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Von Aage von Kohl
Am Schluß schraubte François Bravier mit vieler Sorgfalt wieder den Messingdeckel auf den langen, spindelförmigen Benzinbehälter.
» Ça-y-est!« sagte er zu sich selber, noch mit einem gründlichen Fachmannsblick über den diminutiven, achtzylindrigen Kolownewmotor hin und gleichzeitig seine Finger an dem Twistknudel trocknend, der immer im linken Ärmel seiner blauen Leinenjacke steckte. »Übrigens ist es wohl auch bald höchste Zeit! Ja, Tod und Seligkeit: es ist fünf Minuten vor!«
Er gähnte umständlich und mit vielen Armverrenkungen, kroch dann behende vorwärts durch das komplizierte Netzwerk der schmächtigen, rotlackierten Aluminiumstangen, die teils die Plattform des Flugzeuges und achtern die beiden Luftschrauben trugen, teils in den drei kleinen Mahagonisteuerrädern endeten – schwang sich mit einem Satz über die Kante der verschiebbaren Fußstütze am Sitzplätze hinab und stand jetzt im Halblicht auf dem Asphalt des Hangars.
Droben, unmittelbar über seinem Kopf, hing der mächtige Eindecker mit seinen gespreizten Flügeln, leise erzitternd in den vier außerordentlich langen Stahltrossen, an denen er aufgehängt war: gleichsam ohne Gewicht in der Luft schwebend, breitete er, über den Boden der Halle und an deren Wände hinauf, seinen Schatten wie den eines gigantischen Vogels im Fluge.
Durch das grobfädige, gummierte Raventuch der Tragfläche schienen die zwei Bogenlampen hoch oben von der Dachkuppel herab.
Aus dem Dunkel des Gartens, das ganz lose wie eine luftige Portiere den offenen Südgiebel abschloß, schlich sich die heiße und süße Brise des Nachtwindes hinein, fast bis zum Schwindel erfüllt von Jasmin- und Veilchengeruch.
Es kam ihm im selben Augenblick vor, als hörte er draußen den Kies unter raschen Schritten knirschen.
Er lief nun nach vorn und drehte die Lichtkontakte am Eingang auf. Der gelbliche Schein flutete in einem Nu über die Krümmungen des Pfades und über das dichte Gras der mächtigen Rasenflächen. Tief draußen in der intensiveren Dunkelheit des Hintergrundes schimmerten mit einem Male die großen, weißen Blütenhaufen der Hecken.
Fürst Wrasow Kolownew und seine Begleiterin wurden sichtbar.
»Alles bereit, Exzellenz –« rapportierte François, vor der Dame seine Mütze ziehend. Der Fürst nickte:
»Danke, Bravier, es ist gut! Bitte, setzen Sie eine Leiter drinnen an. Wir sind zwei.« Während der Mechaniker kehrt machte und im Schatten des Raumes verschwand, wandte Wrasow sich wiederum Narna zu, ihre linke Hand ergreifend:
»Ja, du hattest natürlich recht, Narinka Alexandrowna! Ist es nicht sonderbar, daß also auch ein Ingenieur von den unfaßbaren Dingen erfaßt werden kann – vom Atemzug der Erde und der Pflanzen in einer Sommernacht? Nie zuvor hätt' ich es für möglich gehalten, daß mir dergleichen geschehen könnte!
Narinka, nun verstehe ich gar nicht, wieso ich nicht schon längst darauf gekommen bin, dir diese Fahrt vorzuschlagen! Wie wundervoll wird es sein, in den sanften Kurven dort oben dahinzugleiten, bürdelos, mühelos, in der durchsichtigen Luft aus Nacht … zusammen mit dir!« fügte er leiser hinzu, stammelnd, ihren Blick suchend.
Sie sah verwundert zu ihm auf und wurde ein wenig rot in beiden Wangen; aber gleich nachher wurde sie noch blässer als zuvor, sie lachte nervös, zog ihre Fingerspitzen aus seiner Hand:
»Ach, bester Wrasow!« erwiderte sie kurz, ihren Kopf schüttelnd, »du sprichst wahr: ich erkenne dich nicht wieder! Es ist offenbar diese für dich ungewohnte Stunde der Nacht, die dich mit einem Male so beredt gemacht hat. Ich wußte nicht, daß du überhaupt so viel reden kannst. Falls du so fortfährst – kommen wir einfach nie von der Stelle. Können wir sofort an Bord gehen
Aber Kolownew wollte sich auch diesmal erst eigenhändig vergewissern, daß alles in Ordnung sei, und er ging daher gehorsam von ihr fort, hinein in den Hangar, mit einem Seufzer sowohl über seinen eigenen Mangel an Mut wie über den beinahe bitteren Ton, in dem sie beständig zu ihm sprach.
Als er ihr den Rücken zugekehrt hatte, lehnte Narna sich schwer an den eisernen, mennigübertünchten Pfeiler am Eingange, plötzlich schaudernd: oh, war es nicht, als ob … als ob … diese verborgene Bürde da drinnen, unter ihrer Tracht, rings um ihren Körper gesponnen wie ein zolldickes Korsett, sie bis in Mark und Bein frieren machte! als ob sie einen Eisblock über ihrem Gürtel trug!
Sie richtete sich mit einem Ruck auf, runzelte ihre Brauen, versuchte sich ihrer eigenen Schwachheit zu schelten und zog instinktiv den langen, weiten Regenmantel fester um sich, den sie heute trotz der Schwüle gezwungen war zu tragen und den sie keinen Augenblick von sich zu legen wagte; aber durch diese Bewegung wurde sie abermals von Schrecken erfaßt – von derselben erstickenden Angst, die sie gestern nachmittag empfunden hatte, drunten auf dem Stations-Perron Alt-Peterhof, unter den forschenden, vielleicht direkt argwöhnischen Blicken des Polizeihauptmanns. Sie war im Begriff gewesen aus dem Coupé zu steigen, stand schon auf dem schmalen Trittbrette des Waggons, aber dann schnappte die Tür hinter ihr zu, einen Zipfel ihres Regenmantels festklemmend – und indem der Zug sich gleichzeitig in Gang gesetzt hatte, verlor sie ihren Halt und stürzte vornüber, gerade in die Arme des Polizeioffiziers! Sie hatte zwar im voraus gewußt, daß dieser immer auf dem Perron zugegen war, während der Monate, wo sich die kaiserliche Familie auf Peterhof aufhielt, und er lächelte obendrein sehr liebenswürdig, als er ihr auf die Beine geholfen hatte und sie nachher aus seiner Umarmung freiließ: » Mon dieu, mademoiselle, aber kann es wundernehmen, daß man sich nicht frei bewegen kann, wenn man dermaßen stahlhart geschnürt ist, ganz wie gepanzert!«
Aber im selben Nu war da jäh ein Schatten über sein Gesicht geflogen, er machte einen schnellen Schritt, beinah einen Sprung auf sie zu, die Hände vorwärts gestreckt – während sie erbleichend, trotz aller Versuche sich zu beherrschen, rücklings wich und eine Sekunde lang alles verloren wähnte … aber da, im letzten Moment, hatten sie beide Wrasows Riesenstimme draußen vor dem Gitter gehört, polternd und vergnügt:
»Hier, Narinka Alexandrowna, hier halte ich mit dem Wagen!« – – – und für Exzellenz Kolownew existierten natürlich keinerlei Schwierigkeiten, – dachte Narna nun weiter, wiederum ganz und gar von der Idee erfüllt, die ihrem Vorhaben hier draußen zugrunde lag: ja, wohin man sich auch wandte, immer, immer, immer dieser Unterschied! Den Fürsten nichts anderes als Rechte – dem Volke nur Pflichten! Damit ein paar tausend Hochwohlgeborene in Überfluß und ohne eine Hand zu rühren leben konnten, mußten hundert Millionen sich unter qualvoller Arbeit und nutzlosem Ringen zu Tode hungern! Ach, mein Gott, mein Gott – ja, es gab in Wahrheit nur diesen einzigen weg, um … nein, nicht um sich zu rächen, aber um eine Möglichkeit zu schaffen für glücklichere Verhältnisse, für jene Kommenden, die gänzlich ohne Schuld sind.
Sie strich sich wirr das schwere schwarze Haar aus der Stirn, hörte, ohne es selbst zu wissen, Wrasows tiefe und frohe Stimme, die dort hinten im Halbdunkel unter den mächtigen Flächen des Eindeckers den Mechaniker kommandierte – und es traf sie mit einem Male ein dumpfes, nagendes Gefühl, wie von Erkenntlichkeit, Dankbarkeit gegen ihn: ja, ein Glück, daß er im rechten Augenblick dort auf der Station eingetroffen war! Es geschah also in Wirklichkeit auf doppelte Weise durch seine Hilfe, daß sie überhaupt das ausführen konnte, was sie für heute nacht geplant hatte. Aber war es dann nicht etwas viel zu Abscheuliches, war es nicht etwas Entsetzliches, ihm seine Güte dadurch zu lohnen, daß sie jene schreckliche Tat vollbringen wollte?! War es nicht ein Verbrechen von ebenderselben Unmenschlichkeit wie das, worunter das ganze Volk litt? Ja, hundertmal schlimmer – weil sie sehr wohl wußte, daß er aus seinem ganzen Wesen heraus genau das Gegenteil von dem empfinden und denken mußte, wofür sie und ihre Genossen stritten.
»Klar! Narinka! Kommst du mm?« hörte sie die Stimme des Fürsten im selben Nu, groß und voller Erwartung.
Und sie ging entschlossen auf ihn zu, plötzlich Trost in dem Bewußtsein findend, daß sie doch selber das letzte und einzige, was sie besaß, aufs Spiel setzte. Im Trotz zwang sie sich dazu, viel zu hart und unfreundlich über ihn zu denken: diesen fürstlichen Projektemacher und Erfinder, der für nichts anderes Ohr noch Auge hatte als für seine Motoren und Flugmaschinen. Dieser Riesenkerl, der in all seinem Scharfsinn und seiner ausdauernden Arbeitskraft dennoch unverbesserlich naiv und linkisch war wie ein Knabe! Ein Kind – bei seinen dreieinhalb Ellen, den breiten Schultern und dem langen schwarzen Schnurrbart. Hier lebte er jahraus, jahrein, hier draußen auf seinen meilenweiten Wiesen und Feldern, beinahe von aller Welt abgesperrt, mit seinen ewigen Experimenten, die Stück um Stück sein ganzes Vermögen verschlangen. Und obendrein hatte er – während dieser vier Besuche, die sie, ihrem Plan zufolge, in den letzten Wochen ihm gemacht hatte – es schließlich gewagt, sie mit anderen Blicken zu betrachten als die, wozu er das Recht hatte, als ehemaliger Studienkamerad aus der Lehranstalt und dem Laboratorium. Nein, die Rücksicht auf ihn durfte ihr nicht das mindeste bedeuten – im Vergleich zu ihrem Traume vom Glücke Rußlands …
Sie kamen endlich zum Sitzen, nachdem sie mehrere Male des Gleichgewichtes wegen den Sitz hatten umstellen müssen – indem Kolownew sehr schamvoll und mit sachtpolternder Lustigkeit behauptete, sie wiege heute, meiner Treu, mindestens zwölf Kilo mehr als je zuvor!
Die Bank war – für zwei sehr eng – etwa einen Meter unter dem Mittelpunkt der Tragflächen angebracht, in einem Wirrwarr von Steuermechanismen, die sich alle in drei Handgriffen vereinigten. Narna empfand es zum ersten Male merkwürdig feindlich, so dicht neben ihm zu sein. Sie saß halbwegs hinter seiner rechten Schulter, sich gegen die niedrige Rücklehne stützend, und starrte ihm verschwiegen und zornig in den Nacken hinein. Die seidenartige Spitze seines schweren Schnurrbartes, die außerhalb seiner Wange zu sehen war, zog immer und immer wieder ihren Blick auf sich, machte sie heiß und haßerfüllt, ohne daß sie begreifen konnte, weshalb.
François war zur Hinterwand des Raumes gegangen und stand nun und arbeitete an einem Treibrad, das mit Hilfe einer Trosse und einer Taille den Monoplan rücklings und aufwärts zog – wie zu einer Schaukelfahrt. Die vier Tragleinen, die unten am Gestell des Flugapparates in Ösen festgemacht waren und automatisch ausgelöst werden konnten, sammelten sich nach oben zu, sehr hoch droben, in einem Haken, der in der höchsten Spitze der Dachkuppel saß. Der Fürst drehte den Kopf nach links, um der Bewegung am Gradmesserbogen zu folgen, der in Weiß an die Seitenfläche der Halle gemalt war und der angeben sollte, wann der Aufschwung hinreichend weit war, um die erforderliche Geschwindigkeit zum Aufstieg zu ergeben.
»Start!« rief er wie Donnerkrach.
Das Aufzugsseil ließ los, und der Eindecker schwang in seinen Tauen vorwärts – wie eine Wurfschaukel mit enormem Radius. Indem er die Luft gegen die mächtigen Areale seiner Flächen hinaufpreßte, sauste er schnell und schwer nach vorn, passierte brummend die lotrechte Stellung, begann sich im Aufwärtsgehen zu heben … und dann setzte mit einem Ruck der Fürst den Motor in Gang, die Tragetrossen lösten sich, die Schrauben mahlten wirbelnd im Kreis – und der Monoplan fuhr schräg aufwärts und vor, durch den offenen Giebel hinaus. Die Lampen dort schienen jäh zu versinken. Die Luft stand steif in Gesicht und Brust der beiden. Tief unter ihren Füßen brausten die Bäume im Garten.
Sie flogen …
Gegen den schummerigen Horizont unterschied Narna die langen, gezackten Profile der Höhenzüge bei Kusnezy. Sie zogen im selben Nu nach links vorüber: die Maschine änderte die Richtung ihrer Fahrt, machte, sich leise vornüberneigend, kehrt – und gleich nachher sah sie drunten unter sich den kohlschwarzen Dachrücken des Hangars, aus dessen beiden Giebeln das gelbe Licht heraussickerte. Die kleine Tannenplantage – ein blaugrüner Teppich, der versank; der bleiche Knopf der Flaggenstange schwankte dicht dort unten vorbei. Der Fürst saß, mit beiden Händen das zitternde Rad fassend. Das Höhensteuer war, wie zwei helle, wogende Blätter, ein Stück nach vorn sichtbar. Narna fühlte mehr, als sie beobachtete, daß er sein Gesicht, in dem die großen blauen Augen strahlten, ihr zuwandte:
»Sieh!« rief er in das Sprachrohr, das sie verband, und zeigte vor sich hin, wo die Kante der Tragfläche einen wagerechten, weißlichen Strich über den Himmel von links nach rechts zog. »Sieh, Narinka, dort oben gegen Norden: der Brandschein von Sankt Petersburgs rastlosem Nachtleben, das, wie man sagt, niemals stillsteht! Und da hinten, mitten zwischen Ost und Nord, ach, dort erblicken wir schon den zarten Schimmer des kommenden Morgens!
Narinka, hörst du: heute geschieht alles zum erstenmal! Zum erstenmal erlebe ich die Nacht, die den kommenden Tag gebiert, der Morgenröte Melodie, den Anfang zu allem. Hörst du, ich habe nie zuvor gelebt – niemals zuvor bis nun, da wir beide ruhend in die Höhe steigen, um den Sonnenschein vor allen anderen zu empfangen!« Er lachte, schwieg eine Sekunde lang und fuhr dann fort:
»Du großer Gott im Himmel, ich begreife es nicht, was los ist mit mir. Fühlst du wie ich, daß mein Flugzeug wirklich den großen Schritt getan hat; zuverlässig, stetig gehorcht es meinem Willen! Sicher wie in einem Boote, das stromabwärts auf einem Flusse von der Strömung geführt wird, sitzen wir hier, du und ich! Du weißt nicht, wie ich mich heute tüchtig und stark fühle. Ja, heute sehe ich zum ersten Male vollkommen ein, daß die Zukunft Russias in meiner Hand liegt – und daß ich sie zum Siege bringen kann!
Falls du mir dabei helfen willst, mit mir zusammengehen –?« schloß er in tieferem Tone, wurde aber im selben Nu von der Dreistigkeit seiner letzten Worte gelähmt, versuchte seine Erregung hinter Gelächter zu verbergen – und beugte sich dann, beständig lachend, vornüber, den Griff des Höhensteuers bewegend. Das Flugzeug stieg nun höher aufwärts, in einer schrägen, wogenden Linie; der Luftdruck preßte sich laut summend gegen ihre Brust, klapperte jäh mit der gestrafften Leinwand der Segelfläche, pfiff an den Stangen bei ihrem Ohr vorüber. Und hier oben begegnete ihnen plötzlich ein würziger Strom, o eines Sommermorgens Schauer, die Düfte von Blumen, von Tau und Heu! Tief, tief drunten, umhüllt von der vagen Dunkelheit, jagten, mit sonderbar verlängerten Seiten, die ungeheuren, kohlschwarzen oder blaßgrünen Tafeln von Wald und Feld unter ihnen hinweg – und neue glitten hervor, um wiederum zu verschwinden. Und in der Ferne, ganz draußen links, hinter den parkbekleideten Felsufern Peterhofs, lag dumpfglänzend ein Streif von des Meeres unermeßlichem Spiegel aus Metall.
Es war bei seinen Worten wie ein Stich durch Narna gegangen, ein leises Stöhnen aus ihrer Kehle, aber gleich nachher preßte sie zornig ihre Zähne zusammen: Torheiten, Unsinn, leere Redensarten! Nein, sie wollte gar nichts sehen, sie wollte ganz und gar nichts hören von all dem, was er sagte – nur sich in ihren Plan vertiefen, all dessen Einzelheiten noch einmal überdenken, bloß dem krachenden Lärmen des Motors dort hinten lauschen, ja, dem unveränderlichen Alarm der gehorsamen Maschine, dem gesetzgebundenen Geräusche des Gesetzgebundenen: Pflicht, Pflicht, Pflicht!
Sie machte sich so klein wie nur möglich, um das Gefühl seiner Nähe zu vermindern, machte sich hart gegen dies Wunderbare, das zu erleben sie eine der ersten auf der Erde war: mit Meilengeschwindigkeit hier hoch droben in der Luft vorwärts zu fliegen, durch den leise erwachenden Mitsommertag, unter des Morgenhimmels Kuppel aus Stahl! Dort hingetragen, wo sie es wollte, von diesem sanften und feurigen Tier, das der Scharfsinn ihres ehemaligen Kameraden, o nein, ihres Freundes geschaffen hatte! Nein, nein, sie durfte weder hören noch sehen, aber trotzdem ihn keine Sekunde aus den Fingern lassen, keinen einzigen Augenblick ihre Macht über ihn aufgeben, denn nur indem sie ihre Absicht verbarg, nur indem sie ihn lockte und überlistete, konnte sie das erreichen, was sie wollte.
Einen Moment schien sie die Vollbringung von dem vor sich zu schauen, was ihr Ziel war: sie sah das Flugzeug in weichem Schwung über das breite flache Dach jenes einstöckigen Pavillons in Peterhofs Schloßpark dahinschweben, wo die kaiserlichen Schlafgemächer lagen. Ganz niedrig sauste es darüber hinweg, in der schwachen Dämmerung, die ihr erlaubte, das zu erkennen, was sie zu sehen brauchte – die aber den Wachtposten drunten verhinderte, ihre Fahrt rechtzeitig zu stoppen. Sie sah sich selber, wie sie plötzlich von ihrem Platz mit einem Sprunge sich erhob, es vermeidend, seinen Augen zu begegnen, und sich nachher taumelnd durch die Luft hinabstürzte, die Mitte des mächtigen Schieferdaches treffend … und dann wurden Erde und Himmel mit Weltgerichtsgetöse erschüttert, Steine und Mauerwerk zerbarsten, eine meilenhohe Flamme riß das Haus bis auf seinen Grund auseinander – und wenn der Rauch sich verzogen hatte, dann war der geheime Wunsch Russias vollbracht, dann war Russia der Befreiung noch einen Schritt näher als je zuvor, der Tyrann mit all den Seinen ausgerottet. Ach, die kommenden Geschlechter, die, gleichviel, ob sie ihre Tat guthießen oder verdammten, doch eine Freude ernten sollten, wie wir sie niemals kennen lernten: unter der Sonne der Freiheit geboren zu werden!
Sie bemerkte mit einem Male, daß der Fürst seit mehreren Minuten nicht gesprochen hatte, und ihr wurde rätselhaft weich und süß dabei zumute. Sie erinnerte sich schmerzlich bereuend, wie sie heute kalt und spöttisch zu ihm gewesen war – teils von der angstvollen Spannung überreizt, teils mit Überlegung, um ohne Schwierigkeiten Ausflüchte dafür zu haben, daß sie ihren Regenmantel umbehielt und es sich in all den Stunden bei ihm nicht gemütlich machte. Aber jetzt wollte sie zum Entgelt recht gut und brav sein für diese halbe Stunde, die noch übrig war.
Ohne es selbst zu wissen, legte sie ihre linke Hand auf seine Schulter; er wandte ihr sofort sein Gesicht zu – in der gedämpften Beleuchtung begegneten ihr seine Augen, sie schienen ihr seltsam tief und blau zu sein.
»Ja,« sagte sie, mit einem Male schwindelnd müde und verwirrt, »wie ist es schön, dies alles, so schön!« Sie hörte selbst ihrer Stimme gleichsam klagenden Laut und fing verwirrt an, einige Haare wegzustreichen, die bei der Fahrt immer und immer wieder quer über ihren Mund hingeführt wurden, ihr Wange und Lippe kitzelnd. Danach zeigte sie vor sich hin und suchte sich von den beiden früheren Flügen her, die sie bei Tage ausgeführt hatten, zu erinnern, was es wohl für Dörfer und Villenquartiere seien, über die sie jetzt hinwegsegelten.
»Erzähle mir, Wrasow, erzähle mir, was ist es, was wir dort sehen! Weshalb sagst du gar nichts mehr? Ist es wirklich Katharinas Schloß in Babygon, der winzig kleine blasse Würfel da in dem dunklen Garten?« Und plötzlich übermütig, unerklärlicherweise gestärkt, indem sie es mit einem Male empfand, wie seine Schulter unter dem leichten Druck ihrer Finger erzitterte, fuhr sie lachend fort:
»Weißt du, Wrasow, daß ich schon drunten im Hangar argwöhnte, du habest aus irgendeinem Buche die hübschen Worte auswendig gelernt, mit denen du mich überraschtest! Wie hätte es sonst geschehen können, daß deine berüchtigte Stummheit sich so plötzlich als eine vielsagende Verschwiegenheit entschleierte? Nicht wahr?«
Kolownew antwortete nichts.
Auch Narna wurde schweigsam, während sie beobachtete, wie die leuchtende Horizontlinie droben gegen Norden sich nun nach rechts hinzog und ihren Schimmer an den erwachenden Morgen verlor. Und gleich nachher lag ein glänzender Streif des Meeres direkt vor ihr. Sie öffnete, tiefatmend, ihren Mund der salzigen Luft entgegen, die sie im nächsten Nu traf, kühl, befreiend wie ein Bad: ja, Wrasow hatte recht, alles geschah heute zum ersten Male … zum ersten und zum letzten Male!
Dann drehte wiederum der Fürst sein Gesicht halbwegs über seine Schulter hin:
»Sei nun nicht mehr so spöttisch gegen mich,« sagte er heiser und schnell. »Hörst du, Narinka, während vieler, vieler Tage habe ich mich ja auf diese Fahrt gefreut! Oft nahm ich mir vor, einige Nächte vorher aufzusteigen, um mich daran zu gewöhnen, um mich zu üben – aber jedesmal, wenn ich soweit war, da mochte ich doch nicht … es war, als ob ich mich selber bestehlen wollte!«
Narna lachte leise. Es kam ihr mit einem Male vor, daß es doch ihr Recht sei, froh zu sein in der kurzen Zeit, die ihr noch übrigblieb. Sie erhob ihren Blick zu dem seinen und bat ihn, ob er wohl nicht einmal über den ganzen Gebäudekomplex und den Park Peterhofs hinwegfliegen wolle.
»Hörst du, Wrasow!« sagte sie zuletzt flehentlich, ihre Wange gegen seine Schultern lehnend, wunderlich dankbar dafür, sich dies erlauben zu können und doch ihre Pflicht nicht zu verraten, »versprich es mir, Wrasow! Ich möchte so gern die großen Marmorbassins von hier oben sehen … zusammen mit dir.«
Der Fürst sah lächelnd zu ihr hinab:
»Es ist ja verboten, Narinka,« antwortete er, »aber natürlich tue ich, wie du willst. Falls dann die Schildwachen darauf verfallen, uns als Schießscheibe zu verwenden, bekommen wir ja eine gute Gelegenheit, praktisch zu konstatieren, wie schwer es ist, ein Flugzeug in voller Fahrt zu treffen. Und nachher werd' ich uns beiden schon Absolution verschaffen.«
Denn bei seinen Worten wurde sie wiederum, aber mit zehnfach verdoppelter Gewalt, von diesem versengenden Groll, von diesem Haß gegen sich selbst ergriffen, der sie die vorige Nacht wachgehalten hatte. Ein brennender Vorwurf wuchs blitzschnell aus jener Vorstellung heraus, der sie bis dahin keinen einzigen Gedanken geschenkt, die aber jetzt mit ihrer ganzen, erstarrenden Gewißheit vor ihr stand: daß sowohl die Maschine wie er zweifellos vernichtet würden, zusammen mit ihr selbst, während der Explosion. Sie sah die ungeheure Feuersäule des entsetzlichen Sprengstoffes vor sich, den sie bei sich trug: diese fünfzehn Kilo von konzentriertem Ekrasit, das einen ganzen Stadtteil zertrümmern konnte – und das in einem einzigen Nu ihn und seinen Monoplan restlos zermalmen mußte!
Es ging ein schauderndes Erzittern durch ihre Glieder. Ihre Zähne schlugen gegeneinander. Sie lehnte sich atemlos hintenüber, spürte mit einem Male, daß der Luftzug, der ihr Gesicht traf, eisig kalt war, und der sanfte, wogende Flug über des Meeres unermeßliche Fläche tief drunten erfüllte sie mit Schwindel und Grauen. Mein Gott, worauf hatte sie sich doch eingelassen! Wie war es möglich, daß sie es so spät begriff, daß auch er sterben mußte! Daß auch er durch diese Tat getötet werden würde, bei der ihr zu helfen sie ihn überlistet und betrogen hatte! Ach, Wrasow, hörst du, beeile dich zu erraten, was ich beabsichtige, hilf mir, hörst du, du darfst nicht sterben! Ich kann es nicht ertragen: ich kann nicht tun, was ich muß – wenn ich auch dich dabei töten werde!
Aber in derselben Sekunde, wo diese Gedanken ihr Bewußtsein erreichten, gelang es ihr, sie jählings von sich zu weisen, ihr Recht zu verneinen, sie wegzujagen. Sie entsann sich dessen, was sie schon längst unter zahllosen andern Argumenten dem Präsidenten gegenüber erwähnt hatte – als Antwort auf seine Einwendungen gegen diesen wahnsinnigen Versuch, der nur eine einzige Chance für das Gelingen hatte, aber tausend Möglichkeiten dafür, niemals durchgeführt werden zu können –: daß sie es wohl wissen würde, Wrasow dorthin zu bringen, wo sie wollte, und daß übrigens diesem fürstlichen Sonderling gegenüber, der in zielloser Sportlust seine Millionen vergeudete, keinerlei Ursache zu größerer Schonung sei als den Soldaten und Dienern und andern Zufälligen gegenüber, die ja immer der Gefahr ausgesetzt waren, unverschuldeterweise durch ein Attentat getötet zu werden. Laß ihn nur mein Geschick teilen – hatte sie zuletzt gesagt –, denn was wiegt wohl sein und jener andern und mein eigenes Leben gegen das, was unser Ziel ist: der Millionen Wohlfahrt und Frieden für alle kommenden Zeiten! Und ist es nicht gerade dies, was wir vor unsern Brüdern voraus haben: daß wir ihr Glück höher einschätzen als unsere eigene Todesangst und das Entsetzen unserer Herzen, zu morden!
Und nun wandelte sich der ohnmächtige Selbsthaß tief drinnen in ihr in ein heißes und dumpfes Schuldbewußtsein ihm gegenüber, in eine Ehrfurcht, als wäre etwas Heiliges an diesem Manne, der zuversichtlich hier bei ihr saß und unschuldig getötet werden sollte. Und mit hämmerndem Herzen, mit brennenden Augen und qualvoll scharfhörendem Ohre lauschte sie allem, was er sagte.
Er hatte das Steuerrad losgelassen, nachdem er es festgestellt hatte.
In großer Fahrt stieg das Flugzeug, sich wie ein Messerblatt durch die Luft schneidend, in wenigstens vier- bis fünfhundert Meter Höhe gegen Nordwesten hin – der Verbrämung der Küste folgend, die, noch beständig in einen durchsichtigen Schleier gehüllt, schnell unter ihnen hinwegflog: zu ihrer Rechten das Meer und linkerseits das braungraue Land, bläulicher Dächer Rechtecke und Quadrate, winzig kleine Rasenpläne vom Umfange einer Hand, und quer durch das Ganze hindurch schlängelte sich ununterbrochen, hinten unter ihren Füßen verschwindend, der helle Faden der Chaussee. Hin und wieder schien das alles ein wenig zu wanken, wenn die Windstöße von der See her das Flugzeug zum Wiegen brachten.
Wrasow breitete die Arme aus:
»Horch!« sagte er mit einer Stimme, die, wie es ihr plötzlich vorkam, sich einen Ton erobert hatte, den sie nie zuvor gehört: einen Tubaklang, der irgend etwas Allertiefstes drinnen in ihr erweckte, ein helles und siegreiches Timbre, das sie plötzlich dazu brachte, diesen erhöhten Stand hier hoch droben als etwas für ihn Selbstverständliches zu empfinden. »Narinka, heute sehe ich das alles – so wie es dereinst sein wird. Hier hoch droben über mir ist es, als erkenne ich die jahrtausendealte Stimme der Lüfte, ach eine triumphierende und süße Melodie, der Sphären ewigen Gesang!
Siehe, und drinnen in mir ist es mit einem Male, als ob ich mich selber vollauf begreife und weiß, was ich in all dieser Zeit wollte, wo ich die Norm meines Monoplans zu finden suchte: die vollkommene Stabilität, Zuverlässigkeit und Schnelligkeit! Verstehst du mich, Taube, Narinka, nicht wahr – ja, ich erinnere mich ja von alten Tagen her, Jahre zurück, droben im Polytechnikum, wenn du spöttisch oder höhnisch es versuchtest, mich zum Proselyten zu machen für jene Theorien vom einzigen Wege zum Glück Russias: eure Propagandataktik, euer Dynamitprogramm – den Nihilismus, der alle Hindernisse vernichten sollte!
Nein, Narinka, ich bin in diesen Wochen so froh gewesen, weil ich merkte, daß du an all das nicht mehr glaubst, weil du kein einziges Wort darüber gesagt hast – du, die du ehemals nur überdies Eine sprechen wolltest! Und du hast recht darin: denn gehört wohl zu einem Mordattentat anderes als bloß eine hinreichend geringe Achtung für das Leben anderer und für das eigene? Das Leben, das uns von Vater und Mutter gegeben wurde, damit wir wachsen und wirken, damit wir, ein jeder auf seinem Gebiete, einen Stein zum Hause der Zukunft legen sollten! Nein, nimmer haben die, die nur niederrissen, Anteil daran gehabt, den Fortschritt zu erzeugen! Nur die, in denen sich größere Kräfte bewegten, die eine weiterschauende Phantasie besaßen – nur die können, mit oder ohne Wissen, das hervorbringen, woraus segensreich das Neue geboren wird. Nicht wahr? Niemals wurde der Töter zum Sieger, weil die Ausrottung nur die Tat eines Schwächlings ist und weil die Formen des Lebens einzig von dem Starken erschaffen werden können.
Ja, erst heute, erst an diesem Morgen, der unter der Brise erwacht, erst hier, wo ich dich an meiner Seite habe, begreife ich bis auf den Grund, daß ich doch niemals das vergaß, worüber wir damals sprachen. Ach, siehst nicht auch du das geheime Gesetz in dem, was ich in diesen Jahren schuf?« Er hatte sie mit eiserner Hand um den linken Arm gegriffen, seine Augen lachten, sein Bart flatterte in der Fahrt gegen seine braune Wange, er zeigte erregt und lachend den schmalen weißen Strang hinunter, über den sie hinwegjagten, den kolossalen Viadukt bei Korkuli.
»Siehst du es: die engen Spuren der Eisenbahn, unbeweglich, massiv und schwer?« fuhr er heiser fort, erzitternd vor den Gesichtern, die sich immer klarer seinem Auge entspannten – und Narna lauschte beinahe gegen ihren Willen, mit einem Male bebend vor der Glut ungekannter Gedanken, die in ihr glimmten.
»Begreifst du, ich hatte also wirklich recht, als ich mir neulich prahlend einbildete, ich sei es, der Rußlands Leben in seiner Hand halte. Oder weißt du denn nicht soviel: daß die Tyrannei, um existieren zu können, Türen aus Stahl fordern muß, Wege, die mit Eisen gesperrt werden können, verriegelte Fenster, Dunkelheit und Grenzbewachung? Aber ich habe das Mittel zum Verkehr erschaffen, das Russia offen für einen jeden macht, offen für Aussicht und Einsicht, offen für Licht und für Luft!
Narna, meine Taube, horch doch auf das, was in deinem Herzen flüstert: Gott ist zweifellos da! Der helle und heilige Geist des Fortschritts, voller Güte, voller Lächeln und voller Liebe zu all dem, was lebt! Begreifst du wie ich, was das Ziel der seligen Träume ist – hinter jedermanns Tasten und Schmerz! Erkennst du nun die verborgene Absicht jenes rastlosen Sehnens, das wir in unserer Seele besitzen? Erde und Meer haben wir schon mit Gewalt geöffnet, die Länder reichen einander ihre Hand durch die engen Tore der Schienenwege – nun aber überfliegen wir das Gitter, wo wir es wollen, der letzte Verschluß zerbrach! Das Siegel der Vorzeit zersprang – bald wird die Sonnenzeit des Glückes da sein!«
Weit draußen, rechts von ihnen, kroch ein Dampfboot, klein wie ein Insekt, mit dem millimeterkurzen Schweif von Rauch, mühselig über den blanken Stahl des Meeres hin. Ganz vorn, in der Ferne, kräuselten sich wie Moos die uralten Parke um Peterhofs Kaisersitz. In sausender Hast wallte tief drunten der zweigeteilte Streifen des Strandes unter ihnen hinweg, beständig neue Felder vor ihren Blicken aufrollend.
Wrasow griff berauscht um das Rad.
Noch höher stieg der Eindecker aufwärts – in einer ungeheuren Spirale, rund und rund und hinauf! In einer gigantischen, drehenden Steigung – ein Kreisgang im Azur, den Gipfel im Zenit.
Unaufhaltsam drehte sich alles im Zirkel da drunten, schneller und schneller – und verminderte sich gleichzeitig mit jeder Sekunde: die enormen Quadersteine des Ufers wandelten sich in Schutt. Wälder und Dörfer, die eben noch wie eine doppelte Handfläche gewesen, waren nun nicht größer als ein Fingergelenk. Aufwärts und rund in beständiger und polternder Fahrt … und Narna griff mit zitternden Händen um die Armlehne des Sessels, starrte schwindelnd hinab, wähnte plötzlich, daß auch alles, was sie selber die Jahre hindurch dort unten gedacht und gemeint hatte, nur Sandkörner und Staub waren, nur das kleinliche Gewäsch der Kurzsichtigkeit.
Unter ihnen stob ein Schauer von winzig kleinen Funken, kreideweißen Schimmern, die kreisend stiegen und sanken –
»Die Möwen!« rief der Fürst. »Hast du sie gesehen? Ja, die Vögel, die spielend den Morgen in ihren Flügeln fangen! Frei und froh wie die Vögel werden wir alle werden! Hörst du der Lüfte Ton aus aller Leben Gemeinschaft und Freude? Siehst du, was du und ich vermochten – weil wir uns selbst vergaßen, unsere Liebe wie unsern Haß, und uns nur unserer Arbeit und deren seliger Träume entsannen?«
Mit einem Ruck sah Narna auf, atemlos, keuchend, weil er hier eben die Worte nannte, deren Sinn sie in diesem Augenblick empfunden hatte! Eine Sekunde lang wurde sie von Zweifel und Angst ergriffen: war er es also nur, der das zu beherrschen vermochte, was sie dachte?
Aber unmittelbar nachher füllte sich ihr ganzes Wesen in allen Fibern mit Glück, denn sein Antlitz traf nun der erste Schein der Sonne. Seine Augen leuchteten tief und blau; sieh seine Augen, ja, er hatte recht in allem! Törin, daß sie es nicht längst erkannte: sieh, sieh, die Sonne stand funkelnd auf und machte seinen Kopf wie aus Gold – und die Augen, ein mächtiges Meer!
Und da erfaßte sie jäh, zum ersten Male, was sie hier hinaus geführt hatte: die Erbärmlichkeit der Schwachheit, der Verräterei, die entsetzliche Verrücktheit der Henkertat, die sich wahnsinnigerweise Mut dünkt. Der Meuchelmörder-Dienst gegen die rätselvolle Frucht des Lebens, die tief drinnen in jedermann wächst! Ja, sie war nicht würdig zu leben! Es gab nur einen einzigen Weg zurück, keine Sekunde zu verlieren, nun, nun sollte es sein!
Nun! …
Mit einem Satz erhob sie sich von ihrem Platze, griff mit beiden Händen wild vor sich – warf sich vornüber gegen den gähnenden Schlund.
Aber auch Wrasow war mit einem Sprung aufgeschnellt. Die Flugmaschine holte schwer nach Steuerbord über. Es gelang ihm, die Schöße des Regenmantels zu erfassen, er jagte einen Arm um ihren Leib, taumelte gleichzeitig schwankend nach links hinüber, indem der Monoplan von neuem krängte, war nahe dabei, hinterrücks über Bord zu stürzen, klammerte sich mit aller Macht an eine Stange, die lautlos unter seinem Griffe doppelt zusammenknickte; mit den Kniekehlen hakte er sich um die steife Achse des Rades und erreichte so, sich krümmend, wieder den Sitzplatz, ehe das nächste Überholen kam – sah aber dann, wie sich alles tief drunten blitzschnell vergrößerte; pfeifend fuhr die Luft um ihn herum in die Höhe, in die Flächen über seinem Kopfe polternd, sie fielen … fielen … nein, Gott sei gelobt, nun verminderte sich die Schnelligkeit des Falles … wir stocken … nun steigen wir von neuem!
Mit einem einzigen Blick hatte er gesehen, daß alles wieder in Ordnung sei, und er klemmte atemlos seine Augen zu, sank stöhnend zurück, beständig Narna in seine Arme pressend. Mein Gott, was war wohl geschehen, waren es die Möwen, die sie hatte sehen wollen, war es seine Schuld, das Ganze? Was hatte er gesagt oder getan, das ihr solche Angst machen konnte?
Langsam beugte er sein Gesicht über ihren Kopf hinab, der gegen seine Brust ruhte: blaß, kreideweiß war sie … ach die Fülle des dunklen Haares … öffne deine schwarzen Augen, sei nicht mehr bange, du bist ja bei mir, erzähle mir, was dir geschehen ist!
Sie versuchte es furchtsam, matt noch einmal, sich loszureißen, schluchzend, stammelnd:
»Wrasow, laß mich los, hörst du, laß mich, ich hab' kein Recht zum … ich will …«
Kolownew antwortete nicht.
Denn plötzlich kam es ihm vor, als sei er nahe daran zu ersticken vor unfaßbarem Mitleiden – vor lodernder Qual und vor einer zermalmenden Wonne, die er nicht zu begreifen vermochte. Noch heftiger als zuvor preßte er sie an sich, mit beiden Armen dicht um ihren Leib – und im nächsten Nu schien es ihm, als begriffe er mystischerweise das alles: sowohl was sie im Verborgenen mit ihren Besuchen hier draußen gewollt hatte, als auch was geheimnisvoll während dieser Wochen in ihm selber geschehen war, sowohl die tiefste Absicht ihrer Kälte ihm gegenüber, wie die innerste Ursache dazu, daß seine Worte es vermocht hatten, ihre Zwecke zu ändern, ihre Gedanken aufzuklären und zu stärken! Eine Erschütterung lief durch seine Glieder, ein stöhnender Laut entfuhr seinem Halse – als sie aber in Angst ihre Augen aufriß, da sah sie ihn lächeln, wild und barsch und zärtlich.
»Still,« flüsterte er, selig ihr von Sonne beleuchtetes Gesicht anstarrend, sie an sein Herz pressend, »sprich nichts, Kind! Kleine Geliebte, schweig und lieg still, ich lasse dich nie mehr los! Begreifst du denn immer noch nicht, daß du für Zeit und Ewigkeit freiwillig die Meine wurdest, in dieser Stunde, wo Gott uns gut war! Geliebte, sieh, die Sonne ist aufgestanden, die ganze Welt liegt in Licht zu unsern Füßen!«
Das Flugzeug stieg – über das Meer hinaus, das sich langsam auszuhöhlen schien, eine ungeheure Schale aus Silber von Horizont zu Horizont. Die Spitze des Peterhofturms ragte blinkend tief drunten, und gleich darauf erstrahlte die goldene Kuppel der Kirche.
Die Welt stand in Flammen.
An den weißen Flächen des Monoplans strich die Luft vorüber – sie war süß, salzig und rein.