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Geflügelte Taten

Von Hermann Heijermans

Seitdem die helle Kiste mit der großen Nachnahme darauf in des Herrn Rumpelkammer ausgepackt worden war und seitdem diese Kammer verschlossen blieb, schien alles Korrekte, Sorgfältige, Wohlerwogene in der Haltung des Herrn, der Frau und ihrer noch unverheirateten Tochter wie weggeblasen.

Mit dem Boden fing es an, mit dem Boden, der einen ganzen Monat lang nicht rein gemacht worden war, obwohl er eine gründliche Reinigung sehr gründlich nötig gehabt hätte; der Boden, von dem die Frau selbst gesagt hatte, daß es ein Skandal wäre, wie die Spinnweben in allen Ecken und Löchern saßen – der Boden, worauf nun niemand den Fuß zu setzen wagte.

Der Herr, der sehr gewandt zu handwerkern verstand, hatte die Tür an zwei Stellen mit Riegeln versehen und den Schlüssel in seine Westentasche gesteckt. Ja, das war der närrische Anfang gewesen.«

Kobus, der Hausknecht, hatte sich nicht weiter den Kopf darüber zerbrochen – der fand alles richtig. Aber Christien, die alte Chris, die ihre Herrschaft schon länger als vierzehn Jahre kannte, saß mit Ians, dem Zweitmädchen, stundenlang hinter dem Kaffee, wo sie ingrimmig über das Mißtrauen, über des Herrn Rumpelkammer und über das Bodenverschließen klatschten. Wenn man vielleicht irgend etwas vermißte, dann konnte man es doch einfach rund heraussagen, dann brauchte man doch nicht zu mucken und zu heimtücken. Das hatte doch keine Art!

Das Geschwätz war noch in vollem Gange, als sich etwas Verblüffendes ereignete. Jans, die am allerwenigsten Anrecht darauf hatte, bekam zehn Tage Urlaub, um ihre Mutter in Friesland zu besuchen. Und als Christien, die nie einen Tag frei nahm, weil sie keine Menschenseele auf der Welt besaß, als Christien geduldig der Frau auseinandersetzte, daß sie das Haus zehn Tage lang nicht allein in Ordnung halten könnte, daß Kobus auf seine eigene Arbeit angewiesen wäre und sie auf die ihre und daß alles versudeln würde, weil sie doch nur zwei Hände zum Arbeiten habe, da antwortete diese, daß sie es dann in den zehn Tagen mal nicht ganz so genau nehmen sollte und daß Fräulein Amelie ihr auch ein wenig mithelfen könnte. Nicht ganz so genau! … Die alte Magd war rein zerschmettert davon, so ganz baff, so erschrocken, daß sie ihren vertraulich brutalen Ton des unentbehrlich gewordenen Mädchens, das zu einem Familieninventar geworden ist, wie einen glitschigen Aal aus den Fingern gleiten ließ …

Jans reiste ab, froh wie ein Huhn, noch an demselben Abend. Und während Kobus Tutu und Zo, die beiden glänzend schwarzen Hündchen, die Herzenslieblinge der Frau, auf den Weg vor dem Garten hinausließ und Chris am Spülstein das Geschirr aufwusch, artete die Familientorheit bis in exzentrischste Ausgelassenheit aus.

Herr Schwalbe stand plötzlich, auf Strümpfen gehend, ja, auf Strümpfen! – es war, um zu sterben vor Schreck! – in der Türöffnung, ohne daß sie auch nur ein Rascheln gehört hatte.

»Chris,« sagte der Herr, der sonst um diese Abendstunde immer eine rote Wange hatte, eine purpurnbeulige Stelle von dem Antimakassar, auf dem er sein Schläfchen nach Tisch nahm, »Chris, Mädchen, haben Sie nicht mal Lust, ein bißchen auszugehen?«

»Ich? Auszugehen?« hatte sie erstaunt gefragt. »Dazu habe ich doch jetzt keine Zeit …«

»Dann nehmen Sie sich nur mal die Zeit; es ist das allerschönste Wetter,« hatte er freundlich aufmunternd erwidert.

»Nein,« hatte sie noch einmal gesagt, »bis ich mit dem Geschirr fertig bin und den Flur aufgewischt habe, ist es schon Nacht …«

»Ach, gehen Sie doch nur ein wenig aus,« hatte er dringend gebeten.

Unhörbar fortschleichend war er dann verschwunden, wie er gekommen war, und keine drei Minuten später war – ebenfalls auf Strümpfen … guter Gott, sie jagten einem ja einen Totenschrecken ein! – war Fräulein Amélie gekommen, die ihr ein wenig im Haushalt helfen wollte, nun, wo Jans in Friesland war. Fräulein Amélie, die noch nie einen Finger gerührt hatte, Fräulein Amelie schlängelte sich liebenswürdig in die Küche, mit Chris hier und Chris da, und auch sie versuchte Chris auf alle Weise zu überreden, daß sie ein wenig ausgehen möchte.

Von Mißtrauen erfüllt und nichts von dem allen begreifend, hatte die Alte absichtlich langsam gemacht, absichtlich die Teller und Schüsseln nochmals nachgespült, absichtlich den Küchentisch gehörig gescheuert. Dann hatte die Hausfrau – so viel Hinterlist hätte man gar nicht bei ihr vermuten sollen! – der Alten geschellt und sie katzenfreundlich gebeten, lauter überflüssige Besorgungen zu machen, lauter Dinge, die gar nicht nötig waren, die Kobus genau so gut hätte ausführen können, Kobus, der heute abend mit Tutu und Jo ausgegangen war, um auch Besorgungen für den Herrn zu erledigen. Erst um neun Uhr, so lange hatte sie sich noch auf ihrem Zimmer neben dem Boden zu schaffen gemacht, war sie weggegangen, und als sie dann abgehetzt, gänzlich abgehetzt, weil sie der Geschichte nicht traute, schon um halb zehn wieder an der Gartenecke stand, sah sie das Bodenfenster hell erleuchtet, die weiße Gardine davor heruntergelassen und dahinter das allerabscheulichste Schattenbild, als ob Herr Schwalbe dort an den Trockenstangen hinge!

Unten im Wohnzimmer alles dunkel … Ungeduldig schellend, ohne daß Tutu und Zo anschlugen, hatte sie wohl zehn Minuten lang warten müssen, ehe der Zerr, wieder auf Strümpfen und in Schweiß gebadet, als ob er stundenlang herumgerannt wäre, öffnete.

»Ich dachte schon, es wär' was passiert,« hatte sie gesagt.

»Passiert? Was denn? Wir saßen im Dunkeln und unterhielten uns,« hatte der Herr schwer keuchend geantwortet.

Auf dieses Geflunker hin hatte sie geschwiegen und in der Küche wohl noch eine halbe Stunde lang auf Kobus gewartet, der mit Tutu und Zo zum Hundescherer gegangen war, um die noch ganz sauberen Tierchen waschen zu lassen.

»Kobus,« hatte sie beklommen gemurmelt, »hier geschehen augenblicklich Dinge, die das Licht nicht vertragen können.«

Er hatte sie ausgelacht, sie für verrückt erklärt, ihr auf die fetten Schultern geklopft und sie in die Seite gepiekt, wie er das wohl zu tun pflegte, wenn er ausgelassen war. Nein, von Sachen, die das Licht nicht vertragen konnten – bei der Familie Schwalbe – davon glaubte er nichts. Menschen, die auf tausend Gulden nicht zu sehen brauchten, die das schönste Auto in der ganzen Gegend besaßen, einen Prachtwagen von einem Mercedes, mit elektrischem Selbstzünder, und ein Reserveauto für schlechtes Wetter, Menschen, die ihr eigenes elektrisches Licht im Hause brannten, prompt alle Tage bezahlten, nie eine Rechnung zurückwiesen, die feinsten Nachbarn empfingen und alle naselang große Reisen unternahmen …? Nein, die fette Chris mochte in ihrem dicken Schädel ausbrüten, was sie wollte, er – er konnte nur seinen Spaß an ihrer Besorgnis haben.

Ließ sie nicht neulich erst, als der Herr ihr hatte beibringen wollen, mit Brüssel und Berlin zu telephonieren, beim ersten Geräusch das Hörrohr mit einem gellenden Schrei niederfallen? Das war so polizeiwidrig dumm gewesen, und darüber hatten sie alle so furchtbar gelacht, daß man ganz von selber wieder an ihre Angst von damals denken mußte, wenn Chris über unheimliche Dinge im Hause ihr Tollmützchen schüttelte. Vergnüglich lachend suchte Kobus sie über ihre törichten Bedenken zu beruhigen und kaute auf seinem Priem, dessen Saft er alle halbe Minute in den Garten spie.

Das war Mittwoch abend gewesen.

Donnerstag mittag aber begann auch Kobus irre zu werden. Stotternd – man konnte so recht merken, daß sie mit der Sprache nicht recht herauszukommen wußte – sagte Frau Schwalbe zu Chris, daß Fräulein Amélie auf einmal die Idee bekommen hätte, etwas höher im Hause schlafen zu wollen. Ob Chris nichts dagegen hätte, für acht Tage nach unten ins Fremdenzimmer zu ziehen? Kobus schliefe doch auch im Souterrain – bange brauchte sie da also nicht zu sein.

»Himmel, was für ein Einfall – nein, das tu' ich nicht!« hatte Chris ärgerlich ausgerufen, »warum soll ich denn von meinem Zimmer herunter? …«

»Weil Fräulein doch so gerne möchte – sie findet die Aussicht oben über die Bäume weg so herrlich – tun Sie's doch nur – ich werde es schon wieder gut machen …«

Widerspenstig und übelgelaunt hatte Chris noch ein wenig dagegen angeknurrt und eine ganze Portion Bosheiten herausgeschleudert.

Als Frau Schwalbe aber auf ihrem Willen bestand, war ihr nichts übriggeblieben, als murrend nachzugeben.

Doch den ganzen Tag über hatte sie den Mund nicht aufgemacht.

Der Herr, die Frau, Fräulein Amélie, Jans und Kobus, alle im Hause wußten, daß Chris, wenn sie in böser Laune war, ihre Lippen wie eine zusammengepreßte Zitrone aufeinanderkniff. Sie arbeitete, kochte und bewegte sich dann wie eine Stumme, stieß die Töpfe, schlug die Türen zu und kam erst auf zwei-, dreimaliges Schellen. Ließen sie sie dann ruhig in ihrer eigenen Sauce schmoren, dann kam sie nach dem Essen gewöhnlich so langsam wieder zu sich. An diesem tagt aber dauerte es länger.

Um zehn Uhr, als sie den Schlüssel im Fremdenzimmer hinter sich umdrehte, hatte sie noch kein Wort gesprochen, hatte sie noch niemand Gutenacht gesagt und Kobus auf alle seine faulen Witze keine Antwort gegeben. Vor dem Spiegel hatte sie sich ihr borstiges gelbes Haar gekämmt, ein flachsiges Zöpfchen davon gedreht und ein Schnürband darum gewickelt.

Und als sie dann in ihr schönes Bett gestiegen war, mit den wollenen Strümpfen angetan, wegen der Bettuchkälte, hatte sie noch lange dagelegen und über den Mutwillen der reichen Leute nachgedacht, die sich alle Tage was Neues ausdenken, nur weil sie mit ihrer Zeit nichts anzufangen wissen.

Während sie so leise einschlummerte und noch im Halbtraum überlegte, daß sie morgen die Holzsachen in der Küche gründlich scheuern wollte, fuhr sie plötzlich erschrocken seufzend in die Hohe.

Irgendwo über ihrem Kopf wurde gepoltert.

Deutlich vernahm sie es: Bums! …

Und dann wieder: Bums!

Sie richtete sich im Bett auf, die fetten Knie gegen den Leib, der ganz von einer Gänsehaut überlaufen war, gezogen. Ihr stockte der Atem. Plötzlich hörte sie eine Dachpfanne mit Geklapper in die Dachrinne plumpsen. Einen Augenblick zog sich ihre Körpermasse in der Deckenhöhlung zusammen wie eine Kolbenstange in den Zylinder, einen Augenblick bewegte sich die Bettdecke unter dem Beben ihres Herzens wie ein wallender See. Dann aber fuhr ein entsetzlicher Gedanke ihr durch den Sinn: ihr Nähkasten war noch oben im Mädchenzimmer! Der Nähkasten, der hinter Schloß und Riegel im Koffer lag und ihre mühsam zusammengesparten Amsterdamer Staatslose barg. Mit einem Aufschrei schnellte sie aus dem Bette und zündete die Kerze an.

Der Wecker stand gerade auf ein viertel nach zwölf.

Alles schien im Hause zu schlafen, die Hunde kläfften nicht, und – wahrhaftig, wahrhaftig! – noch während sie zähneklappernd an der Tür lauschte und überlegte, rasselte eine zweite Dachpfanne, ruckweise polternd, über die Dachrinne weg in den Garten, wo sie mit dumpfem Schlag auf die Erde fiel.

Eine Reihe von krampfhaften Reflexbewegungen ließ Chris die Türklinke umdrehen, die kleine Treppe in das Souterrain hinunterrasen, mit der einen Hand das im Zugwind flackernde Kerzenendchen schützen und mit der andern die Tür bearbeiten, die in Kobus' Zimmer führte.

»Kobus!« schrie sie heiser, »Kobus – schnell doch, Kobus!«

Endlich hörte Kobus, und als er aufgeschreckt die Tür öffnete, sah er zum erstenmal in seinem Leben die dicke Chris in ihrer Nachtjacke vor sich stehen, den fleischigen Nacken entblößt und von den Flachsschwänzchen ihres Haares umflattert. Aber wo sonst Mund und Augen waren, zeigte ihr leichenblasses Gesicht nur ein paar gespenstische Löcher mit einer entsetzten Augenbrauenlinie darüber.

»Wo brennt's denn!« schrie er.

Sie aber legte, unempfindlich für seine mageren haarigen Waden und knochigen Füße, ihren dicken Zeigefinger auf den Mund und flüsterte mit banger Miene:

»So höre doch nur!«

Oben hielt das Stöhnen und Poltern an, und durch die geschlossenen Türen erklang gedämpft ein verdächtiges Lachen.

»Was ist denn los?« brummte Kobus, »was ist denn los? Sie sind noch auf!«

»Nein, Kobus – nein, Kobus –« keuchte sie, »es ist etwas ganz Unheimliches! Auf dem Dach! – Dachpfannen sind heruntergefallen!«

Während sie das noch sagte, polterte deutlich wieder eine Pfanne von oben herunter und klapperte gegen die Dachrinne.

»Allewetter!« brummte er ärgerlich, weil er im Schlaf gestört war. »Da wollen wir aber doch mal nachsehen!«

Mutig fuhr er in sein Beinkleid, ließ die Hosenträger herabbaumeln, öffnete sein Taschenmesser, das blutdürstig beim Kerzenlicht aufblitzte, und stieg die läuferbelegte Treppe hinan. Halb erstickt vor Angst watschelte sie mit der flackernden Kerze in den Händen hinterdrein. Seltsam spielten die Strahlen des Lichtes auf den schwieligen gelben Fußballen des Kobus und den Messingstäben über dem Läufer.

Je höher sie hinaufkamen, um so merkwürdiger wurde das Geräusch. Es mußte ein Mensch da auf dem Dache sein; von einer Katze konnte das nicht kommen.

Plötzlich klebten Chris' Strümpfe auf dem Treppenläufer fest.

»Wo bleibst du denn mit dem Licht,« rief Kobus mit düsterer Grabesstimme. Angenehm war ihm die Sache auch gerade nicht.

Endlich hatte sie sich aufgerafft. Schwer atmend schritt sie weiter, die eine Hand wie ein Barbierbecken unter das geschmeidig herableckende Kerzenfett haltend, das in bleichen Tröpfchen ihr feuchtes Fleisch betaute.

Ohne zu sprechen, in grauenvollem Schweigen, durchmaßen sie den hohlen Raum und die letzten Stufen.

Jetzt waren sie oben. Sie lauschten. Drinnen wurde gesprochen. In atemloser Verblüfftheit blieben sie stehen, obwohl sie am liebsten gleich wieder die Treppe hinuntergesetzt wären. Hinter der Bodentür erklang das unterdrückte Lachen von Frau Schwalbe und Fräulein Amélie. Lachen – Lachen – nachts um ein Uhr – auf dem Boden!

»Jesses nochmal,« flüsterte Chris.

Kobus stieß sie in die Seite. Die Hälse nach der Bodentür hingereckt, die Ohren gespannt, hielten sie sich an dem Treppengeländer fest.

Es schien, als ob Fräulein Amélie tanze – als ob sie auf und nieder schwebe, einmal vorn an der Tür und dann wieder weiter weg.

Und plötzlich, nach längerer Stille, vernahmen sie ein so seltsames, so total verrücktes Gespräch, daß Chris vor Angst und Aufregung das heiße Kerzenfett auf Kobus' Füße niedertropfen ließ.

»Papa!« horten sie Fräulein Amélie rufen, »Papa – nun laß uns aber bitte auch mal in die Dachrinne …«

»Nein, es ist viel zu schön hier!« erklang des Herrn Stimme von draußen, worauf Frau Schwalbe antwortete:

»Aber Mann, die Dachrinne ist doch nicht für dich allein da! …«

»Allmächtiger,« flüsterte Chris, »hörst du!«

»Stille doch!« entgegnete Kobus, ihr einen Stoß versetzend. Darauf schwieg sie, und aufs neue lauschten sie dem wahnwitzigen Gespräch, das da auf dem Boden geführt wurde:

»Nun, meinetwegen könnt ihr auch mal in die Dachrinne,« sprach der Herr, zwischen jedem Wort leise summend. »Ihr könnt auch mal ums Haus herum bis an den Schornstein, aber ja nicht nach unten – denn bei Spaarns ist noch Licht, und in dem Mädchenzimmer bei Leurings sitzt das Mädchen und liest …«

»Jetzt komme ich, Papa – hoppla! – famos!«

»Ist die Dachrinne auch trocken, Peter!«

»Was macht das!«

»Nun, ich bin auf Strümpfen, und da ist mir das nicht einerlei, Peter!«

»Dann halte dich schräg an den Pfannen entlang.«

»Papa – ich schieße doch mal nach unten. Das geht ja großartig!«

»Willst du das wohl lassen!«

»'n Tag, Papachen! … He! …«

Unten kläffte der Hofhund bei Leurings.

»Na ja! Da hast du's!« brummte der Herr.

Chris verließ die Kraft. Sie mußte sich setzen. Das eine kräftige Bein unter sich gestemmt, wie einen Stützbalken unter eine Mauer, die sich senken wollte, den linken Ellenbogen gegen die Holzkante der Treppe gepreßt, so hockte sie da, der Mund, ein dunkler Strich, wie versteinert und schmerzlich verzerrt wie in Scheiterhaufenqual. Das Entsetzen Lots, die Angstschauer der durch Nero Gemarterten, was waren sie gegen die Qualen, die sich auf ihrem Antlitz ausprägten!

Der Herr, die Frau, das Fräulein, nachts um halb eins in der Dachrinne schäkernd, daß die Dachpfannen herunterrollten – und das Fräulein, das hinunterspringen wollte! – Herr des Himmels: drei Menschen auf einmal verrückt geworden! Es war so entsetzlich, daß sie in plötzlicher Erstarrung fast auf den Vorplatz herabgekollert wäre, wenn Kobus ihr nicht ärgerlich einen Tritt versetzt hätte, wobei das herabträufelnde Kerzenfett wieder seinen Fuß verbrannte.

»Verdammt nochmal!« rief er, nicht länger mehr imstande zu flüstern. »Halt doch wenigstens die Kerze gerade! Mir das alles auf den Fuß tropfen zu lassen! Bist du auch verrückt geworden!«

Er tanzte vor Schmerz mit dem Taschenmesser in der Hand, daß die Hosenträger ihn wild umflatterten.

Endlich fuhr sich Chris, aus ihrer Erstarrung aufgeschreckt, mit der Hand über die feuchte Stirn.

»Kobus,« stotterte sie, »Kobus – du mußt – du mußt – die Nachbarn wecken …«

»Still – scht!« antwortete er, aufs neue nach ihr tretend. Dann kroch er wie ein Mörder die letzten Stufen hinauf nach Chris' Zimmer, das neben dem Boden lag, und öffnete leise die Tür.

»Komm her,« flüsterte er, »wir wollen durch dein Fenster sehen, was sie da machen.«

»Und das Fräulein auf meinem Zimmer!« keuchte Chris, indem sie ihm nachstrampelte. Der Rest ihrer Gedankensplitter erstarb in der Unendlichkeit, plötzlich erlosch die gegen so viel Angstseufzer nicht gefeite Kerze, noch etwas trübe nachglimmend mit ihrem verqualmenden kleinen Docht.

»Die Kerze ist ausgeweht,« flüsterte sie, halb weinend, durchschritt aber die wohlbekannte Dunkelheit des Zimmerchens und fuhr in nervöser Zerstreutheit mit der Hand über die Hüfte, wo sonst, wenn sie angekleidet war, ihr Streichholzdöschen steckte.

Kobus hörte gar nicht zu. Vorsichtig, ohne das Fenster kreischen zu lassen, hatte er den Rahmen aufgeschoben und den Oberkörper über die Dachrinne gebeugt.

»Nun?« fragte Chris.

Doch wie angefroren, bewegungslos, atemlos lehnte er in dem Fensterrahmen.

»Was siehst du denn?« fragte sie wieder, wobei sie ungeduldig an dem einen Hosenträger zerrte, als ob sie einen Glockenzug in der Hand habe.

»Halt den Mund!« rief er gedämpft, »die verfluchte Dachkante stört mich – sie wirtschaften ja in der Dachrinne herum …«

Zähneklappernd vor Furcht und in der Nachtluft, die über ihren fleischigen Nacken wegstrich, lehnte sie sich neben den Hausknecht auf die Fensterbank, die rundlichen Arme halb auf das Zink der Dachrinne gelegt.

Es war ein lieblicher Sommerabend. Die Sterne standen zahlreich um den Mond herum, der sich wie eine hübsch geputzte, leuchtende Messingsichel über einem Brei aus Reis und Stärke erhob. Der Hofhund bei Leurings kläffte unruhig.

»Sind sie noch auf dem Dach!« fragte sie zusammenschauernd.

»Stille mal!« antwortete Kobus.

Nebenan, hinter der Ecke, die die Aussicht verhinderte, erklangen die Stimmen nun deutlicher.

»Daß du dich nicht unterstehst, es noch einmal zu tun!« brummte der Herr. »Solange der alberne Hund blafft, verhalte dich, bitte, still.«

»Weißt du wohl,« meinte Frau Schwalbe in einem Ton, so gemütlich, als ob sie sich bei einem Kaffeeklatsch befände, »weißt du wohl, Peter, daß es keine zwei Jahre mehr dauern kann, und die Leute müssen sich der Sicherheit wegen auch auf den Dächern Hunde halten …«

»Hörst du das?« flüsterte Chris, »sie sind alle drei übergeschnappt – du mußt der Polizei Bescheid sagen …«

»Stille doch!« knurrte der Hausknecht wieder.

»Ich lege mir ganz bestimmt einen Bluthund aufs Dach und Fallen in die Dachrinnen,« sagte der Herr in allervergnügtester Stimmung. – »So, jetzt blafft der Hund nicht mehr. Jetzt werde ich noch eine kleine Tour am Hause entlang unternehmen. Amelie, wohin willst du denn, Kind?«

»Ich will mal ein bißchen ums Haus herum, Papa!«

»Dann stoß dich nicht an der Schornsteinstange, Kind!«

»Nein, Papa!«

In demselben Augenblick schrie Chris so gellend auf, daß die kleine Mondsichel einen Schreck zu bekommen schien.

Fräulein Amelie flog eben in einer Hose ihres Papas an dem Dachfenster vorbei. Und als sie die Köpfe von Kobus und Christien erkannte, brach sie in ein so tolles Gelächter aus, daß der Hofhund des Nachbars aufs neue anfing, wütend anzuschlagen …

Es war ganz einfach der neue amerikanische Flugapparat für Hausgebrauch, der in aller Stille seinen Einzug in Holland gehalten hatte.


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