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Gustav Landauer

Eine Ansprache an die Dichter

Ihr Dichtersleute! Habt ihr schon einmal so wie ich, und so wie ich es jetzt ausdrücken möchte, empfunden, daß Dichten, Dichter sein eine wahrhaft schaurige Sache ist?

Ich will mich erklären.

Eine Gesellschaft ist beisammen, ein Kreis Menschen, eine versammelte Schar. Man redet, man berät sich, man spricht sich aus: über einen kommt die Begeisterung, er redet feurig, innig, es kommen die Bilder, er ringt, er gestaltet, er ballt Formen zusammen, wie in Zuckungen oder Krämpfen kommen die Rhythmen, es ist, wie wenn das Zwerchfell wogt oder die Nervendrüsen ihre heißen Tropfen aus sich pressen müssen, die Rede tanzt wie die Glieder seines Leibes: das ist eine plane, ebenmäßige, natürliche Sache, wenn es schon schaudervoll ist. Das ist noch nicht das Schaurige, das ich hier meine: denn der Mensch, der Mensch in Gesellschaft ist kein triviales Wesen, er hat Steigerungen ins Maßlose und Versenkungen ins Entrückteste und Finsterste. Das ist nicht Dichten, es ist anderes, ist jedenfalls Leben.

Oder einer erlebt den Traum, die Verzücktheit, das stark Wilde oder zart und sanft Liebliche seiner Seele und der Welt für sich allein, und ruht oder tanzt oder singt oder schaut Gesichte und bildet sie in der Sprache: auch das ist nicht Dichten – es ist anderes – ist jedenfalls Leben.

Was ich hier zu beschreiben versuchte, ist dicere, sagen, im Leben sprechen, im Sprechen weiterleben, ohne Unterbrechung des Flusses, des in Streit und Anprall, in Halten und Stürzen weiter laufenden Stromes, der wir sind.

Dichten ist – dictare, das Gelebte, wie es gerade zum Gesagten geriet, festhalten und diktieren, mit dem Sagen aus dem Fortgang des Lebens ausscheiden; die Kristallisation; die Erhebung zum Werk.

Die Dichtung ist ein Wiederholbares, wie wenn einer, der eben noch im Krampf der Wut den Speichel aus dem Munde geschleudert hätte, sich zum Entsetzen derer, die erst bei ihm waren und nun sein Publikum werden, in einen Spaßkünstler verwandelte, der den Geifer wieder in den Mund holt und mit derselben Verzerrung der Muskeln wieder und wieder ausspeit: die einmalige Überwältigung wird, indem sie packt und unterwirft, zugleich gebändigt und eingefangen. Der Dichter wird zum Sänger, der wie von einer Rolle ablesen kann, was er einstmals geschaut hat, zum Spieler, der eine Rolle spielt.

Alles Dichten ist, da es nicht Improvisieren, nicht Plötzlichkeit, nicht Weiterleben von Mal zu Mal, sondern Unterbrechung, Festhalten, Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Mal, Wiederholung aus der Erinnerung ist, es ist etwas wie Verstellung, die Bewußtheit und Zwecksetzung greift ins Bereich des Traums, der Entrücktheit und Verrücktheit ein, es ist schaurig, wie alles Menschliche, alles nicht gerade Verlaufende, sondern sich über sich Zurückbiegende, Geschichtete, Gespiegelte, alles Vernünftige schaurig ist und den Keim der Gefahr und grauenhafter Entartung in sich trägt.

Das Göttliche, wenn es nicht tierisch oder sonst naturlebendig ist, wie der Gesang der Drossel oder das Blühen einer Magnolie, wenn es nicht kommt und geht wie das Leben, sondern bleibt und Zweck wird und planvoll vernünftig, das Göttliche, wenn der Mensch es zur Gestalt und zum Werk macht, ist der Art nach, der Möglichkeit nach schon dem gräßlichen Mißbrauch verwandt, den der Mensch treibt, wenn er die Berufung zum Beruf, den Beruf zum Gewerbe, das Gewerbe zur Prostitution, die Geilheit, nein, den Schein und die öde Maske der Geilheit zur Feilheit macht.

Keine größere Gefahr des Dichters im Leben als diese, die sein Wesen ist: das Spiel. Keine größere Berufung des Dichters ins Leben als diese, die sein Ursprung ist: die Überwältigung, der Raptus.

Von mancher Seite will man jetzt den Dichter, indem man ihn den Geistigen nennt, schlechtweg zur Führung der allgemeinen Volksangelegenheiten berufen. Man sehe sich vor und vergesse eines nicht: die Psychologie. Dem Volk und dem Dichter tut es in der Tat not, daß sie zusammenkommen. Der Dichter aber ist nicht immer Dichter, und es wird gut und natürlich sein, daß er als einer unter vielen, als Mensch unter Menschen zu den Beratungen seiner Gemeinde und seines Volkes geht. Blieben er und seinesgleichen gar unter sich und bildeten als neuer Schaum oder Adel einen Senat über den Delegierten der Hefe oder des Volks, so wäre das ein Herrenhaus, das sich den Namen Tollhaus bald und billig verdient hätte.

Der Dichter ist nicht immer Dichter: das schöpferische Werk erschöpft ihn. Er hat dann ein großes Bedürfnis nach Ruhe und Abspannung. Der Pendel, der um der Kunst willen lange künstlich in der Richtung nach dem Ungemeinen festgehalten wurde, fällt nachher bis zu ungewöhnlicher Gewöhnlichkeit, ja bis zur Albernheit zurück.

Solche Maßlosigkeit aber des Rückfalls und Kräfteverfalls brauchte nicht allewege zu sein. Sie wirkt auch, mit Überreiztheit und bald verächterischer, bald mimosenhafter Weltscheu, ins Werk des Dichters hinein und erzeugt die forcierte Schwäche, die nur den Angesteckten als Kraft erscheint. Es tut not, daß Volk und Dichter zusammenkommen, tut auch dem Dichter not; wähne er nicht, in ihm steige der Geist göttlich zum Volke herab als Helfer und Retter; beide zusammen müssen einander helfen. Der Dichter braucht für sich auch, was im Volk geschaffen werden muß: er braucht eine würdige Umgebung, die Luft der Freiheit und der Selbstbestimmung des Volks und seiner Gliederungen soll ihn umwehen; dazu mitzuhelfen ist er von seiner eigenen Not aufgefordert: jeder ist vor allem an den Zuständen und Einrichtungen der Öffentlichkeit zu schaffen berufen, die er braucht. Auch der Dichter ist eingefügt in den Widerspruch der Wechselwirkung oder den Kreislauf, der alle Umgestaltung so schwer, so tragisch, so schuldvoll notwendig und so wie zum Rausche macht: nicht dort ist das Verderben und hier der Retter, sondern die schon vom Verderben Verderbten sind da, und der Dichter ist einer unter ihnen, die im tiefsten Gewissen und in der gestaltenden Phantasie die Reinheit tragen, die sie aufruft, sich selber zu retten, sich selber zu finden. Nur so können das Volk und der Dichter sich und einander helfen und retten, daß der Dichter Volk, daß das Volk Dichter wird. So ist es möglich, ist es dem Dichter Verlangen, ist es ihm geboten, daß er, wenn er sich von den Gestalten seiner Phantasie zu den Mitmenschen wendet, mit deren Dasein und Gemeinschaft er in der Einsamkeit und Entrücktheit seiner Gebilde schon immer, nur in gewandelter Form, innig und leidenschaftlich verbunden war, daß er nun unmittelbar zur Welt der Arbeit, zur Arbeit an den Sachen der Öffentlichkeit geht. Er kann die gestaltenden Kräfte, wenn er sie vom Bau am Werk der Phantasie abzieht, an die Wirklichkeiten des öffentlichen Lebens lassen.

Sagt man: das sei vom Dichter zu viel verlangt? Oder meint man: da könne nichts Rechtes herauskommen, wenn der Dichter in dem Augenblick, wo er Ruhe brauche, eine Arbeit finde, zu der er nichts tauge?

Der Dichter in einer gesunden und lebensvoll wachsenden Welt braucht aber zur Erholung gar nicht, was man so Ruhe nennt. Erholung braucht er, scheuen wir das Wort nicht, erneuern wir vielmehr seinen ermatteten Sinn: erholen heißt wieder herholen. Hier gerade soll der schauerliche Beruf des Dichters, in seinem Dichten als Spielender zu leben, im Leben, im Leben der Allgemeinheit seinen Ausgleich finden. Des Dichters Erholung heiße Arbeit.

Man sagt Ruhe und meint so etwas wie Nichts. Nichts gibt es nicht; nicht einmal das Nichtstun des Dichters ist nichts. Selbst die Qual ruft nicht nach dem Nichts, sondern nach der Freude; der Selbstmörder greift entschlossen zum Freitod, nicht als dem Werkzeug zum Nichts, sondern nach tiefster Depression als der höchst gesteigerten Äußerung des Lebens; und der schaffende Mensch, der aus seiner produktiven Stunde kommt, welche selbstmörderische Qual und Wonne und stets Isolierung ist, begehrt nicht nach dem Nichts, sondern nach der Ergänzung zur Totalität. »Ich« mag das Auge schließen, wenn ich zulange rot gesehen habe; aber das Auge beschließt seine Tätigkeit nicht: es produziert Grün. »Ich« mag im Schlaf das Nichts suchen; aber ich finde nur nach dem Erwachen Vergessenheit, hinter der sich die rastlose Tätigkeit meines Traumlebens birgt; ich war müde; was da geträumt hat, war munterster Regsamkeit hingegeben.

Der Arbeitsmann wendet sich – wo's mit rechten Dingen zugeht – von der eintönig zweckmäßigen Übung seiner Muskeln nicht gleich zum Schlaf, sondern zu einer zwecklos spielerischen Übung, die noch Anstrengung genug sein kann, zum Sport. Das Publikum geht nach getaner Arbeit, um sich zu erholen, das heißt, zur Ganzheit wiederherzustellen, zum Spiel des Dichters. Gehe der Dichter, dem das Spiel eigenster und gewagtester Beruf ist, aus seiner Isolierzelle zur Erholung in die Wirklichkeit, in die Welt der Zwecke, in die Gemeinschaft.

Aber, je mehr er ein Dichter ist, je mehr Spiel, Laune, Raptus und die notwendige Kehrseite: zeitweise Leere, Ödigkeit, Wartenmüssen sein Teil ist, um so mehr hüte er sich vor der Einbildung, er der Dichtersmann komme zu der Menge als Führer. In Wahrheit mag er, wenn er ins Leben hinausgeht, von Natur und Übung fast immerzu in der Verfassung sein, daß er der Welt gegenübersteht, wie ein lauerndes Raubtier mit leerem Magen; er sucht, was er verschlinge; die Welt soll ihm Futter und Anregung sein, daß sich die assimilierenden Säfte wieder regen. Kommt da, von seiner Ausnahmestellung und von dürr doktrinären Aufputschungen gefördert, der Hochmut über ihn, die Eitelkeit, er sei doch aber nun ein für allemal der Geistige, und mischt er sich so in den Tag und sein Bedürfen, so kann es keinen frecheren und dürftigeren Unsinn geben, als was da, müde, gereizt und anspruchsvoll, der Dichtersmann von sich gibt.

Kommt er aber als der, der er ist, ein Wartender, ein Suchender, als einer, der gar nichts weiß und nur seiner unterirdischen Geheimschmiede gewiß ist, als ein der Anregung, der Kenntnis und des Verständnisses Bedürfender, aber auch ein schnell Erfassender, der wie magnetisch zum Kern gezogen wird, hört er so zu, informiert er sich so, hält er sich so bereit, dann mag es sein, daß seine Stunde ihn herrlich überfällt, daß er, der bescheiden als Privatmann, als Gleicher unter Gleichen oder gar als Schüler und Verzweifelter gekommen war, den die Ausgeleertheit wie ein Nebelmeer überzog und verhüllte, nun mit eins sich erhebt und als Dichter und Prophet unter seinem Volke steht, als Schöpfer in seinem Ursprung: sei es, daß die Begeisterung ihn hinreißt oder daß grimmige Satire ihr Recht übt, daß ihm das Wort der Entscheidung über die Lippen tritt.

Seine, des Phantasiemenschen Sache ist der Einklang und die Erhebung, und ist der Einspruch und die Widerrede.

Als draußen im Land die Schlösser brannten, als die Gefahr, daß man ihnen ihre alten verbrieften Rechte zerrissen vor die Füße warf, für die französischen Herren aufs höchste gestiegen und schon unabwendbar war, da kam in der Nacht des 4. August die Begeisterung über sie und sie verzichteten in dichterischem Aufschwung und erhobener Gebärde auf das, was sie nicht halten konnten. Heute, am 18. Oktober 1918, weiß ich und wissen manche mit mir, daß dem deutschen Volk in der Stunde der Not nichts fehlt als dieser Schwung und dieses Band des Metanoein, das in Erhebung, in Größe, in Edelmut, im Neuen und Unerhörten, in der Überwältigung schamvoller Reue und kühnen Entschlusses den Zwang zum eigenen Willen, die Schmach zur Herrlichkeit, die Schuld zum Stachel und die Ausstoßung zum Völkerbund machen könnte und müßte. Bei uns wäre ein solcher spontan wie aus dem Anonymen und Ganzen brechender Gesamtgeist jetzt nicht zu erwarten; der Dichter, der Einzelne, der Religiöse könnte ihn in sich tragen, über die andern ergießen und das in jedem Verborgene, das Menschentum erwecken.

Wenn heut ein Geist herniederstiege,
Zugleich ein Sänger und ein Held! ...

Nun, der Leser dieser Worte, die ich am 18. Oktober niederschreibe An dem Tag, an dem der Reichstag zur öffentlichen Entscheidung zusammentreten sollte und sich – auf Grund geheimen Beschlusses – noch weiter vertagte., wird wissen, ob solch beschwingender Geist in der rechten Stunde, heute oder morgen, da aufgetreten ist, wo er einzig das Ohr seines Volks und der Menschheit hätte finden können: im deutschen Reichstag; ich glaube nicht daran.

Der Dichter, der Mann des vehementen Einfalls, der schnellen Assoziationen und Analogien, ist im öffentlichen Leben, das heißt aber für gewöhnlich im Land der Philister, der geborene Widerspruchsgeist. Der Ernst jener andern reizt ihn zum Lachen, – bei ihrer stürmischen Heiterkeit wird er ganz still und traurig, und er ist imstande, wenn sie dichterisch werden, sie zur groben Wirklichkeit nüchtern zurückzurufen. Selbst für die Rauschnacht des 4. August – Mirabeau war nicht dabei – könnte ich mir einen Mann dichterischer Kraft denken, der in den Aufruhr edelmütigen Verzichts schneidend prosaisch hineingerufen hätte, sie sollten weniger versprechen, das wenige aber gleich so festlegen, daß sie es halten müßten. Der Dichter ist der Führer im Chor, er ist aber auch – wie der Solotenor, der in der Neunten über die einheitlich rufenden Chormassen hinweg unerbittlichen Schwunges seine eigene Weise singt – der herrlich Isolierte, der sich gegen die Menge behauptet. Er ist der ewige Empörer. In der Revolutionszeit kann er der Vorderste sein, so sehr der Vorderste, daß er der erste ist, der wieder auf die Erhaltung, des neu Errungenen wie des ewig Bleibenden drängt. Wo aber Stockung und Starrheit gekommen ist, wo die Gelenkigkeit eingerostet ist und wieder Ungeist, Unrecht und Schlendrian sich breit macht, da ist er, der immer die Sache des Lebens führt, sowie sein echter Ursprung sich der Sache der Allgemeinheit hingibt, der Befreier. Philister und strohtrockene Systematiker träumen den unsäglich öden Traum von der Einführung des Patentsozialismus, der in festgesetzten Einrichtungen und Methoden alle Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten ein für allemal abzuschaffen und – man erlaube hier das demokratische Bürokratenwort – verunmöglichen soll. Wir aber brauchen in Wahrheit die immerwiederkehrende Erneuerung, wir brauchen die Bereitschaft zur Erschütterung, wir brauchen den großen Ruf der Seisachtheia über die Lande weg, wir brauchen die Posaune des Gottesmannes Mose, die von Zeiten zu Zeiten das große Jubeljahr ausruft, wir brauchen den Frühling, den Wahn und den Rausch und die Tollheit, wir brauchen – wieder und wieder und wieder – die Revolution, wir brauchen den Dichter.


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