windstoß zu parieren, wenn er sich mit dem Körper gegen das Innere der Kurve neigte, um mit der Hüfte die Verwindung der Flügelenden zu betätigen, wenn er beim Anluven mit unfehlbarem Gefühl das Gleichgewicht wiederherstellte und von Zeit zu Zeit die Flugachse versetzte, hatte er die Empfindung, mit seinen beiden weißen trapezförmigen Schwingen durch lebendiges Gewebe verwachsen zu sein, lebendig wie die Brustmuskeln der Geier, die er im Abflug von den Felsen von Mokkadam und in ihrem Kreisen über dem Sumpf von Sakur beobachtet hatte.

»Einsam sind wir nun, Bruder, frei, fern von der quälenden Erde,« dachte Paolo Tarsis, der schon die erste Runde hinter sich hatte und jetzt vor dem Winde flog, um seinen Freund einzuholen. »Ich will nicht mehr trauern, mir nicht mehr das Herz zermartern, dir meine Folter nicht länger verhehlen. Ich muß dir zurufen, muß deine Stimme im Flug vernehmen. Siegst du, siege ich. Siege ich, siegst du. Wie groß und männlich der Himmel heute ist!«

Er ließ alles hinter sich: den Wirbel seiner Leidenschaft, das erregende Lachen Isabellas, den fiebernden feindlichen Blick ihres jungen Bruders, die Eitelkeit der Freundinnen, die Banalität der Bekannten. Er fand seine Stille wieder, seine Einsamkeit, sein Werk.

»Der Reiher!«

Tausend und tausend Stimmen schrien es einstimmig. Von den Tribünen, von den Schranken, von den Karren, die auf der Landstraße nach Calvisano und auf der nach Montichiari hielten, von den Böschungen der weißen Straßen, aus den Wespennestern von Menschen, die in den Bäumen hingen, aus den schwarzen Haufen auf den Dächern der Bauernhäuser, aus der zahllosen Menge von Gesichtern, die zu den Pfaden der Luft emporgerichtet waren, aus dem unermeßlichen Staunen stieg der Ruf wie Donner oder wie Meeresrauschen.

»Der Reiher!«

Paolo Tarsis holte seinen Freund ein, flog in Rufnähe an ihm vorüber, kam in den Wirbel seiner Schraube, rollte, stampfte, schoß aus der Geraden, stieß nach unten wie ein Habicht, stieg steil empor wie die Wildente, zeigte gegen das Licht die Rippen seiner Schwingen, umflog das Ziel so knapp, daß sein innerer Flügel fast die Spitze des flatternden Wimpels berührte. Er hatte, als er Giulios Maschine passierte, den gewohnten Erkennungsruf ausgestoßen, den sie auf Streifzügen, auf der Jagd, im Biwak gebrauchten. Hatte er ihn vernommen, war der Ruf im Knattern der Motoren verloren gegangen?

»Der Reiher!«

Die Menge wiederholte den Ruf, berauscht von diesem eleganten und gefährlichen Spiel, von diesem Fest der Grazie und der Kühnheit, von diesem Wettkampf der beiden brüderlichen Flieger.

In einer tiefblauen Bucht, zwischen hohen, gelblichen Wolkenbergen, tauchten sie jetzt beide auf, verfolgten sich wie zwei Störche vor der Brutzeit und verloren sich wieder in der großen Weiße. Vom Beispiel angefeuert, stiegen andere auf, erhoben sich, flogen ihnen nach. Alle Hangars dröhnten und fauchten, voll von Winden wie die Häuser des Äolus. Von der Mannschaft aufs Feld geschoben, von starken Armen gehalten, vom rasenden Stern der Schraube endlich in die Lüfte entführt, entflog eine Maschine nach der andern, um den prunkenden Himmel zu erobern: die einen gelb wie Fischadler, andere rosa wie Flamingos, andere rostfarben wie Kraniche. Sie schossen pfeilschnell wie die Schwalben, kreisten wie Kondore, strichen dahin wie Schnepfen. Alle Mächte des Traums schwellten die Brust der Sterblichen zur Verklärung des Menschen. Die Seele der Menschheit hatte das Jahrtausend überschritten, die Zeit beflügelt, den Ausblick in die Zukunft vertieft, das neue Zeitalter begonnen. Der Himmel war jetzt zum dritten Reich geworden, nicht mit titanisch getürmten Blöcken erstürmt, sondern mit dem Blitz, der gefesselt und zum Sklaven geworden.

Und lebendig wie die Menge war der Himmel, trunken wie sie von Luft und Wundern, von Stolz und Schrecknis, von Leidenschaft und Unendlichkeit. Es war einer jener sublimen italienischen Himmel, die in einer einzigen Stunde die hundertjährige Wandlung erneuen, die die Künstler an den Decken der Paläste und in den Kuppeln der Basiliken vollbracht; einer jener Himmel, die alle Bilder von Größe erwecken und vernichten, die die silbrige Lust des Veronese mit den steinernen Schauern des Buonarroti vereinen. Die Wolkenmassen waren wie Architektur, wie geformte Materie aus den Händen eines Bildhauers, ein Chor von Engeln, eine Rotte von Ungeheuern, ein Paradies von Blumen. Sie stiegen vom Gebirge auf, schmiegten sich an die Hügel, zerfetzten sich an den Spitzen der Pappeln, wie milchige Wasserhosen waren die einen und bebten oben in einem Licht von der sensitiven Durchsichtigkeit der Seetiere. Andere wie lichter Ton auf der Scheibe eines Töpfers, der sie mit unsichtbarem Finger zu einer Urne formte. Ein Henkel schoß aus der Seite des Gefäßes und bog sich gefügig nach oben zum Rand. Im Innern der Urne aber war das Blau, und alles Blau ringsum am Himmel kam diesem wenigen Blau nicht gleich. Andere glichen andern Figuren, andern Geschöpfen, andern Sagen, andern Künsten. Die Welt der Mythen und Träume, vom neuen Mythus und vom neuen Traum beschworen, erfüllte die Wölbung des Himmels.

Jetzt schoß einer der großen Vögel zur Erde, erhob sich wieder, legte sich auf die Seite, schlug in einer engen Kurve gegen den Boden und blieb reglos auf dem zusammengebrochenen Flügel liegen, während der andere unbeschädigt in die Höhe ragte, ohne Zuckung, ohne Todeskampf, ein lebloser Haufe von Rippen und Leinwand, schmutzig von Öl und Ruß. Der Führer der Maschine stieg aus den Trümmern, sah nach seiner Hand, die blutete, und lächelte.

Nicht lange darauf sah man einen andern Flieger, der wie ein lichtgeblendeter Nachtvogel gegen die Schranken stieß, unter dem Geschrei der Menge eine weite Strecke der Umzäunung niederriß und sich dann mit zerfetzter Bespannung, mit zerrissenen Drähten und verbogenem Gerippe überschlug. Lautlos lag er in einem Kreis des Schreckens, ein stummes Wrack über dem metallenen Herzen, das noch warm war und rauchte. Die erschreckte und lüsterne Menge beroch das Aas. Vom Mann sah man nur die Beine, die in den Stahldrähten verwickelt waren. Aber man zog ihn aus dem Gewirr, grub ihn aus, richtete ihn empor. Er war totenblaß, schwankte, verbiß einen Schmerzensschrei, wie man ihn betastete. Er hatte den Oberschenkel gebrochen. Zwei Soldaten trugen ihn auf einer der niedergerissenen Planken weg. Er lag auf dem Rücken, die Augen zu den Wolken gerichtet. Der Schatten eines siegreichen Fluges glitt über ihn und seine Verzweiflung weg.

Jetzt erblickte man eine andere Maschine, die plötzlich von einem Feuer ohne Farbe ergriffen ward. Im Tageslicht war nichts zu sehen als die Leinwand, die sich mit einem Male bräunte und von den Rippen aus Esche und Pappelholz löste, die schon wie Reisig knisterten. Das Feuer griff rasch um sich; die Flamme schlug aus den halboffenen Ventilen. Wie ein großer Brandpfeil, der mit Werg umwunden und mit Brennöl getränkt von der Balliste geschleudert wird, schoß die Maschine zu Boden und grub sich in die Erde ein. Im Aufprall explodierte das Benzingefäß und überschwemmte den zerschmetterten Rumpf und den Mann, der noch lebte. Der Körper der Maschine brannte wie ein Scheiterhaufen. Am pfeilartigen Schwanz knarrten die beiden Steuerruder.

Der Mann sprang, umgeben von farblosen Flammen, auf und wälzte sich im schwelenden Gras mit solcher Wut, daß sich sein Kopf in den weichen Boden wühlte. Die Menge brüllte auf, bis in die Eingeweide gepackt, nicht von Mitleid für den Verwundeten, sondern von der Leidenschaft des tödlichen Spiels. Ein anderer Flieger, der hoch oben kreiste, schoß mit einer kühnen Wendung des Höhensteuers herab wie der Geier auf das Aas. Wenige Meter über der Erde richtete er die Maschine auf und flog hart über dem Verunglückten weg, der sich immer noch unaufhörlich wälzte. Er beugte sich etwas, um zu sehen, wer es sei, und sah, wie er jetzt still lag. Dann schwenkte er rasch ab, stieg wieder höher, erschien bläulich im Wolkenschatten, vergoldet im Sonnenlicht, und setzte ruhig seinen Flug fort. Das Geschrei der Menge stieg zu ihm auf.

»Tarsis! Tarsis!«

Der Mann, dem es gelungen war, das Feuer zu ersticken, hatte sich auf seine Beine erhoben und stand jetzt schwarz, verrußt, ölbeschmutzt da, die Haare versengt, die Kleider verkohlt, die Hände verbrannt, schauerlich lebendig. Zweihundert Meter von ihm war von seiner zerstörten Maschine nur noch der glühende Motor zu sehen, die Rohre verbogen und abgerissen. Der Mann betrachtete seine Hände, mit denen er das hartnäckige Feuer erstickt hatte.

Ein grausamer Taumel trieb das Blut in die Augen der Tausende, die nach dem Kampfspiel der Lüfte in die Höhe starrten. Die blutige Lust am Zirkusspiel war in jeder Brust erwacht. Eine plötzliche Steigerung des Lebensgefühls wallte unter der drohenden Nähe des Todes auf.

»Tarsis! Tarsis!«

Der Reiher zog seine Kreise weiter und umflog eben schon in der fünfzehnten Runde das Ziel. Alle Herzen beflügelten sich gleichsam, um ihm im heroischen Fluge zu helfen. Alle Kehlen schrien dem kühnen Flieger seinen Namen zu wie einen tönenden Lufthauch, der seine Geschwindigkeit erhöhen sollte. Die Menge befahl ihm gleichsam zu siegen.

»Tarsis!«

Er hielt seinen Flug mit all seiner Geduld durch, beschleunigte die Fahrt mit all seinem Fieber. Von Zeit zu Zeit, bald gegen eine Wolke, bald gegen das Blau, wurde sein Oberkörper sichtbar, vornübergebeugt, wie um sich instinktiv zu verkleinern und der Lust weniger Angriff zu bieten, wie um sich der Form der Spindel und des Pfeiles anzugleichen. Die schärfsten Augen oder die besten Gläser konnten seinen unbedeckten Kopf erkennen – der Wind hatte ihm die Haube entführt –, sein scharfgeschnittenes Gesicht, aus dem die Energie zu strömen schien wie die Hitze von den Kühlrippen des Motors.

»Tarsis!«

Er war jetzt allein. Der Himmel hatte sich entvölkert. Hier und dort auf dem Feld landeten die letzten Flieger. Sie ließen sich nieder wie erschöpfte Wandervögel, legten sich auf die Seite oder stießen mit dem vorderen Sporn auf wie verwundete Falken. Ein falbes Licht, wie ein ferner Abglanz des ringsum reifenden Hafers, verbreitete sich über das Feld. Die tannenen Bretter der Schranken leuchteten wie poliertes Gold. Die Mauern der Gehöfte, der Kirchen und der Villen, die Spitzen der fernen Glockentürme glühten. Die Schatten der Zielmasten, der Stangen und Pylonen verlängerten sich.

Er war allein. Er sah nichts vor sich als den wirbelnden Stern seiner Schraube, hörte nichts als den gleichmäßigen Pulsschlag seines Motors. »Wo war sein Freund! Was war vorgefallen! Was hatte ihn schon zur Landung gezwungen!« In diesem Augenblick hörte er, wie einer seiner Zylinder aussetzte, dann noch einer. Sein Herz krampfte sich zusammen; er kam sich plötzlich wie ein Verblutender vor, als ströme es aus seinen Adern in die metallenen Rohre. »Verriet ihn das Glück im letzten Augenblick!« Er luvte gegen einen Windstoß an, manövrierte mit aller Macht, hielt sich so dicht als möglich am Wind, umflog den letzten Pylon wenige Zoll vom Wimpel, zog im Geist eine gerade Linie bis zum Ziel, gerader als die Linie, die der Zimmermann mit Richtschnur und Mennig zeichnet. Als die Spannung nachließ, hörte er mit ruhigerem Ohr, daß der Motor wieder gleichmäßig arbeitete, hörte den exakten, kräftigen Schlag. Unwillkürlich, als säße sein Freund neben ihm, stieß er einen leisen Kehlton aus, der in ihrem bizarren Jargon ein Zeichen von Genugtuung ausdrückte. Ein Ton, den sie auf Jagden und Streifen gleichsam dem gezähmten Raubtier und wilden Stämmen abgelauscht hatten. Er lachte in sich hinein beim Gedanken, wie der große, hervortretende Adamsapfel des Rekordmannes John Howland erregt auf und ab zucken würde. Dann schweifte er in unbestimmte, unwillkürliche Vorstellungen ab, als sei mit einem Male seine Aufmerksamkeit entspannt, als habe das gegenwärtige Geschehen plötzlich jede Bedeutung verloren. Und nun schoß ihm das Bild Isabellas durch die Brust: er sah ihr Gesicht voll Zauberei und Fährnis vor sich, sah das Spiel ihrer Knie im grauen Rock, dem zwei kunstvolle, unerklärliche Falten das Aussehen von zwei zusammengeschlagenen Flügeln gaben.

Plötzlich schloß sich der Stromkreis seiner Energie wieder. Er fühlte von neuem, wie sein Körper die ganze Maschine regierte, daß im Innern seiner Flügel wie in den hohlen Knochen der Vögel die gleiche Luft kreiste wie in seinen Lungen. Wieder ward das Gefühl in ihm lebendig, nicht mehr ein Mensch in einer Maschine zu sein, sondern ein einziger großer Körper mit ihr. Die Empfindung des unerhört Neuen lebte in jeder seiner Bewegungen. Er flog dahin wie auf seiner eigenen schwellenden Lust.

»Der Reiher! Tarsis!«

Er sah auf dem Signalmast die Scheibe aufsteigen, die seinen Sieg anzeigte, hörte das Meeresbrausen, das zu ihm aufstieg, sah hinab, überblickte die graue Masse der Volksmenge mit tausend weißlichen Gesichtern, tausend gereckten Händen. Obschon er von der Kurve am Ziel sich abwärts senkte, war es ihm doch, als stiege er schwindelnd hoch über eine starre Warte. Er schoß abwärts, wendete, flog vorbei, in einem Dröhnen des Siegs, einem Wirbel von Glanz, weiß und leicht, funkelnd von Messing und Stahl, ein Bote des höchsten Lebens.

* * *

Während der Sieger seinen Flug fortsetzte, um den eigenen Sieg noch zu übertreffen, wurden am Signalmast die beiden schwarzen Dreiecke und das weißrote Quadrat aufgezogen, die den Start Giulio Cambiasos für den Höhenrekord anzeigten.

In der Menge dauerte die schwere Dünung noch an, die auf einen heftigen Sturm folgt. Die Ankündigung des neuen Wettbewerbes war für sie eine herrliche und erregende Verheißung, im Abendrot schwebend. Als der Freund Paolos den Reiher bestieg, schwieg der Lärm. Die Schraube brauste in der Stille ringsum.

»Zum erstenmal trage ich eine Blume in die Luft. Wo ist wohl jetzt die kleine olivfarbene Indierin, die sie mir gab? Vielleicht sieht sie nach mir hin und ängstet sich. Was für ein seltsamer Besuch, werde ich sie wiedersehen, wenn ich lande? Werde ich ihr später wieder begegnen? Die gelbe Rose von Madura! In die Höhe will ich sie tragen, in die Höhe …«

Die Wölbung des Himmels im Zenit war vollkommen wolkenlos, wie eine ungeheure Kugel, rings von den kolossalen Pilastern, Bogen und Säulenhallen der Wolken gestützt. Die Glut des Abends war erloschen. Ein mystischer Hauch belebte die formlosen Gestalten, die sich auf der Höhe der Wolkenfirste dahinter neigten und ausstreckten, wie die Figuren der Nacht und der Frühe auf den Mediceergräbern. Die Stadt von Brettern verschwand jetzt mitsamt all ihren kleinen Dingen, und die großen Dinge wurden großer im Anwachsen des Dunkels und der Erwartung. Die Nike auf der römischen Säule erschien jetzt von gigantischer Größe.

»Zu unerreichten Höhen will ich sie tragen.«

Der Reiher beschrieb einen weiten Bogen um das bronzene Standbild. Seine geradlinigen Flügel waren von einer Schönheit wie die heiligen Sonnenflügel in ägyptischen Tempeln. Das Volk, das am Tage die Göttin auf dem Wagen hergezogen, empfand die zwiefache Schönheit. Nun begann für die Menge ein grausames Freudenfest.

Der Reiher stieg in Wellenlinien und Kreisen empor. Von Welle zu Welle, von Kreis zu Kreis klang das Knattern des Motors schwächer, verlor in gewissen Momenten jede Härte, wurde gedämpft wie der Schlag des Dreschflegels auf der Tenne, wie das Summen eines Schwarmes im Korb, wie die ländlichen Geräusche, die in Traum wiegen, die Lieder, die sich entfernen, schien sich ins Blau zu verlieren wie die Maschine selbst und der Mann auf der Maschine: verstummte endlich ganz, war nicht mehr da, war nur noch für den einen da oben hörbar. Die Menge reckte sich und horchte, die ganze Seele in den Augen und mit verhaltenem Atem. Das stufenweise Abnehmen des Geräusches erweckte in jedem ein so tiefes Gefühl von Entfernung, daß der Gesichtssinn sich täuschen ließ. Der Mann da oben schien bereits in unberechenbarer Höhe, gänzlich losgelöst von seinesgleichen, einsam, wie keiner je einsam war, gebrechlich, wie keiner je gebrechlich, jenseits des Lebens wie ein Hingeschiedener. Die Bangnis des Unbekannten lastete auf jeder Brust. »Nicht weiter, nicht weiter!« flüsterte die Stimme des Bangens. »Höher! Höher!« rief die Stimme des Rausches.

»Nicht weiter! Es ist schon zu hoch! Es macht einen schwindeln!«

»Weiter! Höher! Noch bis zu dem Wolkenrand dort wenigstens!«

»Genug! Ein Lufthauch kann dich stürzen, ein Nichts: ein Draht, der reißt, ein Funke, der ausbleibt.«

»Weiter! Laß nicht nach! Die Höhe, in der du jetzt bist, erflog schon einer vor dir. Höher steigen mußt du, um neue Himmel zu erobern!«

Ein Ruf aus tausend Kehlen stieg zu dem Kühnen empor. Am Signalmast war das weiße Zeichen des Sieges erschienen. Schon schwebte der Reiher in neuen Himmeln.

»Genug! Der Sieg ist dein!«

»Höher! Siege doppelt!«

Der Rausch der Menge war wie das Pochen eines gemeinsamen Fiebers, das sich der fühllosen Luft mitteilte und bis zu dem menschlichen Vogel da oben drängte. Der Himmel erschien wie ein drohendes Geschick.

»Höher! Höher!«

Es schien, als sei jenseits der Grenze die Gefahr verschwunden, als sei der Mensch durch das Übermaß der Kühnheit selbst straflos und sicher geworden. Die Maschine erschien jetzt nur noch wie ein dünner Pfeil, der wie durch Zauber im blassen Himmel hing. Der Augenblick schien endlos. Keiner vermochte ein Wort auszusprechen.

»Er kommt herunter! Er kommt herunter!«

Der Bann war gebrochen. Erst leise wurden die Worte ausgesprochen, dann mit ungleichen Ausrufen.

»Er kommt herunter!«

Man sah, wie der Pfeil größer wurde, rasch wieder die Form eines beschwingten Fliegers annahm. Etwas Glänzendes und Dunkles zugleich, etwas, das einmal leicht aufleuchtete und dann unbestimmter Schatten war, durchschnitt unterhalb der Maschine die Luft. Vielleicht sah so die erste Feder aus, die aus den Schwingen des Ikarus aufs Meer fiel.

Eine Stimme voller Schrecken rief: »Die Schraube! Der Schraubenflügel!«

Und Schrecken breitete sich über die ganze Menge, nicht von Stimme zu Stimme, nein, von Fleisch zu Fleisch.

»Er fällt!«

Alle Stimmen und Geräusche hatten einen unnatürlichen Widerhall, nicht in der Luft, in den Herzen selbst.

»Er fällt, er fällt!«

Nun schrie keiner mehr, keiner holte mehr Atem. Man sah, wie der menschliche Vogel schwankte und sich von einer Seite auf die andere legte wie ein wahnsinnig rollendes Schiff. Man sah, wie der lange Mittelkörper unter dem Druck des Steuers sich bäumte und aufrichtete, einen Augenblick die Flugflächen in die richtige Lage zum Abstieg brachte und einen Moment lang Hoffnung weckte, dann plötzlich vorwärts stürzte, ohne Halt, mit der Geschwindigkeit eines toten Körpers gerade herabkam und gegen die Erde prallte mit einem Dröhnen, das in der lautlosen Stille der Herzen wie Donner klang.

Kein Schrei erscholl, keine Hand hob sich. Für einen Augenblick schien die Menge leblos wie der weißliche Trümmerhaufen von Stoff und Rippen, wie das große Leichentuch, das zehn Schritte vom Fuß der römischen Säule lag. Es war nicht das Licht des Abends, sondern der Schein des Geschehnisses, das Menschen und Dinge zu beleuchten schien. Die Ebene war wie ein Meer, die Wolken wie ein Kreis von Welten, der Himmel wie ein undurchdringbarer Demant. Die ewigen Naturkräfte herrschten wieder.

Dann wurde der Galopp der herbeisprengenden Reiter vernehmbar. Die Menge durchbrach die Barrieren und überschwemmte das Feld, lüstern nach dem Anblick von Blut und zerschmetterten Gebeinen. Und hoch über der Menge, die voll Wildheit sich um das greuliche Schauspiel stieß und schlug, erhoben sich einsam Säule und Standbild, zwei unsterbliche Geschöpfe sterblicher Künstler, in Schönheit für den unbesiegten Stolz des Menschen zeugend. Und es zeugten die Flügel aus Erz für die gebrechlichen Flügel aus Linnen.

»Ist er tot? Atmet er noch? Hat er den Kopf zerschmettert? Das Rückgrat gebrochen?«

Von den Lanciers zurückgedrängt, wogte und tobte die Menge. Die Pferde bäumten sich und schnaubten, Schweiß auf den Flanken, Schaum am Gebiß. Um sehen zu können, krochen die Neugierigsten unter dem Bauch der Pferde durch, preßten sich zwischen Kruppe und Kruppe, zwischen Sporn und Sporn.

Als die Trümmer entfernt, die Drähte entwirrt, die Leinwandfetzen weggezogen waren, wurde der leblose Körper des Helden sichtbar. Der Hinterkopf klebte am Motorgehäuse derart, daß die sieben Zylinder mit ihren Kühlrippen eine Art von schauerlichem Strahlenkranz um sein Gesicht bildeten. Die lichtbraunen Augen waren starr geöffnet, der Mund ruhig und unverzerrt, im hellen, weichen Bart glänzten die reinen, weißen Zähne. Die große Schläfenader war von einem gerissenen Spanndraht glatt durchschnitten, wie von einem Rasiermesser. Aus der Wunde strömte ein roter Bach, der sich über das Ohr, den Hals, die Schulter und die halbgeschlossene Faust ergoß. Ein Arzt, der sich über seine Brust beugte, um das Herz zu behorchen, das längst nicht mehr schlug, spürte an seiner Wange die kühle Frische eines Rosenblattes. »Tarsis! Tarsis!«

Ein neuer Schauer durchlief die trunkene Menge, die plötzlich erschüttert schien, als strahle der Schmerz des überlebenden Freundes auf sie über. Man hörte deutlich in der erhabenen Stille des Abends den Motor des unermüdlichen Fliegers näher kommen, der immer noch Runde um Runde zurücklegte.


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