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Der unheimliche Gast

Von Jules Verne

Als ich an einem stürmischen Septembertage der fünfziger Jahre in Frankfurt am Main eintraf, hatte ich mir durch meine Ballonaufstiege in einer Reihe deutscher Großstädte bereits einen Namen gemacht. Indessen hatte sich bisher noch kein Deutscher meinem Ballonkorb anvertraut, ebensowenig wie die Pariser Aufstiege von Green, Godard und Poitevin auf deutschem Boden Nachahmung gefunden hatten.

Kaum war jedoch diesmal bekanntgeworden, daß ich von Frankfurt aus eine neue Fahrt plane, so meldeten sich auch schon drei Personen von Rang zur Teilnahme. Da der Aufstieg schon wenige Tage später vom Theaterplatz aus stattfinden sollte, so richtete ich unverzüglich den Ballon dazu her. Mein Flugschiff war aus Seide, die mit Kautschuk luft- und wasserdicht imprägniert war, und faßte dreitausend Kubikmeter Gas – genug, um uns in die höchsten Höhen zu tragen.

Der Start war auf den Beginn der Frankfurter Septembermesse gelegt, die stets einen großen Fremdenstrom in die Stadt leitet. Das Leuchtgas, das mir zu sehr günstigen Bedingungen geliefert worden war, war von einwandfreier Reinheit. Um elf Uhr vormittags war die Füllung beendet, und zwar hatte ich den Ballon nur dreiviertel gefüllt, weil das Gas sich in den dünneren Luftschichten der oberen Atmosphäre ausdehnt und deshalb zunächst genügend Spielraum haben muß.

Rings um unsern freigehaltenen Füllraum drängte sich unabsehbar und ungeduldig das Volk. Es nahm den ganzen Theaterplatz ein, schob aus den angrenzenden Straßen nach und hielt die Fenster aller Häuser und alle Dächer dicht besetzt. Der Sturm, der während der letzten Tage gewütet hatte, war abgeflaut. Eine schwüle Wärme drückte vom wolkenlosen Himmel herab, kein Lüftchen belebte die Atmosphäre. Bei solchem Wetter hätte der Ballon unter Umständen an derselben Stelle wieder niedergehen können, von der er aufgestiegen war.

Ich verstaute hundertfünfzig Kilo Sandballast an Bord. Der Ballonkorb war völlig rund, maß ein Meter zwanzig Zentimeter im Durchmesser, war ein Meter hoch und bequem eingerichtet. Über ihm spannten sich symmetrisch die Auslaufleinen des Netzes. An dem Ballonring, der sie strahlenförmig vereinigte, war auch das Barometer aufgehängt; Kompaß und Landungsanker waren zur Hand. Wir waren startbereit.

Unter den Leuten, die sich um die Umzäunung des Füllraumes drängten, fiel mir ein junger Mensch mit bleichen und erregten Zügen auf. Ich hatte ihn als eifrigen Zuschauer schon bei verschiedenen meiner Aufstiege in deutschen Städten getroffen. Sein unsteter Blick verschlang förmlich das sonderbare Flugtier, das dicht über dem Boden pendelte, sein verkniffener Mund blieb stumm, während rings um ihn alles schwatzte und lärmte.

Von den Kirchen schlug es zwölf. Der Augenblick des Startes war da, nicht aber meine Fahrgäste. Ich sandte nach ihren Wohnungen und erfuhr, der eine sei in Geschäften nach Hamburg, der zweite nach Wien, der dritte nach London abgereist. Obgleich bei Freiballonfahrten dieser Art unter bewährter Führung von Gefahr kaum noch die Rede sein kann, so war meinen Gästen im gegebenen Augenblick doch der Mut entschwunden, der anscheinend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Fixigkeit, das Weite zu suchen, stand.

Das Volk, das schon Betrug zu argwöhnen begann, fing zu murren an – ich durfte keine Minute zögern, allein aufzusteigen. Um für die ausgebliebenen Mitfahrer den nötigen Gewichtsausgleich zu schaffen, nahm ich noch einige Säcke Ballast mit. Sobald ich die Gondel bestiegen hatte, ließ die Haltemannschaft die Seile prüfend locker, worauf der Ballon sich ein wenig hob.

»Alles in Ordnung?« fragte ich.

Die Männer nickten und hielten sich bereit.

»Achtung!«

Das aufgeregte Volk drückte fast die Umzäunung ein.

»Los!«

Der Ballon stieg langsam, wurde aber sogleich derart erschüttert, daß ich im Korb umstürzte.

Als ich mich wieder erhoben hatte, sah ich mich einem Mitfahrer gegenüber, der im Programm nicht vorgesehen war: dem blassen jungen Menschen.

»Guten Tag, mein Herr,« begrüßte er mich gelassen.

»Mit welchem Rechte …«

»– ich hier bin? Mit dem Rechte, das mir die Unmöglichkeit verleiht, mich loszuwerden.«

Seine Unverfrorenheit verblüffte mich, ich blieb die Antwort schuldig. Er nahm keine Notiz davon und schien meine Überraschung gar nicht zu bemerken.

»Mein Mehrgewicht belastet Ihren Ballon,« sagte er, »gestatten Sie …« Und ohne meine Genehmigung abzuwarten, warf er zwei Sack Ballast aus.

»Herr,« wandte ich mich an den Fremden, indem ich den einzigen Entschluß faßte, der mir übrig blieb, »Sie sind nun einmal da – Sie werden bleiben – schön, aber die Führung des Ballons ist einzig und allein meine Sache.«

»Ihre Höflichkeit«, erwiderte er lächelnd, »ist echt französisch. Sie entstammt dem gleichen Lande wie ich selbst. Ich drücke Ihnen im Geiste die Hand, die Sie mir verweigern. Tun Sie, was Ihnen geboten erscheint; ich werde mich gedulden, bis Sie damit fertig sind.«

»Und dann?«

»Dann werde ich mit Ihnen plaudern.«

Das Barometer war auf siebenhundertzehn Millimeter gefallen. Wir waren jetzt fast sechshundert Meter über der Stadt, ohne unser Steigen verfolgen zu können, weil die schwüle und unsichtige Luft die Landschaft verwischte. So besah ich mir denn meinen Begleiter des näheren. Er mochte vielleicht dreißig Jahre zählen und war recht bescheiden gekleidet. Seine scharfgeschnittenen Gesichtszüge deuteten auf außergewöhnliche Willenskraft, auch körperlich schien er überaus stark zu sein. Völlig im Banne dieses stummen und gleichmäßigen Aufwärtsschwebens, verfolgte er bewegungslos das entschwindende und verschwommene Bild der Tiefe mit den Augen.

»Ein abscheulicher Nebel,« bemerkte er dann.

Ich antwortete nicht.

»Sie zürnen mir,« fuhr er beharrlich fort. »Geld für die Mitfahrt hatte ich nicht, und so mußte ich denn meine Zuflucht zu einer List nehmen, wenn anders ich die Fahrt mitmachen wollte.«

»Auszusteigen ersucht Sie ja keiner,« brummte ich mürrisch.

»Wissen Sie,« tröstete er mich ironisch, »daß genau dasselbe wie Ihnen auch den Grafen Laurencin und Dampierre geschehen ist, als sie am 15. Januar 1784 zu Lyon aufstiegen? Ein junger Kommis namens Fontaine schwang sich über den Korbrand, auf die Gefahr hin, den Ballon zum Kippen zu bringen. Er machte die ganze Fahrt mit – und es ist niemand daran gestorben.«

»Nach der Landung werden wir weiter darüber reden,« unterbrach ich ihn brüsk, geärgert durch den ironischen Ton, den er sich mir gegenüber herausnahm.

»Bah,« machte er verächtlich, »wer denkt hier an Landung!« »Bilden Sie sich vielleicht ein, daß ich zögern werde, schnellstens wieder niederzugehen.«

»Niedergehen?« rief er verwundert. »Zunächst wollen wir doch einmal an das Hochgehen denken!«

Und ehe ich ihm in den Arm fallen konnte, hatte er zwei weitere Sack Ballast über Bord geschleudert, ohne sich erst die Mühe zu nehmen, sie zu leeren.

»Herr!« schrie ich wütend.

»Ich weiß, daß Sie ein geschickter Ballonführer sind,« entgegnete er kurz und bestimmt. »Ihre Leistungen haben Aufsehen erregt. Wenn nun auch Erfahrung und Praxis verschwistert sind, so gehört doch wohl auch die Theorie ein wenig zur Familie, und die Theorie der Luftschiffahrt habe ich lange und gründlich studiert. Das ist mir nun zu Kopf gestiegen,« setzte er traurig hinzu und brütete dumpf vor sich hin.

Der Ballon stieg noch ein wenig und hielt sich dann im aerostatischen Gleichgewicht. Mein Begleiter stellte mit Hilfe des Barometers unsere Höhe fest:

»Jetzt sind wir achthundert Meter hoch. Die Menschen sehen wie Insekten aus. Meiner Treu, man sollte sie immer aus dieser Höhe betrachten, um sich ein richtiges Urteil über ihre Größenverhältnisse zu bilden! Der Theaterplatz ist ein wimmelnder Ameisenhaufen, wir halten gerade über dem Dom. Auf der winzigen Zeil und an den Mainkais wirren die Menschlein durcheinander. Der Fluß selbst ist schon nichts mehr als ein lichtes Band quer durch die Stadt, die Mainbrücke gleicht einem von einem zum andern Ufer gespannten Faden.«

Es war kühl geworden in unserer Höhe. Der Fremde bot sich mir diensteifrig an:

»Alles – alles würde ich jetzt für Sie tun! Friert es Sie? – Dann ziehe ich mich aus und borge Ihnen meine Kleider …«

Ich dankte trocken. Das beirrte ihn durchaus nicht:

»Was wollen Sie – Not kennt kein Gebot. Geben Sie mir die Hand zur Versöhnung! Sie können von mir manches lernen, und meine Unterhaltung wird Sie für den Ärger entschädigen, den ich Ihnen bereitet habe.«

Ich würdigte ihn keiner Antwort und setzte mich auf die andere Seite des Ballonkorbes. Der junge Mensch zog ein dickes Heft aus seinem langen, gefütterten Rock: eine Abhandlung über Luftschiffahrt.

»Ich besitze«, begann er, »die merkwürdigste Sammlung von Kupferstichen und Karikaturen über unsere fixe Idee, fliegen zu können. Wie sehr hat man sich nicht für unsere Idee begeistert und sich andererseits darüber lustig gemacht! Glücklicherweise sind wir ja längst über jene ersten Anfänge hinaus, in denen die Brüder Montgolfier unter ihrem Ballon feuchtes Stroh und zerhackte Wolle anzündeten, um dadurch künstliche Rauchwolken zu erzielen.«

»Wollen Sie etwa das Verdienst der Brüder Montgolfier schmälern,« ereiferte ich mich unwillkürlich, »waren sie es nicht, die uns durch ihre Versuche den praktischen Beweis dafür erbracht haben, daß es möglich ist, sich in die Lüfte zu erheben!«

»Gewiß – wer wollte den ersten Luftschiffern ihren Ruhm streitig machen! Es gehörte außerordentlicher Mut dazu, sich diesen gebrechlichen Hüllen anzuvertrauen, die nichts als erhitzte Luft enthielten. Aber ich frage Sie: hat die Luftschifffahrt seit Blanchards Aufstiegen – seit einem halben Jahrhundert also – irgendwelche nennenswerten Fortschritte gemacht? Hier – sehen Sie sich das einmal an.«

Damit entnahm der Fremde seinem Heft einen Kupferstich und reichte ihn mir herüber.

»Dies stellt die erste Ballonfahrt dar, die von Pilâtre de Rozier und dem Marquis d'Arlandes vier Monate nach der Erfindung der Montgolfiere unternommen wurde. Ludwig XVI. verweigerte ihnen die Erlaubnis zu der Fahrt und bestimmte, daß an ihrer Statt zwei zum Tode verurteilte Verbrecher mit dem Ballon aufsteigen sollten. Pilâtre de Rozier war außer sich darüber und wußte es durch allerhand Winkelzüge durchzusetzen, daß er doch noch die Genehmigung zum Aufstieg erhielt? Damals war die Gondel noch nicht erfunden; es führte lediglich eine Art Galerie rings um den Füllansatz der Montgolfiere, an deren Rand sich die beiden Lustschiffer anklammern mußten. Das auf der Galerie angehäufte Stroh machte ihnen jede Bewegung unmöglich. Unter dem Füllansatz des Ballons hing eine brennende Kohlenpfanne; wollten die Luftschiffer steigen, so warfen sie Stroh ins Feuer, immer der Gefahr ausgesetzt, das Fahrzeug damit in Brand zu setzen. Die Luft in dem Ballon erhitzte sich dann stärker und trieb ihn aufwärts. Der Start erfolgte am 21. November 1783 von dem Park des königlichen Jagdschlosses La Muette aus, das ihnen der Dauphin zur Verfügung gestellt hatte. Die Montgolfiere erhob sich majestätisch, überquerte die Schwaneninsel und bei der Barrière de la Conférence die Seine und schwebte zwischen Invalidendom und Militärschule gerade auf den Turm der Kirche St. Sulpice zu. Da fachten die Lustschiffer das Feuer an, überflogen glücklich die Boulevards und landeten jenseits der Barrière de l'Enfer. In dem Augenblick, als das Luftschiff auf den Boden aufstieß, sackte es in sich zusammen und begrub Pilâtre de Rozier unter sich.«

»Eine üble Vorbedeutung für uns!« meinte ich, gefesselt durch diesen Bericht, in dem sich mir mein eigenes Schicksal widerzuspiegeln schien.

»Eine üble Vorbedeutung für ihn selber,« fuhr mein Gegenüber schmerzlich fort. »Denn bald darauf kam es zur Katastrophe. Ihnen ist noch nichts dergleichen zugestoßen?«

»Noch nie.«

»Mein Gott, Unglücksfälle gibt es auch ohne Vorankündigung genug,« warf mein Gefährte ein und verstummte.

Wir trieben jetzt in südlicher Richtung dahin; Frankfurt war hinter uns entschwunden.

»Mir scheint, wir bekommen Sturm,« mutmaßte der Fremde.

»Wir landen vorher.«

»Das fehlte noch!« entgegnete er heftig. »Dann steigen wir doch lieber höher. In der Höhe entgehen wir dem Sturm noch weit sicherer.«

Damit schleuderte er abermals zwei Sack Ballast über Bord. Pfeilschnell schoß der erleichterte Ballon nach oben und kam erst in zwölfhundert Meter Höhe zum Stehen. Die Kälte wurde empfindlicher, und dabei dehnte sich das Gas unter der intensiven Sonnenbestrahlung weiter aus und gab unserm Fahrzeug neuen Auftrieb.

»Keine Sorge,« beruhigte mich der Unbekannte spöttisch, »Wir haben noch gut unsere sechstausend Meter atembare Luft über uns. Kümmern Sie sich übrigens nicht um das, was ich treibe.«

Ich wollte aufspringen, aber seine muskulöse Hand drückte mich auf die Bank nieder.

»Wer sind Sie denn eigentlich?« tobte ich.

»Mein Name tut nichts zur Sache.«

»Ihren Namen will ich!«

»Herostrat oder Empedokles – ganz wie es Ihnen beliebt.«

Eine derartige Auskunft war nicht danach angetan, mich zu beruhigen. Der unheimliche Gast sprach mit solcher Kaltblütigkeit, daß ich mich voller Angst fragte, mit wem mich das Schicksal zusammengebracht hatte. Mit sachlicher Gelassenheit fuhr er fort:

»Seit dem Physiker Charles hat man in der Luftschiffahrt keine nennenswerte Verbesserung mehr erfunden, vier Monate nach den ersten Aufstiegen hat dieser gescheite Kopf bereits das Ventil konstruiert, das ein Entweichen des Gases gestattet, wenn der Ballon zu prall gefüllt ist oder wenn man ihn zum Sinken bringen will, hat er dem Luftschiff die Gondel gegeben, die den Aufenthalt und das Manövrieren so wesentlich erleichtert, hat ihm das Netz übergeworfen, das die Last des Ballonkorbes gleichmäßig über die gesamte Hülle verteilt. Er hat die Mitnahme von Ballast angeraten, der den Aufstieg und die Landung nach freier Wahl erlaubt, hat die Hülle mit Kautschuk undurchlässig gemacht und in dem Barometer den Luftschiffern einen zuverlässigen Höhenmesser mitgegeben. Schließlich hat er auch noch die erwärmte Luft durch den Wasserstoff ersetzt, der um vierzehn Prozent leichter ist und die Gefährlichkeit des offenen Feuers beseitigt. Seinem ersten Aufstieg am 1. Dezember 1783 wohnten dreihunderttausend Zuschauer bei, die sich rings um die Tuilerien drängten. Als Professor Charles aufstieg, präsentierte das Militär. Er legte neun Meilen zurück und führte seine Charliere mit einer Geschicklichkeit, in der ihn keiner von euch neueren Luftschiffern übertroffen hat. Der König dankte ihm durch eine lebenslängliche Rente von zweitausend Livre – denn damals wurden Erfinder noch durch Belohnungen ermutigt!«

Mir schien es, als ob mein Begleiter sich innerlich mehr und mehr erregte.

»Ich habe nachgeforscht,« fuhr er fort, »und bin zu der Überzeugung gelangt, daß die ersten Ballons lenkbar waren. Ich will mich dafür gar nicht einmal auf Blanchard berufen, denn seine Behauptungen sind anfechtbar. Aber Guyton de Morveau gab seinem Flugschiff durch Ruder und Steuer deutlich spürbare Eigenbewegung und eine gewisse Steuerfähigkeit. Ich erinnere auch an die jüngsten Versuche des Uhrmachers Julien im Pariser Hippodrom; sein länglich geformtes Fahrzeug hat sich mit Hilfe eines eigenartigen Apparates unverkennbar hart gegen den Wind steuern lassen. Poitevin hat vorgeschlagen, vier Ballons aneinanderzukuppeln, durch zusammenlegbare Horizontalsegel ihre Stellung gegeneinander zu verschieben und durch diese Schräglage das gesamte Fahrzeug aufwärts zu steuern. Auch spricht man viel von Motoren, die den Widerstand der Luftströmung überwinden sollen, und von Luftschrauben; da sich die Schraube jedoch in einem unfaßbar dünnen Medium drehen würde, so dürfte sich auf die Weise nichts erreichen lassen. Dagegen habe ich – jawohl: ich! – das einzige Mittel entdeckt, das Luftschiff lenkbar zu machen. Mir aber hat keine Akademie ihre Unterstützung angedeihen lassen, keine Stadt hat Listen zur Zeichnung für mich aufgelegt, keine Regierung hat mich anhören wollen – oh, es ist empörend!«

Der fanatische Theoretiker fuchtelte mit den Händen, so daß der Ballonkorb ins Schwanken kam. Ich hatte meine Not, den Mann zu beruhigen. Unser Ballon war mittlerweile in eine schärfere Luftströmung geraten, wir flogen in fünfzehnhundert Meter Höhe nach Süden.

»Da ist Darmstadt,« stellte mein Begleiter fest und beugte sich weit über den Gondelrand. »Sehen Sie das großherzogliche Schloß! Nur undeutlich, nicht wahr? Was wollen Sie – bei solcher Gewitterschwüle verschwimmt alle Aussicht. Es gehört ein geübtes Auge dazu, um sich dabei auszukennen.«

»Sind Sie sicher, daß es Darmstadt ist?« fragte ich.

»Zweifellos. Wir sind sechsundzwanzig Kilometer von Frankfurt entfernt.«

»Dann müssen wir landen.«

»Landen?« erwiderte er höhnisch. »Haben Sie etwa Lust, auf einen Kirchturm niederzugehen?«

»Durchaus nicht, aber in der Umgegend der Stadt.«

»Nun, ich denke, wir gehen den Kirchtürmen lieber aus dem Wege …«

Dabei griff er wieder nach einigen Sandsäcken. Ich warf mich auf ihn, er aber schleuderte mich mit solcher Gewalt zurück, daß ich auf den Boden der Gondel stürzte, und gab Ballast aus. Der Ballon schoß zweitausend Meter höher.

»Verhalten Sie sich ruhig,« herrschte mein Gegner mich an. »Sie wissen doch, Broschi, Biot, Gay-Lussac, Bixio, Barral sind noch viel höher gestiegen als wir, als sie ihre wissenschaftlichen Versuche anstellten.«

Ich versuchte nun noch einmal, ihn im guten umzustimmen.

»Aber Herr, wir müssen doch jetzt landen. Sie sehen ja, daß der Sturm zunimmt – es wäre im höchsten Grad unklug, weiterzufahren.«

»Ei, wir werden eben über ihn hinaussteigen! Wir werden doch keine Angst vor ihm haben. Was ist erhabener, als Herr zu sein über diese Wolken, die über der Erde lasten! Welch ein köstlicher Genuß, auf den Strömen der Luft zu schiffen! Die vornehmsten Leute haben sich dazu gedrängt, selbst Damen wie die Marquise von Montalembert, die Gräfin Podenas und Fräulein von La Garde sind in diese Gefilde der Seligen aufgebrochen; der Herzog von Chartres hat in den Lüften seine Geistesgegenwart erprobt, der Herzog von Braunschweig hat durch sie seinen Ruhm gemehrt. Um so hohen Personen gleichzukommen, muß man schon höher steigen als sie. Sich dem Himmel nähern – das heiße ich diese hohen Herrschaften verstehen!«

Das Ballongas dehnte sich in der dünnen Höhenluft aus, das Fahrzeug hatte seine Prallhöhe erreicht. Es war dringend geboten, den bis dahin zugebundenen Füllansatz zu öffnen, da die Hülle sonst hätte platzen müssen. Allein mein Begleiter zeigte keine Neigung, mich manövrieren zu lassen. Er beobachtete mich argwöhnisch und fiel mir dann in den Arm. Ich beschloß, abzuwarten, bis er sich wieder in Eifer geredet haben würde, und dann heimlich Ventil zu ziehen. Denn mehr und mehr verdichtete sich meine Ahnung zur Gewißheit, mit was für einem Menschen ich es zu tun hatte.

Die Uhr zeigte dreiviertel auf eins. Wir waren also vierzig Minuten unterwegs – vierzig kurze Minuten, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. Wir trieben auf dicke Wolkenmassen zu.

»Haben Sie alle Hoffnung aufgegeben, jemals zu Ihrem Ziele zu gelangen – uns das lenkbare Luftschiff zu schenken?« fragte ich mit fieberndem Interesse – mit dem Interesse, den unsinnigen Menschen auf andere Gedanken zu bringen.

»Alle,« erwiderte dumpf der Fremde. »Die abschlägigen Antworten von allen Seiten haben mich praktisch der Möglichkeit beraubt, meine Idee auszuführen, und der Spott der Mitmenschen und Karikaturenzeichner hat mir, wie der Esel dem toten Löwen, Fußtritte versetzt. Es ist das ewiggleiche Schicksal, die ewiggleiche Marter, die die Welt für jeden Neuerer hat. Schauen Sie sich doch nur die Karikaturen aller Zeiten an, mit denen mein Heft voll ist.«

Während er in seinem Hefte blätterte, hatte ich unversehens den Füllansatz aufgebunden und nach der Ventilleine gegriffen. Doch fürchtete ich, daß ihn das an einen Wasserfall erinnernde Geräusch des entweichenden Gases aufmerksam machen würde.

»Wieviel Witze hat man nicht über den Abbé Miollan gemacht!« verfolgte er seinen Gedankengang. »Als er mit Janinet und Bredin aufsteigen wollte, fing ihre Montgolfiere Feuer, und das enttäuschte Volk riß die Hülle vollends in Fetzen. Hier diese Karikatur zeigt die drei in Tiergestalt – sie werden da Miau, Kannnienich und Kretin tituliert …«

Derweil zog ich heimlich die Ventilleine – das Barometer stieg, wir sanken also. Es war die höchste Zeit. Schon grollte im Süden der Donner.

»Hier – schauen Sie sich diesen Stich einmal an,« fuhr mein Begleiter ahnungslos fort. »Er stellt einen Riesenballon dar, an dem ein Schiff als Gondel hängt. An Bord sind ganze Häuser und Burgen. Der Zeichner wäre freilich wohl im Ernst nie darauf verfallen, daß seine albernen Späße eines Tages Wahrheit werden könnten! Dem Schiffe fehlt es an nichts: Steuer, Segel, Flügel, Lotsenstand, Rettungsboot, Leuchtturm, Sternwarte, Kaffeehäuser, Mannschaftsräume, Vorratskammern, Lusthäuser, eine riesige Orgel und eine nicht minder riesenhafte Kanone, um die Aufmerksamkeit der Erden- oder Mondbewohner auf sich zu lenken. Lesen Sie die famose Ankündigung dazu: ›Erfunden zur Beglückung der Menschenkinder, wird dieses Luftschiff regelmäßig nach der Levante in Luft stechen. Es wird auch die beiden Pole und die beiden amerikanischen Kontinente besuchen. Die Reisenden brauchen sich um nichts zu kümmern – es ist an Bord alles zu ihrer Bequemlichkeit vorgesehen. Es wird ein genauer Fahrplan mit Tarif ausgearbeitet. Für die ganz großen Strecken ist ein einheitlicher Preis von tausend Louisdors vorgesehen. Daß dieser Betrag nicht zu hoch gegriffen ist, wird angesichts der schnellen und bequemen Beförderungsart in unserm Luftschiff gern zugegeben werden. Denn in ihm wird jeder finden, was sein Herz begehrt. Der eine wird sich auf einem Ball an Bord vergnügen, der andere wird derweil an Land Station machen, der dritte wird ausgesucht und feinschmeckerisch speisen, während der vierte mit Rücksicht auf seinen Glauben oder auf seinen Magen fastet; wer sich mit geistvollen Leuten unterhalten will, wird ihrer zur Genüge finden, wer aber in dem Dummkopf seinesgleichen vorzieht, wird auch darin reich bedient sein. Das Vergnügen wird die Seele unserer Luftschiffahrtsgesellschaft sein!‹ Man hat bisher über solche Phantastereien gelacht, aber wenn meine Tage nicht gezählt sind, so wird man es über kurz oder lang erleben, daß diese Luftschlösser Dinge der Wirklichkeit sind.«

Wir sanken zusehends, ohne daß er es bemerkte.

»Schauen Sie sich dieses Ballonspiel an; man spielt es in den besten Kreisen mit Würfeln und Zählmarken als anregendes Gesellschaftsspiel.«

»Sie scheinen ja alles studiert und gesammelt zu haben, was auf die Luftschiffahrt Bezug hat?«

»Sehr richtig, mein Herr, sehr richtig! Seit Phaeton, Ikarus und Archytas von Tarent habe ich alles untersucht, alles gesammelt, alles studiert. Durch mich konnte die Luftschifffahrt der Welt von unermeßlichem Nutzen werden – wenn Gott mich am Leben ließe. Aber das wird nicht fein.«

»Weshalb?«

»Weshalb? Weil ich Empedokles heiße – oder auch Herostrat.«

Der Ballon kam der Erde immer näher, allein wenn man in Gefahr ist, so ist es ziemlich gleichgültig, ob man fünfzig oder fünfhundert Meter hoch ist.

»Erinnern Sie sich an die Vorgänge bei der Schlacht von Fleurus?« fragte mein Begleiter, dessen Gesicht sich immer stärker rötete. »Damals richtete Coutelle auf Befehl der französischen Regierung die erste Luftschifferkompagnie ein. Bei der Belagerung von Maubeuge stieg General Jourdan in eigener Person zweimal mit Coutelle im Fesselballon auf, wobei sich die Luftschiffer mit den Haltemannschaften durch Signalfähnchen verständigten. Wiederholt wurde mit Flinten und Kanonen nach dem Ballon geschossen, ohne daß er getroffen wurde. Das Ergebnis der Erkundungen war glänzend. Als Jourdan Charleroi belagerte, ließ er Coutelle nachkommen. Diesmal blieb General Morelot mit Coutelle acht Stunden lang in der Luft und erkundete alles Wissenswerte. Jourdan hat die Bedeutung des Fesselballons für seinen Erfolg auch in seiner Siegesproklamation ausdrücklich anerkannt. Trotzdem aber sollte dieses erste Jahr der Militärluftschiffahrt auch zugleich ihr letztes sein, und die von der Regierung errichtete Luftschifferschule wurde bei der Rückkehr Bonapartes aus Ägypten geschlossen. ›Zu welchen Hoffnungen berechtigt dieses Kind, das eben erst das Licht der Welt erblickt hat!‹ hatte Franklin angesichts der ersten Ballone ausgerufen. Ja, wahrlich, das Kind war lebensfähig, man hätte es nie und nimmer ersticken dürfen!«

Der Unbekannte stützte die Stirn in seine Hand, blieb einige Augenblicke in Gedanken versunken, und hob dann mit herrischem Blick den Kopf:

»Meinem Verbote zum Trotz haben Sie Ventil gezogen.«

Ich ließ überrascht die Ventilleine fahren.

»Ein Glück,« setzte er gleichmütig hinzu, »daß wir noch hundertfünfzig Kilo Ballast an Bord haben.«

»Was haben Sie vor?« fragte ich entsetzt.

»Sind Sie noch nie über das Meer geflogen?«

Ich fühlte, wie ich erblaßte.

»Schade nur, daß wir nach dem Adriatischen Meere getrieben werden – das ist ja der reine Bach. Aber vielleicht finden wir in größerer Höhenlage eine andere Luftströmung.«

Und ohne mich eines Blickes zu würdigen, warf er ein paar Sack Ballast aus. Dann aber erhob er drohend seine Stimme:

»Ich habe Sie den Füllansatz öffnen lassen, weil der Ballon zu platzen drohte. Aber lassen Sie sich nicht noch einmal beifallen, Ventil zu ziehen!«

Er fiel in seinen gewöhnlichen Ton zurück:

»Sie kennen doch die Fahrt von Dover nach Calais, die Blanchard und Jeffries zusammen ausgeführt haben? Großartige Sache das! Am 7. Januar 1785 wurde ihr Ballon bei starkem Nordost in Dover gefüllt. Er erwies sich jedoch bald nach dem Start als überlastig; sie mußten Ballast geben, um nicht wieder zu sinken, so daß sie nur noch fünfzehn Kilo Sand in Reserve behielten. Das war viel zu wenig, denn bei dem schwachen Winde kamen sie nicht recht von der englischen Küste los. Überdies verlor der Ballon infolge der Undichtigkeit seiner Hülle Gas und wurde schlaff. Nach anderthalbstündiger Fahrt bemerkten die Luftschiffer, daß sie sanken.

»Was fangen wir jetzt an!« fragte Jeffries.

»Wir haben erst ein Viertel der Kanalbreite hinter uns,« stellte Blanchard fest, »und fliegen sehr niedrig. Vielleicht stoßen wir in größerer Höhe auf günstigere Windverhältnisse. Werfen wir unsern letzten Ballast aus!«

Der Ballon bekam etwas Auftrieb, aber bald begann er wieder zu fallen. Mitten über dem Kanal mußten die Luftschiffer ihre Instrumente und die nach Frankreich bestimmten Briefschaften über Bord werfen. Eine Viertelstunde später ersuchte Blanchard seinen Gefährten, den Barometerstand zu kontrollieren.

»Das Barometer steigt!« gab Jeffries zur Antwort, »Wir sind verloren!«

Aber gleich darauf jubelte er.

»Da taucht die französische Küste auf!«

In diesem Augenblick vernahm man ein verdächtiges Geräusch.

»Ist der Ballon geplatzt!« erkundigte sich Jeffries, aufs neue erschreckt.

»Das nicht, wir haben bloß so viel Gas verloren, daß die untere Hälfte des Ballons schlapp geworden ist. Aber wir sinken immer noch – fort mit allem, was entbehrlich ist!«

Ihr Eßvorrat, die Ruder und das Steuer, die sie in der vagen Hoffnung, den Ballon lenken zu können, mitgenommen hatten – alles sauste über Bord. Der Ballon war noch knapp hundert Meter über dem Meeresspiegel.

»Der Ballon steigt wieder,« stellte Dr. Jeffries aufatmend fest.

»Das ist wohl nur der geringe Auftrieb durch die Gewichtsverminderung. Und weit und breit kein Schiff, kein Fischerboot! Die Kleider ins Meer!«

Sie rissen sich die Kleider vom Leibe, der Ballon sank schon wieder.

»Blanchard, Sie hätten diese Fahrt allein unternehmen müssen. Nun soll es nicht Ihr Verderben sein, daß Sie eingewilligt haben, mich mitzunehmen. Ich werde mich opfern: ich springe ins Meer, und der Ballon, um mein Gewicht leichter geworden, wird wieder genügend Auftrieb bekommen.«

»Nein, nein – lassen Sie diesen Gedanken fallen,« wehrte Blanchard ab.

Der Ballon wurde immer schlaffer, er sah bereits einem Regenschirm ähnlich. Das Gas wurde dadurch nach den Wänden zu gedrängt und entwich noch stärker.

»Leben Sie wohl, mein Lieber!« rief Jeffries. »Gott schütze Sie.«

Er wollte sich über den Korbrand stürzen, aber Blanchard hielt ihn fest und sagte:

»Noch eine letzte Möglichkeit bleibt uns. Wir können die Gondel abschneiden und uns an das Ballonnetz anklammern. Machen wir uns fertig. Aber – was ist das? Das Barometer fällt – wir steigen! Der Wind hat aufgefrischt, wir sind gerettet!«

Schon kam Calais in Sicht, die Luftschiffer waren außer sich vor Freude, wenig später landeten sie im Walde von Guines.

Ich zweifle nicht daran,« fügte der Erzähler trocken hinzu, »daß Sie sich in dem gleichen Falle an Herrn Dr. Jeffries ein Beispiel nehmen würden.«

Unter uns breiteten sich blendende Wolkenmassive. Der Ballon warf langgezogene Schatten auf diese glänzenden Wogen. Der Donner krachte dicht unter uns.

»Fallen wir?« fragte ich verstört.

»Fallen – wenn dort oben die Sonne unser harrt? Herunter mit dem Ballast!«

Wieder wurde der Ballon um mehr als fünfundzwanzig Kilo entlastet. In dreitausendfünfhundert Meter Höhe kam er zum Stehen. Mein Peiniger plauderte unbekümmert darauf los. Ich war wie gelähmt, während er so recht in seinem Element zu sein schien.

»Mit günstigem Wind könnten wir noch weit kommen,« meinte er behaglich. »In den Antillen gibt es Luftströmungen, die hundert Seemeilen in der Stunde zurücklegen.

Bei der Krönung Napoleons I. ließ Garnerin einen buntgeschmückten Pilotballon steigen. Das war um elf Uhr nachts, und der Wind wehte aus Nordnordwest. Im Morgengrauen des andern Tages gaben ihm die Bewohner Roms den Salut, als er über St. Peter schwebte und dann auf dem Grabe Neros niederging. Wir – wir werden noch weiter und noch höher kommen.«

Ich hörte kaum noch, was er schwatzte. In meinen Ohren sauste es. Die Wolken zerrissen, eine Himmelsluke tat sich auf.

»Hallo – sehen Sie dort unten, die Stadt, das ist Speyer.«

Ich beugte mich über den Korbrand und erblickte einen kleinen dunklen Fleck. Es war Speyer. Der Rhein, der hier recht breit ist, glich einem dünnen Bande. Über uns strahlte der Himmel im reinsten Azur. Lange schon trafen wir auf keine Vögel mehr, die in dieser sauerstoffarmen Luft nicht mehr vorkommen. Wir zwei waren allein in der Unendlichkeit des Raumes – der Verrückte und ich.

»Es ist nicht nötig, daß Sie wissen, wohin ich Sie führe,« begann er wieder und warf den Kompaß in die Wolken. »Es ist doch etwas Herrliches um solchen Sturz. Und dabei hat die Geschichte der Luftschiffahrt von Pilâtre de Rozier bis Leutnant Gale verhältnismäßig wenig Opfer aufzuweisen. Überdies sind alle diese Unfälle selbst verschuldet. Pilâtre de Rozier war der erste. Er stieg am 13. Juni 1785 mit Romain in Boulogne auf. Seine Aero-Montgolfiere bestand aus einem gewöhnlichen Wasserstoffballon, an den unten ein Stoffzylinder für erwärmte Luft angefügt war. Je nachdem er das Feuer unter diesem Zylinder anfachte oder erstickte, gedachte Pilâtre zu steigen oder zu fallen, und zwar ohne Ballastauswurf oder Gasverlust. Meiner Treu, das nennt man einen Funken unter das Pulverfaß legen! Die Unvorsichtigen stiegen vierhundert Meter hoch, dort wurde ihr Luftschiff von einer andern Windströmung auf das offene Meer hinausgetrieben. Um es rasch zum Sinken zu bringen, wollte Pilâtre Ventil ziehen. Allein zu ihrem Unglück hatte sich die Ventilleine mit der Reißleine verknotet, der Ballon wurde aufgerissen, sackte sich entleerend auf den Warmluftzylinder, das Kohlenfeuer brachte das Knallgas zur Explosion, und zugleich wurden die beiden Luftschiffer in die Tiefe geschleudert. Sie blieben zerschmettert auf den Klippen der Küste liegen. War das nicht schrecklich – wie?«

Ich stammelte bloß: »Um Himmels willen, lassen Sie uns landen.«

Finstere Wolken ballten sich um uns, Blitze züngelten, und die Schläge des Donners hallten dröhnend von der Wölbung des Ballons wider.

»Machen Sie mich nicht ungeduldig!« schalt der Wahnwitzige. »Sie brauchen es überhaupt nicht mehr zu wissen, ob wir steigen oder fallen.«

Mit diesen Worten warf er das Barometer dem Kompaß nach und entleerte wieder einige Sack Ballast. Wir mußten jetzt viele tausend Meter hoch sein. Eiskristalle bildeten sich am Ballonkorbe, ein feiner Schnee peitschte uns bis auf die Haut. In der Tiefe unter uns wütete ein Orkan.

»Keine Angst!« beruhigte mich mein Fahrgast. »Bloß Unvorsichtige verunglücken. Olivari, der bei Orleans umkam, benutzte eine Montgolfiere aus Papier, und seine Gondel war gehäuft voll brennbarer Stoffe, die durch das Kohlenfeuer in Brand gerieten. Der Ballon flammte auf wie eine Fackel – Olivari stürzte und starb. Mosment stieg von einem Hügel bei Lisle auf; eine geringe Erschütterung brachte ihn aus dem Gleichgewicht – er stürzte und starb. Bittorf stieg in Mannheim mit einem Papierballon auf, der Ballon fing Feuer – Bittorf stürzte und starb. Harris stieg in einem Ballon auf, dessen Ventil zu groß konstruiert war; das Gas entwich – Harris stürzte und starb. Sadler hatte allen Ballast verausgabt, er wurde über die Dächer und Schornsteine von Boston geschleift – Sadler stürzte und starb. Cocking ließ sich mit einem Fallschirm herab, der einem vom Sturm umgeklappten Regenschirm glich; der Fallschirm sauste pfeilgeschwind in die Tiefe und klappte unter dem starken Luftdruck völlig zusammen – Cocking stürzte und starb. Nun denn – diesen Opfern ihrer Verwegenheit gehört meine Liebe und Verehrung. Ich werde sterben wie sie. Höher noch – immer höher!«

Alle Schreckensbilder seiner Totenliste gewannen Gestalt. Das Ballongas dehnte sich in der dünnen Luft und unter den sengenden Strahlen der Sonne. Mechanisch wollte ich Ventil ziehen, aber der andere zerschnitt kurzerhand die Ventilleine. Ich war verloren.

»Haben Sie Frau Blanchard stürzen gesehen?« fragte er grausam. »Ich habe das mit angesehen, jawohl – obgleich ich damals noch gar nicht auf der Welt war. Das war am 6. Juli 1819 in Tivoli. Um an den Füllungskosten zu sparen, benutzte Frau Blanchard einen Ballon von geringem Volumen, den sie infolgedessen prall füllen mußte. Deshalb wurde schon kurz nach dem Aufstieg Wasserstoff durch den Füllansatz herausgepreßt, so daß der Ballon eine förmliche Gasschleppe hinter sich ließ. Die Luftschifferin hatte unter ihrem Korbe an einem Draht Feuerwerk hängen, das sie in der Höhe entzünden wollte. Ferner führte sie einen Fallschirm mit, an dem ebenfalls Feuerwerk – und zwar ein Silberregen – hing. Sie beabsichtigte, beides mit Hilfe eines Zündstockes in Brand zu setzen und den Fallschirm über Bord zu werfen. Dabei beging sie die Unvorsichtigkeit, den brennenden Zündstock unter das entströmende Gas zu halten, das sich mit der Luft zu Knallgas vermengt hatte und sofort explodierte. Ich starrte mit den andern Zuschauern neugierig nach oben, als das jähe Aufflammen die Finsternis der Nacht erhellte. Anfangs glaubten alle, daß es sich um einen neuen Trick der bekannten Luftschifferin handle. Die Flamme wurde größer, verschwand einen Augenblick und zeigte sich dann als eine lodernde Säule oben auf dem Ballon. Der Widerschein des Feuers zuckte auf den Boulevards und auf Montmartre. Ich konnte genau sehen, wie die Unglückliche sich aufrichtete und zweimal den Versuch machte, den Füllansatz mit den Händen zusammenzupressen und so das Feuer zu löschen. Dann sprang sie in den Korb zurück und suchte den Ballon zum Sinken zu bringen. Es währte mehrere Minuten, bis das Gas abgebrannt war. Der Ballon schrumpfte zusammen, aber er fiel nicht, sondern wurde von dem heftigen Nordwest auf Paris zurückgetrieben. In der Rue de Provence, die große Gärten besitzt, wäre eine verhältnismäßig glückliche Landung noch möglich gewesen. Aber der Ballonkorb prallte gegen das Dach des Hauses Nr. 16, in dem gleichen Augenblick, als wir in rasendem Lauf die Straße erreichten. Wir hörten Frau Blanchard noch um Hilfe schreien, dann schleuderte sie der Anprall aus dem Korb auf das Straßenpflaster. Zerschmettert blieb sie liegen.«

Ich erstarrte bei dieser mit wilder Leidenschaft vorgetragenen Erzählung. Der Wahnsinnige stand aufrecht vor mir, bloßen Hauptes, mit gesträubtem Haar und stierem Blick. Er warf den letzten Ballast über Bord – und dabei mußten wir uns schon in einer Höhe von vielleicht achttausend Metern befinden! Das Blut drang mir aus Mund und Nase.

»Was gibt es Herrlicheres,« schrie mein Feind mit einer angestrengten Stimme, die wie durch eine dicke Wasserwand an mein Ohr drang, »als ein Märtyrer der Wissenschaft zu sein! Die Nachwelt wird uns heiligsprechen.«

Ich vermochte nichts mehr zu hören und sank in mich zusammen. Der Narr kniete bei mir nieder und raunte mir ins Ohr:

»Und den Untergang des Grafen Zambeccari – haben Sie den vergessen? So hören Sie zu. Zambeccari und seine Begleiter Grossetti und Andreoli hatten tagelang auf günstiges Wetter geharrt. Es herrschte andauernd Regen und Sturm. Seine Feinde spotteten, und um sich und die Wissenschaft vor dem Fluche der Lächerlichkeit zu retten, stieg er auf, sobald sich die geringste Besserung des Wetters zeigte. Niemand half den dreien bei der Füllung ihrer Charliere, deren Wasserstoff sie von unten durch eine Spiritusflamme anwärmen wollten. Feuer unter einem Gasballon! Die Hülle war durchlässig geworden, Gas entwich – dennoch verließen sie um Mitternacht zum 7. Oktober 1804 den festen Boden. Sie stiegen langsam, aber stetig, wie ihnen das Barometer anzeigte, das sie beim trüben Schein einer Handlaterne kontrollierten. Zambeccari und Grossetti hatten über der angestrengten Füllarbeit seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen.

»Freunde,« klagte Zambeccari, als sie schon in großer Höhe schwebten, »mich friert, ich bin erschöpft – ich glaube, ich sterbe.«

Er brach wie tot zusammen. Auch Grossetti fiel ohnmächtig nieder. Nur Andreoli blieb bei Bewußtsein. Nach langen Bemühungen gelang es ihm, Zambeccari wachzurütteln.

»Was gibt es? Wo sind wir? Woher kommt der Wind? Wieviel Uhr ist es?«

»Zwei Uhr.«

»Wo ist der Kompaß?«

»Umgestürzt.«

»Die Spiritusflamme geht aus.«

»Sie kann in dieser sauerstoffarmen Luft nicht mehr brennen.«

Der Mond trat hervor und goß sein geisterhaftes Licht über die verschwommene Szenerie.

»Oh, wie mich friert, Andreoli … Was fangen wir nur an?«

»Still,« bat Andreoli, »hört ihr nichts?«

»Was denn?«

»Ein merkwürdiges Geräusch.«

»Du täuschst dich.«

»Nein.«

Sehen Sie diese Luftschiffer in der undurchdringlichen Finsternis der Nacht, lauschend auf das unerklärliche Geräusch aus der Tiefe? Werden sie gegen einen Turm rennen oder auf Dächer aufschlagen?

»Hört ihr nicht? Es klingt wie Meeresbrandung.«

»Unmöglich!«

»Doch, doch – es ist das Rauschen des Meeres.«

»Wahrhaftig. Sofort den Gaswärmer anzünden!«

Nach fünf vergeblichen Versuchen gelingt es Andreoli, den Spiritusbrenner wieder anzuzünden. Die Uhr zeigt auf drei. Das Rauschen der Wogen ertönt ganz nah. Sie streichen dicht über die Meeresfläche.

»Wir sind verloren!« ruft Zambeccari und wirft einen Sack Ballast über Bord.

»Hilfe!« schreit Andreoli, in der Hoffnung von einem vorüberfahrenden Schiff aus gehört zu werden.

Die Gondel taucht in das Wasser. Schon reicht es ihnen bis zur Brust.

»Die Instrumente über Bord! Die Kleider! Das Geld!«

Sie schleuderten alles über die Brüstung. Allzu stark erleichtert, stieg der Ballon augenblicklich zu schwindelnder Höhe. Zambeccari mußte sich heftig übergeben. Grossetti wurde von einem starken Nasenbluten befallen. Der Atem verschlug ihnen, die Kälte marterte ihre halbnackten Leiber, Schnee stob um sie und begrub sie förmlich, rot wie Blut schien der Mond.

Eine halbe Stunde lang trieben sie wehrlos und gelähmt in diesen unermeßlichen Höhen, dann fiel der Ballon wieder. Es war vier Uhr morgens.

Der Ballon fiel wie ein Stein und klatschte abermals ins Meer. Wieder standen sie bis zur Hüfte im Wasser. Das halbentleerte Flugschiff bauschte sich wie ein Segel und trieb stundenlang mit dem Wind. Als der Tag anbrach, sichteten die Schiffbrüchigen die Küste – sie waren vier Seemeilen von Pesaro entfernt. Neue Hoffnung belebte sie, aber der Wind drehte und jagte sie höhnisch auf das offene Meer zurück. Sie trieben auf Fischerboote zu, allein die abergläubischen Fischer flohen vor dem fremden Ungeheuer wie vor einer höllischen Erscheinung. Zu ihrem Glück war einer gescheiter als die andern, er ruderte herzu, nahm sie auf und brachte die völlig Erschöpften nach Ferrara.

Eine fürchterliche Fahrt das, nicht wahr? Aber Zambeccari war ein mutiger Mann von eiserner Willenskraft. Kaum war er wiederhergestellt, kaum konnte er seine erfrorenen Hände wieder gebrauchen, an denen ihm mehrere Finger hatten amputiert werden müssen, so bereitete er einen neuen Aufstieg vor. Dicht über dem Erdboden stieß der Ballon gegen einen Baum, dabei fiel der Weingeistbrenner um und ergoß sich über die Kleider des Grafen, die Feuer fingen. Auch der Ballon geriet in Brand; trotzdem gelang es dem Luftschiffer, zu landen. Er war mit Brandwunden bedeckt.

Und nun sollen Sie noch von der letzten Fahrt unseres kühnen Vorgängers hören. Am 21. September 1812 stieg Zambeccari bei Bologna auf. Wieder blieb der Ballon an einem Baume hängen, wieder verbreitete sich das Feuer von dem Brenner aus über das ganze Fahrzeug. Diesmal aber – diesmal stürzte Zambeccari ab und starb.

Und angesichts solchen Heldentums sollten wir noch zögern! Nie und nimmer! Und je hoher wir steigen, desto ruhmvoller wird unser Sterben sein!«

Unser Ballon war nunmehr von allem, was beweglich war, entblößt. Wir hatten eine Höhe erreicht, die sich nicht mehr schätzen ließ. Die riesige Kugel vibrierte in der dünnen Luft, das geringste Geräusch hallte dröhnend vom Himmelsdom wider, der sich mit allen Gestirnen in ewige Finsternis verlor. Der Fremde richtete sich vor mir auf und rief mit versagender Stimme – mir aber tönte es wie die Posaune des Jüngsten Gerichtes:

»Die Stunde ist gekommen – nun heißt es sterben! Von den Menschen sind wir verstoßen, sie verachten uns – zermalmen wir sie!«

»Gnade!« ächzte ich.

»Zerschneiden wir die Aufhängeseile. Überantworten wir uns der Gondel, überantworten wir sie der Unendlichkeit des Raumes! Die Schwerkraft wird ihre Richtung umkehren – wir werden auf der Sonne landen!«

Die Verzweiflung gab mir Leben und Kraft zurück. Ich warf mich auf den Verrückten, wir packten uns Leib um Leib, ein grauenhafter Ringkampf begann. Er war der Stärkere. Er schlug mich zu Boden, kniete auf mir und zerschnitt die Aufhängeseile.

»Eins …« zählte er.

»Barmherziger Gott!«

»Zwei … drei!«

Ich bäumte mich in übermenschlicher Anstrengung, schüttelte den Wahnsinnigen ab, der Strick um Strick durchschnitt, und richtete mich auf.

»Zehn … elf …«

Die Gondel stürzte in die Tiefe. Instinktiv klammerte ich mich an die durchschnittenen Auslaufleinen und zog mich am Ballonring in das Netz empor. Der Irre war im Raum verschwunden.

Der um das Korbgewicht erleichterte Ballon schoß hinauf in tödliche Höhen. Ein Krachen und Reißen über mir – das sich ausdehnende Gas hatte die Hülle gesprengt … ich schloß die Augen …

Eine heiße Feuchtigkeit rief mich ins Leben zurück. Ich öffnete die bleischweren Lider: feurige Wolken wirrten um mich, Blitz auf Blitz griff züngelnd nach mir. Die Geschwindigkeit des Sturzes hatte abgenommen – die Hülle über mir blähte sich fallschirmartig. Die Erde kam in Sicht. Vom Horizont rückte das Meer heran, auf das mich der Wind zutrieb. Ein plötzlicher Windstoß riß mir die Leinen, an denen ich mich hielt, aus den Händen. Automatisch schloß ich im Stürzen die Hände wieder und fühlte etwas rauh und brennend durch sie gleiten. Dann schlug ich auf den Erdboden auf.

Es war das Landungsseil, das sich in einen Erdspalt oder Vorsprung verfangen und das ich im Absturz gepackt hatte. Der Ballon, um seinen letzten Ballast, um mich erleichtert, flog über die schäumende See dahin.

Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich auf dem Bette eines Bürgers der Stadt Harderwijk am Zuidersee, Provinz Gelderland, vierzig Kilometer von Amsterdam. Es währte lange, ehe ich das Wunder meiner Rettung begriff und glaubte.


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