Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Arthur Holitscher

Opfer

Wenn der Krieg eine Ursache hat, ist es diese: den Menschen ist die Ehrfurcht vor dem Menschen abhanden gekommen. Sollte es ein Kriegsziel geben, so wäre es dieses: die Menschen müssen wieder die Ehrfurcht vor dem Menschen erlernen. In der neuen Literatur ist viel von Liebe die Rede. Von der Liebe, die der Mensch zum Mitmenschen haben oder in sich entwickeln muß. Wo fängt diese Liebe an? Bei der Ehrfurcht vor der Leistung des Menschen. Vor dem Recht des Menschen, das zu leisten, wozu ihn seine Kräfte befähigen, was in seinen Kräften liegt. Vor der Kraft des Menschen, wie auch vor seinem Versagen. Liebe aber haben wir wohl, das heißt: Duldsamkeit gegen Menschen, deren Leistungen unseren eigenen Zielen zustreben, unsere eigenen Zwecke fördern.

Es ist schwer, zumal jungen Menschen zu sagen: seid gerecht. Unduldsamkeit ist sozusagen ein Attribut der Jugend und man kann es den jungen Menschen dieser Zeit, die uns Heutigen beschieden ist, wahrlich nachfühlen, daß sie Haß und Erbitterung empfinden, denken sie an das Unheil, das durch die Gesinnung, die Triebkraft der Leistungen ihrer nächsten Vorfahren in die Welt gekommen ist. Duldsamkeit im weitesten Umkreise aber ist die Grundbedingung der Ehrfurcht, die der Mensch vor dem Menschen empfinden muß. Irgendwann muß damit begonnen werden, irgendwer muß damit beginnen, daß er ein Beispiel gibt, daß er es sich abringt; daß er das Gesetz: eine Generation müsse mit der Befehdung der ihr vorangehenden beginnen, umstößt.

Heute ist eine gute Gelegenheit gekommen, solche Selbstüberwindung zu üben. Gerade, weil die junge Generation um der Sünden, der bewußten wie der Unterlassungssünden der älteren Generation wegen sich geopfert sieht, gerade darum muß sie das Opfer, das kein Mensch von ihr erwartet, auf sich nehmen. Lieben dort, wo's mit allen Fasern sie zur Auflehnung drängt. Das ist das Opfer, das die Welt den jungen Menschen dieser Zeit auferlegt. Die Generation, die sich nicht der Liebe, das heißt, fürs Gute opfert, wird gar bald dem Bösen, dem Haß, der sich erschreckend fortpflanzt, geopfert sein. Die Generation, die mit dem Kampf gegen die ihr vorangehende begann, die sich gegen die Macht der ihr vorangehenden zur Wehr setzte, wird ihrerseits mit der auf sie folgenden kurzen Prozeß machen. Sie wird sie, unter Berufung auf »Kinder und Kindeskinder« ruhig für ihre eigenen Zwecke opfern.

Wir wissen es, haben es mit angesehen, wie eine Generation gegenüber der älteren sozusagen Parteipolitik trieb. Wie sie sich auf die extrem linke Seite setzte im Rat der Generationen. Es hat den Anschein, als predige Der Konservatismus, der der jungen Generation dieses Recht bestreiten will. Aber vielleicht hat der uralte, ewig sich erneuende Konflikt, der physiologisch motivierte Konflikt des Kampfes der jungen Generation gegen die ältere die Welt garnicht vorwärts gebracht. Vielleicht war sogar das Gegenteil der Fall. Vielleicht wäre die Welt vorwärts gekommen, hätte sich eine Generation statt durch die Befehdung der älteren in der Liebe zur älteren gestählt. Vielleicht wäre das Christentum dadurch, daß junge Menschen das Heidnische in sich bezwungen hätten, nach zweitausend Jahren nicht zu dem geworden, was es heute ist. Ist nicht ein Greis, der bitterste und fanatischste Verleugner der Ideale und Lüste seiner Jugend, der Leitstern und Heilige der heutigen Jungen geworden – Tolstoj? Jener Jungen, deren Seelen den Fortschritt der Welt in seiner geistigen Form, nicht in seiner mechanischen, sportlich-technischen oder politischen Form verstehn. Merkwürdig ist es, mitanzusehen, wie der zündende, explosive, aus tiefer Unruhe emporflackernde Ausdruck der Gefühle dieser Jungen heute die erhabene Gestalt des hohen klaren Greises umlodert!

Es gibt Länder, Völker, Zeitläufte und Geistesströmungen, in denen das Opfer wenig oder nichts gilt. Mancher Zage, Unmutige, Vergrübelte hat sich in der Erkenntnis der Vergeblichkeit jeglicher Auflehnung – und die höchste, edelste Form der Auflehnung ist die, sich zu opfern – abseits begeben, das Soziale in Bausch und Bogen abgelehnt, weil es die Form von Parlamentspolitik, Klassenkampf, Schlagwortanbetung, von privatem, bis zum Aberwitz gesteigertem Ehrgeiz angenommen hat. Hier und dort hat es aber dennoch Opfer jener hohen Art unter jungen Menschen gegeben. Ein Echo führte die Kunde herüber zu uns, aus dem Osten, aus dem Westen, und auch aus unserer Mitte sahen wir es emporsprießen aus seltenen kostbaren jungen Seelen, deren wir gedenken werden.

Es gibt keinen Weg zu einer höheren Zukunft, als das Opfer. Durch das Opfer bezeugt der Einzelne auf gültige Weise seine Ehrfurcht vor der Allgemeinheit. Unaufgefordert, keinem Zwange, keiner Disziplin und keinem Schlagwort gehorsam, ohne Gegenleistung, mit keiner Wimper zuckend vor dem Hohn, der Skepsis, der Folter, bringt das Individuum seinen Tribut der Menschheit dar, der es angehört.

Durch Krieg aufgerichtete Ideale sind immer wieder durch Krieg gestürzt worden. Der Krieg aber soll aus der Welt verschwinden. Ein Ideal muß aufgerichtet werden, ohne Krieg. Nur dieses, dieses einzige wird stehn bleiben, ewig sein. Heute täuscht sich niemand mehr darüber: die Kultur der Welt geht zugrunde an dem Zwiespalt zwischen Christentum und dem Willen zur Weltbezwingung. Ein Weltreich ging schon zugrunde an dem Zwiespalt innerer und äußerer Herrschaft und Beherrschtheit. Das geschah vor zweitausend Jahren. Hat es aber je eine ähnliche Spannweite zwischen anerkannten und verehrten Gedanken gegeben, wie sie heute die Distanz zwischen der Bergpredigt und irgend einem Bekenntnis zum Imperialismus erkennen läßt? Zuletzt sprach es Tolstoj aus: Wählet, o wählet zwischen Welt und Gott. Was unter Gott zu verstehen ist, steht unverrückbar und unwiderruflich in jenen Gesetzesworten auf dem Berge fest. Was unter Welt zu verstehen ist, erblicken wir Heutigen mit erschrecklichster, tödlichster Offensichtlichkeit. Liebe zum Nächsten ist, jedes Pathos des Ausdruckes entkleidet, die Ehrfurcht, ach, der Respekt vor der Leistung, vor dem Sein, vor der physischen Existenz des Mitmenschen. Lieben wir uns selbst auf rechte Weise, so werden wir auch wissen, wie wir den Nächsten zu lieben haben. Unsere Liebe, zum Nächsten kann nur Geltung haben, wenn wir uns selbst auf die rechte Art zu lieben wissen. Nicht die Kritik an der Leistung des Nächsten soll durch unsere Anstrengung, Gutes und Besseres zu leisten, entwickelt werden, sondern wir sollen unsere Liebe zu unserer eigenen Leistung steigern, indem wir der Leistung des Mitmenschen Ehrfurcht zollen.

Sonderbar ist es, wie die Ideale der französischen Revolution, die in den drei Worten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit ihren Ausdruck fanden, sich im Laufe eines Jahrhunderts verwandelt haben: in das einzige Ideal der Brüderlichkeit, das die beiden anderen Worte zu Schlagworten erniedrigt hat, wenn nicht zu ärgerem. Der Adel, den der wahrhaft kämpfende Mensch seiner Leistung, seinem Wirken, seinem Dasein zu verleihen trachtet, indem er das Gesetz befolgt, tönt die Welt mit den Hoffnungsfarben der Freude an dem Nächsten. Die Ehrfurcht vor dem Bruder ist Ergebnis der Selbsterziehung.


 << zurück