Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Von Leonhard Adelt
An Dr. A. H.
11.VII./25.X.13.
Kurz nachdem Nikolaus Tränlein durch das schräggestellte Zelluloid des vorderen Auslugs Rockall Island gesichtet hatte, senkte sich der Nebel.
* * *
Das war wider die Wetterkarte und alle Voraussicht. Als sie sich vor zehn Stunden in Leven, Fifeshire, zum Start anschickten, stieg der Morgen weiß und klar aus dem rotübergossenen Meere. In der Halle um sie fröstelte noch Nacht. Die zwei Luftschiffe der englischen Nordflottille wiegten sich im Säuglingsschlaf, Riesenbabies an der Brust ihrer gelben Ammen, die zwerghaft und verhuzelt unter den grauen Kautschukleibern kauerten. Die elektrischen Bogenlampen im Balkenwerk des Dachgewölbes sangen leise und warfen silberne Reflexe auf die metallisierte Hülle des deutschen Schiffes, das wie aus einem einzigen gewaltigen Stahlblock gegossen schien.
Die Mannschaft stand schon auf ihren Posten im Luftschiff, bis auf Bewermann, den Führer, der das Ausbringen überwachte, und den Ballonmeister, der in Leven bei den Reserven bleiben sollte. In dem fahlen Zwielicht, das sich zwischen den auseinanderrollenden Torflügeln durch die Halle ergoß und die Bogenlampen zu bleichen Monden entrückte, sahen sie alle grau und übernächtig aus. Tränlein, Schlaf und Unlust in den Augenwinkeln, drehte gedankenlos am Steuerrad und fuhr wie ertappt zusammen, als der Kontrollzeiger den Ausschlag des kombinierten Seitensteuers bestätigte, das durch die ganze Schiffslänge von ihm getrennt war. Hätte ich doch, dachte er verstimmt, der Order zum Trotz einen Kognak genommen. Aber da steckt einem die Disziplin im Blut und ist stärker als der gesunde Menschenverstand. Oder ist es Mach, dessen Wille uns allen bis an Tisch und Bett Gewalt antut?
»Büschen schlapp, was!« stichelte Braun, der sich giftete, daß man dem Jüngeren das Seitensteuer anvertraut hatte, und schlang sich mit weitausholendem Schwung einen dicken wollenen Schal um den Hals. »Ist noch ein Glück, daß der Alte euch um zehn in die Falle geschickt hat …«
Aber Merkli, der Führer-Stellvertreter, der den jungen Steuermann gut leiden mochte, lenkte ein:
»Das ischt nur die natürliche Reaktion auf die Nacht vorher; zwölf Stunden Seitensteuer gehen einem auf die Nerven.«
Braun wippte den Oberkörper, der aus nichts als Brustkasten zu bestehen schien, auf seinem kurzen und breiten Seemanns-Beingestell.
»Natürlich – Landratten, die eine Mütze voll Seeluft umschmeißt. Ich – ich habe von Hamburg aus andere Touren gemacht als diesen Heringsteich, über den ihr mit eurem Kahn da gegondelt seid.«
»Braun,« sagte Merkli gemütlich und richtete sich von den Flüssigkeitsmanometern auf, deren Stand er gerade kontrollierte, »Braun – wieviel Rum haben Sie in Ihren Morgentee getan?«
Die wasserblauen Augen des zweiten Steuermannes gingen unruhig hin und her.
»Sie wissen doch, ich bin erkältet, muß einen Steifen nehmen … Zum Teufel nochmal,« brach er wütend los und kriegte einen dunkelroten Kopf, »ärztliche Vorschrift, Herr …«
Die beiden Monteure am vorderen Motor platzten respektlos heraus; Tränlein aber fühlte, ohne aufzusehen, hinter den gekreuzten Drahtseilverspannungen des Laufganges die kalt forschenden Augen Machs, der in der Mittelkabine dem Vertreter der »Daily Post« die Stahlrohrkonstruktion seines Schiffes erklärte. Ingenieur Kitzenbrecher, der Erfinder, drückte sich in der Nähe der beiden Herren herum und suchte sich dem englischen Journalisten durch zustimmendes Räuspern in Erinnerung zu bringen; das Fieber der Angst und Ungewißheit, das ihn vor jedem Aufstieg krank machte, zirkelte rote Flecke auf seine hohlen Wangen. Herrn von Mach, der die Fähigkeit hatte, so nebenher alles zu sehen und zu hören, was ihm sehens- und hörenswert schien, paßte es, den Ingenieur zu übersehen; er nötigte seinen Gast durch den Laufgang, um ihm den Motoreneinbau zu zeigen – und um zu hören, was da vorne los war.
Wieder spürte Tränlein jene Welle der Erregung vor der Persönlichkeit des Direktors einherfluten, die sie alle stets aufs neue zu einer krampfhaften Überspannung ihrer Kräfte fortriß. Er bemerkte, wie Braun sich voller Eifer in ein nicht recht definierbares Tätigsein stürzte, und beobachtete verstohlen Machs beherrschtes Diplomatengesicht, dessen Blick ausdruckslos ins Leere zu verlaufen schien. Von den geblähten Flügeln der Nase, deren Rücken gerade und schneidend war, gruben sich zwei hochmütige Falten zu den Winkeln des schmalen und gekniffenen Mundes herab. Die glattrasierte Haut spannte sich bläulich über der brutalen Linie der Kinnbacken, aus der das Kinn wie eine geballte Faust vorsprang.
Monteur Obermaier klappte die Verschalung des vorderen Motors zurück. Er blieb ganz unbefangen und fletschte wohlwollend sein Wolfsgebiß, als er den beiden Herren im Knattern der ersten Explosionen eine kurze Warnung zuschrie. Der Direktor seinerseits, dem alle Vorurteile seiner Gesellschaftsklasse andern Lebenskreisen gegenüber das Rückgrat steiften, behandelte diesen einfachen Arbeiter mit ausgesuchter Höflichkeit. Das ist das Glück, niedrig geboren zu sein, dachte Tränlein mit einer Art von Neid. Man ist unbeschwert und kann nur heraufkommen, wo unsereins unter der Last der Tradition auf brüchiger Leiter zwischen oben und unten schwankt. Was lastet nicht alles auf mir und macht mich kleinmütig und gedrückt: die Orden meines toten Vaters, die Leutnantsuniform meines Bruders, der keinen Zuschuß hat, die Ängste meiner Mutter, die mich aus der Selbstherrlichkeit des Flugzeugs in diese aufgeblähte Gebundenheit bettelten, die Sehnsucht meines Blutes, der ich nicht Raum geben darf, die Schule und das, was sich Bildung nennt und aus neun Schubladen voll Vokabeln, Jahreszahlen und verstaubter Regeln besteht …
Nun betrat Herr von Mach mit seinem Gast die Führerzelle. Braun schickte sich an, stramm zu stehen, besann sich aber und wiegte jovial den Oberkörper. Merkli übernahm die Erklärung, in einem unbekümmerten Kauderwelsch, das zwischen Schulenglisch und Schwyzerdütsch die Mitte hielt. Der Engländer richtete den Glasscherben, den er im rechten Auge trug, aufmerksam auf den Mund des Sprechers. Nach einer Weile fragte er gelassen in akzentfreiem Deutsch:
»Bitte – sprechen Sie nicht Deutsch?«
Braun grinste, Merkli errötete, Herr von Mach verzog keine Miene. Er allein wußte, was von den andern nur Tränlein ahnte: Hier ging es nicht bloß um den Sonderpreis der »Daily Post« für dasjenige Luftschiff, das den Ozeanfliegern bis Rockall entgegenkommen würde – um diese lumpigen tausend Pfund, die kaum ihre Unkosten, geschweige denn ihr Risiko deckten; es ging um die Existenz ihres Unternehmens, das nur durch Eingreifen englischen Kapitals noch zu halten war, es ging um die Zukunft des Luftschiffes überhaupt, um dessen verwegensten Versuch, seinen Anteil an dem Triumph des fliegenden Menschen zu behaupten.
Von draußen steckte der Hüne Bewermann seinen Kopf mit dem Kindernäschen und dem kleinen, wie schmollend verzogenen Mund herein und rief:
»Bleiben Sie nur dort, meine Herren – Sie beide zusammen werden so ungefähr mein Gewicht haben. Ich balanciere aus.«
Die Haltemannschaft ließ locker – das Schiff war achtern überlastig. Merkli zog eine der Ventilleinen, die backbord in einem Rechen vereinigt waren, worauf achtern eine Wasserhose auf den durchlässigen Bretterbelag der Halle plantschte.
»Achtung – anlüften!«
Gleichmäßig hob sich das Schiff vom Boden ab.
»Gut.«
Herr von Mach fragte:
»Haben Ihre Leute die Schwimmjacken angelegt?«
»Ja.«
»Für wieviel Stunden Betriebsstoff haben Sie an Bord?«
»Benzin für vierzig Stunden.« Bewermanns jungenhaft helle Stimme wurde schmetternd: »Luftschiff – voraus!«
Das Schiff wurde ausgebracht. Kreischend rollten die Laufkatzen in den Seitenschienen neben ihm her und hielten es in Richtung.
Hinter ihnen war Trubel und Lärm. Die Engländer balancierten ihre Schiffe aus, um dem deutschen Kameraden das Geleit zu geben.
Als Bewermann sich in den Führerstand geschwungen hatte, stieg der K II senkrecht auf. Das Heulen der anspringenden Motoren verschlang das hundertfache Hip-hip-hurrah! des Marineflugplatzes, der unter ihnen versank. Über der Nordsee trieb die Sonne als ein brennender Ballon. Tränlein nahm den Kurs landein.
* * *
Tränlein umfuhr die verbotene Zone am Firth of Forth. Dann legte er das Ruder nach dem Fluidkompaß auf die Luftlinie Edinburgh-Glasgow fest. Noch über Edinburgh wurden sie von einem Geschwader Wasserflugmaschinen des Royal Flying Corps überholt, die dieselbe Richtung hatten. Durch den Auslug erblickte Tränlein den Schatten des Luftschiffes, der hundetreu vorauslief: groß, weiß und leuchtend, bis er langsam stumpf und dunkel wurde. Auf Steuerbord wanden Bergnebel Turbane um die runden Hochlandsgipfel, betteten sich in die Moore der Täler und zerfetzten sich an den zerklüfteten Hängen, die ungeschlacht und drohend in das flache Land einfielen. Aber die Hügelwellen auf Backbord funkelten nebelfrei im Erntegold ihrer Felder.
Die Ebene unter ihnen erstickte in der schwelenden Ausdünstung der Städte, Zechen und Stahlwerke. Auf den schwarzen Bogenlinien der Eisenbahnen krochen die trägen Schlangen der Züge; die weißen Rauchballen der Lokomotiven saßen ihnen im Nacken wie ein Frettchen der Natter, der es den Kopf zerbeißt. Die Bahnlinien waren Zeiger in das graueste Dunstmassiv: Glasgow. Der junge Steuermann sah auf fleckige Schieferdächer, zwischen denen düstere und vielgewundene Vorstadtgassen klafften, auf das Ameisengewimmel des weitausladenden George Square und auf die platten Schiffsverdecke im Hafen, die sich emsig durcheinanderschoben.
Dann zog das Meer heran. Es stieg aus seiner Unendlichkeit in die steinige Enge der Firths und Lochs. Das Schneegestöber der Möwen flitzte um braune Segel und die schwarzen Rauchfahnen der Dampfer. Felsenköpfe ragten mit weißen Halskrausen aus der glasgrünen Flut.
Der Führer ließ Braun Höhensteuer geben und postierte sich neben Tränlein:
»Vier Strich nach Steuerbord!«
Tränlein legte das Ruder herum und ging, ohne die Wirkung abzuwarten, über mittschiffs nach Backbord entgegen. Die Berginseln schwangen sich lautlos um ihre Achse, die Firths und Lochs glitten wie lockere Schleifenbänder im Tanz dahin. Nun hatte das Luftschiff Rückenwind und flog jauchzend nach Nord.
Über South Uist pendelte ein Fesselballon. Die Flugzeuge des Naval Wing waren, Mücken im Sonnenbrand, am Strande niedergegangen. Eines nur flog mit ihnen bis St. Kilda. Dahinter dehnte es sich indigoblau zu einem kaum merklich aufgebogenen Rand: Atlantik.
Torpedoboote zogen ihnen nach, weißen Gischt und schwarzen Rauch hinter sich. Ein hechtgraues Linienschiff löste ein Geschütz zum Gruß; Blitz und Rauch kamen aus seiner Breitseite, einen Augenblick später drang der Krach nach oben, matt wie durch Wasser hindurch und sogleich verschluckt von dem Siegestaumel der drei Motoren. Bewermann signalisierte mit der weißen Flagge: Alles wohl an Bord!
Vor St. Kilda wurde Tränlein von Merkli, Braun von Fahringenieur Hinrichsen abgelöst, den Bewermann durch das Sprachrohr aus dem hinteren Maschinenraum herbeirief. In der Kabine fanden die beiden Steuerleute den Klapptisch für sich gedeckt: der Direktor hatte vorgesorgt und machte den Wirt. An der drahtlosen Bordstation gab der Engländer seine Berichte auf, Werkmeister Kalousek bediente den Sender. Kitzenbrecher lehnte zusammengefallen in einem der Korbsessel, sein vorzeitig ergrautes Haar schien gesträubter und gesprenkelter als je.
»Legen Sie sich in die Hängematte, Tränlein,« sagte Herr von Mach, und seine Stimme hatte einen Unterton von Herzlichkeit, der den jungen Menschen verwirrte.
Tränlein legte sich und schloß erschöpft die Augen. Er horchte auf die Kehllaute des Engländers, auf das renommistische Seemannslatein Brauns, das an Kitzenbrecher gerichtet, aber für den Direktor bestimmt war, auf die schrillen Pfiffe aus dem Sprachrohr, durch das sich Herr von Mach in kurzen, harten Sätzen mit Bewermann verständigte, und auf das Orgeln der Motoren hinter den leichtgefügten Kabinenwänden. Er fühlte über sich dieses große, unbehilfliche, widersinnige Tier, das sich durch Gas aufwärts und durch Gasexplosionen vorwärts treiben ließ und als ein neuer Erdtrabant um das Gesetz der Schwere kreiste. Waren sie nicht hier zu dreizehn eine Welt für sich? … und waren doch die gleiche Welt der Gebundenheiten und Kleinlichkeiten, wie sie vertausendfacht dort hinter ihnen lag. Die geschlossenen Augen brannten ihm in Sehnsucht, zu fliegen: wieder einmal die Ausschwingungen der Flügelenden in den Fingerspitzen zu spüren und den rastlosen Rhythmus des Motors im Herzschlag des Blutes! Einsam einzutauchen in sein Element wie die Fische in der Tiefe.
Seine Gedanken wanderten aus dem enträtselten Geheimnis der Luft in diese gläserne Tiefe, die noch nicht geschändet war. Berge sind dort unten, dachte er, – Talländer und gewaltige Gebirge, deren höchste Erhebungen in unsern Alltag reichen. Auch Rockall ist solch ein Berg. Wesen sind dort unten, auf deren beschwertes Dasein sich die schimmernde Ahnung eines andern, höheren Daseins senkt. Was ist ihnen diese Scheide von Wasser und Luft, wo uns das Leben beginnt: Tod, Jenseits, Nichts?
Nikolaus Tränlein verfiel in einen unruhigen Halbschlummer, aus dem ihn Machs Stimme zum Tee rief.
»Wie alt sind Sie, Tränlein?« fragte Mach beiläufig, als er ihm die Wärmflasche herüberschob.
»Zweiundzwanzig,« antwortete Tränlein, voll Scham über seine Jugend, die Herrn von Mach ein neues Übergewicht über ihn gab. Hastig kehrte er mit Braun auf seinen Posten zurück.
Das Luftschiff schlingerte und stampfte, als die beiden Steuerleute durch den Laufgang schritten.
»Verdammt nochmal, hat der Kahn eine Schieflage,« brummte Braun und stapfte breitbeinig voran.
»Und die Nebel!« lachte Obermaier, dessen Motorstand sie gerade passierten, und zeigte mit dem Daumen durch die runde Schiffsluke.
»Hat man schon Ozeanflieger gesichtet?« fragte Tränlein gespannt.
Obermaier spuckte verächtlich durch die Luke:
»Keine Spur!«
Sie hatten jetzt Westkurs mit Seitenwind, der Tränlein zu schaffen machte. Am Höhensteuer fluchte Braun vor sich hin.
Bewermann beruhigte:
»Wir nehmen vor Rockall Wasserballast an Bord.«
Auch Direktor Mach fragte an; Bewermann telephonierte zurück:
»Das will nichts sagen. Wir sind jetzt um anderthalbtausend Kilo leichter, die wir an Betriebsstoffen verbraucht haben, und so müssen wir den Kahn mit dem Höhensteuer gewaltsam herunterdrücken. Außerdem haben die Heckzellen stärkeren Auftrieb als die Bugzellen, die durch den Luftzug abgekühlt sind.«
In diesem Augenblick sichteten Nikolaus Tränleins unverdorbene Augen mitten zwischen den einfallenden Nebelschwaden Rockall Island.
* * *
Nikolaus Tränlein hätte den hausgroßen Fels, der sich einsam in die blaue Unendlichkeit des Atlantischen Ozeans stemmt, schwerlich erkannt, wenn nicht ein Fesselballon darauf aufmerksam gemacht hätte. Auch bemerkte er zwischen einigen Fischdampfern der englischen Makrelenfischer einen Kreuzer, der nach der Startbahn an Bord nur das ihnen drahtlos avisierte Mutterschiff des Naval Wing sein konnte.
Bewermann verständigte sofort den Direktor, der mit dem Engländer herüberkam.
»Wir sehen von der Kabine aus nichts.«
Tränlein trat zur Seite und gab den Auslug frei.
»Rockall,« sagte Mach verkniffen.
» All right,« bestätigte der Mann von der »Daily Post« gleichmütig, »ich habe Rockall gesehen. Sie haben den Preis.«
»Wir müssen schleunigst wassern,« entschied der Führer und ließ durch Merkli unter dem Gondelbug die dreieckige rote Landungsflagge hissen.
Aber schon lichteten sich die Nebel. Araber in flatternden Gewändern stürmten auf weißen Hengsten heran, schleiergewandete Houris umtanzten den Bug, nasse Nixen tasteten mit lockenden Armen das Zelluloid des Auslugs ab, hinter dem der junge Steuermann auf die entschwindenden Richtungspunkte starrte. Weiße Finsternis stand um das Schiff, und die Motoren heulten doppelt laut.
Bewermann war mit einem Satz am Maschinentelegraphen und stellte den Hebel auf Rot: Achtung! – dann auf Leer. Der Sturmgesang der Motoren flaute ab, die Flimmerscheiben der Propeller wurden Schwert.
Grüne und rote Lichter tropften aus dem Nebel, Sirenen brüllten wie brünstige Stiere.
»Die Bordlaternen heraus!« schrie Bewermann. Merkli war schon dabei, die Lichter auszuhängen: weiß am Bug, grün nach Steuerbord, rot nach Backbord.
Im Laufgang zeigte sich das schlafmützige Gesicht des Fahringenieurs Hinrichsen.
»Soll das Hecklicht heraus?«
Bewermann war wütend.
»Natürlich, Mensch! Was kommen Sie da erst her!«
Merkli kletterte an Tränlein vorbei auf den Kompaßtisch.
»Man sieht nünt von der Landungsflagge.«
Er öffnete den Auslug, durch den es naßkalt hereinbraute, und schwenkte ein weißes Handlicht.
Stimmen stiegen aus dem Meere, hohl und widerhallend. Raketen zischten auf, und das grelle Auge eines Scheinwerfers wanderte im Kreis. Bewermann befahl die Motoren auf halbe Kraft und drückte das Luftschiff langsam herunter, um nicht mehr als nötig Ventil zu ziehen.
H. M. S. »Hermes« hatte Boote ausgesetzt, die in der Milchstraße des Scheinwerfers näher kamen. Da stellte Bewermann den Maschinentelegraphen wieder auf Leerlauf und löste das Landungsseil, das abrollend auf das Wasser klatschte und von der Besatzung des nächsten Bootes aufgefischt wurde. Das Luftschiff ruckte erst erleichtert aufwärts und senkte sich dann bugab.
Bewermann rief in das Sprachrohr:
»Laßt die Bordeimer nieder und holt Wasserballast ein!«
Alles, was die Hände frei hatte: Merkli, Mach, der Journalist, Kitzenbrecher, Kalousek, ließ hastig die Eimer über Bord, die sich unten gurgelnd füllten.
In diesem Augenblick stolperte Fahringenieur Hinrichsen durch den Laufgang und stotterte verstört:
»Achtern ist ein Dampfer!«
Bewermann stieß einen Fluch aus, schleuderte den Unglücksboten beiseite und hetzte geduckt durch den Laufgang zum Heck. Den Takt der Motoren übertönte sein Gebrüll, das vom Echo höhnend zurückgeworfen wurde:
»Dampfer zurück! Wollen Sie uns in Brand stecken! Zurück – zurück – zurück!«
Merkli aber riß eigenmächtig den Hebel des Maschinentelegraphen auf: Äußerste Kraft! und ließ, während die Motoren aufheulten, Höhensteuer geben. Das Luftschiff bäumte sich wie ein erschrecktes Roß; in der Kabine stürzten die Fahrgäste zu Boden, achtern krachte es, und über die Wasser schrillte ein Schrei. Merkli lehnte sich backbord hinaus: im Lichtbad des Scheinwerfers flog hundert Meter unter ihnen ein Mensch kopfüber steil empor.
»Herunter, Braun – es hängt einer im Landungsseil!«
Aber das Schiff gehorchte nicht, noch einmal durchschoß ein Körper pfeilschnell das Bündel Licht – steilab, Schreie und Aufprall waren eins.
»Der ischt zerplatzt,« sagte er betrübt.
Die Motoren verstummten wie von selbst. Durch den Laufgang kehrte Bewermann zurück, hinter ihm Mach. Schräg über des Führers Stirn, bis hart zur linken Schläfe, schnitt ein roter Streif wie von einem Degenhieb; über das geschlossene linke Auge strömte Blut.
»Was ist los?« fragte er und bezwang sich mit einer Anstrengung, die sein Jungensgesicht dunkel färbte.
»Ich habe Vollkraft voraus befohlen,« antwortete Merkli trotzig.
»Und haben uns das Heck zerschmettert,« ächzte Bewermann und packte eine der Stahlrohrstreben mit beiden Fäusten. »Hätten Sie wenigstens nicht Höhensteuer gegeben!«
»Dann wären wir in irgendwelche Schiffsmasten gerannt.«
»Und so haben Sie uns mit dem Heck in den Fockmast dieses vermaledeiten Heringsfängers gehauen, der mir nichts, dir nichts mit rauchendem Schornstein unter ein wasserndes Luftschiff fährt.«
»Sie waren fortgelaufen,« verteidigte sich Merkli unsicher.
Bewermann wischte mit der Hand über das linke Auge.
»Ist gut, Merkli. Bedanken wir uns bei Hinrichsen.«
Herr von Mach trat hinter den Führer.
»Sie haben sich an einem Spanndraht die Stirn geritzt.«
Während er ihn aus der Bordapotheke verband, fragte er:
»Was haben Sie beschlossen, Bewermann?«
Im Banne dieser unbewegten Stimme und dieser kühlen Hände war Bewermann sofort gefaßt.
»Merkli, wie hoch sind wir?«
Der Schweizer las den Höhenmesser ab:
»Elfhundert Meter.«
»Das hat uns gut heraufgerissen. Ist noch ein Glück, daß wir schon Wasserballast genommen hatten. Wir müssen wassern, um den Schaden nachzusehen. Geben Sie Notsignale, Merkli. Braun, Tränlein – aufpassen: ich lasse die Motoren laufen – gehen Sie vorsichtig in Spiralen herunter!«
Merkli löschte die Bordlichter und schwenkte das Buglicht. Das wirbelnde Scheibensieb der Bordsirene stöhnte hilfeheischend in das weiße Chaos. Tief unten suchte der Lichtarm des Kreuzers nach ihnen.
Der Führer rief ins Sprachrohr:
»Kalousek, telegraphieren Sie dem Kreuzer, daß wir manövrierunfähig sind.«
Werkmeister Kalousek entgegnete:
»Der Apparat funktioniert nicht mehr.«
Herr von Mach, noch am Ausgang zum Motorenstand, stieß einen Ruf der Überraschung aus:
»Bewermann – das Schiff stellt sich auf den Kopf!«
Der Führer warf einen Blick auf den Pendel:
»Nach hinten, wer kann!«
Alle hatten begriffen. Mach, Merkli, der Hilfsmonteur turnten, unter haltenden Griffen nach den Streben und Spanndrähten, die schiefe Ebene des Laufganges herauf, rissen in der Kabine Kitzenbrecher, Kalousek und den Engländer mit sich und langten atemlos beim hinteren Motorenstand an. Langsam hob sich der erleichterte Bug: das Luftschiff fiel in seine normale Lage zurück.
»Bleiben Sie einstweilen hier,« ordnete der Direktor an.
Er selbst telephonierte von der Mittelkabine aus mit dem Führer:
»Was bedeutet das?«
»Es müssen am Heck Stahlrohre geknickt sein – die Stabilisierungsflächen haben sich gesenkt und wirken jetzt als abwärts gerichtete Höhensteuer. Braun kann mit den Höhensteuern nicht parieren – die Steuerdrähte sind schlapp. Lassen Sie Ihre Leute langsam vorkommen, und so oft der Laufgang mehr als fünfzehn Grad Schräglage kriegt, ziehen Sie sich mit ihnen nach hinten zurück, um das Schiff wieder aufzurichten.«
»Können wir nicht wassern?«
»Dynamisch nicht, sonst stellt sich der Kahn immer stärker auf den Kopf und schießt senkrecht ins Meer – vorn ersaufen wir, und hinten sprengt der Überdruck das Heck ab.«
Herr von Mach winkte seine Leute herbei:
»Ganz allmählich wieder vorgehen!«
Dann beriet er weiter mit dem Führer:
»Also wie?«
»Zwei Möglichkeiten. Entweder ich ziehe alle Ventile und lasse den Kahn durchfallen, auf das Risiko hin, daß wir beim Aufprall zerschlagen oder unter dem Ballon ins Meer gedrückt werden. Bestenfalls ist zu hoffen, daß wir von den Booten aufgefischt werden; das Luftschiff müssen wir als Seetrift seinem Schicksal überlassen.«
»Und die zweite Möglichkeit?«
»Wir halten uns in der Luft, bis ich Art und Umfang des Schadens genauer festgestellt habe. Mehr kann ich im Moment nicht sagen.«
»Einen Augenblick, Bewermann.«
Herr von Mack ließ den Hörer sinken und wandte sich den andern zu. Ausdruck und Stimme waren beherrscht und höflich.
»Wir haben Schaden am Heck. Es gibt zwei Möglichkeiten für uns: das Luftschiff durchfallen lassen und uns in die Boote retten, oder ausharren und versuchen, den Schaden zu beheben. Mister Mirfield, Sie sind hier Gast – wünschen Sie das Schiff zu verlassen?«
Der Engländer putzte sorgfältig sein Einglas mit einem seidenen Tuch.
» No, aber meine Berichte abzugeben.«
»Die lassen wir in einer Leuchtboje über Bord. Die andern?«
Kitzenbrecher, totenblaß vor Erregung, schüttelte krampfhaft seinen grauen Kopf.
Fahringenieur Hinrichsen näherte sich vom hinteren Motorenstand. Die Tränen rannen ihm in seinen Spitzbart.
»Herr Direktor, ich kann doch nicht Englisch – ich wußte nicht, was ich dem Kapitän zurufen sollte.«
»Ist erledigt,« schnitt ihm Mach brutal ins Wort. »Scheren Sie sich auf Ihren Posten zurück! Achtung – das Schiff kippt wieder. Alles nach rückwärts!«
Wieder begann das Wettrennen mit dem Tode. Die Verspannungsdrähte schnitten zehnmal zehn Kreuze in ihren geduckten Lauf.
Wieder stand Mach am Sprachrohr. Er hatte die Kabinentüren hinter sich zugezogen. Sein Blick war geistesabwesend nach innen gekehrt, die Falten seiner Mundwinkel zuckten. Ein Funke sprang in seinem Auge auf, Überlegung ward Entschluß:
»Bewermann – es gilt nicht bloß unser Leben, es gilt auch unser Schiff, unsere Existenz. Wir müssen durchhalten.«
»Ich werde tun, was möglich ist, Herr Direktor.«
Bewermann hängte ab.
»Kinder,« sagte er und verzog seinen kleinen schmollenden Mund, »die Sache steht faul. Kippen wir, dann – über Bord. Schwimmjacken habt ihr ja. – Wir haben jetzt drei Uhr siebenunddreißig nachmittags, mitteleuropäische Zeit. Treiben unter 57° 36' nördlicher Breite und 13° 14' westlicher Länge mit zehn Sekundenmetern Südsüdwest – also etwa auf die Nordspitze der Färöer zu. Auch 'ne schöne Gegend. Na. So und jetzt« – er formte die Hände zu einem Trichter – »jetzt brauche ich Sie, Obermaier.«
Obermaier pfiff dem Hilfsmonteur und kam herbei.
»Obermaier, es ist etwas am Heck kaput. Wir müssen wissen, was los ist. Wenn möglich, reparieren.«
»Schon recht, Herr Bewermann.«
»Sie, Obermaier, fallen Sie nicht.«
Der Mechaniker fletschte lachend sein Wolfsgebiß.
»Keine Spur.«
»Ja, aber dann brauchen wir noch einen, der Sie anseilt und Ihnen die Werkzeuge reicht. Hallo – Merkli soll mich hier vertreten.«
Tränlein meldete sich:
»Ich bin ein guter Turner, Herr Bewermann.«
Bewermann drehte sich langsam nach ihm herum.
»Das wäre … ne, ne – ist schade um Sie.«
Braun schneuzte sich geräuschvoll in ein blaugewürfeltes Taschentuch. Der Führer streifte ihn mit einem flüchtigen Blick und sah dann nachdenklich zu Kalousek hinüber, der sich mit Machs Schar durch den Laufgang heranpirschte. Aber Tränlein war hartnäckig und ohne seine eingeborene Scheu. Eine Sekunde lang – als er Bewermann mit Mach telephonieren hörte – war es ihm wie ein staunendes Erwachen aus langem Traum durch den Kopf gegangen: also so sieht das Sterben aus … Sonderbar, dachte er, daß das so gar nichts in einem aufrührt – weder Furcht noch Sehnsucht, kaum ein wenig Feierlichkeit. Und wie sonderbar, daß, wenn ich jetzt sterbe, ich doch für meine Mutter noch weiterlebe – bis sie die Nachricht hat … Die Stimme zitterte ihm in der Anspannung, seinen Willen durchzusetzen:
»Sie haben Frau und Kinder, Herr Bewermann.«
Der Hüne fuhr auf:
»Tod und Teufel, das fehlte mir gerade! Ne, junger Mann – nun bleiben Sie mal hübsch an Ihrem Rad.«
Da fiel es ihm herrisch ins Wort:
»Sie sind für die Führung verantwortlich und haben zu bleiben.«
Direktor Mach stand im Eingang.
»Ich danke Ihnen, Tränlein – Obermaier.«
Und mit einem Anflug von Galgenhumor fügte er hinzu:
»Darf ich bitten – das Schiff macht gerade wieder seine Verbeugung.«
Sie liefen den stampfenden Gang empor.
»Ein gesundes Training,« sagte der Engländer trocken.
»O ja,« pflichtete der Direktor verbindlich bei, »man vertritt sich ein wenig die Beine.«
Die lange Reihe der Wassersäcke und kommunizierenden Benzinbehälter über ihnen, die nach dem Bug zu abzurutschen schien, legte sich in die Wagerechte zurück. Hinter dem zweiten Maschinenraum waren Taue, Anker, Werkzeugkasten und Ersatzteile verstaut. Der dreikantige Stahlkiel, der unter dem ganzen Ballon verlief, verengte sich hier und bog sich schnabelartig zum Heck empor. Obermaier suchte aus dem Hellegatt das nötige Werkzeug zusammen, seilte sich an und begann den Einstieg. Vorsichtig aufwärts kriechend, leuchtete er mit einer elektrischen Taschenlampe den Längskiel und die Querspanten ab, knöpfte stellenweise die Stoffbespannung auf und beklopfte die nahtlos gezogenen Rohre.
Tränlein stand unter ihm, die Füße gegen zwei Streben gestemmt, das Seil gesichert. Das metallisierte Segeltuch der Bespannung umschloß sie wie eine eckige Röhre aus gewebtem Nebel. In regelmäßigen Zwischenräumen stellte sich diese Röhre zum Kamin und fiel dann schaukelnd zurück. Tränlein war es, als ob er auf dem Meere selber schaukle, das da tausend Meter unter ihnen rollte. Er kämpfte mit einer Übelkeit, die aus seinen Eingeweiden aufstieg und von innen gegen seinen Schädel preßte. Jeder Hammerschlag hallte als eine Armee von Hämmern in seinem Ohre wider.
Der Monteur pfiff: er hatte die Stelle entdeckt, wo die Mastspitze des Heringsfängers durch die Stoffverkleidung des Achterstevens gestoßen war; dicht dabei hatte ein zweiter Zusammenprall eines der Kielrohre geknickt. Die Steuerdrähte hingen außenbord schlaff herab. Da zogen sich die beiden aus der unbestimmten Dämmerung des Kamines in den kippenden Laufgang zurück, riefen im Vorüberkommen den Kameraden ein paar beruhigende Worte zu und erstatteten dem Führer Bericht.
»Einen halben Meter hoher – und er hätte uns ein schönes Loch in die Hülle gerissen,« versicherte Obermaier und zeigte die Zähne.
Nachdenklich schob Bewermann die blaue Schirmmütze aus der Stirn.
»Das geknickte Rohr auswechseln, ist unmöglich. Schient es, so gut es geht, und sucht dann außenbord an die Steuer heranzukommen.«
Sie hatten gut eine Stunde Arbeit, das Rohr zu stützen, ehe Obermaier sich über die geschwächte Stelle hinaus wagen durfte und oberhalb davon durch die gereffte Bespannung verschwand.
Auf dem Bauche liegend, beobachtete Tränlein aufmerksam das gestützte Kielstück: würde es der Mehrbelastung standhalten oder würde das Heck sich vollends senken? Seine Aufmerksamkeit war die des Fachmannes, der die Probe auf seine Arbeit macht. Obgleich sie beide der Gefahr näher waren als die andern, so fühlte er sich doch außer ihr: seit er sie unmittelbar vor Augen hatte, war die Erregung seiner Nerven einer rein sachlichen Betrachtung gewichen. Das Halteseil, das er weiter unten am Längskiel gesichert hatte, glitt ruckweise durch seine Hände; die Steuerdrähte, deren gerissene Enden Obermaier in das Seil verknotet hatte, folgten mit schlängelnden Bewegungen. Sie waren Lebenszeichen und verlängerte Organe dieses Menschen, der dort draußen an dünnen und vielleicht gebrochenen Stahlstangen in das Ungewisse turnte, das unter ihm mit offenem Rachen auf der Lauer lag.
Danach blieben Halteseil und Steuerzüge lange Zeit unbeweglich. Tränlein wurde unruhig und zwängte den Oberkörper durch den Riß in der Stoffverkleidung. Aber draußen war nichts als Nebel. Schon auf Armweite löste sich der silberne Leib des Schiffes in milchichte Wogen. Irgendwoher kam kreischendes Geräusch, in gleichmäßigen Abständen heulte die Sirene dumpf und schmerzhaft auf. Sie trieben haltlos im Chaos des Raumes. Verdammte Seelen – ging es Tränlein durch den Sinn –, verdammte Seelen, angeklammert an das Wrack ihrer Hoffnungen, hinausgestoßen in die Ewigkeit …
Aber dann stand irgendwo der singende Ton, den er stets fühlte, ehe er ihn hörte, und der ihn immer wieder beglückte. Er stand in Lüften wie Gesang der Sphären; die Nebel selber sangen. Er schwoll im Näherkommen orgelnd an, und Tränleins Herz jubelte ihm entgegen. Ihm war, als sehe er das dreigeteilte Licht am Bug des fliegenden Bootes, das da irgendwo südwärts von ihnen die neue unsichtbare Brücke über den Atlantik schlug: den himmlischen Regenbogen neuer Möglichkeiten.
Sein Herz wurde voll von einer wunderbaren Zuversicht: wie könnten wir verstoßen sein! Aus dem wracken Luftschiff brachen Rufe, und das Meer gab hohl und hundertfach die Antwort: wie könntet ihr verstoßen sein! Das kreischende Geräusch in den Steuern war verstummt, und eine Stimme, die Tränlein kannte, fluchte verblüfft ihr:
»Donnerwetter!«
Dann setzte das Kreischen mit verstärktem Eifer wieder ein – aber nun klang es wie ein fröhliches Lied zum Marschtakt unsichtbarer Soldaten.
Sie dachten nicht daran, daß auch die dort im fliegenden Boot Verirrte waren, daß sie vielleicht in dumpfer Verzweiflung das unerbittliche Fallen der Benzinuhr verfolgten und mit geröteten Augen in die weiße Wand starrten, die stumm vor ihrem brüllenden Anlauf hielt und doch immer gleich weit und undurchdringlich blieb.
Aus einem ovalen Nebelausschnitt trat dem jungen Steuermann, wie aus einem Rahmen der Großvaterzeit, das rührende Bild von Brauns Mutter entgegen: wie sie inmitten der aufgeregten Mannschaften des Fuhlsbütteler Flugplatzes verschrumpft und in ihr Umschlagtuch gehüllt Stunde um Stunde auf die Rückkehr ihres Sohnes harrte, der bei einer der Übungsfahrten über See mit dem Luftschiff verschollen war. Sie lächelte freundlich und verständnislos, wenn man sie tröstend ansprach: was wollten diese feinen Leute von ihr? Ihr Sohn wird schon wiederkommen – natürlich wird er wiederkommen. Ist eine Seemannsmutter es denn anders gewöhnt? Einmal war er drei Jahre fort, und ein Jahr lang blieb sie ohne Nachricht – aber er ist doch wiedergekommen. Und nun, keine vierundzwanzig Stunden, seit er ihr die Hand gegeben hat: »Adjüs ook, Mutting!« … was machen sich die Leute da um ihn Sorgen?
Und er war wiedergekommen … und würde auch diesmal heimfinden.
An diese einfältige alte Frau mußte Tränlein denken – und nicht an seine eigene Mutter.
Fern, ganz fern summten die Motoren des fliegenden Bootes.
Herr von Mach ließ sich durch Kalousek erkundigen, wie es mit der Ausbesserung stehe. Tränlein fragte in den Nebel hinein – Obermaier schrie zurück:
»Abwarten!«
Nach zwei Stunden schrillte sein Signalpfiff. Tränlein, dem alle Glieder vom Liegen auf den Rohren schmerzten, faßte das Seil fester. Er wußte: jetzt trat Obermaier den halsbrecherischen Rückzug an. Die Sekunden zerdehnten sich qualvoll – dann schwang sich der sehnige Körper des Monteurs in den Steven.
»Das wäre getan.«
Er überturnte vorsichtig die geschwächte Stelle und seilte sich ab. Er war ganz erschöpft. Tränlein versorgte das Werkzeug.
Sechs Augenpaare sahen ihnen erwartungsvoll entgegen. Herr von Mach hatte in einer glücklichen Eingebung ein Laufgewicht herrichten lassen, das nach Bedarf durch Seilzug verschoben wurde und das Hin- und Herrennen der ermüdeten Mannschaft unnötig machte. Er begleitete Obermaier und Tränlein zur Führerzelle.
Bewermanns Augen lachten sie an.
»Sind die Steuerzüge wieder in Ordnung?«
»Das schon …«
»Aber –?«
»Backbord sind die Steuerflächen verbogen und unbrauchbar.«
»Aber mir scheint doch, der Kahn kippt jetzt weniger!«
Obermaier grinste.
»Ich habe die Bespannung der horizontalen Stabilisierungsflächen gerefft, soweit es ging.«
»Alle Wetter – da oben haben Sie sich hinaufgetraut?« staunte Bewermann und stellte erfreut den Maschinentelegraphen auf: Achtung – Langsam!
Die Motoren erhoben gedämpft ihre Stimmen, die flatternden Luftschrauben schwirrten wieder.
»Braun, halten Sie vorsichtig mit dem Höhensteuer gegen!«
Das Luftschiff stampfte, aber es kippte nicht mehr.
»Ostkurs nehmen, Merkli! Einen Strich Abtrift verrechnen!«
Der Schweizer handhabte das Rad, den Blick auf den Kompaß gerichtet. In der Gegenstandslosigkeit des Nebels wußte niemand, ob das Schiff dem Steuer gehorchte.
»Wo sind wir?«
Der Führer zuckte die Achsel.
»Wenn sich Windstärke und Windrichtung gleich geblieben sind, zweihundertfünfzig Kilometer nördlich von Rockall. Wir sind zu hoch, um zu loggen.«
»Das wären« – der Direktor beugte sich über die Karte – »vierhundert Kilometer bis zu den Hebriden.«
Da sahen sie, daß Merkli das Steuerrad losgelassen und sich nach ihnen umgewendet hatte.
»Der Kahn hält nicht Kurs,« sagte er leise.
Eine Weile schwiegen sie alle. Dann heulte die Sirene melancholisch in das eintönige Rattern der Motoren. Sie trifteten steuerlos im Atlantik.
Sie waren so voller Hoffnung gewesen – nun schlug sie die jähe Erkenntnis ihrer Lage nieder. Braun, der schon längst sehr still geworden war, priemte nervös; Obermaier tobte am Motor herum. Der Führer hielt den Kopf gesenkt, es war ihm leid um diese jungen Leben.
»Bewermann!«
Der Anruf des Direktors prallte von ihm ab. Gleichgültig ordnete er das Nötige an:
»Motoren leer laufen lassen. Fortwährend Notsignale geben. Merkli an den Ventilrechen, Tränlein an den vorderen Auslug – auf Schiffssignale achten. Braun mit äußerster Vorsicht auf hundert Meter heruntergehen.«
Herr von Mach trat neben den Führer. Sein Gesicht war weiß.
»Sie wollen das Luftschiff aufgeben?«
»Was bleibt uns übrig? Obermaier hat gewiß sein möglichstes getan.«
Das unbewegliche Gesicht des Direktors nahm den nach innen gekehrten Ausdruck erbitterter Gedankenkonzentration an. Niemand sprach mehr ein Wort.
Herr von Mach griff nach der Karte.
»Wir treiben in der Richtung auf die Färöer zu?«
»Vermutlich.«
»Das sind noch vierhundert Kilometer. Ist auf den Färöern Landungsgelegenheit?«
»Ausgeschlossen.«
»Hm. Aber auf Island ist ein Stützpunkt für die Ozeanflieger der Route Kap Farvel-Reykjavik errichtet?«
»Ja« – Bewermann horchte auf.
»Das sind vierhundertfünfzig Kilometer, wenn wir mit dem Wind und mit voller Maschinenkraft fahren, könnten wir die in vier Stunden bewältigen.«
Bewermann lächelte gutmütig.
»Wenn der K II heil und frisch wäre. Übrigens würden wir nicht einmal genau Rückenwind haben.«
Braun fuhr auf:
»Entschuldigen, Herr Bewermann – ich kenne hier die Gegend. Der Fog, den der Südwind hier niederschlägt, geht gewöhnlich bald in Regen über. Und wenn wir erst die Höhe von Färöer haben, können wir fast mit Sicherheit auf Ostwind rechnen.«
»Das wäre –! Mensch! … Wenn sich das Drehmoment nur einigermaßen parieren ließe … Vielleicht, wenn wir backbord den vorderen Propeller ausschalten? Na, ob wir so oder so draufgehen … Die andern drei Propeller einschalten! Schiff in den Wind stellen! Volle Kraft voraus!«
Donnernd verstärkte sich das Knattern der Motoren, die Sirene brüllte: Schlachtgesang! Schlachtgesang!
Draußen löste sich der Nebel in Regen.
* * *
Nachts zwei Uhr dreizehn Minuten mitteleuropäische – elf Uhr fünfundvierzig Minuten isländische – Zeit meldete die Steuerbordwache auf Torpedobootszerstörer »Svift«, der über Order zwischen Island und den Hebriden kreuzte, das Passieren eines großen Flugzeuges, mit Kurs nach Norden.
»Nach Süden!« versetzte der wachthabende Offizier tadelnd und suchte durch das Nachtglas den östlichen Himmel ab, an dem einzelne Sterne bleichten. »Haben Sie denn nicht die Lichter gesichtet?«
»Zu Befehl – Backbordlicht und Hecklicht.«
»Also doch nach Norden,« berichtigte sich der Wachthabende betroffen und nahm auf gut Glück die Verfolgung der Flieger auf.
Aber die siebenhundertundzwanzig Pferdekräfte des K II erwiesen sich den dreißigtausend Pferdekräften des englischen Turbinenbootes als überlegen: das Flugschiff kam nicht wieder in Sicht. Dagegen wurden die Wachen auf mehrere im Wasser qualmende Phosphorkalziumpatronen aufmerksam, die anscheinend von den Fliegern zur Bestimmung der Windversetzung ausgeworfen waren. In gleicher Richtung damit fischte man eine Leuchtboje auf. Dem Kommandanten, der angesichts der Sonderbarkeit des Falles aus seiner Koje geholt worden war, wurden als ihr Inhalt zwei Schriftstücke übergeben – ein dickes und ein dünnes. Das dicke trug auf seinem Umschlag folgenden Vermerk:
»Bitte Bericht drahtlos an ›Daily Post‹ befördern. Drahtlose Luftschiffstation kaput. Mirfield.«
Das zweite Schriftstück lautete:
»Verkehrsluftschiff K II, Nationalität deutsch, Heimatshafen Hamburg, Führer Bewermann, Besatzung 13 Mann.
Unter 63° nördlicher Breite, 12° westlicher Länge. 1,05 Uhr W. E. Z.
Laufen wegen Steuerdefekt Flugstützpunkt Reykjavik an. Bitten um drahtlose Verständigung an Ballonmeister Müller, Leven. Bitten ferner, uns zu eventueller Hilfeleistung zu folgen.
Gez.: Bewermann, Diplom-Ingenieur.«
Man hatte auf dem K II sehr wohl die Lichter des Torpedobootes bemerkt, das backbord in ihrem Kurse dampfte. Aber Bewermann war gegen jeden Aufenthalt, der ihnen nach Lage der Dinge doch nichts hätte nützen können. Nachdem man sich einmal zu dem Versuch entschlossen hatte, das Luftschiff an Land zu bringen, kam alles darauf an, eine Fahrt nicht zu verlängern, die an Schiff, Maschinen und Mannschaft bereits die äußersten Anforderungen stellte. Die astronomische Navigation mit Hilfe des Ballonsextanten hatte, seit sie aus der Region des Nebels herausgekommen waren, keinerlei Schwierigkeiten mehr.
Der Ballon stampfte und schlingerte, Kitzenbrecher lag seekrank in der Kabine, der Engländer schlief. Die andern waren auf ihrem Posten, in jenem Zustand der Zerschlagenheit und Übermüdung, in dem alle Sinne doppelspürig sind und der Geist wie im Traume handelt.
Im Auslug sah Tränlein sich den Wandel der Stunden vollziehen. Graue, schwarzbäuchige Opfertiere, lagen die Wolken auf dem Ostrand der Welt. Weiße Priester, noch lichthell vom Abschiedsgruß der toten Sonne, standen darüber gebeugt; Rauchstreifen stiegen von den verbluteten Opfern an den weißen Gewändern vorüber in den mattblauen Himmel.
Der Heiligenschein der Erde legte sich um den Pol: in einem grünlichen Strahlenkränze, der voll geheimen, zitternden Lebens war. Die Magnetnadel in Tränleins Steuerkompaß wurde unruhig wie ein Kettenhund zur Geisterstunde. Sie irrte witternd gen Abend und wich dann vor dem zuckenden Tanze violetter Garbenbündel in den Morgen, bis die Flammenkrone ihres geheimnisvollen Gebieters sie wieder auf Mitternacht bannte. Kalousek kam bestürzt aus der Kabine herüber, wo er die drahtlose Bordstation in Ordnung zu bringen suchte; er behauptete, elektrische Entladungen und über der herabhängenden Antenne das Aufleuchten eines Blitzes wahrgenommen zu haben.
Später wanderte das Zwielicht des langen Tages am Nordhimmel von West nach Ost. Die Kugel des Raumes füllte sich mit Helle, der Schnee der Wolken flammte auf, feurige Pfeile schossen über den östlichen Meeresrand, die Sonne hob ihre blutige Faust. Der Schatten des Luftschiffes schwamm backbord auf gelbweißem Nebel, umrahmt von einer Aureole aus blau-gelb-rot-violetten Ringen. Durch die Morgendünste brechend, zog die Sonne hellgrüne Streifen in die graue und stürmische See. Das Patentlog, das im Wasser schleifte, änderte seine Richtung zum Schiff: der Wind kam jetzt aus Osten. Tränlein stellte das widerspenstige Fahrzeug hartnäckig in ihn ein.
Und dann begab sich das Wunder der erfüllten Hoffnung: geradeaus blendete das Licht des jungen Tages auf einem weißen Zackenstrich. Der Mann am Auslug griff zum Fernglas.
»Zwanzig Knoten Westnordwest voraus Land in Sicht!« meldete er dem Führer.
* * *
Einsam donnerte das Meer um schwarze Vorgebirge, die überhingen, und um zernagte Klippen, eingehüllt vom Staub der Brandung. Es schäumte küstennah durch Felsentore und um Riffe, die gleich erstarrten Flammenzungen zu flackern schienen. Es schuf zerstörend neue Inselformen, die Tränlein äfften: wracke Schiffe, Burgen, Türme, Erker, grünbemützte Häupter und Totenschädel, in deren leere Augenhöhlen die Brandung flimmernde Lichter warf. Grüne Mulden und braune Grate waren mit weidenden Schafen hell betupft; von den senkrechten Inselwänden hoben sich Schwärme kreischender Flocken: Millionen Möwen, Seeschwalben, Sturmvögel, Seepapageien. In einer Bucht lag ein toter Wal auf dem Rücken, gedunsen wie ein Ballon.
Wo sich die graue Uferlava des Festlandes flachte, war manchmal eine Handvoll winziger Häuser ausgesät. Darüber standen die zerrissenen Hänge, in deren Falten und Zacken ewiger Schnee gebettet war. Von der stumpfen Pyramide des Eyafjallajökull floß weißblau ein Gletscher; in den braunen Basaltwogen des Hinterlandes schaukelte die verschneite Hekla.
Der Schaukeltanz der Berge wurde toller, und Tränlein wußte nicht, ob es das Luftschiff war, das so stampfte, oder ob er selber schwanke. Er hörte neben sich die Stimme des Führers, die ihm seltsam fremd und unwirklich klang:
»Aushalten, Tränlein! Nun hat's bald ein Ende.«
Der junge Steuermann nickte und biß die Zähne zusammen.
»Diese Zangenbucht da, jenseits der Landzunge – das muß der Farafjördur sein. Braun – Höhensteuer!«
Die Küste sank zurück; jenseits der Landzunge tauchte steuerbord der Hafen von Reykjavik auf.
»Jetzt kommt es darauf an: nehmen Sie Kurs nach Norden, Tränlein!«
Tränlein legte das Ruder herum und wartete gespannt auf die Wirkung. Der K II rollte und ächzte; unten zog ein Strudel Land und Meer in seinen Wirbelkreis.
»Was – er will nicht, er trudelt im Kreis?« brach Bewermann los. Die ungeheure Überreizung des dreißigstündigen Dienstes entlud sich in einem Wutanfall. »Hund, verdammter – ich will dir!«
Er riß Tränlein das Steuerrad aus der Hand und steuerte mit rasenden Griffen.
Lavafelder glitten unter ihnen, schwarze Bergwände verschoben sich auf Steuerbord – in ihrem Windschatten rückte das Luftschiff vor, drehte sich über zwei Buchten, drehte sich nach der dritten Bucht … rote Hausdächer und Fahnen aller Farben, ein Platz voll aufgeregter Menschen um ein plattgedrücktes Denkmal herum, das Tränlein an dem Schatten als ein Standbild erkannte …
»Reykjavik,« knurrte Bewermann, wie ein Hund über dem Knochen, den man ihm rauben will.
Schiffsverdecke mit Flaggenschmuck und weißem Pfeifenrauch, der Eselsschrei eines Nebelhorns im blauen Sonnentag …
»Dänischer Kreuzer,« stellte Braun sachverständig fest, und: »Ein dänisches Schulschiff – ein englisches Torpedoboot – ein Hapagdampfer – Privatjachten, scheint es …«
»– und ein fliegendes Boot!« rief Tränlein.
Die obere Tragfläche eines großen Flugzeuges breitete sich wie ein helles Verandadach auf dem Meere.
Inseln kamen im Bogen näher … offenes Meer … die Landzunge von Reykjavik …
»Flugschuppen!« rief Tränlein. »Sie signalisieren!«
Vorbei. Lavafelder in flutender Bewegung … ein kleiner grüner See … ein Berg, der sich vor ihnen aufrichtete wie, von einem Motorboot aufgestört, ein Flußpferd aus dem Schlamm … nochmals Häuserdächer und Menschengewimmel … nochmals Meer, Lavagrau und der drohende Flußpferdrücken – das Luftschiff scheute und stieg.
»Der Wind steht auf den Berg zu, es reißt uns herauf!« schrie Braun.
Bewermann musterte das Gelände: zwischen Landsee, Berg und Meeresarm eine silbrige Ebene, mit einzelnen Erdhaufen und Lavablöcken.
»Hundertfünfzig Meter,« antwortete Merkli.
»Motoren stopp!«
Wie mit einem Herzschlag standen die Motoren still.
Bewermann überließ Tränlein wieder das Steuerrad, knebelte die beiden Reißleinen los und warf die eine Merkli zu.
»Die Gasventile ziehen! Dann reißen!«
Die Ebene hob sich ihnen wie eine flache Riesenhand entgegen. Sie fielen senkrecht.
»Achtung!«
Tränlein, die Hände um das Steuerrad gekrampft, spreizte federnd die Beine, Braun machte Klimmzug, die Monteure hielten mit der Linken eins der Stahlrohre gepackt, mit der Rechten die Anlaßkurbel der Motoren.
»Los!«
Die Reißleine um die Faust gewickelt, sprang Bewermann über Steuerbord in die Liefe. Tränlein sah ihn auf dem silbrigen Moos der Ebene in die Knie stürzen. Im gleichen Augenblick haute das Luftschiff krachend auf. Der junge Steuermann fühlte es als Fußtritt gegen den Bauch und knickte vornüber zusammen.
»Reißen!« brüllte die Stimme des Führers.
Das Schiff war wieder emporgeschnellt – Bewermann, der die Leine nicht lassen wollte, wurde mitgerissen.
»Reißen!« gellte seine Stimme noch einmal, sich überschlagend.
Merkli hing mit aller Kraft an der zweiten Leine.
Das Luftschiff kehrte im Bogen zur Erde zurück, prallte wieder auf … stand zitternd … hob sich nicht mehr. Bewermann, die Leine in der Faust, lag regungslos am Boden.
»Nicht herausspringen!« befahl Merkli, das Kommando übernehmend.
Die Mannschaft warf verblüffte Blicke zum Ballonbauch empor. Sie war darauf gefaßt, die riesige Hülle aufgerissen über sich zusammensacken zu sehen – doch der Ballon blieb prall. Die Reißleinen hatten beide versagt, die Klinken sich nicht ausgehakt.
In der Ferne sah Tränlein Menschen rennen.
»Hierher!« schrie er und suchte das bißchen Dänisch Kopenhagener Luftschiff-Tage zusammen: » Hold Gondolen fast!«
Aber die Menschen rannten fort.
Etwas anderes jagte heran – ein Auto parierte kurz, vier Männer im Sportsdreß ergriffen das Landungsseil, das Merkli losgebunden hatte; der fünfte, dick und unbeholfen, blieb schnaufend sitzen.
» Good morning,« grüßte der eine – weißhaarig, glattrasiert, pergamenten – und legte die Hand an die Klubmütze.
» Good morning,« antwortete es gelassen aus der Kabine. Mister Mirfields Einglas schaute über Bord. »Ist hier ein Telegraphenamt?«
»Im Ort,« sagte der Weißhaarige.
Einer der andern vier, die Lederjacke über dem schlenkernden Sakko, klemmte gleichfalls ein Monokel ein. Tränlein erkannte mit einem Stich der Überraschung dieses junge, verlebte Gesicht, dessen Mundwinkel nervös oder spöttisch zuckten.
»Nadler!« entfuhr es ihm.
Nadler winkte ihm ohne Überraschung zu.
»Ihr seid schon drahtlos gemeldet,« rief er zurück.
Merkli hatte nochmals kräftig Ventil gezogen.
»Obermaier, Kalousek über Bord! Luftschiff gegen den Wind einstellen!«
Obermaier versuchte draußen die geballte Faust des ohnmächtigen Führers zu öffnen, die noch immer die Reißleine hielt. Da ihm das nicht gelang, schnitt er die Leine kurzerhand hinter dem Knebel durch. Dann zerrte er mit Hilfe Kalouseks und der Automobilisten das Flugschiff gegen den Wind und schlang, ohne Rücksicht auf den dicken Insassen, das stählerne Ankerkabel einige Male um den Kraftwagen.
Tränlein spürte Erdenschwere durch den Bretterbelag der Gondel steigen und seine Glieder gleich dem Luftschiff verankern. All das Schwebende, Unbestimmte, Schiffsmäßige der letzten dreißig Stunden wiegte nur noch als ein traumhafter Schwindel in ihm.
»Erde,« dachte er ungläubig, »Erde …« und reckte seine steif gewordenen Arme.
»Alles nach vorn!« ordnete Merkli an. »Hinrichsen, Sie bleiben mit zwei Monteuren an Bord. Bitte, Herr Direktor.«
Mach kam mit dem Engländer durch den Laufgang. Hinter ihm wankte Kitzenbrecher, aschgrau und verfallen.
»Nach Ihnen,« sagte der Direktor höflich und ließ dem Journalisten den Vortritt.
Er selbst trug den Verbandskasten und begab sich sofort zu Bewermann. Der weißhaarige Sportsmann kniete bereits bei dem Bewußtlosen und rieb ihm mit Kölnischwasser die Schläfe. Tränlein, unsicher in der ungewohnten Sicherheit des Erdbodens, schüttelte Nadler die Hand. Er hatte ihn als einen abgerissenen und sentimental verzweifelten Burschen in Erinnerung und musterte nun verwundert seine amerikanische Eleganz.
»Ja, mein Lieber, ich habe mich herausgemacht, seit wir in Johannisthal zusammen auf Flugschule waren,« trumpfte Nadler auf.
»Ich wußte gar nicht, daß du den Ozeanflug mitmachst.«
Nadler lachte und zeigte mit dem Daumen auf den alten Herrn.
»Jawohl – auf der Jacht Vandersteppens. Er hat alles mitgebracht – sein Auto, uns, unsere Maschinen, unsere Manager, sogar unsere Mäuschen.«
»Ist das der reiche Amerikaner?«
»Derselbe.«
»Und wer sind die andern?«
»Der Dicke ist Mister Kobes – Agent, Gründer, Schieber, was du willst. Im Nebenamt mein Portemonnaie. Der kleine frechschnauzige Kerl da ist Rolla. Fliegt jetzt Owam-Doppeldecker. Der mit der Bulldogg-Visage ist Rupf, sein Manager.«
»Verbindlichsten Dank für Ihre Hilfe,« hörten sie Herrn von Mach sagen.
Der Amerikaner wehrte trocken ab:
»Hätten lieber meine Jacht benutzen sollen.«
Der Ohnmächtige regte sich, Mach öffnete ihm sanft die blutige Faust – Tränlein sah, daß die Finger bis auf die Knochen durchgerieben waren.
»Wie geht es Ihnen, Bewermann?«
Der Führer schlug die Augen auf.
»Was ist –? Ja so …«
Herr von Mach reinigte und verband die verletzte Hand.
»Haben Sie Schmerzen?«
»Ein wenig Schädelbrummen. Hat nichts zu bedeuten. Lassen Sie mich aufstehen.«
Braun und Tränlein richteten ihn auf, Vandersteppen holte eine Flasche Kognak aus seinem Wagen, die ihm Braun diensteifrig abnahm. Der Verwundete trank.
Isländer, gruppenweise wettrennend, sprengten auf flinken und struppigen Ponies heran: Städter und Städterinnen, Knaben und Mädchen, Fischer und Bauern. Mister Mirfield, der gerade das Luftschiff photographierte, eilte auf den ersten besten Ponyreiter zu. Tränlein sah ihn heftig auf den Mann einreden, der sich stumm und mißtrauisch verhielt, und andere Reiter die beiden umringen. Ein Mädchen mischte sich ein: blond, blauäugig, von schönem Ebenmaß. Sie trug die Volkstracht der Isländerinnen, doch stak die lange Fransentroddel des runden, schwarzen Kopftuches in silberner Hülse, und das dunkelblaue Wollkleid, aus dessen Mieder die Ärmel und der gestärkte Brusteinsatz der Hemdbluse schneeigweiß erblühten, war von einem reichverzierten Silbergürtel umschlossen. Augenscheinlich bot sie dem ungeduldigen Engländer ihr eigenes Pferd an, denn er schwang sich sogleich auf die Fußstütze des Frauensattels.
»Halt!« rief da Mach zu ihm hinüber. »Nehmen Sie auch meine Depeschen mit.«
» Well,« gab der Journalist zurück.
»Na, Herr Kitzenbrecher,« hub Braun wohlwollend an und blickte dem Direktor verstohlen nach, »ein Kognak gefällig?«
Hastig kippte er den Becher, ehe er ihn an den Erfinder weitergab.
Bewermann hinkte mühsam das Luftschiff entlang und betrachtete kopfschüttelnd die zerbrochenen Landungsschlitten, die eingebeulte Ballonspitze und die verbogenen Heckrohre, von denen Stoffetzen und Drähte baumelten.
»Das gibt drei Tage Arbeit,« schätzte er. »Wir müssen das Heck stützen und dann die Rohre auswechseln. Ein Schweißapparat wird ja wohl zu haben sein.«
Tränlein fiel es auf, daß die Stoffverkleidung der Kabine gewaltsam durchgetreten war. Das war Mack, ging es ihm durch den Sinn; er hat Luft schaffen wollen, falls der Ballon beim Aufprall explodiert wäre.
Und zum erstenmal kam es ihm zum Bewußtsein, daß sie wunderbar gerettet waren.
* * *
Nikolaus Tränlein lag schlaflos mit schmerzenden Knien in einem Eisenbett, das neben einem gleichen stand. Die niedrige Stubendecke drückte auf ihn, das leichte Dunenbett war heiß und schwer, die hinter Doppelfenstern eingekerkerte Luft muffig und schwül. Die Welt schien um das Bett einzuschrumpfen, das ein Luftschiff war; die Luftfahrer drohten zu ersticken und kämpften um ihr Leben. Bewermanns Kommandorufe hallten hohl im Nebel wider, rote Quellen dampften ihm von Stirn und Händen. Das waren die heißen Quellen von Reykjavik, an denen gewaschen wird. Vandersteppens Auto mit Mach, Bewermann und Kitzenbrecher fuhr voraus, Tränlein ritt mit Nadler hinterdrein – er ritt den K II, dessen Nase tief gesenkt war. Auf dem grauen Meere weideten kleine, ungepflegte Pferde mit zusammengekoppelten Vorderfüßen; auf dem grün überwachsenen Dach einer Erdhütte graste eine Ziege. An einer holprigen Straße reihten sich ebenerdige Holzhäuser, die mit graugestrichenem Wellblech verkleidet waren; einstöckige Bauten aus bläulichem Dolerit umgaben den Denkmalsplatz.
»Thorwaldsen,« erklärte Nadler und zeigte auf das Standbild.
Eine Musikkapelle blies Tusch, ein Herr begrüßte den Direktor und reichte ihm eine Handvoll Telegramme ins Auto.
»Der Gouverneur,« erläuterte Nadler und entrückte in die Wolke von Tabaksqualm, die im Gastzimmer des Hotels zur Hekla schwamm. Alle Sprachen brachen aus der Wolke: Englisch, Dänisch, Deutsch, Französisch, Isländisch …, alle Sorten Kleider und Uniformen tauchten auf, alle Sorten Gestalten und Gesichter: Sportsleute, Fabrikanten, Flieger, Monteure, Manager, Wetter, Buchmacher, Marineoffiziere, Touristen. Sie alle kreisten, und ihr Mittelpunkt war César – César, der große Flieger und Prahler, der als erster von Kap Farvel auf Island eingetroffen war. Zwei Fliegerfrauen, deren Männer noch unterwegs waren, bestürmten ihn mit Fragen.
»Iphigenie und Gudrun,« spottete Nadler. »Sie hocken den ganzen Tag am Meeresstrand und halten Ausschau.«
Die rotblond gefärbte Lona schmachtete den Helden César an.
»Lona – um nicht zu sagen: Lena, mein Mäuschen,« stellte Nadler vor.
Die Leute stauten sich in der Gasthausstube wie gepökelt. Sie bedrängten Tränlein, daß ihm alle Glieder brachen; er wurde matt und tot. Aber Einar Thoroddson, der Wirt zur Hekla, wußte Rat. Hallgerd, seine Tochter, sah Tränlein aufmerksam und fragend an und faßte nach den blonden Nackenschlingen ihres Haares. Nikolaus Tränlein erkannte sie: es war das junge Mädchen, das dem Engländer ihr Pferd überlassen hatte. Was ist es nur mit ihrem Blick – grübelte er –, ist es Wissen oder Erwartung?
»Ich habe mit meiner Tochter gesprochen,« sagte Einar Thoroddson auf englisch, »sie wird Ihnen in ihrem Hause ein Zimmer geben.«
Und Hallgerd fügte deutsch hinzu:
»Sie können mit meinem Mann gehen …«
Die Rauchwolke wurde klein und weich und weiß und war ein Dunenbett, das sich lindernd um ihn schmiegte. Da vergaß Nikolaus Tränlein seine Schmerzen und schlief tief und traumlos ein.
* * *
Nikolaus Tränlein hatte einen vierstündigen Wachdienst an Bord des K II hinter sich. Die Ausbesserungsarbeiten, die unter Merklis Leitung mit den eigenen und angenommenen Monteuren vor sich gingen, gaben der übrigen Mannschaft wenig zu tun. Bewermann hütete auf ausdrückliches Verlangen des Direktors das Bett; wer dienstfrei war, nahm an dem Festessen teil, das die Stadt den fremden Gästen im Hotel zur Hekla bot.
Schon im Vorflur hörte Tränlein die lärmende Stimme des Fliegers César, der Französisch sprach. Als er den Saal betrat, dessen kahle Holzwände mit Birkenzweigen und Flaggen aufgeputzt waren, erzählte der Sieger der Etappe Grönland-Island gerade:
»Ein Nebel, sage ich Ihnen, ein Nebel! Nach unserer Berechnung hätten wir längst das Leuchtfeuer von Kap Skagi sichten müssen, aber so oft wir durch den Fog herunterstießen, trafen wir auf Meer. Es war zum Rasendwerden; die Erde habe ich geküßt, als ich endlich wieder an Land kam.«
»Hoch César!« jubelte es, die Sektkelche klirrten, die Musik blies Tusch.
Nadler rief ironisch dazwischen:
»Hoch Kitzenbrecher!«
Und alles stieß mit dem Erfinder an, der in Sekt und Seligkeit zerfloß.
»Ein Telegramm an meinen Herzog,« schluchzte er gerührt; »das muß mein Herzog wissen. Und in unserm Amtsblatt müssen sie abdrucken, was die Zeitungen hier über uns geschrieben haben.«
Ein dänischer Marineoffizier fragte ahnungslos:
»Werden Sie den K II auch auf der Rückfahrt führen!«
Ein scheuer Seitenblick Kitzenbrechers stahl sich zu dem Direktor hinüber, der in ein Gespräch mit Vandersteppen vertieft schien.
»Ja … das heißt … ich weiß noch nicht, ob ich nicht den Dampfer nehmen muß … mein Gesundheitszustand …«
Ein Grauen schüttelte den Erfinder vor der Möglichkeit, sich noch einmal den Tücken dieses Ungeheuers überantwortet zu wissen, das Machs Wille aus der Gegenstandslosigkeit kindlich unbeirrter Träume in stählerne Handgreiflichkeit gezwungen hatte.
Nadler, der zwischen Braun und Lona saß, hatte Tränlein den Platz neben seiner Freundin freigehalten. Der junge Steuermann war mehr erstaunt als verwirrt, sich unterm Tisch durch einen Händedruck von zarter Frauenhand begrüßt zu fühlen.
»Ich habe Sie schon in Johannisthal gern gehabt,« flüsterte ihm die rote Lona zu. »Sie waren so … so anders als die andern …«
Tränlein wußte darauf nichts zu sagen. Überdies erhob sich jetzt der große César und klinkte an sein Glas.
»Eine neue Zeit ist gekommen für Island,« begeisterte er sich an sich selbst. »Ihr Isländer habt vor tausend Jahren Amerika entdeckt. Ich aber habe euch für Europa zurückentdeckt. Ihr habt zuerst den Wasserweg nach Amerika gefunden – ich habe euch den Luftweg um die Welt geschenkt. Männer von Reykjavik – ich schenke euch eure Zukunft! Reykjavik wird Etappenstation der großen Flugroute Europa-Amerika werden. Jedes Flugschiff wird euch hundert reiche Fremde bringen. Hotels werden aufschießen wie Pilze, die Grundstückswerte werden riesenhaft steigen, jeder Isländer wird sein Steinhaus haben.«
»Recht so,« schrie der dicke Gründer Kobes dazwischen und prustete wie ein Seehund, der über Wasser kommt, »recht so! Die heißen Quellen und die Schwefelquellen werden als Bäder eingerichtet, die Sodaquellen auf Flaschen abgefüllt.«
»Und der große Geysir?« fragte Nadler boshaft.
»Den kaufen wir, lassen einen Zaun um ihn ziehen und erheben Eintrittsgeld.«
»Aber wenn er nun nicht springen will?«
»Wozu gibt es moderne Technik! Das wird genau reguliert. Zehn Kronen ein kleiner Ausbruch, fünfzig Kronen der große.«
»Mit Verlaub,« wandte Gudmund Indridasson ein, der Hallgerds Schwiegervater war, »den Geysir hat schon ein Engländer gekauft.«
»Um Geschäfte damit zu machen?«
»Nein – um auf seine Visitkarte drucken zu können: Besitzer des großen Geysir auf Island.«
»Spleen,« machte Kobes wegwerfend und fuhr unbeirrt fort: »Die Wasserfälle werden in PS verwandelt.«
»Die Engländer sind schon dabei,« glossierte Gudmund Indridasson.
»Forellen- und Lachsfischerei wird im großen betrieben.«
»Haben die Engländer schon gepachtet,« wiederholte der Alte zum drittenmal.
»Gudmund Indridasson muß immer widersprechen,« beschwerte sich mißgestimmt ein schottischer Kaufmann, der sich in Island hatte naturalisieren lassen und reich dabei geworden war.
Der Getadelte drehte ihm seinen klugen Greisenkopf zu, der dem Vandersteppens nicht unähnlich sah. Jetzt waren es die tiefen Kehllaute und schwerfällig gehäuften Konsonanten der alten Islandsprache, die wie ferne Gewitter endloser Wintertage grollten:
»Was gibt uns Europa? Es verkauft uns seine Waren zu teuren Preisen. Es fängt uns unsere Fische weg. Es bemächtigt sich unserer Landesschätze und schlägt Geld aus der furchtbaren Schönheit unserer Berge. Es nimmt uns unsere alten schlichten Sitten und Bräuche. Was werden unsere Leute in seinen Prunkhotels sein? Hausknechte der Herren aus Europa. Unsere Töchter werden ihre Dienstboten sein – besten- und schlimmstenfalls ihre Mätressen. Ihr seht ja, wie sie es treiben …«
Die einheimischen Herren waren entrüstet aufgesprungen.
»Schweig, Gudmund! Du beleidigst unsere Gäste. Davon verstehst du nichts.«
Nur ein alter Bauer krächzte nachdenklich:
»Hört auf ihn. Er ist ein Studierter, und sein Rat gilt im Althing.«
Gudmund Indridasson fügte hartköpfig auf englisch hinzu:
»Wir haben tausend Jahre lang fremde Bedrückung getragen, bis uns der König auf der alten Thingstätte unsere Freiheit bestätigt hat und Recht wieder Recht geworden ist. Und daran werden wir uns auch in Zukunft halten. Eure Art, ihr Herren aus Europa und Amerika, ist nicht für uns. Unser Gesetzbuch ist vom Jahre 1280 – ihr wechselt eure Gesetze wie euer Hemd. Wir rechnen nach dem Jahrtausend – ihr rechnet nach dem Tag.«
»Nach Sekunden, soweit wir Flieger sind,« witzelte Nadler und richtete sein Einglas herausfordernd auf César, der ihm beim letzten Gordon-Bennettfliegen den Sieg abgestritten hatte. »Und manchmal mogeln wir auch um Sekunden.«
Aber der schlug ihn mit der Faust ins Gesicht. In dem aufwirbelnden Trubel entschwanden beide durch die Tür.
Eine peinliche Stille breitete sich hinter ihnen.
Herr von Mach, dem Tränlein gegenübersaß, murmelte angeekelt:
»Das ist nun der Einbruch unserer großen modernen Welt in die Einsamkeit dieser engen, altmodischen, in sich abgeschlossenen Kultur … Wie ich diese Sorte Menschen verachte, die ihr Leben nicht für eine Idee, sondern für eine Chance aufs Spiel setzen! Sind sie auch nur mutig? Mutig ist nur der, der sein Schicksal weiß und ihm trotzdem gefaßt entgegengeht.«
Tränlein neigte sich über den Tisch und erwiderte leise, aber fest:
»Und wenn sich die Idee als haltlos erweist?«
Mach fuhr hochmütig auf, besann sich indes und schnitt kurz ab:
»Nichts ist verloren, solange wir es nicht verloren geben.«
Allein als ob ihn ein geheimes Bedürfnis nach Aussprache dazu treibe, knüpfte er dann selber das abgeschnittene Gespräch wieder an.
»Glauben Sie,« gestand er bitter, »ich leide nicht unter dieser Tragik, einer verlorenen Sache zu dienen? Aber darf ich es eingestehen? Eingeständnis ist Kapitulation.«
»Sich mitteilen zu dürfen …« ereiferte sich der junge Steuermann mit leuchtenden Augen, stockte jäh und wurde rot.
Der Direktor betrachtete ihn mit einem flüchtigen Lächeln.
»Es ist das Recht oder die Not der Jugend, ihre Gefühle zu äußern – sich durch Mitteilung ihres Überschwanges zu entäußern. Später verhärtet man sich zu dem indianisch-englischen Lebensprinzip: beherrscht sein.«
Er hielt den linken Zeigefinger in die aufsteigende Rauchsäule seiner Zigarette; die feine blaue Säule schmiegte sich der Kontur des Fingers an und stieg über ihm wieder senkrecht empor. Versonnen meinte er:
»Die Menschen lassen sich zwingen, die Dinge nicht. Wir sagen: totes Ding – und ist doch eigenwilliger als wir …«
Tränlein empfand Mitleid mit dem einsamen Mann, den er so lange für einen kaltüberlegenen Willensmenschen gehalten hatte. Ist er nicht, dachte er, der Sklave der Idee, die er doch überwunden hat! Ich aber bin frei!
Ein Jubel brach aus ihm, ein stolzes Glücksbewußtsein, wie es seine gebundene Jugend noch niemals kannte. War das dort oben in den Lüften Freiheit? War es nicht engste Enge und Bedrückung? Freiheit ist in uns – wir wissen nur nicht darum … bis wir sie im Spiegel fremder Augen lesen …
Er suchte Hallgerd Einarstochter mit den Blicken. Er hatte noch kein Wort mit ihr gesprochen, außer jenen ersten gestern.
Hallgerd ging auch heute ihren Eltern zur Hand, denn es fehlte an Kellnern. Eben hatte Braun sie angehalten, mit der Bitte, eine Ansichtskarte an seine Braut zu unterschreiben.
»Ein Mädel, Frau Hallgerd, ein Mädel –! Wollen Sie ihre Photographie sehen? Ich trage sie immer auf dem Herzen. Sie gleicht Ihnen, Frau Hallgerd – weiß Gott, sie gleicht Ihnen auf ein Haar! Ach, Hallgerd, wenn Sie wüßten –«
Hallgerd löste unwirsch ihren Arm aus seiner Umklammerung und schritt weiter.
Tränlein lachte – ein grundloses, befreites Jungenslachen. Braun beugte sich giftig gegen ihn vor, nannte ihn bei seinen Spitznamen Klaus und Tränchen – der junge Steuermann lachte bloß. Beleidigt hüpfte Braun einen Stuhl weiter auf Nadlers leergewordenen Platz und begann der roten Lona den Hof zu machen.
»Sehen Sie, Fräulein Lona,« schwärmte er und schob ihr eine Ansichtskarte herüber, »auf dieser verfallenen Burg am Rhein werde ich mit meiner jungen Frau die Flitterwochen verleben.«
»Wie romantisch,« seufzte Nadlers Freundin.
»Nicht wahr – das würde Ihnen doch auch gefallen, so zu zweien …« erwärmte sich Braun und rückte näher.
Der Flieger Rolla riß von draußen die Saaltür auf.
»Ein Torpedoboot läuft in den Hafen ein. Der Tandem-Eindecker ist verunglückt, einen Flieger hat man aufgefischt, der andere ist ertrunken – man weiß noch nicht, wer von beiden.«
Zwei Schreie schlugen in einen zusammen, die beiden Fliegerfrauen, die still für sich an einem Nebentisch gesessen hatten, stürzten zum Hafen. Ein Aufruhr entstand, alles folgte ihnen. Das Torpedoboot hatte bereits festgemacht; von zwei Matrosen gestützt, näherte sich auf dem Landungssteg der gerettete Flieger.
Da geschah etwas Seltsames. Beide Frauen hoben ihm ihre Arme entgegen.
»James!« schluchzte die eine, die seine Frau war.
»James!« jauchzte die andere.
Und dann kehrten sie sich einander zu und starrten sich in einem Blitze des Begreifens haßerfüllt und rasend in die Augen.
Tränlein sah Hallgerd sich vom Gasthof her dem Kai nähern. Hastig trat er auf sie zu.
»Kommen Sie,« sagte er rauh.
Sie blickte ihn verwundert an und gehorchte. Seite an Seite gingen sie ihrem Hause zu. Tränlein fühlte beglückt: ist dies nicht Abenteuer – schweigend neben einer fremden Frau zu gehen?
Seite an Seite wanderten sie in den Abend. Die Sonne warf den fahlen Widerschein ihres Unterganges auf die Wellblechhäuser und versilberte sie. Im Osten wanderten langgezogene rosa Wolken. Der halb volle Mond war gelbgrün, das Mondgebirge sichtbar. Die Wiesen zwischen den seltener werdenden Häusern schimmerten licht, das dürftige Birkengestrüpp ballte sich olivfarben und dunkel. Über den graublauen Bergen webte ein leichter Dunst. Die Luft war kalt und klar.
Hallgerd fröstelte. Tränlein erwachte und erschrak vor der Trivialität der Frage, die er stellte:
»Weshalb stehen zwei Betten in meinem Zimmer?«
Erst kam keine Antwort. Dann entschloß sich Hallgerd, und es klang wie Trotz:
»Es ist unser eigenes Schlafzimmer.«
Der junge Mensch wurde knabenhaft verlegen. Nur um etwas zu sagen, fragte er weiter:
»Wie lange sind Sie schon verheiratet?«
»Einen Monat,« antwortete Hallgerd schroff.
Nun schwiegen sie beide wieder und waren verstimmt. Tränlein schalt sein Ungeschick und dachte an Finn Gudmundsson, dessen leere blaue Augen so gar nichts von dem flammenden Stolz seines Vaters Gudmund Indridasson hatten.
Ein Flügelschlag streifte ihre Häupter: pfeifend, wehklagend, wimmernd.
In Hallgerds Stimme zitterte Gereiztheit nach:
»Daß Menschen fliegen, kommt mir wie Vermessenheit und Wahnsinn vor.«
Aber Tränlein empfand es wie Versöhnung und beichtete:
»Mein erster großer Überlandflug führte mich über das Grab meines Vaters hinweg, der in Geistesnacht gestorben ist. Damals mahnte es auch in mir: ist es nicht Wahnsinn bei gesunden Sinnen, was du da treibst? Und doch, Frau Hallgerd – die Luft, ob sie sich uns auch tückischer als Erde und Wasser versagt, sie ist unser eigentliches, unser Lebenselement.«
»Sie tötet,« klagte Hallgerd und erschauerte.
»Jede Kraft, die stärker ist als wir, ist der Tod,« erwiderte der junge Luftfahrer verächtlich. »Alles Glück ist Furcht um den Besitz.«
Da schwiegen sie beide wieder. In ihrem Rücken blinzelten die elektrischen Straßenbirnen über Johlen und Gekreisch. Am feierlich erhellten Nordhimmel zuckte der violette Schein des Polarlichtes.
Tränlein fragte:
»Wo haben Sie Deutsch gelernt? Waren Sie in Deutschland?«
»Nein, ich war in Edinburgh und Kopenhagen.«
»Hat es Ihnen gefallen?«
»Ich hatte Fußschmerzen von dem Asphalt; und ich glaubte in der fremden großen Stadt lauter bekannte Gesichter zu sehen. Ich war ganz verwirrt davon und begriff es nicht, wie diese vielen hunderttausend Menschen sich alle gegenseitig unterscheiden können.«
Wieder schritten sie stumm nebeneinander. Dann sagte Hallgerd leise und nicht fragend:
»Sie heißen Nikolaus …«
Gudmunds und Gudmundssons Hof schwamm vor ihnen im Mondschein. Hallgerds Apfelschimmel kam von der Weide herbeigehoppelt und rieb seine Schnauze an ihrer Schulter. Hallgerd und Tränlein traten in das Haus.
* * *
Vom oberen Treppenflur polterte die Stimme des alten Gudmund, die ohne Nachhall seines Ärgers war:
»Hallgerd, bist du es? Hast du unsern Gast mitgebracht? Bitte ihn noch zu uns herauf; er könnte sonst vermeinen, daß ich Politik und Gastfreundschaft nicht auseinanderzuhalten wisse.«
Hallgerd übersetzte es Tränlein, er antwortete lustig:
»Frau Hallgerd hat den Gast mitgebracht, und der Gast wird sich nicht lange bitten lassen.«
Die Badstofa war voller Leute. Das Gesinde hockte auf dem Rande der kastenartigen Wandbetten, Finn Gudmundsson und seine Eltern hatten Stühle. Für Tränlein stand, er mochte sich dessen wehren, wie er wollte, ein Plüschsessel aus der unteren guten Stube bereit.
Ulf, Gudmunds Spätgeborener, examinierte kraft seiner sechsjährigen Lebensweisheit den fremden Mann, Hallgerd machte den Dolmetsch:
»Weshalb sprichst du nicht unsere Sprache? Wie drehen sich die Mäuse in ihren Gängen um? Wie kriegen die kleinen Nestvögelchen zu trinken?«
Tränlein fragte dagegen und wandte sich keck an ihren gewissenhaften Dolmetsch:
»Weshalb hast du so schönblaue Augen?«
– und gab, als Ulf schwieg, selber die Antwort aus:
»Weil eure kalte Nordlandssonne sie nicht braun und schwarz brennen kann.«
Aber Ulf war damit gar nicht zufrieden.
»Das verstehst du nicht,« lehnte er streng ab, »du bist schon zu lange aus der Schule.«
Gudmund Indridasson mochte sich wohl daran erinnern, daß man ihm vor zwei Stunden dasselbe vorgeworfen hatte. Lächelnd strich er seinem Spätgeborenen über den weißblonden Scheitel.
»Nun soll uns der junge Herr einmal von seiner Luftreise erzählen.«
Tränlein erzählte und sah auf Hallgerd, die mit gefalteten Händen neben ihrem Manne saß.
Als der Steuermann des K II geendet hatte, fragte Gudmund:
»Wissen Sie, daß hier in Reykjavik vor dem Hause Frederik Fischers eine Boje als das letzte Lebenszeichen Andrées angeschwemmt ist? Seltsam, zu denken, daß sein Ballon jetzt irgendwo im Zeitlosen treibt.«
Die Knechte pufften einen unter ihnen ermunternd in die Seite. Gudmunds Frau, die jünger als ihr Mann und rotwangig wie ein Mädchen war, bemerkte es und forderte ihn freundlich auf:
»Erzähle, Björn, was ihr drüben in Norwegen gesehen habt.«
Björn rutschte unruhig auf dem Bettrand hin und her und rieb sein borstiges Kinn.
»Das war nämlich so, Herr,« begann er dänisch, und seine Unbeholfenheit verriet, daß er kein Isländer und des Erzählens ungewohnt war. »Damals also – es war … ja, Herr, es war in der Nacht zum 31. Juli 1909 unfern Moß am Christianiafjord. Ich hatte den Gemeindearzt geholt, denn meine Mutter wollte sterben, und wie wir heimeilten und noch drei Bauern grüßten, die uns entgegenkamen, entstand ein Lärm am Himmel, und ein großes, dickes, schwarzes Tier flog brummend wie ein Bär von Süden über das Meer heran und bog dann wieder nach Süden ab. Es war so groß wie ein Walfisch, Herr; der Doktor sagte, es ist so groß wie ein Haus und ist ein Luftschiff. Man hat es uns nicht glauben wollen und hat uns ausgelacht, denn es gab damals in ganz Skandinavien kein Luftschiff, und die Deutschen flogen noch nicht über See. Aber ein halbes Jahr später haben Hunderte es gesehen, wie es bei Jäderen über den Schären der Süd-Westküste kreuzte und danach westwärts über dem Meer verschwand; man konnte es in allen Zeitungen lesen. Dies geschah am 3. Januar 1910, ich habe mir die Zeitung aufgehoben, Herr, und am 31. März 1910 habe ich es selber bei Kap Lindesnäs noch einmal gesehen – am hellen Vormittag und so niedrig, daß wir es singen hörten. Es sang wie eine Orgel in der Kirche, Herr, und deshalb meine ich, es kann nichts Böses dabei gewesen sein.«
»Es war ein Troll,« knurrte Finn Gudmundsson und richtete seine leeren Augen auf den Gast.
Aber Gudmund schüttelte mißbilligend den ergrauten Kopf und erklärte lehrhaft und getragen wie ein Pfarrer:
»Das Meer ist der gläserne Palast der Märchen und Sagen; sie springen aus seinen kämpferischen Freuden und verschwiegenen Tragödien, sie lösen sich aus dem Geheimnis seiner Tiefen, aus dem Rausch der Unendlichkeit und des nahen Todes jenseits der fingerdicken Planke. Der Fliegende Holländer steigt mit schwarzen Segeln über den Horizont, und vor ihm stürmt schäumend und beutelüstern die Wellenmeute einher. Nun ist ein anderes Schiff Wahrheit geworden, das unsern Vätern noch ein Märchen war – es zieht hoch in den Lüften über Land und Meer. Aber wie es sich nur der Küste nähert und den ersten salzigen Odem spürt, da heften sich auch schon die Legenden des Meeres an seinen silberweißen oder sonnengelben Leib, der nicht Rauch noch Segel kennt, und eines Nachts steht der neue Fliegende Holländer als Gespensterluftschiff über See.«
Christian Skallagrimmson, der älteste Knecht des Hofes, nickte bedeutsam.
»Es wird wohl eine Gryla gewesen sein.«
»Erzähle, Christian,« riefen alle, »erzähle uns eine Saga.«
»Christian kennt die alten Sögur und weiß auch neue zu erdichten,« erklärte Hallgerd dem Gast. Es wurde Isländisch gesprochen, und sie zog ihren Stuhl zu ihm heran, um ihm Dolmetsch zu sein.
Christian Skallagrimmson saß vorgebeugt auf dem Bettkasten, seine knorrigen Hände hingen friedlich zusammengelegt zwischen den spitzigen Knien, die bläulichen Lider schatteten halb über die wasserhellen Teiche seiner Augen. Nach einem kurzen Bedenken räusperte er sich, setzte sich zurecht und begann:
»Es war ein Mann mit Namen Jona, der vermaß sich wider den Herrn und sprach: ›Sind wir nicht feuergeboren, o Herr, wie du?‹ Darob erzürnte sich der Herr, und Jona floh vor seinem Zorn. Doch wie er auf dem Meere war, ließ der Herr ein großes Ungewitter aufgehen, daß man meinte, das Schiff würde zerbrechen. Da losten die Schiffsleute, um wessentwillen es ihnen so übel gehe, und das Los traf Jona, und sie warfen ihn ins Meer. Aber der Herr verschaffte einen Walfisch, Jona zu verschlingen. Jona war im Leibe des Fisches dreitausend Jahr. Und verzehrte ihn von innen und füllte ihn mit dem Feuer seines Atems, und der Fisch fuhr auf aus dem Wasser wie ein Schwan. Da er aber das Meer erkannte, stürzte er ins Meer zurück und ward eine Gryla, so die Schiffer ängstigt und betört. Jona aber nahm einer Möwe Schwingen und flog zurück zu den Menschen, von dannen er gekommen war.«
Nikolaus Tränlein trug den Klang der fremden, priesterlich gegürteten Worte noch lange im Ohr, und die alten Heidengötter rauschten aus dem Meere.
* * *
Gerüchte gingen von einem Duell, das zwischen César und Nadler stattgefunden und mit dem Tode des Deutsch-Amerikaners geendet habe. Die rote Lona zeigte sich mit vieler Würde in Schwarz. Allein das Schaufliegen am Nachmittag sah Nadler neben Rolla am Start, und César begutachtete gönnerhaft Nadlers Marseindecker.
Nikolaus Tränlein traf Hallgerd auf dem Flugplatz, der aus nicht mehr als einer oberflächlich von Felsbrocken gereinigten Startbahn und einem Kassenhäuschen bestand. Das Kassenhäuschen war die Hauptsache, aber die Isländer saßen meist in ihren Booten und sparten das Eintrittsgeld.
Tränlein kam von seinem vierstündigen Wachdienst. Bewermann hatte sich aus den Dunen erhoben, dafür war Kitzenbrecher krank und hatte sich gelegt; Ballonmeister Müller war auf einem englischen Torpedoboot mit Ersatzteilen und Wasserstoff-Flaschen unterwegs, die Ausbesserungsarbeiten näherten sich ihrem Abschluß. Wie fern das alles dem jungen Steuermann war! Das Luftschiff, auf dem er eben noch geschaukelt hatte, war eine groteske Unwirklichkeit in den Mondgebirgen dieser unwahrscheinlichen Insel. Hallgerds Nähe stachelte seinen Ehrgeiz, und seine Kühnheit machte ihn kühn auch gegen sie. Er stieg mit Nadler auf, er stieg selber auf, und er bestürmte Hallgerd, mit ihm zu fliegen. Aus der nackten Uferlava schossen die brennendroten Blüten des Wunderbaren, und Hallgerd sagte: ja.
Es war spät und das Schaufliegen längst zu Ende. Während Tränlein der jungen Frau seine eigene Fliegermütze über die goldenen Nackenschlingen knüpfte, begegnete er ihrem Blick, der voll von leidenschaftlichem Schmerz und ein Abschied war. Und er begriff mit einemmal ihr Ja, das selbst ihn überrascht hatte. Ihm war, als sei ihnen diese Stunde vom Schicksal vorbestimmt und heische Demut und Erfüllung.
Wortlos hielt er Hallgerd die Leiter, und sie stieg ein. Die Auspuffrohre des Motors gähnten ihr wie drohende Schlangenmäuler entgegen, der mahagonirote Arm der Luftschraube reckte sich wie ein Richtschwert, blank und scharf. Plötzlich begannen die Kipphebel zum Takte einer barbarischen Musik zu tanzen, die Schraube vertausendfachte sich und wurde Nichts, die Luft war ein heulendes Raubtier, das sich ihnen entgegenwarf, und ein unsichtbarer Troll zog ihnen den Boden unter den Füßen weg. Die mit Schwimmern kombinierten Anlaufräder waren Erdenrest und Beute, die der große Vogel mit sich nahm.
Hallgerd hatte sich unwillkürlich hinter den Windschutz geduckt; nun drehte sie den Kopf nach Tränlein, dessen Einstieg ihr entgangen war. Unter dem Korkhelm starrten ihr Eulenaugen fremd entgegen; in den Fliegeranzug eingeschlossen, glich er einem Taucher – er tauchte in sein Element. Hallgerd aber fiel es ein, daß auch sie solch eine Brille trug, die sie entstellte. Hastig wandte sie sich ab … und erschrak, als sie das Meer erblickte: die endlose Fläche richtete sich auf und stand mit Fischerbooten und Dampfern als eine blaue Wand vor ihnen. Aus einer Schale von Boot gerade unter ihnen wurde heftig und, wie es schien, signalisierend gewinkt. Tränlein suchte die Signale zu ergründen und gab, sich vorbeugend, unversehens Tiefensteuer. Sogleich erschien das schon entglittene Kähnlein wieder unter ihnen, der Flieger schaute auf Gebärden des Entsetzens – sie stürzten senkrecht. Es durchzuckte ihn: hält sie sich fest? – und alle Kräfte seines Willens krampften um das Steuerrad, das er zäh und kalt berechnend anzog … langsam bog das Flugzeug in die Wagerechte zurück.
Da löste sich die Spannung in ihm, und seine Nerven schwangen wie Telegraphendrähte vibrierend aus: war es dies, was uns bestimmt war? Hallgerd aber hatte sich an die Sitzverkleidung geklammert und wußte nicht, daß es der Tod war, der aus jenem Kahn nach ihnen winkte.
Ein tiefes Verwundern wurde in ihr laut: wir rasen doch dahin und scheinen stillzustehen? Sie blinzelte in das flirrende Nichts, das vordem ein Propeller war: ist schnellste Schnelligkeit gleich Null? Sie wollte ihren Führer fragen und hatte keine Möglichkeit dazu.
In ihm war Rausch des neugewonnenen Lebens, und einmal lachte er in sich hinein: wie sanft und glatt und rund und ziellos ist ein Freiballon – und also gleitet die ihm anvertraute Seele sanft und glatt und ziellos hin. Wie ist mein Flugzeug Lärm, Sturm, Spannung, Kampf, Zielbewußtheit – und also stürmt und kämpft die hochgespannte Seele um ihr Ziel. Form ist Notwendigkeit und Gleichnis – und Technik angewandte Seele.
Die brennende Sonne sank ins Meer, und Tränlein hätte schwören mögen, daß es zische. Ein Berg aus Feuergold lohte zu den Wolken, die in allen Regenbogenfarben spielten – Waberloh, Waberloh, Wikingermaid! Ein Brandpfeil schoß bis in die Bucht – suchst du uns, rufst uns der Sonne nach, die uns zu früh verging? Höher, wir wollen die Sonne noch einmal grüßen! Höher: sieh, der Versucher weist uns die Länder und Meere der Erde! Das blaue Eis der Nordlandsküste will ich salutieren, der mürrischen Hekla in die Krater spucken – und aller Dinge lachen, die uns wichtig sind!
Immerfort steigend, flogen sie landein. Die Wellblechstadt lag unten als ein Haufe fortgeworfener Konservenbüchsen, das Luftschiff hinter den abgeplatteten Hügelwellen war ein gestrandeter Stint. Die Lava- und Basaltfelder der Hraun streckten sich lang und braungeschuppt wie Krokodile zwischen steinernen Bänken und geschwärzten Kuppen. Von den blutenden Gletschern rannen die Silberadern ihrer Flüsse; die nackte und bergige Hochebene um den Smaragd des Thingvallasees war wie mit der Axt gespalten und zerrissen. Der Drache stieß in Wolken, der Höhenmesser zeigte sechzehnhundert Meter an.
Hallgerd aber, ungewiß, ob sie Minuten oder Stunden flogen, wurde matt und des Schauens müde. Sie atmete kurz und angestrengt, ihr Herz klopfte, ihre Schläfen schmerzten. Ich möchte mich in diese Wolken betten – warum machen wir nicht halt?
Die junge Frau fuhr auf, als eine Flamme züngelnd um sich griff; instinktiv bückte sie sich danach und erstickte sie mit ihren Händen. Der Takt des Motors stockte, dann schwieg er ganz. Die rotbraunen Arme der Luftschraube waren wieder da und holten flatternd aus. Die Stimme Tränleins kam durch Benzingeruch und Ohrensausen zu ihr:
»Ruhig bleiben!«
Die Wolkenbetten wichen zurück, schlugen über ihnen zusammen, umwogten sie milchicht trüb, dann klaffte in der Tiefe Land. Der Flieger fand, was er erhoffte: zwischen den braunen Bergrücken die weite, dunkelgrüne Fläche des Thingvallasees. Er zwang sein Flügelroß in steilen Spiralen abwärts, zog die Anlaufräder hoch und wasserte hart und ufernah.
Kaum daß sein Flugzeug ausgelaufen war, kletterte er an seiner Begleiterin vorbei zum Motor.
»Das Zuflußrohr ist leck,« stellte er sachlich fest, »das ausströmende Benzin hat sich an den heißen Maschinenteilen entzündet.«
Er wandte sich zu ihr. Beide schoben sie die Schutzbrille, die sie maskierte, auf die Stirn zurück und sahen sich in die Augen. Es war, als dränge es sie zueinander, dann aber faßte Tränlein erschrocken Hallgerds Hände und zerrte die versengten Handschuhe herab: nur die Rechte wies eine geringe Brandblase auf. Vorsichtig berührten seine Lippen die wunde Hand und blieben lange über sie geneigt.
»Wie weise die Natur doch ist,« scherzte Hallgerd, »sie bildet Wasser in der Brandwunde, und Wasser löscht den Brand.«
Sie bezwang das Fieber, das auf ihren Wangen flammte, während ihre Lippen blau vor Kälte waren.
Vom Ufer war ihr Niederflug bemerkt worden, ein Kahn ruderte heran. Die Ruderer waren ein munterer Alter mit grauer Seemannsfräse und raubvogelhafter Hakennase und ein stumpfer Junger, dem das Flachshaar strähnig ins Gesicht hing, beide in kurzem schwarzen Friesrock, schlenkernden Hosen und Fellsandalen.
»Es sind Lachsfischer,« verständigte Hallgerd ihren Begleiter.
»Meiner Treu,« lachte der Alte, »so ist es wahr, daß sie jetzt fliegen können!«
Immer noch lachend, legte er wie ein trinkendes Huhn den Kopf zurück und schüttete sich aus einem Kuhhorn Schnupftabak in die gähnenden Nasenlöcher. Als die junge Frau ihre Mütze abknüpfen wollte, wehrte er ihr lustig und haschte nach den schwirrenden Mücken:
»Behalte sie nur auf – das ist ein feiner Mückenschutz.«
Nach Tränleins Angaben schleppten die Fischer den Eindecker in die flache Lagune, in deren kristallenem Wasser sich eine grasbewachsene Erdhütte spiegelte. Hallgerd turnte mit der Gewandtheit einer Reiterin in den Kahn. Tränlein blieb unschlüssig im Sitz und schaute in den Himmel, der sich auf den Zackenrand der Felsen lehnte. Im Nordwesten erstickten bleierne Wolken ein letztes, fahles Gelb; die Wolken im Süden waren dunkelblau und hatten gerötete Lider. Die Luft war unbewegt.
»Es ist spät,« sagte er zögernd, »und ich fürchte, ich werde den Schaden heute nicht mehr ausbessern können.«
Sie hob den Blick offen zu ihm empor und entschied:
»So müssen wir in Thingvellir übernachten.«
»Es wird das beste sein,« gab Nikolaus Tränlein zu und gestand sich nicht, daß alle Wünsche seines Herzens an dieser Fügung deuteten, bis sie Schicksalswille hieß.
Er machte den Eindecker fest und vertraute ihn der Obhut des Alten an, dem er genaue Verhaltungsmaßregeln und in die schmunzelnd hingehaltene Rechte einige Silberkronen gab.
Nun war Hallgerd Führer und führte Tränlein wie ein Kind im Dunkeln an der Hand. Sie stiegen in den Pfad zur Hölle ein, er war kühl und feucht – und dennoch ahnten sie das ewige Feuer, das an diesen Felsen fraß, ahnten die wilde Simsonskraft, die das Löwenmaul der Erde aufgerissen hatte. Sie schritten an Abgründen und zwischen schroffen Wänden, steinerne Kobolde hüpften unter ihrem tastenden Fuß, rauschende Flügel strichen schwer um ihre Häupter, und Kaskaden brüllten ein teuflisches Echo wach. Aus den verwitterten Riesenmauern, Basteien, Scharten, Zinnen und gotischen Kirchenpfeilern der Felsschlucht türmte sich ein zyklopischer Bau.
Hallgerd erklärte, und es war Stolz in ihrer Stimme:
»Tausend Jahre lang sind unsere Männer diesen Pfad gegangen, um im Althing zu beraten. In derselben Stunde, in der ihr Beschluß Island dem Christengotte weihte, wandelten sich die Burgen der Dämonen in Kathedralen des Herrn.«
Nikolaus Tränlein schwieg dazu. Er hörte Schritte und klirrende Waffen hinter sich, und Odins Raben kreischten höhnisch auf.
Das Felsentor entließ die beiden an der Sandfurt der Öxara in die helle Nacht. Tränlein trug Hallgerd auf seinen Armen durch den Fluß, ihr Atem einte sich. Auf der freien Ebene rupften Pferde das spärliche Gras, in den von Basaltblöcken umzäunten Wiesen weideten Kühe und Schafe. Schutzhaus, Pfarrhof und Holzkirche kauerten herdenhaft beieinander, neben dem geteerten Kirchlein schimmerten Friedhofkreuze.
Vor den Wanderern stand ein Licht und sah sie an. Es verschwand und kehrte wieder. Einmal setzte es sich auf Hallgerds Stirn und glich dem Diadem des Schleierhelmes, der die Isländerinnen an ihren Feiertagen schmückt. Tränlein fühlte den krampfhaften Druck ihrer Hand in der seinen.
»Ein Totenfeuer,« flüsterte sie bang.
»Ein Irrlicht,« beruhigte er sie.
Sie erwiderte überzeugt:
»Manche halten es für Nordlichtsplitter. Aber es sind die Seelen der ungetauften Kinder, die nach ihren Müttern verlangen. Denn in diesem See wurden die sündigen Frauen ertränkt.«
Der Schauer, der sie erbeben ließ, rann von Hand zu Hand und zitterte in seinem Herzen wider. Hallgerd, hätte er sie trösten mögen, siehe, wir sind ohne Schuld, wollen wir denn mehr, als den einen durch den andern fühlen und bestätigt wissen?
Aber er wagte es nicht, das Zauberwort zu sprechen, dem sich das verschlossene Geheimnis ihrer Herzen hätte auftun müssen. Ihm war, als sei die Nacht zu klar für diese Dinge, die wie die leuchtenden Wolken des Nordlandmeeres licht und dennoch undurchdringlich sind.
Hallgerd sagte wie aus Träumen:
»Hier haben Gunnlaug Schlangenzunge und Hrafn um Helga gekämpft. Gunnlaug ging in die Fremde, aber Helga blieb ihm treu auch als des andern Weib.«
Nikolaus Tränlein wußte, daß es ein Versprechen war. Er war jung und hätte aufschreien mögen vor hilfloser Qual.
Eine Touristenschar eilte ihnen lärmend entgegen.
»Wo stecken Sie? Wir fürchteten schon ein Unglück und haben die Boote flottgemacht.«
Ein Isländer in grober brauner Wollkleidung und Fellschuhen streckte ihnen die Hände entgegen.
»Es ist der Pfarrer,« teilte Hallgerd dem Freunde mit.
Der Prestr hatte es gehört und begrüßte sie gleichfalls deutsch:
»So sind Sie es, der über unserm See geflogen ist? Seien Sie gesegnet. Und Sie, mein Kind, wie kommen Sie ohne Pferd zu uns?«
Die junge Frau errötete.
»Der deutsche Herr ist Gast in unserm Hause und hat mich mitgenommen.«
Der Pfarrer schien betroffen. Dann heiterten sich seine Mienen auf.
»Sind Sie nicht Hallgerd Einarstochter! – Jetzt erkenne ich Sie erst.«
Er bot auch ihr die Hand und fuhr gegen Tränlein gewandt fort:
»Als wir das Surren des Motors vernahmen, glaubten wir erst, ein Automobil nahe, und waren sehr verwundert. Da tauchte ein feines lateinisches T aus den Wolken auf. Es vergrößerte sich rasch, und ich gewahrte tief ergriffen, daß es ein Mensch war, der dort oben flog.«
Sie waren am Schutzhaus, in dessen engen Gelassen die Betten wie Schiffskojen übereinander angeordnet waren. Der Pfarrer bedauerte:
»Es ist alles überfüllt – auch bei mir.«
Er überlegte.
»Sie müssen in der Kirche übernachten. Unser Kirchlein hat nun freilich schon lange keine Gäste mehr beherbergt. Zuvor aber seien Sie Gast an meinem Tisch.«
Sie traten in die niedrige Tür des Pfarrhauses, das eine einstöckige Holzfront aufwies. Die verkrüppelten Nebengebäude waren aus Torfstücken und Steinen geschichtet und durch das Grasdach mit dem Mittelbau verwachsen. Aus der verrußten Küchenhütte drang der beißende Qualm des getrockneten Schafmistes, der den rohen Steinherd heizte. Die Wohnstube aber war freundlich mit Möbeln und Büchern bestellt, und die Frau Pfarrer bewirtete nach soviel andern Gästen auch diese beiden mit dem heimischen Milchbrei Skyr und Lachsforellen.
Danach geleitete sie der Pfarrer in das kahle Kirchlein, in dem links und rechts vom Mittelgang auf Torfstreu zwei saubere Lager hergerichtet waren. In der Selbstverständlichkeit seines Tuns erkannte Nikolaus Tränlein Hallgerds Freimut wieder und neigte sich beschämt der inneren Freiheit, die noch den Letzten ihres kleinen Volkes eignet. Eingepfercht in dunkle, dumpfe, feuchte, ofenlose Löcher, in langen Tagen ohne Nacht, in langen Nächten ohne Tag bei Talglicht und blakenden Tranfunseln, von Orkanen umheult, im Schnee begraben, durch Erdbeben erschüttert, von Feuerbergen überspien und vom zermalmenden Eis des Poles belagert, haben sie die Kultur des Herzens gehütet: das Natürliche natürlich zu tun.
Wie ein Traum war es ihm: irgendwo rollten Eisenbahnen, Automobile, elektrische Wagen; Steinhäuser waren mit Marmortreppen, funkelnde Säle, Bäder, Theater; blühende Gärten waren, gepflegte Parke, künstliche Brunnen – und Menschenseelen waren zahllos zwischen ihnen, eingepreßt in die Herbarien des selbstgeschaffenen tausendfachen Zwanges. Sie können fliegen und um die Erde sprechen, sie können Sterngebirge und durch Körper sehen, können den Schein und Ton ihres Wesens bannen – und sind doch ärmer als diese hier. Gegensatz dünkt sie, was Gleichnis, Ruhmestat ihrer Willkür, was Notwendigkeit und Not des Ausdrucks ist. Die Kultur steht zwischen uns und unserer Natürlichkeit.
Nikolaus Tränlein brachte Dank und Ehrfurcht als die Opfergaben seines Herzens dar. Hallgerd war nah wie nie und unerreichbar fern, der Mittelgang war zwischen ihnen wie ein Meer.
»Gute Nacht, mein Freund,« sagte Hallgerd tapfer und reichte ihm die Hand.
»Gute Nacht, Hallgerd,« antwortete Nikolaus Tränlein leise.
* * *
Nikolaus Tränlein saß auf der Lavamauer des Friedhofs und erwartete den Tag. Die Nacht war kalt, der Mond war klar, im hartgefrorenen Gras blitzten tausend Diamanten. Der Schnee der Berge war ins Tal gestiegen, und das frierende Kirchlein rührte den fröstelnden Mann wie eine Alpenblume an verschneiten Hängen. Der Morgen ging von Nord nach Ost, die ganze Welt war rosenrotes Feuer, und alle grüne Erde rauchte. Die Mäuse huschten durch die engen, krummen, festgetretenen Gassen ihrer Wiesenstädte, deren Höhlen grasbewachsenen Islandshütten glichen; ein Maulwurfshaufen dampfte braun im Schnee – die aufgeworfene Erde war noch warm und feucht. Die Pferde auf den Wiesen schnauften.
Der Einsame zuckte zusammen, als eine Hand sich sanft um seine Schulter legte.
»Ich danke dir,« sagte Hallgerd leise und küßte ihn auf den Mund.
Nikolaus Tränlein hielt den Kopf gesenkt.
»Ich danke dir,« wiederholte sie, und ihre Stimme zitterte zum erstenmal, »ich danke dir, weil ich es dir nicht hätte weigern können.«
Der junge Mensch sah mit stumpfen und verstörten Augen zu ihr auf.
»Hallgerd,« bat er, »laß mich allein. Ich gehe jetzt den Apparat ausbessern – reite du mit den andern heim.«
Hallgerd nickte, Nikolaus Tränlein schritt der Höllenschlucht des Almannagja zu und schaute sich nicht um …
Hallgerd Einarstochter lag auf ihren Knien und erstickte ihr Stöhnen in dem schwarzen Samt der Altardecke.
* * *
Auf dem Landungsplatz des K II war die Batterie der Stahlflaschen gereiht und gehäuft. Monteur Obermaier öffnete die Anschlußhähne, und der zusammengepreßte Wasserstoff sauste durch die dünnen Verbindungsröhren und das große gemeinsame Längsrohr heulend in den Füllschlauch, der sich bebend blähte. An den Röhren bildeten sich Eiskristalle und vergingen atmend in Dampf. Obermaier griff nach dem Schraubenschlüssel und regulierte die Zufuhr. Er drehte, und die Gase brüllten wütender auf, sprangen raubtierhaft an und jagten durch die Nabelschnur in den silbernen Riesenbauch, dessen tückische und unersättliche Seele sie waren.
»Hallo,« schrie Obermaier dem heranreitenden Tränlein durch den Lärm zu, »wir fahren diese Nacht.«
»Ja, grüedsi, Tränlein,« rief Merkli und beugte sich aus der Führerzelle, um ihm bieder die Hand zu schütteln. »Wir haben Sie zurückfliegen sehen. Schöne Geschichten machen Sie. Der Direktor ist fuchsteufelswild.«
»Weshalb so eilig?« fragte Tränlein gleichmütig und koppelte seinem Rößlein die Vorderbeine zusammen.
»Die Wettermacher behaupten, daß ein Mistur droht, und so wollen wir Hals über Kopf davon, ehe uns der Wirbelsturm erwischt. Wissen Sie übrigens schon,« unterbrach er sich ernst, »daß Kitzenbrecher tot ist?«
Tränlein blickte ihn verständnislos an.
»Jawohl – ganz plötzlich gestorben. Die Aufregung, sagt der Arzt, das Herz hat nicht mehr mittun wollen. Und wissen Sie, was sein letzter Wunsch war? In seinem Luftschiff nach Hamburg überführt zu werden.«
Brauns verkatertes Gesicht zeigte sich über der Brüstung.
»Jetzt wo er tot ist, traut er sich,« stichelte er hämisch.
»Schämen Sie sich,« zürnte Merkli.
Tränlein war erschüttert. In dem seltsamen Ende des seltsamen Mannes, der ein Kind mit grauen Haaren, ein Phantast mit großen Ideen und kleinlichsten Zwecken war, schien sich seines Werkes Schicksal zu symbolisieren. Und nahm nicht auch er selber eine tote Hoffnung mit an Bord? Der junge Mensch kämpfte den wilden Schmerz, der ihn noch einmal anfiel, nieder: ihr unsterblich Teil ist mein.
Als Herr von Mach mit Bewermann, Mirfield und Vandersteppen in dessen Auto erschien und den jungen Steuermann vor allen Leuten hart anließ, weil er sich ohne Urlaub von der Stadt entfernt hatte und ohne Erlaubnis geflogen war, nahm Tränlein die Rüge stumm entgegen.
Bewermann befahl ihm nachsichtig:
»Sie legen sich gleich nach Tisch schlafen und sind um Mitternacht wieder hier. Die Abfahrt ist auf ein Uhr nachts festgesetzt; wir haben günstigen Wind und dürfen also hoffen, bis vier Uhr nachmittags in Leven zu sein.«
Merkli schloß sich ihm an, als er zur Stadt zurückreiten wollte.
»Bemerken Sie,« tuschelte er ihm zu, »wie der Mister Mirfield an Vandersteppen und dem Direktor herumschnüffelt? Er möchte gar zu gern herausbekommen, ob der Amerikaner angebissen hat.«
»Interessiert sich denn Vandersteppen für das Luftschiff?«
»Das nicht, aber Mach interessiert sich für Vandersteppen. Es wäre nicht so übel, wenn etwas daraus würde – dann sind wir das Mammut los, und Vandersteppen hat's ja dazu.«
Im Hotel zur Hekla empfing Nadler sie mit der Nachricht:
»César fliegt mittags zur Ostküste ab und will morgens nach den Färöern weiter. Übrigens«, setzte er in seiner ironischen Art hinzu, »habe ich bei Gudmunds ausgerichtet, daß du mir meine Maschine und ihnen ihre Hausfrau unbeschädigt wieder ablieferst.«
Tränlein speiste mit den beiden und begab sich dann zur Ruhe. Hallgerd war, wie ihm der alte Gudmund kurz angebunden mitteilte, vor einer Stunde auf einem Pferde des Sera Pfarrer heimgekehrt. Sie zeigte sich dem Freunde nicht, aber auf seinem Kopfkissen fand er die Blumen ihres kargen Gärtleins: blaue Kreuzblumen, gelbe Orchideen, Stiefmütterchen und Erika.
Er schlief tief und traumlos und erwachte zur vorbestimmten Minute, aus jenem Zeitgefühl heraus, das – wie sein Gleichgewichtssinn im Fluge – von seinem Bewußtsein unabhängig war.
Als er, den Rucksack übergeworfen, die Tür öffnete, stand Hallgerd im Rahmen einer andern Tür ihm gegenüber. Sie hielt sich an dem Pfosten, ihre Augen waren unnatürlich aufgerissen und starr auf ihn geheftet. Er breitete mit einem unterdrückten Ruf die Arme, Hallgerd wich bewegungslos wie ein Geist vor ihm zurück.
»Fahr wohl,« flüsterte sie tonlos, »fahr wohl, mein Freund.«
Ohne Laut schloß sich die Tür, Nikolaus Tränlein aber hielt die Arme halb gebreitet und fühlte durch das Dunkel Hallgerds starren Blick.
In der Wohnstube wartete ihm Gudmunds rotwangige Frau mit einer Kanne Kaffee und einem Kuß auf. Finn Gudmundsson übersah die Hand, die Tränlein ihm reichte, der alte Gudmund war Ulfs Flehen erlegen und wollte mit seinem Spätgeborenen dem Aufstieg des Luftschiffes beiwohnen. Halb Reykjavik und alle Fremden ritten mit hinaus. Die holprigen Straßen schwammen in einer unwirklichen Helle und lösten sich hinter ihnen gespenstisch auf. Das Luftschiff wurde wieder Wirklichkeit. Vor ihnen lag die Tat.
»Leben Sie wohl, und von Herzen Dank,« verabschiedete sich der junge Deutsche mit fester Stimme von Gudmund Indridasson.
Der Alte blickte ihm lange in die Augen.
»Fahr wohl,« entschied er sich und erachtete ihn des Abschiedskusses der Gastfreundschaft für wert.
Tränlein nahm Ulf auf den Arm, küßte ihn und trug ihm auf:
»Grüße Hallgerd von mir.«
Dann bezog er seinen Posten am Seitensteuer. Merkli kontrollierte die Ballonette, Braun hüstelte nervös, Obermaier füllte den Öltank nach und pfiff sich eins. Herr von Mach und Mister Mirfield lehnten aus der Kabine. Im Hellegatt des Hecks war ein Sarg verschnürt.
Bewermann, die rechte Hand im Verband, schwang sich in den Führerstand.
»Achtung!« schmetterte sein Kommando. »Anlüften – laßt los!«
Die Isländer ließen die Halteseile fahren. Der K II stieg senkrecht mit gehobener Nase. Die Motoren gingen donnernd an. Tränlein nahm den Kurs meerwärts nach Südost.