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Ernst Weiß

Der Arzt

Das menschliche Ungeziefer, das menschliche Gezücht zu lieben, hatte der Student erst begonnen: Noch erschreckten ihn die bekannten Menschen, unmenschlich fühlte er ihre Liebe, Fabrikarbeit, für Lohn und Brot geleistet. Aber zu namenlosen Patienten, die vorzimmerfüllend in der Nähe des Operationssaales warteten, wurde er hingezogen. Noch war Freude in ihm. Mit Freude tastete er sich an den Messingknöpfen des Treppengeländers herab, mit Freude ging er über die Asphaltstraßen, einatmend den Geruch des vom Sprengwagen versprengten Wassers, das klar niederrieselte in den glimmernden Morgenstaub.

Die lange Liste derer, die zu operieren waren, mit Kreide auf eine Tafel geschrieben, »Speisekarte«, auch »Fahrplan« von den Studenten genannt, stand im Vorraum. Der Professor war telegraphisch berufen, ein großes Kriegslazarett mit dreitausend Betten im Süden zu organisieren. Morgen wollte er fort, heute mußte alles »aufoperiert« werden, in einer Serie das ganze operative Material erledigt werden.

Auch zwei Assistenten waren einberufen worden, sie verließen sofort die Klinik, begeistert, gerührt, einzig darauf bedacht, zurechtzukommen: denn jeder rechnete mit einem vierzehntägigen Krieg, »dem rächenden Blitz einer Strafexpedition«.

Glänzend begann die Serie. Militärmusik hörte man schmissig hereinschmettern, straßenher in die Stille des Operationssaales.

Unter den Händen des Studenten wanderte Gesicht um Gesicht, unter seinen Fingern fühlte er süß hinrollen beruhigt wellenschlagendes Leben, entgegenhauchte ihm aus gestilltem Mund Schlaf um Schlaf. Hier war menschliche Gegenwelt: infernalisches Dasein war gelindert durch Schmerzverminderung und ruhiges Atmen.

Es stieg der Tag, Hitze schwelte aus, Wasserdunst, Waschküchenatmosphäre schmierte sich schwer durch die Räume, zischend brannte das Zeißlicht, warf brennende Blendung in blutig geöffneten Mensch.

Müdigkeit riß an den Knien des Studenten. Teilnahmslos stand er da, wie in Schlamm eingebettet in die feuchte Glut des Vormittags. Erlösung: »Narkose, Schluß,« kommandierte der Professor, – der General.

In Phantasien schwankte der Student, gewaltsam hieb er nieder entfesselte Phantasie, durch Müdigkeit entkettet, weiß strahlende Körper, Wunden, blutigrot, wie geheimer Schoß.

Schon wurde ein anderes Gesicht ihm unter die Hände geschoben, ein blaurotes Säufergesicht, weiß gewimpert, häßlich anzufassen, schweißüberströmt, Alkoholdunst ausatmend, schwarzen Kaffee mit Rum gemischt, Vorbereitung zur Narkose, heimlich im Branntweinladen zur Ermutigung geschluckt.

Alle waren müde, der General nervös. Der Student begann die Narkose, riß sich zusammen, kühl funkte nieder Äther in weißen Tropfen, vereisend zu flaumigem Schnee die Maske. Der General wartete nicht, mit der stumpfen Seite des Messers zeichnete er den Hautschnitt vor. Gewaltig brüllte der Kranke, aufrüttelnd den Tisch, aufhämmernd mit dem schweren Schädel das harte Kopfgestell.

»Er schläft noch nicht,« sagte der Student.

»Man merkt es,« sagte höhnisch der Oberarzt.

»Vorwärts, vorwärts, wir haben Eile,« der General.

Der Student tropfte Äther. Der Kranke schlief nicht, tobte, hieb ihm mit dem Kopf in das gebeugte Gesicht, daß er Blut aus der Nase vergoß. Alle lachten.

»Nehmen Sie Chloroform,« sagte der Oberarzt.

Der Kranke schlief nicht.

»Weiter, weiter, weiter! Schütten, schütten!« der General.

Der Student gab nach, zu öligem Strahl rann das schwere Gift.

Der Kranke schlief endlich.

»Weiter, weiter, der Patient preßt,« hetzte der Oberarzt.

Der Student goß Gift. Er blickte den Kranken nicht an, fühlte nicht nach den tödlich erschlafften Muskeln hin, blickte fort vom lividen, veilchenblauen Gesicht, absichtlich blind, ausweichend der Wirklichkeit.

»Nur mehr, mehr Courage, endlich gibt das alte ... Ruhe!«

»Das Blut ist dunkel,« sagte der Professor, der beinahe fertig war, »zählen Sie einmal den Puls.«

»Aber dem Patienten geht es ansonsten tadellos,« sagte der Oberarzt, »der reißt uns ja den Operationstisch um, der Mordskerl, wenn man ihn aus der Narkose herausläßt.«

»Nun, der Puls?« fragte der General.

Keinen Puls fühlte der Student. Aber erbleichend, ganz Lehm, aufsteigende Verzweiflung, aufsteigende, schwere Sumpferde ... wollte er den Puls fühlen, das Zittern der eigenen Adern zählte er, rechnete falsch vor:

»Eins ... eins ... eins ...«

»So, dann habe ich mich geirrt,« sagte der General.

Als der Professor mit der Hautnaht fertig war, setzte die Atmung aus. Die Maske, noch schwer von Chloroform triefend, lag weiß neben dem blau gedunkelten Kopf.

Eine Sekunde Schweigen. Fall von Tropfen, Rascheln von Kleidern, lichtzischende Bogenlampen, alles durchgrellend.

»Den Kiefer aufsperren! Zunge heraus!« sagte der General.

Mit zweiblättriger Zange wurden die Zähne auseinandergezwängt, die dicke Säuferzunge wurde eingeklemmt in stramme Klemme. Man zog im Rhythmus an der Zunge, leises Röcheln raschelte, ... dann wieder nichts, Leere, tödliches Schweigen ...

»Künstliche Atmung!« Der Student und der Oberarzt schnallten den Patienten eilig los, schlaff fielen die Glieder und der Kopf, nun schon weiß wie Teig, herab, schlenkerten, wie bei dem gelähmten Hund, befreit aus dem Gestell der Vivisektoren.

An den Armen hob man ihn auf, weitete die Brust, schlug die Arme wieder an die Rippen, um künstlichen Atem zu erzeugen. Nichts rührte sich.

»Schade! Schluß!« sagte der General.

»Wahrscheinlich Herzverfettung, Herzlähmung, na, du mein lieber Gott, ein alter Potator,« sagte der Oberarzt.

»Ich will noch eine Stunde künstliche Atmung versuchen,« sagte der Student, »ich will ...«

»Hätten Sie lieber nicht so viel Chloroform hingegossen!«

»Herr Professor!«

»Ja, selbstverständlich, jetzt aber weiter, die Patienten warten, noch sechs Fälle sind für heute bestimmt! Schillerling, übernehmen Sie die Narkose, weg mit dem Chloroform, wir haben genug an dem einen Accident.«

In eine dumpfe Kammer rollte man den Patienten. Der Student blieb allein mit dem Betäubten. Lange arbeitete er dumpf, ohne Gedanken, geblendet von dem Schlag der Wirklichkeit. Dann begann er tiefsten Kummer zu fühlen; vergebens schützte er sich selbst, sagte, es wäre ein Geschick, ein Zufall, ein drittel Prozent der Statistik, ein schöner Tod ... Aber alles rann ab von ihm, nichts schützte ihn vor sich selbst, nichts deckte ihn vor tiefster Verzweiflung. Tausende würden sterben, im Schlachtfeld unrettbar verwundet liegen, was bedeutete ein einzelner, ein fetter Philister, eine alkoholvergiftete, alkoholverfettete Seele, potator strenuus? Aber er fühlte nur den blassen, leblosen Körper vor sich, die weißen Wimpern, Feuchtigkeit austriefend über den gewaltig großen, gewaltig schwarzen Pupillen, die harte Stricknadelader des Kiefers, nicht mehr rollend in Pulsschlägen, die arme Zunge, sprachlos längst, schlaff hängend an unbewegtem, starr blinkendem Haken.

Müde war er zum Erbrechen. Verwirrt hinkte der eigene Herzschlag, Überanstrengung war das ewige Stehen in dumpfdunklem Raum, Verbrechen an sich selbst war die überlange künstliche Atmung des Betäubten. Kampfer stand da, gelbölig in breiter Flasche, eine Spritze stach er sich selbst in den Arm, wilde Ströme brannten hervor, eine wilde Energie riß die Hände des Betäubten nach hinten, oben, preßte die Ellenbogen in die Brust. Er keuchte heiß. Müdigkeit kam, die zweite Spritze schlug sie nieder. Überarbeit wirkte herrliche Stärke! Flimmernd zuckten Sekunden! Das Instrument, an dem die Zunge hing, züngelte Licht, wandte sich in weicher Drehung nach oben: Er schrie, zitterte vor Glück, er schrie dem Kranken ins Ohr, rief ihn an mit »Herr ... Sie ... Sie ... potator!«, da er den eigentlichen Namen nicht kannte, wollte ihn ganz erwachen sehen, ganz umgewandelt in Leben, herrlichstes, wundervollstes! Er hielt sich zitternd fest am Rand des Operationstisches, der noch schlüpfrig von frischem Blut war: der Kranke atmete weiter ... lebte!

Der Oberarzt staunte, der Professor wurde jetzt erst ernst: »Sie sind gewarnt,« sagte er, »aber wir andern auch. Übernehmen Sie die nächste Narkose, nur Äther. Und dann müssen wir ins Sanatorium. Der Sänger wartet.«

Der Chirurg spät abends im Auto zu dem Studenten: »Eine scheußliche Sache haben wir noch vor uns. Schon die erste Operation war kein Vergnügen ... aber jetzt ... es bleibt nur eine hohe Darmfistel übrig und für die nächste Zeit das Wasserbett. Der große Sänger im Wasserbett ... sonderbare Einfälle hat der liebe Gott. Aber Sie werden sehen, wie leicht er das alles nimmt. Ich habe ihm eingeredet, es käme jetzt die Krisis, die Heilung mit vermehrten Schmerzen. Der Mensch ist zum Idioten geworden und freut sich über seine Krämpfe.«

»Und wie lange kann der Zustand noch dauern?«

»Jahre. Er hat eine eiserne Natur. Sie werden staunen.«

Der Student staunte: Der Sänger ging im Steirerkostüm im Garten des Sanatoriums umher, hatte grüne Schatten unter dem grünen Hut, aber auch ohne Hut, im weißen Zimmer! Wie war er klein geworden, geschrumpft sein Gesicht! Einen fünfzigjährigen Mann hatte das Leiden verjüngt zu blasser, hautgespannter Larve eines zwanzigjährigen Grüngesichts.

Der Professor: »Geben Sie dem Herrn die übliche Injektion, dann können wir die Operation angehen.

Vorerst natürlich die erste Desinfektion.«

»Nicht zu viel,« sagte der Sänger. »Sie wissen, ich schlafe leicht. Und dann: Ihre Narkose! Ich habe oft daran gedacht. Vor drei Monaten, erinnern Sie sich? konnte ich nicht genug davon bekommen. Nachts, um zwei Uhr morgens, habe ich Sie aus dem Schlaf geklingelt, direkt den Revolver auf die Brust: Geben Sie mir den Tod, oder ... Natürlich, das Theater verleugnet sich nicht.«

Der Student öffnete den Verband. Rein von Kot war die Haut, aber breit klaffte die Wunde auf dem edlen Leib.

»Sie sehen, ich bin zimmerrein. Mit einer gewissen Selbstzucht und Charakterstärke gewöhnt man sich selbst das an. Alles wird erträglich. Sie haben mir das Leben gerettet. Wo wäre ich, wenn Sie mir damals auf meinen Wunsch die lebenslängliche Narkose verabreicht hätten? Bei den Würmern.«

Seltsam, ... welch anderen Klang hinter diesen Worten hörte der Student?

»So aber habe ich drei schöne Monate hinter mir, habe mit Freuden gearbeitet, gesungen, nicht auf der Bühne natürlich, sondern fürs Grammophon. Zahlen übrigens wahrhaft fürstlich, diese Leute, abgesehen von der Reklame für mich.«

Der Student sah ihn an ... und sah hinter diesen leeren Worten ein Gesicht ... und schweigende Augen baten ... Todesbitte ...

Er benetzte die Umgebung der Wunde behutsam mit weicher Watte, mit lauem Wasser, rosarotem Sublimat. Schmerzhaftes, zerrissenes, von Furchen durchschnittenes Stück Mensch, in Sehweite ausgebreitet vor ihm, dem gesunden Mediziner, dem blühenden Menschen von 23 Jahren.

Jahrelang hatte dieser Mensch nun leben sollen, wechselnd zwischen Dauerwanne, Wasserbett, feuchtem grauem Dasein und kotgefüllten Verbänden. Tag und Nacht, Essen, Schlafen, Atmen, Warten, sich freuen, alles in dem Sarg aus Wasser, in der Zelle der Klinik. Hilflos hatte er bleiben sollen, verpestend die Welt und sich mit dem grauenhaftesten Jammer, nackt vor Hoffnungslosigkeit.

Nun aber wußte der Student: dieser Mensch wartete auf ihn, ... auf die andere Seite seines Könnens ...

»In den letzten Tagen war ich etwas unruhig. Bei Ihnen fühle ich mich daheim. Ich habe in den Hotels nicht geschlafen. Hier werde ich schlafen. Wo wollen Sie die Injektion machen, am Arm? Am ...«

Schauerlich war alles Mensch.

Erwirklicht wurde der Sänger in dem Studenten, wurde Mensch von seinem Menschen.

Mit konzentrierter Güte schüttete er Schmerzvernichtung in seinen Bruder.

Er hatte die Injektionsspritze mit Sublimat gefüllt, stach sie schmerzlos schnell zwischen die sparren Rippen durch, entgegen dem hochzuckenden Herz.

»Hier ...« sagte der Sänger, ... »o Gott ...«

In einem Zuckkrampf endete sekundenschnell ein Mensch.

Erlösend erlöst stand der Mensch Arzt.


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