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Paul Kornfeld

Himmel und Hölle

Eine Tragödie in fünf Akten und einem Epilog

Personen:

Graf Umgeheuer
Beate, seine Frau
Esther, die Tochter der beiden
Die Marquise, die Mutter der Gräfin
Leonhard
Maria
Johanna
Jakob
Der Beamte
Drei Richter
Sieben Verbrecher
Diener und Mädchen
Männer und Frauen; Volk

Erster Akt

Erste Szene

Zimmer im Hause des Grafen Umgeheuer. Graf Umgeheuer und die Komtesse kommen einander aus verschiedenen Türen entgegen.

Komtesse: Oh, fühl an mein Herz! Wie es noch immer rast! – Ich stand am Fenster und blickte hinunter; auf der anderen Seite stand er, und wie es in Träumen oft geschieht: ich überlegte, ob es eine Gestalt der Wirklichkeit oder des Traumes wäre, doch während ich darüber nachdachte, ging's weiter und: – er setzte sich in Bewegung, kam herüber, trat in's Haus und schon hörte ich die Glocke, hörte Schritte und dann seine Stimme; ich weiß nicht, was es war, ich mußte hinausstürzen, und da sah ich ihn nun; er bleibt stehen, starrt mich an, wortlos und gefährlich, und geht an mir vorüber – in's Zimmer, wo ihm die Mutter wie einem alten Bekannten entgegenkommt!

Der Graf: Ja, er ist ein alter Freund Deiner Mutter. Allerdings, er sieht etwas merkwürdig aus, so merkwürdig, wie es die Erzählungen sind, die über ihn umgehen.

Komtesse: Was erzählt man von ihm? Er sieht aus wie ein uraltes Tier! Und so sind die Freunde Deiner Frau! – Vater – verrate es mir! – liebst Du meine Mutter?

Der Graf: Rühr nicht daran! Darüber denke ich seit zwanzig Jahren nach.

Komtesse: Ich hasse die Mutter, weil –

Der Graf: Nun?

Komtesse: Weil sie unglücklich, ist!

Der Graf: Eine Ahnung sagt mir, daß Du sie es nicht fühlen lassen darfst, sonst geschähe ein Unglück! Sie ist, glaube ich, krank, wenn ich auch nicht weiß, um welche Krankheit es sich handelt. Bemühe Dich um sie! Ich bitte Dich darum, es ist die größte Bitte, die ich an Dich habe: entschließ Dich, gut zu ihr zu sein!

Komtesse: Verlang nichts von mir! Ich fühle mich zerstampft! Ich kann mich zu einem Entschluß nicht entschließen! – Ah, Vater, steht's für einen Entschluß, ist nicht jede Tat irrelevant, ist nicht jedes Sich-entschließen-wollen dumm in einer Welt, in der Gott lebt und in der die Menschen sterben müssen?

Der Graf: Das ist die gefährlichste Weisheit der melancholischen Jugend; es mag weise sein, doch ist es unmenschlich; menschlich ist's, nicht zu wissen, daß jede Tat irrelevant ist. – Was ist's mit Dir? Wir begegnen einander oft am Tage, so wie jetzt, wie wir, gejagt und gehetzt, durch's Haus streichen. Beichte mir nicht! Sag mir nicht, daß Du liebst oder daß Du geliebt wirst! Du hast zu wenig Erfahrung, um so etwas mit Bestimmtheit sagen zu können; trotzdem klag mir auch nicht, daß Du ratlos in der Welt stehst, und frag mich nicht um Rat! Ich selbst muß ja nur wie ein verwundeter Vogel durch die Luft flattern! Doch glaub nicht, daß Dir ein Gedanke oder eine Einsicht, und wäre es auch ein weiser Gedanke oder eine weise Einsicht, über eine Brücke helfen kann; nichts kann uns mehr Enttäuschungen bereiten als Weisheit! Glaub nicht, daß die Dinge nur ein schattenhafter Abglanz der Ideen sind, hier gilt der Sturm, der uns die Tatsächlichkeiten um die Ohren schlägt, und die Ideen sind nur ein leiser Schatten der Lebendigkeit! Ich weiß nicht, was Dir helfen könnte; vielleicht unendliche Güte oder vollkommene Härte; doch, ist beides in Dir, das Gute in Dir und das Schlechte in Dir, und gehörst Du zu jenen, die die besten Menschen sind und Schurkereien begehen, und die die Schurkereien nicht zu Ende führen, weil sie auch gute Menschen sind, dann bereite Dich auf die Hölle vor!

Komtesse: Sprichst Du von mir? Wer begeht Schurkereien in diesem Haus? Wer ist schlecht in diesem Haus?

Der Graf: Alle sind wir schlecht! Weiß Gott, warum! Weiß Gott, warum wir schlecht sein müssen, wenn wir's doch gar nicht sein wollen! Weiß Gott, warum! ( Er läuft plötzlich hinaus; ab.)

Komtesse ( allein): Wohin? So plötzlich –? Wovon sprach er? – Wahrlich, dies Haus steht nicht in der Sonne! Jedes Gesicht ist bedeckt wie von einer trüben Seele und wird täglich finsterer, und jedes Wort ist erfüllt wie vom Blut eines zermarterten Herzens. Und dies Alles – ich fühle es schmerzhaft! – wirft seinen Schatten auf mich! und frißt mich auf! Jede Träne, jedes traurige Wort nimmt mir den Glauben daran, daß es etwas Gutes auf der Welt gibt, nimmt mir die Kraft, darnach zu langen, lähmt mich, macht mich hoffnungslos, und ich fühle mich schon jetzt wie ein Haufe von Scherben! – Wer will mir noch sagen, daß es ein Glück ist, jung zu sein! So sprechen nur Menschen, die zu einer Zeit, in der uns aus jeder Pore Blut und Flammen strömen, schon – reife Männer sind!

Leonhard.

Komtesse: Ah, hier sind Sie! Kommen Sie! Denn daneben ist ein Gast bei meiner Mutter, und man wird dann durch dieses Zimmer gehen. Kommen Sie! ( Beide ab.)

Beate und Jakob

Beate: Nun, leben Sie wohl! Und ich schäme mich, daß wir nur über mich gesprochen haben. Von sich und Ihrer Vergangenheit haben Sie mir nichts erzählt.

Jakob: Ich verleugne meine Vergangenheit.

Beate: Nun, leben Sie wohl! Und wenn Sie nächstens in diese Stadt kommen, werde ich vielleicht nicht mehr sein; aber glauben Sie mir: mich wird nicht der Tod, mich wird dies Leben getötet haben!

Jakob: Ich verstehe nun, warum mich, seitdem ich wieder unter Menschen gekommen bin, mein erster Weg zu Ihnen geführt hat – ich sammle nämlich Zeugenmaterial gegen das Schicksal!

Beate: Konnt' es denn anders kommen? Wenn zwei Schicksale wie mit Ketten aneinander gebunden sind, und sich die beiden Menschen doch nicht lieben können, was kann da Anderes geschehen, als daß sich die beiden Schicksale aneinander blutig reiben?

Jakob: Ob dies und jenes so sein muß, wie's ist, wenn etwas anderes Anders ist – darnach ist hier nicht die Frage! Wie's kam, auf welchem Weg es kam, aus welchem Grund es kommen mußte – was kümmert's mich? Ich stehe hier und staune: daß es das gibt, daß sich zwei Schicksale aneinander blutig reiben! Darnach frage ich! Oh, ich habe tausend Fragen, die ich eines Tages zu einer Herde zusammentreiben und in den Himmel hinaufjagen werde, daß die Engel oben in ihrer Seligkeit, wie ein paar armselige Vögel, wie ein Haufe aufgescheuchter, schuldbeladener Verbrecher, kreischend und zu Tod erschrocken, auseinanderflattern werden! An diesem Tag wird sich das Blau des Himmels schwärzen, und Blitz und Donner werden, zurückgeworfen von dieser ewig angedonnerten Erde, in den Himmel schlagen und Gott selbst erbeben machen! Ich werde Wirrwarr stiften vor dem Throne Gottes!

Beate: Wie viel Unglück muß Ihnen begegnet sein!

Jakob: Wie gleichgültig ist das! Ich habe als Schicksal nur noch meine Gedanken und meine Pläne, ihre Früchte, die schon ein Strahl von Elend, den ich zu sehen bekomme, ein Windhauch eines Seufzers, den ich höre, zur Reife bringen kann, daß ich sie abschüttle von mir, und daß sie niederrollen, um sich ertösend zu eröffnen – ich habe nämlich den schrecklichen Verdacht, daß Gott der Zwillingsbruder des Teufels ist, oder aber – was mir noch furchtbarer, doch noch wahrscheinlicher erscheint! – er ist nicht mehr, als der höchste Priester!

Beate: Furchtbar! – Wen würde er anbeten?

Jakob: Sich selbst! Der gute Gott aber müßte den Menschen so lieben und anbeten, wie der Fromme seinen Gott!

Beate: Gehen Sie! Gehen Sie! und kommen Sie nicht wieder!

Jakob: Ich werde wiederkommen! ( Ab.)

Beate ( allein): Den Einen läßt der Jammer sich in's Wasser stürzen, den Anderen läßt er sein Leben verweinen, dem Dritten nimmt er den Verstand, und Einem wieder gibt er ruchvolle Gedanken. Und die sind neuer Jammer, neue Schuld!

Die Marquise.

Marquise: Wer war der Alte?

Beate: Sein Vater.

Marquise: Wessen Vater?

Beate: Wilhelms.

Marquise: Du verkehrst mit Wilhelms Familie?

Beate: Er selbst ist tot.

Marquise: Tot?

Beate: Ja; er hat sich erschossen.

Marquise: Ah! Wann geschah das?

Beate: Er hat, sich zu erschießen, meinem Schicksal vorgezogen, das ihm beschieden gewesen wäre, hätte er es nicht getan. Es geschah vor ungefähr zwanzig Jahren.

Marquise: So.

Beate: Als seine Frau davon erfuhr, daß er sie mit mir betrogen hatte, da hat sie – so erzählte es mir sein Vater – zwei Tage lang versucht, ihn zu verfluchen, bis sie einsah, daß sie es nicht könnte und nur auf eine Gelegenheit warten müßte, ihm, wie man sagt, seinen Fehltritt zu verzeihen. In diesen zwei Tagen aber – es ist merkwürdig, es ist schwer, zu erklären – in diesen zwei Tagen muß etwas mit ihm geschehen sein, als wäre eine böse Seele in ihn gefahren, die gewöhnt ist, gehaßt zu werden, denn in dieser Zeit hat er's gelernt, verflucht zu sein! – Es muß etwas Ähnliches geschehen sein zwischen mir und meinem Mann! – Und er begriff sie nicht, wie sie gut sein wollte; doch seine Frau gewöhnte sich an dieses sein Gesicht, und als er's wegwerfen wollte, verstand sie ihn nicht mehr, und so ging's wie auf der Schaukel, und die Zeit war eine Kette von Zweifeln und Verzweiflungen, weil der Fluch über sie gekommen war, der Fluch der Eheleute: einander nicht mehr erraten zu können. – Es war alles so wie hier, bis auf den Schuß, mit dem er, Wilhelm, nach einem Jahr diese Tretmühle der Qual, die in diesem Haus bis auf den heutigen Tag unermüdlich läuft, abgestellt hat!

Marquise: Und seine Frau?

Beate: Auch sie lebt nicht mehr. Bald nach seinem Tode ist sie weggefahren und herumgereist; man sagt, sie wäre über seinen Tod sehr glücklich gewesen, hätte sich befreit gefühlt, von neuem zu leben begonnen, ja, hätte sich in einer Ekstase von Lebenslust befunden, doch hat sie sich bald darnach – niemand kennt den Grund und Anlaß – in Paris erhängt. – Mutter, ich fühle den Tod körperlich, wie er sich, so wie ein Mensch uns entgegenkommt, mir nähert, und ich bete täglich nur um Eines: daß er früher kommen möge, als etwas, das furchtbarer ist, als er! – Eine Stunde des Unsinns vor vielen Jahren, jene selbe Stunde, die ihn vernichtet hat, eine Stunde des Unsinns war der Samen, aus dem das Gestrüpp himmelhoch gewachsen ist, das mein Leben beschattet, indem's mir alles Licht der Liebe nimmt – ah! ich weiß, daß mich auch meine Tochter haßt – kein Strahl von irgend einem Menschen fällt auf mich, und mich umgibt die Nacht! Kann's Strafe sein? Oh, wär' es das, ich wäre glücklich! Doch kann es sein? Wär's möglich? Ich würde mich begnadet fühlen, denn ich weiß, auch die Gestraften sind Auserwählte, wie jene, die Gewissen haben und Reue kennen, und auch: wie alle Leidenden, weil sie aufsteigen auf der Leiter der Menschlichkeit, und nur die Niederen, die Verlorenen, die Schicksalslosen, die von der Natur Aufgegebenen sind verurteilt, ungestraft Böses zu tun – doch: ob's Strafe ist oder nicht, wie, wenn der Krampf unser Inneres verwirrt, daß diese Dunkelheit – und sei's für einen Augenblick! – durchbrochen wird, damit ich weiß, daß auch für mich das gute Wort erklingt, daß auch das Licht – oh Gott! – für mich geschaffen ist, wie, wenn der große schreiende Zorn kommt, wenn die Verzweiflung uns betäubt – oh, käme, als dieses Furchtbare, früher der Tod! Ich fühl's, wie beide nach meiner Seele den Arm strecken, wie beide um meine Seele um die Wette laufen, doch ich muß dastehen und warten, denn ich selbst bin nichts mehr, bin abgebraucht, bin ein Leichnam.

Marquise: Laßt, Ihr beide, das Leben ablaufen –

Beate: Das bedeutet: seid hoffnungslos! Nein! Noch immer nicht!

Marquise: Und versuchet, milde gegeneinander zu sein!

Beate: Milde ist etwas, das immer nur nachgemacht werden kann.

Marquise: Und wer macht den Anfang?

Beate: Immer nur ein Begnadeter.

Graf Umgeheuer.

Der Graf: Ich habe eine Bitte an Dich: Freunde ersuchten mich, ein Mädchen, das lange krank war und nun brotlos in der Welt steht, irgendwo unterzubringen – könntest Du nicht Verwendung im Hause für sie finden?

Beate: Ich will sehen; sie soll zu mir kommen!

Marquise: Ich lasse Euch allein. ( Ab.)

Beate: Heute ist ein merkwürdiger Tag – fühlst Du es nicht? Laß uns über die Vergangenheit sprechen! – Bedenke: wir waren zwanzig Jahre nur – höflich zueinander!

Der Graf: Furchtbar! mir graut!

Beate: Was war's? Waren wir schlecht?

Der Graf: In unserem Inneren waren wir gewiß gut, doch waren wir zu schwach, um aus unserem Charakter die Konsequenzen zu ziehen. Vielleicht sind wir Alle nur zu faul, um ganz gut zu sein! – Doch nun sind wir verhärtet, nun ist alles verloren!

Beate: Wie kann's verloren sein, wenn wir's nicht wollen?

Der Graf: Wir haben es gewollt! Weil wir zu faul gewesen sind! Wir sind verkommene Menschen, weil wir unglücklich sein wollten! Wir waren lasterhaft, denn wir waren schwach! Wir sind Verbrecher mit gutem Charakter! und bleiben's auch, wenn die Seele dazu melancholische Lieder singt! – Doch von uns Beiden bin ich ganz gewiß der Schlechtere!

Beate: Sieh, hätte nicht auch ich damals, als ich habe sehen können, daß uns nichts mehr zum Guten führen kann, mich verkriechen sollen wie ein verendendes Tier und sterben?

Der Graf: Schweig! schweig! – Das wäre das Einzige gewesen, das mich hätte ganz vernichten können.

Beate: Wie –?

Der Graf: Ich hätte mich – glaub's mir! ich bitte Dich: glaub's mir! – in einen Fluß geworfen –

Beate: Oh Gott!

Der Graf: Denn ich hätte doch nicht – oh, glaub es mir! – ich hätte doch nicht leben können ohne Dich!

Beate: Oh Gott, wie das klingt! Oh, wiederhol es! Mir sitzt ein Schrei in der Kehle und Gesang! Gesang! – doch sieh: so schwach bin ich, daß sich mir alles verwandelt – ( sie weint) – nimm diese Tränen als Geschrei des Jubels und als Ekstase meines Glücks!

Der Graf: Ich hatte den unbedingten Zwang, Dir etwas Gutes zu sagen, konnte es auch nur der Vergangenheit gelten!

Beate ( sich an ihn lehnend): So kann zauberhaft ein Wort die Vergangenheit wegstreichen!

Der Graf: Glaub's nicht! Glaub das nicht! – Oh Gott, Du scheinst glücklich zu sein?

Beate: Du zitterst.

Der Graf: Ich dachte, Du wärest es.

Beate: Wir sind's Beide.

Der Graf: Nun müßte ich ein Wort sagen, zum erstenmal ausgesprochen, nur für Dich und diesen Augenblick, ein Wort von unendlicher Güte, Versöhnung und Liebe!

Beate ( ihm vor die Füße sinkend): Sag es! oder ich sterbe!

Der Graf: Ich kann nicht! Ich finde keines! Was ist in mir? Ich hab's verlernt! Wo sind die Zeiten, da's aus mir strömte! Oh Gott! Ich hab's verlernt! ( Er stürzt hinaus; ab.)

Beate ( allein): Weh mir! Die Demut vergeht! Furchtbar erhebt sich in mir, was sie verschlingt! Und aus dem Grund meiner Seele lodert empor Flamme und Schrei!

Weh euch! Schon rüttelt der Sturm an den Toren meines Herzens! Schon hört es auf, zu schluchzen, und es beginnt, zu schreien! Einmal wird Tier, wer ewig leidender Mensch war! Es brüllt und es tobt! Weh euch! und auch: weh mir!

Zweite Szene

Ein Zimmer.

Maria und Johanna.

Johanna: Du gehst fort von mir – wie werde ich leben?

Maria: Kind, es geschieht für Dich! Ich werde dort viel Geld bekommen, und Du wirst nicht mehr mit jedem Mann, der in dieses Haus kommt –

Johanna: Du liebst mich nicht mehr, sonst gingst Du nicht fort! ( Sie weint.)

Maria: Ich gehe, weil ich Dich liebe; ich bin glücklich, Dir von nun an dies Leben ersparen zu können.

Johanna: Ich weiß es, Du liebst mich nicht mehr, weil ich zu mager geworden bin!

Maria: Ah, kleine Johanna, wie kleingläubig bist Du! Warum willst Du mir nicht vertrauen?

Johanna: Ah, ich kann nicht Worte machen wie Du – Du bist klüger, als ich, – doch habe ich immer getan, was ich tun mußte, und es wird etwas Furchtbares geschehen, wenn Du mich nicht mehr liebst! Und versprich es mir, daß Du's mir sagen wirst, wenn Du zu müde bist zum Leben, daß Du's mir sagen wirst, damit wir miteinander sterben können! Das wäre dann noch mein einziges Glück!

Maria: Ja, mein Kind! – Doch nun geh – er kommt!

( Johanna ab.)

Graf Umgeheuer.

( Umarmung.)

Der Graf: Ich habe mit meiner Frau schon gesprochen; es wird gelingen!

Maria: Ah, Deine Frau scheint ja recht dumm zu sein!

Der Graf: Lachen sollst du nicht darüber!

Marie: Verzeih! Ich habe gemeint, ich müßte lachen, weil ich meinte, es wäre lustig. Verzeih! – Nun? Du liebst mich?

Der Graf: Welche Frage!

Maria: Welche Frage! Unsereins lieben nur Greise und ganz junge Dichter. Du liebst mich nicht, mein Freund, Du bist begehrlich!

Der Graf: Meine Frau wird Dich für irgend eine leichte Arbeit in's Haus nehmen, und mein Plan wird gelungen sein.

Maria: Und ich werde nicht mehr vor Übermut auf Tische springen müssen, wenn ich weinen möchte, und werde immer nur Einem sagen müssen, daß ich ihn liebe! Und das könnte auch einmal auf eine zarte Weise wahr werden, wenn Du, Kind, mich oft so wie jetzt bedauernd ansehen wirst, mich traurig sein lassen und mir ersparen wirst, mein Talent, lustig zu sein, wo ich's nicht bin, auszunützen. Das ist das Talent der Sentimentalen, und sieh, ich habe, wie alle Unglücklichen, etwas vom Clown in mir.

Der Graf: Ah, man müßte den Mut haben zu rückhaltlosem Unglück!

Maria: Es war mein Beruf, ihn nicht zu haben, und immer meine Sehnsucht, ihn haben zu dürfen.

Der Graf: Und einmal wird diese Sehnsucht erfüllt sein! Denn für alle Menschen kommt der Tag, an dem sie, befreit vom Charakter, befreit von den Launen der Seele, entkleidet von den Fetzen der Heuchelei, eindeutig beleuchtet, als ihr wesentliches Wesen dastehen! Für den Glücklichen und den Unglücklichen, für den Wahren und den Verlogenen, für den Engel, wie für den Verbrecher! Oh, vor diesem Tage graut mir! Schon dämmert er mir auf! Wie graut mir vor diesem Tag!

Maria: Was ist's? Sagtest Du nicht gestern, Du wärest glücklich, mich gefunden zu haben, und heute noch, daß Du mich liebst?

Der Graf: Glaub's nicht, glaub's nicht! Ich habe gelogen!

Maria: Wie? Warum dann dies alles? Warum diese Komödie? Lump! Willst Du mich zum Narren halten?

Der Graf: Es ist Alles anders, als Du glaubst!

Maria: Sprich, Lump! So nimmst Du mich nicht in Dein Haus? Wolltest Du mich nur zum Narren halten? Nur zum Scherz! – oh Gott! – mir Hoffnung machen? – Nun! Sprich!

Der Graf: Es ist alles so furchtbar verworren! – Doch, wer kommt denn hier herein?

Jakob.

Der Graf: Mensch! Was wollen Sie hier? Wie kommen Sie herein?

Jakob: Als Sie aus Ihrem Haus traten, stand ich davor; ich ging Ihnen nach, und als Sie in diesem Haus verschwanden, mußte ich Ihnen folgen. Man wollte mir den Eintritt in dieses Zimmer verwehren, doch habe ich mir ihn erzwungen.

Der Graf: Merkwürdiger Mensch! Warum folgen Sie mir? Warum verfolgen Sie uns? Heute schon, meine Frau –

Jakob: Ihre Frau ist unsagbar schön; man möchte vor ihr niederknieen und sie anbeten. Alles Leid, das Sie in dieser langen Zeit einander zugefügt haben, hat sich verwandelt und ist Schönheit in ihrem Gesicht geworden, alle Trauer, die sie empfinden mußte, ist nun Zartheit ihrer Züge und Bewegungen. Kein Jubel und kein Triumph könnte für einen Mann verlockender sein, als über diese Schönheit so viel Glück zu verbreiten, wie das Unglück hier Schönheit geschaffen hat.

Der Graf: Entsetzlich! Warum sagen Sie mir das Alles?

Jakob: Warum lieben Sie Ihre Frau nicht mehr? Oder – wenn dem nicht so ist – warum verbergen Sie Ihre Liebe?

Der Graf: Gehen Sie! Sind Sie hergekommen, mich zu Tode zu quälen?

Jakob: Mit all den Fragen werde ich mich vielleicht einmal selbst zu Tode quälen. Ich muß das Schicksal, Schuld und Schuldlosigkeit jedes Menschen kennen. Antworten Sie mir deshalb!

Der Graf: Wer sind Sie? Haben Sie kein eigenes Schicksal? Keine eigene Vergangenheit? mit eigenen Erschütterungen?

Jakob: Seither sind unendliche Zeiten vergangen. Ich kenne nicht meine Eltern und erinnere mich nicht an meine Kindheit. Es scheint mir, als wäre Alles eher mein Schicksal, als ich selbst; wenn ich's überlege, was mich berührt hat, so war es immer nur Verzweiflung, wenn mich jemand nicht geliebt hat; doch seit damals sind unendliche Zeiten vergangen.

Der Graf: Grauenhaft! Gehen Sie! Sie sind mir – scheußlich!

Jakob: Sie können mich nicht beleidigen; ich bin kein Privatmensch mehr!

Der Graf: Was soll das bedeuten?

Jakob: Etwas Furchtbares! Lassen wir's! – Glauben Sie an Gott?

Der Graf: Wie sollte ich Ihnen darüber Rechenschaft geben?

Jakob: Schön. Glauben Sie an das Gute? Und an große Liebe?

Der Graf: Genug! Hören Sie: genug! Ich bitte Sie! Jede Frage schlägt vernichtend in mich ein! Ich will vor Ihnen knieen und Sie anflehen: fragen Sie nichts mehr, wenn Sie mich nicht töten wollen!

Jakob: Ich will nichts Böses. Gehen Sie nach Hause, knieen Sie nieder vor Ihrer Frau, und bedenken Sie, daß es immer nur ein Schleier ist, der uns einen Menschen verhüllt, und nur ein Schritt, der uns von ihm trennt, doch wird er nicht gehoben, dieser Schritt nicht getan, dann glauben wir, es sind Berge, die ihn verhüllen, und unendliche Wege, die uns von ihm trennen! Gehen Sie nach Hause und erkennen Sie Ihre Täuschung! Tausendmal mehr müßte doch zwei Menschen zueinander ziehen, als sie voneinander entfernen könnte!

Der Graf: Es ist wahr, wahr ist es! und doch: ich kann es nicht! Ich kann nicht sprechen! Die Kehle versagt, die Stimme wird heiser, ich kämpfe mit mir und ich kann es nicht! Es ist in mir alles schon verrostet!

Jakob: Ah, auch Sie sind nicht schlecht! Und doch hineingezogen in diese Verwirrung!

Der Graf: Wahrlich, ich bin nicht schlecht – ich begehe nur Schlechtigkeiten!

Jakob: Und wer ist dieses Mädchen? – Nicht wahr, wenn der Graf nun nach Hause ginge und täte, worum ich ihn gebeten habe, und Sie dann verlassen müßte und die Versprechen, die er Ihnen gewiß gemacht hat, nicht erfüllen könnte, nicht wahr, Sie wären unglücklich darüber?

Maria: Ich wäre es, denn meine Hoffnungen waren groß; doch wäre das vielleicht gleichgültig, und wenn ich die Brücke wäre, auf der die Beiden zueinander kommen könnten, wäre es vielleicht sogar schön!

Jakob: Schön? Betrügen Sie sich nicht! Es wäre furchtbar für Sie! Gleichgültig? Nein, das wäre es nicht! – Doch, warum haben Sie ihn verführt?

Maria: Ich habe ihn nicht verführt; er kam immer zu mir. Auch wußte ich lange Zeit nicht, daß er eine Frau hat.

Jakob: So sind Sie rein, wie ein Engel! Und doch hineingezogen in diese Verwirrung! Es ist immer das gleiche Resultat!

Der Graf: Und da Sie es nun gesehen haben, wühlen Sie nicht weiter darin und gehen Sie! Ich glaube, Sie kamen nur her, um dieses Resultat festzustellen.

Jakob: Ich ahnte wohl, daß ich es werde tun müssen, doch kam ich in Wirklichkeit her, um Sie mit Ihrer Frau zu versöhnen.

Der Graf: Sie sehen nicht so aus, als wäre das Ihr Beruf; Sie sehen grausam aus.

Jakob: Weil's mir so selten gelingen wollte! – Doch kann ich es gut gebrauchen, ich will es vergleichen mit früheren Resultaten, die ihm bedenklich ähnlich scheinen! – Auf Wiedersehen! ( Ab.)

Maria: Nun, mein Freund? Ist Deine Frau so liebenswert und schön, wie er es sagte, wie konntest Du mich ihr vorziehen? Ich bin schon nicht mehr schön und gar bei Tag! Ich bin d'rauf eingerichtet, bei Nacht gesehen zu sein, und manchmal erscheine ich mir schon alt und häßlich.

Der Graf: Und mir erscheinst Du immer so! Du bist furchtbar häßlich!

Maria: Sei nicht gemein, oder –!

Der Graf: Wenn Du wüßtest, wie Du mich anekelst!

Maria: Warum sagst Du's mir? Bist Du toll? Scher Dich! Warum kamst Du zu mir? Um endlich mir das zu sagen? ( Sie weint.)

Der Graf: Oh Gott, hätte ich geschwiegen! – ( Niederknieend:) Verzeih mir!

Maria: Warum, warum also kamst Du her?

Der Graf: Nicht, um Freude zu haben!

Maria: So bin ich keine Frau mehr?

Der Graf: Ich wollte ja meine Frau nicht betrügen!

Maria: Hier war es kein Betrug! Oh Gott!

Der Graf: Und dann, vielleicht war es auch eine Strafe!

Maria: Oh Gott! Was ist das? Das war mein Beruf: Strafe zu sein und Ekel einzuflößen! Welch furchtbare Erkenntnis! Das ist das Ende! Oft habe ich geträumt, ganz unglücklich zu werden, doch habe ich es mir süßer gedacht! – Doch will ich's getreulich erfüllen: ich will zu Dir in's Haus kommen und allen Ekel ausstrahlen, alle Gemeinheit, die ich erlebt habe, widerspiegeln, bis Du vor Deiner Frau endlich zu Boden sinkst!

Welch furchtbarer Beruf! Welch furchtbare Verwandlung! Wer hätte das gedacht!

Der Graf: Verzeih mir!

Maria: Gewiß, mein Freund! Steh auf und komm!

Dritte Szene

Das Zimmer im Hause des Grafen Umgeheuer.

Beate, Komtesse, Marquise (eben das Zimmer verlassend).

Marquise ( zur Komtesse gewandt): Kurz, Kind: nur keinen Skandal! Das kann für unsereins ein Schicksal bedeuten! ( Ab.)

Ein Diener.

Beate ( zum Diener): Das Mädchen ist hier? Sagen Sie ihr, daß ich sie erwarte! ( Der Diener ab.) Komm zu mir, wenn Du mich brauchen kannst! Vielleicht wirst Du doch Deine alte Abneigung gegen mich überwinden können, und wir könnten Freundinnen sein! Komm zu mir, wenn Du mich brauchen kannst!

Komtesse: Ich muß es Dir gestehen, daß ich mich nicht gern von Dir beraten ließe! Du hast an Deinem eigenen Leben zu wenig Talent bewiesen und könntest mich dazu machen, was Du selbst geworden bist!

( Beate ab.)

Leonhard ( hinter einem Sofa hervorkriechend): Ah, diese Weiber! Wir müssen fort von hier! Sag: ja! und wir sind die glücklichsten Menschen!

Komtesse: Du wirst es vielleicht sein –!

Leonhard: Auch Du, auch Du!

Komtesse: Wie kann ich's wissen? Ich habe keine Erfahrung darin und habe Mißtrauen gegen Alles!

Leonhard: Seitdem die Welt besteht –

Komtesse: Ach, schweig! Wie dumm das klingt!

Leonhard: Wenn Du nicht: ja! sagst, mordest Du mich! Kannst Du das auf Dich nehmen? ( Sich niederwerfend:) Kannst Du so grausam sein?

Komtesse: Warum nicht! – Doch – wie Du mich verwirrt hast! Hast Du's soweit gebracht, so komm, ja, komm, ja, ja! ( Ab.)

Leonhard ( sich erhebend, allein): Also: heute nachts; es ging leichter, als ich gedacht hatte; es war nicht schwer; man könnte es in der Schule lernen; es gehört nicht viel Geist dazu. ( Vor einem Spiegel:) Ich habe auch niemals Anspruch erhoben, geistreich zu sein; aber elegant bin ich! ( Ab.)

Beate und Maria (kommen von verschiedenen Seiten).

Beate: Nun? – Mein Mann sprach mir von Ihnen.

Maria: Frau Gräfin – Sie wissen Alles!

Beate: Nun weiß ich es!

Maria: Wie schön Sie sind!

Beate: Sagen Sie es mir nicht! Es bereitet mir keine Freude, es zu hören.

Maria: Ihr Mann liebt Sie maßlos! Ich weiß es! Glauben Sie mir, daß ich es weiß!

Beate: Was hilft es mir, wenn er's nicht weiß! Doch vielleicht weiß er es –? – Setzen Sie sich! Es ist merkwürdig: nun sitzen wir zwei einander gegenüber in einem Zimmer. Glauben Sie nicht, daß ich Sie als Feindin betrachte!

Maria: Ich würde es nicht verdienen. – Oh, sehen Sie mich nicht an! Sie, die Sie so schön sind! Gewiß wurden Sie viel geliebt, denn gewiß wird jede schöne Frau an jedem Mann, den sie unglücklich läßt, an jedem gebrochenen Herzen noch schöner, und so ist manch Eine eine Hyäne, denn sie nährt sich vom Unglück Anderer – und darum bin ich so früh alt und so schnell abgeblüht, weil an mir kein Mann unglücklich geworden ist.

Beate: So scheinen Sie's jetzt desto mehr zu sein? Doch gab's für Sie nicht Zeiten der Freuden, vielleicht gar Augenblicke jubelnder Ekstase?

Maria: Vielleicht gab's die, doch ist es so, als hätten sie sich zu mir nur verirrt, denn sie sind mir so aus meinen Gedanken wieder entflogen, als gehörten Sie gar nicht zu mir.

Beate: Ja! Es ist so, als wäre ich, der unglückliche Mensch, neidisch auf mich, den freudigen; ich bin eifersüchtig auf jeden guten Augenblick, als würde ich mir untreu werden.

Maria: Wir lieben unser Unglück; vielleicht, weil es ein Teil von uns, vielleicht, weil es ein Teil der Welt ist, oder aus irgend einem unbegreiflichen Grund; so sehr liebe ich es, daß all meine Hoffnungen ihm und nur ihm gehören, und einmal muß mir mein Traum in Erfüllung gehen, der schon vor Jahren eine Stunde meines Schlafes beseligt hat: angefüllt mit Jammer und von unsterblichem Unglück berührt, zerfloß mein Inneres in Wehmut, und ich spürte wohl, mein Herz hatte Menschengestalt angenommen, war lebendig, und aufschluchzend rang es die Hände und stand da, stand da als Maria! Weich und süß spürt' sich mein Körper, aufgehoben von dieser Erde; zartes Gefühl in jeder Muskel; nur Herz und tränendes Auge war ich bis in die letzte Pore; schon dringt sie nach außen, die selige Wehmut, schon löst es sich los von meinem Arm, und schon quellt es überall von mir; zarter und schlanker fühle ich mich werden, und Sturzbäche der Glückseligkeit strömen herab; nun bin ich nur noch ein zarter Stamm, an mir selbst verschmelzend, nun noch ein Faden, zusammenknickend und sich lösend – wo war ich? Nicht gestorben – in Seligkeit zauberhaft verschwunden, und nichts blieb von mir, als auf der Erde ein kleiner Teich von Tränen. –

Beate: Ein süßer Traum, der mich zu Ihrer Freundin macht: seien Sie's auch mir! Seien Sie die Hand, die mich erhält, bevor ich sinke! Sagen Sie mir, daß Sie mich lieben! Und ist es noch nicht wahr, so sagen Sie's, bevor es Wahrheit ist, denn hören Sie: ich spüre etwas Schreckliches: ich glaube, ich bin besessen! Seien wir gut zueinander und miteinander! Erzählen Sie mir von sich, daß ich Sie kenne! Erzählen Sie mir von Ihrem Leben!

Maria: Dies ist mein Leben: von meiner Kindheit will ich nichts sagen, denn sie gehört einer anderen Welt an: sie spielte in einem schönen Palast. Als ich achtzehn Jahre alt war, erwachte ich durch einen Schuß zum Leben, durch einen Schuß, mit dem sich der Sohn unseres Portiers meinetwegen das Leben nahm; ich selbst liebte bald nachher einen ganz jungen Mann, den aber meine Eltern aus dem Haus und seine Eltern aus der Stadt jagten. Gerade an meinem zwanzigsten Geburtstag – Frau Gräfin, fragen Sie nicht nach Gründen, lassen Sie uns nichts von Allem untersuchen! – an diesem Tage also floh ich mit irgend einem wilden Geigenspieler; er war sehr schön, doch trieb er mich bald fort; vielleicht war es auch ich. Wegen dieses Abenteuers blieb ich für immer meiner Familie eine Fremde, und ich flog in der Welt herum, bis ich auch dessen müde wurde; schließlich heiratete ich einen Seidenhändler. Er war sehr roh und prügelte mich, darum lief ich ihm fort; nun war ich ganz verlassen, denn er hatte mir auch mein letztes Geld weggenommen, – ich würde gern aufhören, zu erzählen, Frau Gräfin! – ich lebte, ich mußte leben, und merkwürdiger Weise bekam ich damals erst ein Kind, doch es starb nach zwei Jahren. Ich glaube, es hatte zu wenig zu essen bekommen. Um diese Zeit kam ich auch in die Hände eines Mannes, dessen Namen ich bis heute nicht kenne; er hatte einen märchenhaften Beruf! Gleich, nachdem er in's Zuchthaus gekommen war, bekam ich ein zweites Kind, ich mußte es aber in's Wasser werfen, denn es wäre ja doch verhungert; deshalb war ich längere Zeit im Gefängnis. Als ich wieder in die Welt kam, da blieb ich schon für immer bei dem Beruf, den Sie mir gewiß gleich angemerkt haben.

Dies ist Alles. Nun habe ich Sie über die Schlachtfelder meines Schicksals geführt.

Beate: Mein Unglück war eintöniger: immer das Gleiche, immer das Gleiche, und war es anders, so war es, daß es sich selbst überhob. Einmal nannte man mir Ihren Beruf als Schimpfwort; ich war sehr jung und weinte sehr.

Maria: Ja – einmal, als ich auf der Straße stand, ging eine Mutter mit ihrem Kind vorüber und sagte zu diesem Kind: schau weg!

Beate: Ah, ich begegnete vor langer Zeit einer Dame in tiefer Trauer, ich erkannte sie nicht – sie aber, kaum hatte sie mich gesehen, bekreuzigte sie sich!

Maria: Vor zwei Jahren bekam ich einen Brief von meinem Vater: er bat mich um Versöhnung, er wünsche nichts, als mein Glück; zwei Tage reiste ich hin, und als ich in's Haus kam, wußte man von diesem Briefe nichts und warf mich hinaus – es war ein Scherz gewesen!

Beate: Es ist nicht lange her, da stand ich vor dem Zimmer meines Mannes und sah durch's Schlüsselloch, wie er, sah ihn, über mein Bild gebeugt, in Tränen aufgelöst! Mir blieb der Atem stehen, ich fühlte mich dem Tod nahe, als er aufstand, zur Tür ging, sie aufriß – ich breitete die Arme, doch er schrie: was willst Du hier? Geh weg!

Maria: Oh, es gibt Augenblicke –! Als mich einmal mein Beruf auf die Straße führte, da holte mich ein Mann, der hinter mir gegangen war, ein und sprach mich an, doch, als wir einander ansahen – es war – schon ältlich – jener ganz junge Mann!

Beate: Oh Gott! Was haben Sie getan?

Maria: Wir haben uns auf den Straßenrand gesetzt und haben geweint und geweint!

Beate: Oh Gott! Genug! Es gibt keinen Alltag!

Maria: Denken Sie: als ich mein zweites Kind in's Wasser warf, da sah ich, wie ein Hecht von unten heraufschoß und das ganze Bündel mit sich hinunterzog!

Beate: Genug! Maria! Ich liebe Sie! ( Sie stürzen einander in die Arme.) Gehen Sie! Ich liebe Sie!

( Maria ab.)

Beate: ( allein):

Alles ist Lüge! Alles ist Irrtum!
Nur das geöffnete Herz zeigt Dir die Wahrheit!
Und öffnet sich, öffnet sich endlich ein Herz,
Sagt, was entströmt ihm? Kummer und Schmerz!

( Knieend):

Ach, Kummer, Kummer auf der Erde,
Was wir tun, ist nur Gebärde,
Was wir sagen, ist nur List,
Jammer ist's, was wirklich ist!

Hinter Toren, dumpf und schwer,
Rollt das Grauen hin und her,
Hinter Masken, wohl verhüllt,
Schluchzt allein, was uns erfüllt!

Zeit um Zeit fährt schrecklich nieder,
Jammer kehret ewig wieder,
Ewig wieder kehrt der Traum,
Und die Sehnsucht füllt den Raum!

So flieh' ich zu Dir, so sei ich denn Dein!
Sonst wäre ich tot, sonst starrt' ich zu Stein!
So nimm mich auf in die erbarmungsreichen Arme,
Sehnsucht, gold'ne Heimat, Mutter und Altar!

Jakob.

Jakob: Hier scheint die Erde mir mit Qual gedüngt!

Beate:

Und Qual der Samen, Qual die Frucht!
Und wieder hier? Laß mich allein!
Laß mir die Stunden meiner Tränen!
Laß mich den Schmerz allein genießen!
Was willst Du, Mensch, unheimlich aufgetaucht?
Wer bist Du, Mensch, – gespenstische Erscheinung?

Jakob:

In mancher Nacht, tauch' ich mir auf,
Bin ich mir selbst unheimlicher, als Dir;
Ich frag' mich schreiend nach mir selbst:
Wer bist Du, Jakob, Du, gespenstische Erscheinung?
Und eine grauenhafte Stimme spricht:
Ich bin mir selbst so grauenhaft, wie Dir!

Wie könnt' ich sagen, wer ich bin?
Hergeführt auf tausend Tränenströmen,
Hergetragen auf des Grames Rücken,
Steht wunderbar mein Leben in der Welt!
Mein ist kein Wille mehr und kein Charakter,
Und selbst der Schein des Willens ist mir als Schein entpuppt!

Mir blieb als Rest vom Menschlichen,
Als einzig Leben eine Leidenschaft:
Mich zieht es hin, wo Unglück ist,
Wo Seelen unbegreiflich sich verketten,
Mich zieht es hin, wo's blutig ist,
Wo das Verbrechen mit dem Jammer
Zum Chaos dröhnend zueinanderschmelzen,
Wo sich der Mensch mit nacktem Herz,
Wo der verwelkte Mensch, hysterisch kreischend,
Im Kote seines Elends schamlos wälzt,
Und wo Gestank der Leichen armer Seelen,
Dasein verpestend, auf zum Himmel stinkt!
Wo der Gesang der Qual erklingt,
Wo Haß erblüht, wo Rache stinkt,
Wo Sünde breit sich niederläßt,
Dort ist's, wo es gewaltig hin mich zwingt!
Dort muß ich stehen, die Arme gebreitet,
Dort muß ich starren, die Augen geweitet,
Bis in unendlichem Schrei Alles versinkt!

Unendlicher, schmerzender Schrei,
Aus dem Gewirr der Welt heraufgestöhnt,
In mich gesaust, in mich getönt,
Als käm der Atem vieler Millionen
In mich gehaucht, in mich – das Instrument!
So bin ich hergewurzelt, hergebannt,
Euch keinem nah, mit Allem doch bekannt,
Von allem weit, Euch Allen doch verwandt –
Doch manchmal scheint es mir, als wäre ich,
Als wäre ich – so furchtbar hergestellt! –
Ein Mensch zwar nur, und doch:
Der Wächter dieser Welt!

Weh mir! Kein Mensch mehr bin ich, nur ein Amt!
Die Seele ausgestöhnt, das Auge ausgeweint,
Bin ich mir fremd, nur Fremdem noch vereint,
Und kraft des Wunders, daß ich Mensch bin,
Unmenschlichem – und sei's auch Gott! – ein Feind!

( Beate entflieht mit einem Aufschrei.)

Ende des ersten Aktes.

Zweiter Akt

Erste Szene

Das Zimmer im Hause des Grafen Umgeheuer.

Beate und Maria.

Maria: Vor dem Hause steht sie. Da lodert die zerfetzte Seele, und ihre Flammen schlagen in mein verwühltes Herz. Sehen Sie sie nun auf- und abgehen?

Beate: Ich sehe sie. – In welchem Verhältnis standen Sie zu diesem Mädchen?

Maria: Fragen Sie nicht, Frau Gräfin, fragen Sie nicht darnach! – Ihr Mann kommt: Sie sollen ihn nicht erwarten! Lassen Sie mich zuerst mit ihm allein sein! Sicher ahnt er, daß Sie Alles wissen. Und nun zerreißt er sich. ( Sie führt die Gräfin hinaus.) Kommen Sie! Sonst geschieht Unglück oder Verbrechen!

Beate: Unglück mag geschehen, doch kein Verbrechen!

( Beide ab.)

Graf Umgeheuer und Jakob (hinter ihm unbemerkt hereinschleichend).

Der Graf ( als wäre er allein): Oh, wie so ganz von Geist verlassen ist der Mensch! Das einzig Edle ist die Scham, daß er nicht edel ist, das einzig Gute ist die Reue, daß er nicht gut sein kann! Wie sich an's Menschliche doch das Gemeine hängt und an's Gemeine sich die Reue kettet und aus der Reue die Verzweiflung sprießt und die Verzweiflung erst vielleicht den Menschen besser macht –! Wozu der Umweg voller Widerwärtigkeiten, wozu der Umweg über'n Mist! Wie mich der Ekel vor mir selbst kalt überläuft! Wenn ich doch wüßte, was ich will! Ich bin mir widerwärtig, was also könnt' es geben, das mir erfreulich ist? Ich hasse mich und also hasse ich die Welt! Ja, wie so ganz von Geist verlassen –!

Auch Ihr, Beate und Marie, kamt auf himmlischen Wegen, aus unendlichen Zonen, aus unendlichen Weiten her zu uns, und eh' Ihr euch aufschwingt zu weiterem Flug, bleibt Ihr, eine Weile Mensch zu sein, eine Weile bei uns – und welch ein Gesicht saht Ihr von dieser Erde, und welchen Hauch von dieser Erde spürtet Ihr! Dir, Beate, mußte ich beweisen, daß der Mensch etwas Gefährliches ist, und selbst wenn er liebt, nicht besser wird – oh, tötet mich endlich, Ihr Furien des Innern, statt ewig mich nur sterben zu lassen! Und Du, Marie, auch Du ein Mensch, auch Du eine Seele, auch Du ein Teil des Ewigen, kamst Du nur her, damit Andere es verleugnen, daß Du es bist? Spürtest Du den Hieb meines bösen Wortes – oh, ein Wort ist etwas Ungeheueres! Was warst Du mir? Abtritt für die Entleerung meines Körpers! Sagt jemand: das war der Trieb! das war Natur!? – Gibt's 'was Gemeineres, als Natur?

Was findet doch nicht Raum in einer Menschenbrust! Ah, dies Ragout aus Peinlichkeit und Scham! Dies Wissen: Andere geschlagen haben und selbst geschlagen sein, geopfert haben und selbst geopfert sein, ah, dies Gemisch aus Wut und Schuldbewußtsein, aus Klagen gegen Andere und Klagen gegen sich, aus Vorwurf, Reue, Ekel, Mitleid, aus Loderndem, Spitzigem, Beißendem, Nagendem, dies Alles, teuflisch durcheinandergewürfelt, vom Sturm, dem ewig wehenden, ewig aufgewirbelt, daß es flutet, daß es brodelt – ah, dies Ragout ist faul! Es stinkt! Laßt es mich ausspeien! Laßt etwas geschehen! Laßt mich in Frieden sein! Sende, oh Herr, sende endlich, oh Herr, zarteren Windhauch hin über meine Seele!

Maria.

Der Graf: Komm nicht herein, Marie! lebendiges Merkmal meiner Gemeinheit! Hast Du noch einen Funken von Gnade für mich, dann verlaß dieses Haus!

Maria: Laß mich mit Dir sprechen! Daneben ist Deine Frau. Wir wollen so tun, als hätten wir einander nie gekannt.

Der Graf: Zu lebendig ist mir das Geschehene, als daß ich's könnte! – Verlaß das Haus, denn Dein Anblick bringt meine Verzweiflung zum Überströmen!

Maria: Was quält Dich?

Der Graf: Fragst Du darnach, Marie? Oh, diese glorreiche Dummheit! Muß ich's Dir erst sagen? Man könnte glauben, Du willst mich höhnen! Doch weiß ich schließlich selbst nicht, was mich zuerst und am meisten quält – nun, Alles in Allem: daß ich niederträchtig war!

Maria: Du warst es nicht!

Der Graf: Was weißt denn Du davon! Seh' ich Dich, vergeht mir auch die letzte Hoffnung, auf dieser Erde Mensch sein zu dürfen!

Maria: Sprich nicht selbst Dein eigenes Urteil! Laß es durch uns bestimmen, die Dir, was Du Böses getan hast, verzeihen! Denke daran, daß es das größte Glück Deiner Frau sein wird: Dir verzeihen zu dürfen!

Der Graf: Ach, meine Frau! – Das Niederträchtige bleibt niederträchtig, auch wenn's verziehen wird!

Maria: Durch den, dem es geschah, durch seine Liebe wird's getilgt.

Der Graf: Ach, es ist untilgbar! Wie habe ich Dich – einen Menschen! – mißbraucht!

Maria: Sprich nicht von mir! Du hast mich als das genommen, wozu ich mich selbst gemacht hatte.

Der Graf: Und durfte ich das? Und durch wen, durch wessen ekelhafte Schuld hast Du Dich dazu gemacht, was Du geworden bist? Ah, Du warst der Gegenstand, ich aber war das Tier, ach, ärger, als das Tier, denn ich bin Mensch!

Maria: So hast Du Dich nur selbst erniedrigt.

Der Graf: Ach, schweig! Wie dumm Du sprichst! Jawohl, ich habe mich erniedrigt, indem ich Dich erniedrigt habe! Und durfte ich das? Bist nicht auch Du ein Mensch, wenn Du auch dumm und schlecht bist? Und hast nicht auch Du eine unsterbliche Seele – Du Gans?

Maria: Und ich habe sie auch im Bordell.

Der Graf: Und habe ich nicht, als ich von meiner Frau und zu Dir ging, die meine verleugnet? War ich ein Schuft?

Maria: Lassen wir's, mein Freund! Du hast den Egoismus des besseren Sünders, verachtet und gestraft sein zu wollen –

Der Graf: Warum bist Du geworden, was Du bist! Warum bist Du mir über den Weg gelaufen? Warum gibt's solche Weiber, wie Du eines bist! Solche Weiber, deren Dasein nur als lebendige Verführung in der Welt steht und das Böseste aus uns zum Vorschein zerrt! – War ich ein Schuft?

Maria: Jedoch: versuche auf beglückenderem Wege gut zu machen, was schlecht gewesen ist!

Der Graf: War ich ein Schuft?!

Maria: Trotz Allem nicht! Du warst –

Der Graf: Schweig! Willst Du mich rasend machen? Ich war kein Schuft! Wer war' es denn, wenn ich's nicht bin! Verlaß das Haus! Es ekelt mich vor Dir! Welcher Geist der Rache und der Wut hat Dich hergeführt? Erspar mir den Anblick, Dich neben meiner Frau, Euch Beide miteinander zu sehen, damit der Ekel vor mir selbst sich nicht in's Unerhörte steigert!

Maria: Laß mich bei Deiner Frau sein!

Der Graf: Ging sie zwanzig Jahre allein ihres Weges, so braucht sie auch nun nicht Deine Begleitung! Geh! ( Auf sie eindringend:) Wie war ich gemein zu Dir! Wie hass' ich Dich!

Maria: Du darfst mich hassen, doch bis Du anders geworden bist, laß mich hier sein!

Der Graf: Willst Du nicht gehen? Willst Du mich zwingen, mein Versprechen einzulösen? Ist's ein Geschäft? Muß man zahlen, um Dich zu haben, und wieder zahlen, um Dich los zu sein? Willst Du nicht gehen? Ah, Du wirst noch gehen! ( Er würgt sie.)

Maria ( in die Knie sinkend): Willst Du mich erwürgen?

Der Graf: Wahrlich, ich hätte Lust dazu! – Nun? Wie? Bin ich ein Schuft? Wie roh und tierisch ist es doch, daß ich Dich jetzt würge!

Maria: Während ich hier kniee, denke ich immer nur: wird er mich erwürgen oder wird er's nicht? Tust Du es, ich verliere nichts dabei, und meinen Dank für diese Tat nehme ich noch mit in's Jenseits hinüber!

Der Graf: Schweig vom Jenseits und sprich von der Hölle!

Maria: Wie bejammernswert muß doch mein Leben gewesen sein, daß ich Dich jetzt nicht um Gnade bitte!

Der Graf: Nun? Wie? Und war ich es nicht und meinesgleichen, die es bejammernswert gemacht haben?

Maria: So unschuldig, wie ich bin, sollst Du mich erwürgen! Wollust des Unglücks! Aufschwingt sich dann zitternd meine geängstigte Seele, doch schon in süßerem Unglück! Nichts als Tränen! – Wenn Du noch ein wenig stärker zudrückst, ersticke ich. – Doch vorher sag mir: liebst Du Deine Frau?

Der Graf: Bei Gott: mehr denn je!

Maria: Ich wußte es.

Der Graf: Sei Du das Opfer, das ich ihr bringe!

Jakob: Jetzt beginnt's! Jetzt geschieht's!

Beate.

Der Graf ( von Maria ablassend): Hast Du gehorcht?

Beate: Ja. Maria hat's so gewollt.

Der Graf: Kupplerin! – Geh! Geh auch Du, Ursprung, Gegenstand, Gegenspielerin all meiner Verirrungen, all meiner Schuld! Deinetwegen und für Dich hasse ich diese Frau! Geh! Geh!

Beate: Nicht gehen! Nicht wieder gehen! Oh, mein Geliebter, laß mich bei Dir sein! Habe ich nicht Deine Worte gehört? Jetzt erst, kaum ein Augenblick ist seitdem vergangen, und warum sollte ich wieder gehen? Hier, hinter der Tür hörte ich Dich sprechen, hörte ich Dein Wort –

Der Graf: Ach, dies Wort! Wärest Du hier gewesen, ich hätte es nicht über die Lippen gebracht! So schlecht und so schwach bin ich! Wir sind verfallen! Es ist verpfuscht! Ich will nichts wissen! will nicht denken! Es komme, es komme das gruselige Ende, daß dieses Warten darauf ende! Was soll dies Alles! Willst Du die Szenen, willst Du die Bilder, die Szenchen, die Bildchen, die flammend vor meiner Erinnerung stehen, noch weiter vermehren? Immer weiter vermehren? Und was soll diese Qual! Heute eine, morgen eine in unendlicher Reihe? Bis wir einmal, an uns selbst entzündet, in Flammen aufgehen, aufgezehrt werden von Galle und Gift? Bis wir abgenützt zusammensinken und zerfallen? Verbrannt, zerfressen und ausgehöhlt, werden wir einander gegenüber stehen, unser Geist abgebraucht die Wangen eingefallen, ein paar gelbe Haare noch auf dem Kopf – so werden wir einander gegenüber stehen und einander anglotzen, und unser Verstand wird noch den Schimmer des Gedankens haben, die Lunge noch die Kraft, die paar Worte zu hauchen, und die Zunge wird sie lallen: »Was war das? Was war das? Ein Traum? Trottel – was war das? was war das?« Und dann werden wir sterben! Ja! So wird es sein! Geh! Geh! Geh! ( Er will sich auf die Gräfin stürzen.)

Jakob: Jetzt!

Maria ( verstellt ihm den Weg).

Beate: Und ich habe doch hinter der Tür jene Worte gehört!

Der Graf: Ach, jene Worte! Wir sind verfallen! Es ist verpfuscht! Verzeih mir Alles! Verzeih auch Du mir, Maria! Nein, verzeihet mir nicht! Oh Beate, süße Beate! Alles ist uns genommen! Von gleicher Sehnsucht zueinander hingezogen, von gleicher Schwachheit unseres Herzens voneinander weggespült, war es uns nicht gegeben, auf der Ebene des Friedens einander zu finden!

Beate: So laß uns jetzt endlich einander nahe kommen!

Der Graf: Nun bleibt uns nur der Jammer, bleibt uns nur die Reue, bleibt uns nur, uns an die Brust zu schlagen! So hat uns schon die Hölle verschlungen, und nun bleiben wir in ihr bis an's Lebensende! Denk an die Hoffnungen, die wir einmal hatten!

Beate: So laß sie uns jetzt in letzter Stunde erfüllen!

Der Graf: Nun ist, was damals Zukunft, damals Rätsel war, gelöst. Aufsprang die Schale der Zeit, und es erhob sich aus ihr das Ereignis! Und tausend winzige Ereignisse – mit riesiger Gewalt! Verflucht das erste böse Wort, verflucht der erste böse Blick, verflucht die erste kleine Bosheit! Wehe dem von uns, der den Andern überlebt! Bin ich allein, sehe ich manchmal Dich als Leiche. Unendliche Reue ergreift mich dann, überirdischer Jammer, daß ich die Gelegenheit zu unendlicher Liebe, zu überirdischem Glück versäumt habe!

Beate: So laß uns jetzt noch verhüten, daß es so kommt!

Der Graf: Doch nun ist's entschieden. Der Kampf ist beendet, der Krampf hat sich gelöst, ich gleite aus einem Tag in den andern und träume von diesem und jenem; ich klage mich an und wühle mich ein in mein Unglück. So ist's recht! So habe ich's verdient! Kommt noch die Sehnsucht, kommt manchmal der Wunsch nach einem Händedruck, dann weiß ich: es ist unerfüllbar, und eine Träne besiegelt's. Bleibt mir das Herz stehen, wie Alles so kommen konnte, was die Verwirrung angerichtet hat, wie Alles, was mein war: dies ganze Leben, diese Frau, all meine Hoffnungen, wie all dies so unter meinen Händen mir entgleiten konnte, dann schreie ich: ich war ein Schuft!

Beate: Laß, was uns entgleiten will, jetzt uns noch einfangen!

Der Graf: Dann schreie ich: komm, Jammer, daß ich mich in Dir bade! Und ich weiß, daß des Jammers immer noch zu wenig ist!

Maria: Mensch! Laß in Dich eindringen! Hör doch: Jetzt soll's noch anders werden!

Der Graf: Ach – jetzt? Jetzt – bin ich daran gewöhnt!

Maria: Und Du stirbst nicht daran?

Der Graf: Ja; ich sterbe daran; ich sterbe unter der Gewohnheit; doch fühle ich mich gewissermaßen wohl dabei. Ich hasse mich, ich verachte mich, und Alles ist in bester Ordnung.

Beate ( vor ihm niederkniend): Sieh, es lebt der Mensch nur einmal auf der Erde. Laß mir dies eine Mal nicht bis zum letzten Augenblick so blutig vergehen! Sieh, was bin ich? Etwas Sterbliches, etwas Sterbendes, etwas Verfallendes, von einem Wind schnell durch die Atmosphäre getragen. Von wo weht dieser Wind und wohin weht er? Von Schmerz zu Schmerz! Und eh' er mich in andere Atmosphären trägt, laß uns Versöhnung feiern oder töte mich!

Maria ( niederkniend): Oh, könnten meine Bitten diese Mauer doch zum Wanken bringen, in Flammen aufgehen lassen diesen Dreck in Deinem Inneren! – Auch ich kniee vor Dir! Es ist ja nichts, als nur ein Riegel wegzuschieben! Auch ich kniee vor Dir, und laß Dich umlodern von der Glut meiner Bitten! Erfüll Deinen eigenen Wunsch und laß hinschmelzen die Starrheit Deines Herzens!

Der Graf: Was wollen die beiden Frauen zu meinen Füßen? Was kann ich tun? Soll ich Dir sagen: steh auf, mein liebes Kind, und gib mir einen Kuß!?

Wenn ich wünschen würde, wünschte ich etwas Anderes, als Ihr? Weiß ich nicht, daß ich jetzt die Arme nach Dir ausstrecken müßte, um Dich aufzuheben? Ahne ich nicht ein Wort, das ich jetzt sagen müßte? Könnte ich doch so vor mir selbst niederknieen und mich anflehen! – Erschlagt mich, wenn Ihr glaubet, daß ich's verdiene! Doch, was kann ich nun tun? Warum kniest Du vor mir? Worauf wartest Du? Wartest Du noch immer? Oh Gott! – Nun denn: steh auf, mein liebes Kind, und gib mir einen Kuß!

Jakob ( vortretend): Sehen Sie nicht ein, daß Alles vergebens ist? Ich ahne das Ende dieses Schauspiels. Alle seine Seelen läßt Gott krepieren! Lassen Sie mich Ihnen einen Rat geben! Erschießen Sie sich! Erschießen Sie sich Alle! Wozu dies Alles?

Maria: Hört nicht auf ihn! Er ist ein böser Mensch! Gehen Sie! Gehen Sie!

Beate: Schütz mich vor diesem Menschen! Er ist furchtbar! Bleib bei mir und schütz mich vor ihm! Ich sehe den Traum eines anderen, glücklicheren Lebens!

Jakob: Ich kenne die Mittel, deren sich jene überirdischen Mächte bedienen, um den Menschen in den Abgrund, sei er Verbrechen, sei er Unglück, zu stürzen! Diesmal sind's die Bilder der vergangenen Qual, die zwischen Ihnen stehen! Ein genial einfaches, teuflisches und unüberwindliches Mittel!

Der Graf: Welch großer Geist Sie sind! Fast haben Sie das Unwichtigste erraten!

Beate: Hör nicht auf ihn und seine schrecklichen Worte! Er kennt nicht die Welt und nicht die Menschen! – Laß uns diesen Traum erfüllen, dies Leben führen! Ich ahne grenzenlose Liebe – laß mich ihr irdisches Abbild sehen!

Der Graf: Nun denn: sagte ich Dir nicht schon: steh auf, mein liebes Kind, und gib mir einen Kuß!

Beate: Ein anderes, besseres Leben beginnt!

Der Graf: Wollen wir nachholen, was wir solange versäumt haben?

Beate: Ein neuer Tag steigt auf!

Der Graf: Und wird er glücklich sein?

Beate: Anders schlägt mir das Herz, anders geht mir der Atem!

Der Graf: Anders klingt Deine Stimme!

Beate: Anders ist Dein Gesicht!

Der Graf: Anders das Gesicht der Welt! – Doch, wehe Dir! wenn ich noch eine Grausamkeit zu spüren habe!

Beate: War ich grausam?

Der Graf: Warst Du es nicht? Denk an den Ton Deiner Stimme, wenn Du mich grüßtest! – Doch lassen wir's, lassen wir's!

Beate: Nun ist vorbei, was so furchtbar war!

Der Graf: Hat sich gelöst, was Chaos war?

Beate: Nun haben wir den Weg aus dem Labyrinth gefunden!

Der Graf: Umarme mich, oh Beate! Umarme mich, Alles ist anders!

Beate: Und ich fühle die Strahlen einer unendlichen Sonne!

Der Graf: So haben wir den Teufel verjagt – haben wir ihn verjagt?

Beate: Denk nicht an's Vergangene!

Der Graf: Doch hängt's von uns ab, Beate, von uns hängt's ab, daß er uns nicht wieder überfällt! Halte den Frieden!

Beate: Vergessen wir Alles! Begraben wir Alles!

Der Graf: Ach was! Natürlich wird er uns überfallen! Wie können wir vergessen, was da ist! Verleugnen, was wahr ist! Begraben, was lebendig ist! Uns folgen die Gespenster des Vergangenen, fliehen wir vor ihnen, statt ihnen ewig widerstehen zu wollen! Ich will mich verkriechen und auf den Tod warten! Tu das Gleiche! Denn nicht mehr abzuwenden ist das Ende! Der Weg ist vorgezeichnet, eindeutig das Ziel! Warte ein Jahr, warte ein zweites, dann sind wir nur noch ein matter Rest gewesener Lebendigkeit, der Körper verfallenes Skelett und der Geist verkommen und verblödet zur Ruine unter der selbstgeschaffenen Qual! Dann stehen wir da und sind nur noch Asche des eigenen Gefühls! Und daß der letzte Funke auch verglimmt, ist noch mein letzter Wunsch! Und stürzt der Himmel ein – nur keinen Kampf mehr! Ich will mich einwühlen in meine Reue – bei Gott! es ist das Leichteste für mich! ( Ab.)

Beate: Alles versinkt! Noch glaube ich, daß es ein Traum ist, doch ich ahne fürchterliches Erwachen. Rollt nicht ein Donner in mir, leuchtet nicht der Blitz? Berge neigen sich, Landschaften geraten in's Wanken, und das Chaos bereitet sich vor!

Johanna (hereinstürzend).

Johanna: Hier bist Du! Ich erwarte Dich! Wann kommst Du wieder?

Maria: Ich werde wiederkommen. Warte und sei geduldig!

Johanna: Soll ich verhungern nach Dir? Soll ich Dich nicht greifen, mich nicht auf Dich stützen dürfen? Soll ich ertrinken im Allein-sein? Ersticken im Raum, da Du nicht in ihm bist?

Maria: Oh Gott, dieser Kranz der Schicksale um mich! Hier eines, da eines! Hier soll ich sein und dort! Was soll ich tun?

Johanna: Komm zurück! Ich habe ein Recht auf Dich!

Beate: Seien Sie gnädig! Bleiben Sie bei mir!

Maria: Zerreißt mich! Ich weiß nichts mehr!

Johanna: Sagtest Du nicht, Du gingest zum Grafen? Du wolltest Geld verdienen? und hier, mit dieser Frau, finde ich Dich!

Maria: Oh Gott! Auch das! So ist es nicht! so ist es nicht!

Beate: Seien Sie gnädig! Bleiben Sie bei mir!

Johanna ( sich mit einem Dolch auf Maria stürzend): Hure!

Maria: Alle Menschen wollen mich erschlagen!

Jakob: Nun also! Jetzt!

Beate: Jakob – und doch ist Gott! Und Gott ist gut!

Johanna ( in sich zusammensinkend): Ich kann es nicht. Es verliert meine Hand ihre Kraft. Ich kann es nicht. Berühr' ich Dich, überkommt mich Wehmut, spür' ich Dich, werde ich sanft. ( Sich zum Gehen wendend:) Tu, was Du willst; ich werde Dich nie erschlagen können.

Maria: Wohin?

Johanna: Ich weiß es nicht.

Maria: Was willst Du tun?

Johanna: Ich weiß es nicht.

Maria: Wirst Du wiederkommen?

Johanna: Ich weiß es nicht!

Maria: Vergiß mich!

Johanna: Niemals.

Maria: Versuch es!

Johanna: Niemals. ( Ab.)

Beate: Oh Maria! Dies Alles! – Sie wollen zu ihr? Und ich bleibe allein? Ach, einen Menschen! einen Menschen! – Wo ist meine Mutter?

Maria: Ich weiß es nicht.

Beate: Und meine Tochter?

Maria: Lassen Sie Ihre Tochter! Ich sah sie und sprach mit ihr. Ihre Tochter müßte man erschlagen!

Die Marquise und ein Diener (von verschiedenen Seiten).

Marquise: Welche Worte! Ich werde Sie verhaften lassen!

Maria: Verzeihen Sie meinem Mitleid mit ihrer Tochter die nur der Erregung entsprungenen Worte!

Marquise: Welch ein Lärm zu nachtschlafender Zeit!

Beate ( sich weinend an ihre Brust stürzend): Mutter –

Marquise: Aber Kind! Der Diener –!

Beate: Ach, Mutter, ich habe doch ein Herz!

Marquise: Schön. Muß aber gerade der Diener sehen, daß Du ein Herz hast? ( Zum Diener gewandt:) Gehen Sie! Was wollen Sie?

Der Diener: Die Dame, die eben von hier ging, ist auf der Stiege ohnmächtig geworden.

Marquise: Ach, jene –! Verschaffen Sie ihr einen Unteroffizier und ein warmes Abendessen! – Gehen Sie. ( Ab.)

( Der Diener ab.)

Maria: Lassen Sie mich zu meiner Freundin gehen! Dort liegt sie nun. Sehen Sie, Frau Gräfin: das ist nun meine Schuld! – Lassen Sie mich zu ihr gehen!

Beate: Bleiben Sie! Oh Marie, ich liebe Sie!

Maria: Wie gern würde ich Ihnen dies Wort zurückgeben, doch darf unsereins es auch zu Frauen nicht gebrauchen. – Lassen Sie mich gehen! ( Ab.)

Beate ( allein):

Welch fürchterlicher Hohn! Oh löste sich dies Alles auf!
Oh, wären meine Wünsche schon verglüht,
Oh, könnte ich, wie alte Mönche einst,
In großer Wüste, zu des Löwen Fuß,
Der abgeklärten Weisheit hingegeben, ruhn!
Und doch: so lang ich lebe, bin ich Mensch,
So lang ich lebe, glüht der Wunsch!
So will ich denn zu meiner Tochter gehen,
Und will ihr sagen, daß ich sie liebe –
Ach, dieses ekle, abgegriff'ne Wort! Wie es mich jagt!
Millionenmal ist es gemein, genannt zu werden,
Eh's einmal wert ist, hingehaucht zu sein!

( Sie wendet sich zum Gehen.)

Jakob ( vortretend):

Genug der Jagd! Genug des Kampfes!
Genug des überird'schen Unsinns!
Entferne Dich der Sphäre dieser Qual!
Hör auf, das Spielzeug fremder Macht zu sein,
Der Narr für das Gelächter höh'rer Welten!

Beate:

Alles rollt so heran und es kommt,
Mein ist nichts, als der Schrei und die Träne,
Mein sei, vollendet, mein Schicksal!

Jakob:

Oh sklavische Natur der Menschheit!
Entziehe Dich der Tyrannei des Schicksals!
Verlaß den Schauplatz seiner ganzen Bosheit!
Wirf hin das Leben, da Du's kannst!
Da dies die einzige Macht ist, die Du hast,
Die Dich den höheren Mächten überhebt,
Wirf hin das Leben jenem Nichts, aus dem Du kamst!
Wär' es Verbrechen, wär' es Unglück?
So wär' es nur ein Glied der endlos langen Kette
Von endlos Unglück und Verbrechen,
Das hier der Mensch, seitdem er lebt, begeht und leidet
Und endlos weiter begehen und leiden wird!
Sammelt Euch um mich, Menschen des Schmerzes!
Hört mich, Ihr des zerklüfteten Herzens!
Mein sei das Wort! Mein das Kommando!
Mein sei der Schrei – er führt Euch gegen Gott!

Beate:

Dein Wort wird sein, wie der Donner,
Tönend, doch ohne Ziel,
Dein Wort wird sein wie der Wind,
Wehend, doch bald auch verweht!
Es wird nicht Heimat finden auf der Erde,
Und seines Inhalts Gift tötet Dich selbst!

Jakob:

Mein war die Qual – mein sei der Tod!
Doch Du, was hindert Dich, zu sterben,
Da uns nach hassenswertem Leben
Ja doch nichts bleibt, als hassenswerter Tod!

Beate:

Ich liebe den Tod, denn ich glaube an Gott.

Jakob:

Nun denn! So such ihn! So such den Ausweg
Aus dem Gestrüpp aus Dreck und Ekel!

Beate:

Ich will's ertragen, denn ich glaube an Gott.

Jakob:

Verflucht! – Ich weiß nicht, ob er ist,
Doch wenn er ist, so hass' ich ihn!

Beate:

Es fällt das Gift des Hassenden nur auf ihn selbst zurück!

Jakob:

Ich hasse ihn, weil ich die Menschen liebe!

Beate:

Ach, es verschmilzt in reinen Seelen zu eins
Die Liebe Gottes und die Menschenliebe,
Und keiner kann die eine so verletzen,
Daß er die andere nicht auch verletzt!

Jakob:

Wofür die Liebe? Nie sah mein irrendes Auge,
Nie fand verzweifeltes Gefühl
Nachricht von einem Gott!

Beate:

Wo Saat ist in der Menschenbrust,
Erscheint Gott selbst, um glühend sie zu pflegen!

Jakob:

Wie weißt Du, daß es Gott ist, der erscheint?
Wie weißt Du, daß er ist?

Beate:

Daß er, oh Mensch, mich anders denken läßt, als Dich,
Daß er mir hilft: nicht sterben wollen,
Daß er dies ungeheuere Wunder schafft:
Vor Schmerz vergehen und doch nicht sterben wollen,
Daß er dies Wunder meines Glaubens schafft,
Beweist mir, daß er ist!

Jakob:

Und ist er denn, so ist er bös,
Denn seine Schöpfung ist entsetzlich Leiden!

Beate:

Ein Leiden nur für diese Erde,
Entsetzlich nur für irdisches Gefühl!

Jakob:

Doch ist der Mensch ein irdisches Geschöpf,
Und dies Geschöpf ein Sack voll Dumm- und Bosheit!

Beate:

Menschlich ist der Charakter und irdisch,
Doch über ihn jubelt sich empor
Unsterblich die Seele!

Jakob:

Unsterblich die Seele! Arme unsterbliche Seele,
Die Dich ein furchtbar Mißgeschick
Auf diese schlechte Erde herverbannt,
Daß Du verkommst in Unrat und in Mist!

Beate:

Schlecht ist die Erde, doch die Welt ist gut!

Jakob:

Wo ist diese Welt? Grausamer Gott!

Beate:

Grausam ist nur der ungeliebte Gott!

Jakob:

Und der geliebte –? Der geliebte –?

Beate:

Frag nicht darnach und glaub daran!

( Jakob weicht zurück, Beate sinkt in sich ein.)

Zweite Szene

Das Schlafzimmer der Komtesse; Halbdunkel.

Die Komtesse (im Bett) und Leonhard.

Leonhard: Nun ist es spät, und ich muß gehen. Darf ich nochmals, mein Schatz, das Licht entzünden?

Komtesse: Bei allen Himmeln – laß es dunkel sein!

Leonhard: Bin ich wirklich ganz der Erste, der so von hier nach Hause schleicht?

Komtesse: Gnade! Laß, oh Gott, dies Alles vorübergehen!

Leonhard: Nun, mein Schatz, ich bin nicht prüde. Doch will ich davon schweigen, denn immerhin kann ich auch zartfühlend sein. – Liebst Du mich?

Komtesse: Ich glaube, ich sterbe für Dich!

Leonhard: So ist's recht, so ist's recht! Manche Frauen müssen sich an die Liebe erst gewöhnen, doch – den meisten gelingt's! – Leb wohl, mein Schatz! – Ich gebe Deiner Zofe fünfzig Kronen. ( Ab.)

Komtesse ( allein): Gib ihr sechzig Kronen! Fünfzig Kronen sind zu wenig! Oder sind sechzig zu viel, so gib ihr fünfundfünfzig! Oder gib ihr fünfundfünfzig und eine halbe! oder vierundfünfzig! – Gnade mir Gott, wie gemein! Ich werde in ein Kloster gehen. Ist das Liebe? Ich könnte sterben vor Ekel.

Beate.

Beate: Dies Kind kann mich retten. Ich fliehe zu meiner Tochter, als wär's meine Mutter. – Schläfst Du, Esther?

Komtesse: Nein. Doch ich wollte, ich könnte es.

Beate: Auch mich hält's wach. Doch weiß ich nicht: ist's ein wildes Tier in mir oder Sehnsucht nach Gesang.

Komtesse: Es wird eine Ratte sein oder ein Regenwurm!

Beate: Warum eine Ratte oder ein Regenwurm? Vielleicht ist's ein fröhlicher, buntgefiederter Paradiesvogel! ( Am Bett niederkniend:) Sieh, es singen die stillen Stunden tiefgefühlte Lieder, und in unendliche Ferne, jenseits eines hohen Berges ertönen und singen die unendlichen Melodien.

Komtesse: Ja, schwer und düster hingezogene Töne der Klage und Dissonanzen des Ekels!

Beate: Laß uns, mein Kind, in dieser tiefen Nacht gütig beieinander sein. Wo ist die gute Zeit, da Du an meiner Hand durch Park und Gärten liefst? Steh auf, steh auf, und laß uns wandeln, tanzen, schreiten, tanzen auf Wiesen und Rasen, zwischen Bäumen und Beeten, zwischen Wolken und Wind! Ein Hauch des Windes hebt unsere Füße und hebt uns hinweg, die Arme breiten sich zu Umarmung und Tanz, und unter'm Lichtstrahl der Nacht singen unsere Augen einander entgegen, und es klopft das Herz im Takte eines süßen Liedes!

Komtesse: Ich höre Hähne krähen und Raben schreien und dazu dumpfen Trommelschlag in einem fernen, fürchterlichen Takt.

Beate: Nicht so! nicht so! Oh, meine Tochter, ich liebe Dich!

Komtesse: Sprich nicht davon! Was kümmert's mich!

Beate: Weh mir! Liebst Du mich nicht?

Komtesse: Dies Wort wird nie mehr über meine Lippen kommen!

Beate: Weh mir! Sag mir, daß Du mich liebst!

Komtesse: Laß mich schlafen!

Beate: Sag's mir! Sieh, hier kniee ich und flehe Dich an! Du bist meine letzte Zuflucht, kannst meine Erlösung sein! Schweigst Du, ist's mein Untergang, sagst Du's, ist's meine Rettung! Esther, Esther, unermeßlich ist die Last!

Komtesse: Alles Humbug! Laß mich schlafen!

Beate: Sag mir ein Wort –!

Komtesse: Ein absurder Gedanke!

Beate ( sich auf die Komtesse werfend): Bist Du meine Tochter? Bist Du ein Mensch? Hast Du eine Seele? Bist Du vom Teufel besessen?

Komtesse: Ja! Der Teufel hat mich besessen!

Beate: So will ich ihn wieder aus Dir vertreiben! Einem Menschen jage ich nach, und Du willst Dich mir versagen, nach einem Worte sehne ich mich, und Du willst mir's nicht sagen! Stürze Dich, Sintflut, über die Menschen, wälzt Euch, ihr Berge, über sie, kommt, böse Geister, ihr Teufel, freßt sie! Denn sie wollen sich mir versagen! Reißt alle Dämme ein, ihr Fluten meines Schmerzes, ersäuft in Euch die ganze Menschheit! Ich, Beate, will es so!

Komtesse: Wer hätte diese Kraft geahnt! Du erwürgst mich. Doch schließlich ist das auch nicht widerwärtiger, als alles Andere, insbesondere die Liebe.

Beate: Böser Mensch, warum willst Du mich nicht erhören? Warum muß ich Dich unter meinen Händen würgen, statt Dich in meinen Armen zu halten? Lebst Du noch? Und wollte ich Dich nicht in meinen Armen wiegen, kleines Mädchen, das Du einst warst? Laufen wir wieder durch Parks und Gärten, kleines Mädchen, das Du einst warst? Wie süß waren doch die Zeiten und wie hoffnungsvoll! Und nun ist Alles anders geworden. Und nun: Ratte! Regenwurm!

( Von der Komtesse ablassend und sich erhebend:) Nun bist Du unbeweglich. Seht, wie sie daliegt! Seht, sie ist tot! Wie rätselhaft doch eine Leiche ist! Schafft sie fort – ich will sie nicht berühren! In's Fremde, Unbegreifliche fließt, was ich sehe, dahin! Alle Dinge sind da, daß sie uns berühren, doch berühren wir eines, wird es Gespenst!

Sprach ich von Gott? Weh, es verschlingt mich! – Singt die eine Stimme: töte weiter, suche weiter, ganz Mensch zu sein, heißt fromm sein – singt die andere Stimme: wehe, was tatest Du! Schon die Tat ist gottabgewandt, und Töten ist eine böse Tat!

Man bringe Trauerkleider! – Ratte, Regenwurm!

Hilfe! Alles ist irdisch!

( Sie bricht zusammen.)

Ende des zweiten Aktes.

Dritter Akt

Das Zimmer im Hause des Grafen Umgeheuer. Im Hintergrund, verdeckt, die Leiche der Komtesse, und Diener.

Ein Beamter und ein Diener.

Der Diener: So wahr mir Gott helfe: so ist es! Ich habe gesagt, was ich weiß.

Der Beamte: Die Aussagen, die ich zu hören bekommen habe, schließen sich mit den Tatsachen und Beweisen zu einem Kreis.

Der Diener: Tun Sie, was Sie tun müssen, doch tun Sie es so, daß Sie wenigstens dabei die Mutter dieser Toten schonen! – Und der Graf weiß noch von all dem nichts.

Der Beamte: Ich werde auch mit ihm zu sprechen haben. Er muß es erfahren. Und dann bleibt mir nichts mehr, als die Schuldige zu verhaften.

Der Diener: Als wir heute morgens die Leiche entdeckten, lag die Gräfin in Ohnmacht neben der Leiche, doch als sie aus ihr erwachte, hatte sie nicht mehr die Kräfte gefunden, mit denen sie in die Ohnmacht gesunken war. Ihre Worte waren verwirrt, und ihre Gedanken hatten nur halben Sinn. Ihr Verfall hatte einen großen Sprung getan.

Der Beamte: Die Angelegenheit ist eindeutig. Ich gehe. ( Er wendet sich zum Gehen.)

( Der Diener ab.)

Graf Umgeheuer.

Der Graf ( nichts um sich bemerkend): Es wäre ja Manches noch zu sagen, wenn auch Alles schon tausendmal gesagt ist, doch nein! genug! Das letzte Wort werde ja doch nicht ich zu sagen haben, und das Ende kommt ja doch von anderswo, strahlend oder donnernd, und es abzuwarten, sei mein einziger Mut und meine einzige Frömmigkeit. So will ich den Feiertag des Sterbens hinausschieben, bis ein gütigeres Schicksal, ihn zu begehen, mir erlaubt!

Es wäre ja Manches noch zu denken – doch nein! genug! Ich will nicht. Ich kann nicht mehr. Wie stumpfsinnig und blöde trotten doch die Gedanken immer im selben Kreis! Ich brauchte etwas frische Luft! Wie müde und umnebelt fühlt sich doch mein Gehirn von all dem! Genug! Keine Gedanken! Alles bei Seite schieben. Weg! Alles weg! Ich will nichts wissen. Es ist Alles so elend. Was will ich? Was will ich eigentlich? Nun, ich möchte – was möchte ich? Nun, ich möchte etwa vielleicht Karten spielen. Ja, das ist es: ich möchte Karten spielen. ( Den Beamten bemerkend:) Mein Herr! Wer sind Sie? Und was tun Sie hier? – Sagen Sie's mir nicht – es könnte am Ende etwas Unerfreuliches sein! Setzen Sie sich! Erzählen Sie mir etwas! Nun! Setzen Sie sich doch! Wir wollen uns miteinander unterhalten. Ich habe seit Langem mit Niemand ein vernünftiges Wort gesprochen und habe doch durchaus das Bedürfnis darnach. Erzählen Sie mir etwas!

Der Beamte: Ach, Herr Graf, was könnte ich Ihnen erzählen?

Der Graf: Nun, Sie kommen doch gewiß in der Welt herum, hören dies, hören jenes, erleben vielleicht auch selbst etwas – erzählen Sie mir!

Der Beamte: Ach, es ist Alles so traurig!

Der Graf: Lassen Sie das! Was kümmert's uns, daß Alles traurig ist? Wir sitzen beieinander und plaudern. Sie sind wohl Pessimist? So, so, sehr interessant, doch stimme ich da nicht mit Ihnen überein. – Nun? Es muß doch auch Dinge geben, die nicht traurig sind. Ich spreche gar nicht von irgend einem großen Glück, das es auf der Welt geben kann – es gibt doch auch den ruhigen Alltag: friedliche Gemütlichkeit, freundliche Gesellschaft, herzliche Geselligkeit, Ausflüge in's Freie mit Herren und Damen, und da muß doch gewiß hie und da etwas Merkwürdiges geschehen, das nicht gleich traurig sein muß: ein heiterer Zufall, irgend eine sonderbare Begebenheit, ein komischer Streich, den irgendeiner ausgeführt hat – erzählen Sie mir etwas davon! Ich bitte Sie: erzählen Sie mir! Eine drollige Liebesgeschichte, eine Anekdote –

Der Beamte: Ich weiß nicht, Herr Graf, ob hier der Ort darnach ist –

Der Graf: Der Ort? Ach, mein Herr, genieren Sie sich nicht!

Der Beamte: Nein; jedoch: eignet sich der Ort für lustige Geschichten?

Der Graf: Warum nicht? Kann man nicht überall lustige Geschichten erzählen? Man erheitert damit die Zuhörenden!

Der Beamte: Was sage ich nun? – Es gibt Augenblicke, Herr Graf – oder: vielleicht ist hier ein Ereignis – nicht überall sind lustige Geschichten am Platz!

Der Graf: Und ich habe mir doch so gewünscht, mich ganz einfach und gemütlich zu unterhalten!

Der Beamte: Der Ort –

Der Graf: Warum erwähnen Sie den? Ich bin ein Schuft. Schön. Warum noch darüber sprechen? Warum mich daran erinnern? Ich habe Alles, was darüber zu sagen, und Alles, was darüber zu denken ist, gedacht – warum noch davon sprechen?

Der Beamte: Haben Sie sich anzuklagen?

Der Graf: Oh, mein Herr! – Ich habe mich auch schon – um's Ihnen zu ersparen! – über mich selbst erhoben und weiß: wer sich, anklagt, ist auch wirklich schlecht. Was wollen Sie noch mehr? Kann's nun nicht abgetan sein? Wollen wir nun nicht zum Alltäglichen übergehen?

Der Beamte: Und ich dachte doch, Sie hätten mit der Angelegenheit nichts zu schaffen?

Der Graf: Ach, Sie elender Mensch! Sie haben also noch eine Angelegenheit? Und die scheint auch nicht sehr erfreulich zu sein? Und Sie wollen sie mir wohl erzählen? Nein, daraus wird nichts! Ich will nichts wissen! Erzählen Sie mir etwas Lustiges! Lassen Sie uns plaudern!

Der Beamte: Mein Beruf zeigt mir –

Der Graf: Ihr Beruf? Aha! Der wird auch nicht sehr reizend sein! Und Sie wollen wohl, daß ich Sie nun nach diesem Ihrem Beruf frage, damit Sie mir sagen: Totengräber, Leichenbeschauer, Staatsanwalt, Polizeibeamte –? Nein, daraus wird nichts! Lassen Sie uns plaudern!

Der Beamte: Was sage ich jetzt –? Erschrecken Sie nicht – nein! Der Mensch muß Vieles tragen – nein! – Selig sind die Toten – nein – lassen Sie mich gehen! ( Ab.)

Der Graf: Oh, oh, wie ist dies Alles doch! Was soll ich nur tun? Was soll ich beginnen? Ich will durchaus nicht mehr nachdenken! Auf jeder Wand sehe ich Zeichen, die ich nicht verstehe, durch jedes Fenster erblicke, ich eine Welt, die mir fremd ist, und mein Gehirn schwitzt Gedanken aus, mit denen ich nichts zu tun habe. Nun sehe ich immer eine Lerche vor mir, die Hurrah schreit. – Ich will eine Kartenpartie gründen. Einmal in der Woche; vielleicht auch zweimal. – Wer war jener Mensch? Ach, ein Dummkopf, ein richtiger Dummkopf! Man kann mit ihm gar nicht plaudern. Er gefällt mir nicht; ist auch sicher überall unbeliebt. Ich werde zu erfahren suchen, wer es ist, und mich dann über ihn erkundigen; werde nach ihm fragen und auch meine eigene Meinung sagen; dies oder jenes. Meinungen austauschen. Immerhin ganz interessant. ( Zu den Dienern:) Und Ihr, meine Freunde? Wie geht es Euch? Was tut Ihr? Wie lebt Ihr? Und was habet Ihr da? Was habet Ihr? Hm? Warum machet Ihr so traurige Gesichter? Was habet Ihr? ( Die Diener treten zurück.) Das scheint ja eine Leiche zu sein! Ah, jetzt weiß ich auch, warum Ihr so traurige Gesichter schneidet! Ihr Schelme! – Eine Leiche also. Sonderbar. Da scheint ja jemand im Hause gestorben zu sein? Wie? Sonderbar. Und ich weiß nichts davon? Wie? Wieso weiß ich nichts davon? ( Die Diener entblößen die Leiche.) Herr Gott, Donnerwetter! Das scheint ja meine Tochter zu sein! Wie? Wann ist sie gestorben? Und wieso weiß ich nichts davon? Nun? Wie? Wie ist's? Meine Tochter stirbt und man sagt mir nichts? berichtet mir nichts? teilt mir nichts mit? Bin ich nicht der Vater? Ich, der Herr des Hauses, erfahre als Letzter, was im Hause geschieht? Doch – ich will nichts wissen! Schafft die Leiche fort! ( Die Diener tragen die Leiche hinaus.) Niederträchtiges Gesindel! Faule Bande! Können Einem nicht mitteilen, was im Hause geschieht! Nein, zu viel der Arbeit! Sind zu faul, die Herren Diener! Können nicht kommen und sagen –: Herr Graf, das und das, so und so, heute Nacht – gestern abend – nein, zu viel der Mühe!

Ah, wahrlich, es wäre schön, gar keine Diener haben zu müssen; aber man kommt ja doch nicht ohne sie aus! All die Arbeit kann man doch nicht selbst tun! Aber das ist denn doch gar zu arg! ( Ab.)

Marquise, der Beamte, der Diener.

Der Diener: Ich habe gesagt, was ich weiß. So wahr mir Gott helfe!

Der Beamte: Wo finde ich die Gräfin?

Marquise: Mein Herr, tun Sie Ihre Pflicht, verhaften Sie die Schuldige und verlassen Sie das Haus! Ihre Anwesenheit ist mir mehr, als peinlich.

Der Beamte: Immerhin ist eine Verhaftung doch keine Einladung zu einem Spaziergang. Man muß sich doch entschließen – wenn auch Alles ganz eindeutig ist.

Marquise: Wenn Alles eindeutig ist –?

Der Beamte: Aber mir fehlt doch das Motiv der Tat! Seien Sie gnädig! Nehmen Sie doch Rücksicht: ich habe vier unversorgte Kinder – ich muß avancieren! Ich muß das Motiv kennen!

( Einige Diener und Mädchen kommen, um dem Gespräch zuzuhören.)

Marquise: Sie werden es kaum erraten.

Der Beamte: Wissen Sie etwas?

Marquise: Ich weiß nichts.

Der Beamte: Die Gräfin war also mit dieser Marie gewissermaßen befreundet?

Der Diener: Man sagt's.

Der Beamte: Zuletzt wurden Sie gestern zusammen gesehen, und da fiel jene Bemerkung –?

Marquise: Die ich gehört habe: Marie sagte, man müsse die Komtesse erschlagen.

Der Diener: Diese Bemerkung habe ich auch gehört.

Der Beamte: Warum aber müsse man die Komtesse erschlagen?

Der Diener: Mehr sagte sie nicht.

Der Beamte: Und die Gräfin?

Der Diener: Schwieg.

Der Beamte: Sonderbar. – War die Komtesse auch mit der Marie befreundet?

Marquise: Nein. Die Komtesse verachtete sie.

Der Beamte: Warum?

Ein anderer Diener: Sie war ihr widerwärtig.

Ein Mädchen: Sie ist eine frühere –

Ein anderes Mädchen: Warum ist sie im Hause herumgeschlichen? Was wollte sie?

Der Beamte: Wußte Marie von dieser Abneigung?

Marquise: Zweifellos.

Der Beamte: Sehr interessant. – Wie kam die Marie in's Haus?

Der Diener: Der Graf brachte sie her.

Der Beamte: In welchem Verhältnis stand der Graf zu ihr?

Der Diener: So sagt man.

Der Beamte: Wußte das die Komtesse?

Marquise: Ja; und sie mißbilligte es durchaus, und das wußte diese Marie.

Der Beamte: Äußerst interessant. – Wissen Sie sonst etwas zu sagen?

Marquise: Ich war nicht dabei!

Der Beamte: Nun denn –!

Der Diener: So wahr mir Gott helfe –!

Marquise: Sie haben Ihre Pflicht zu tun. Gott helfe Ihnen, das Richtige zu finden!

Der Beamte: Ich werde im Namen der Gerechtigkeit –

Der dritte Diener.

Der dritte Diener: Die Gräfin kommt!

Der vierte Diener: Es ist Alles so feierlich. Einer hat den Anderen ermordet – man kommt sich so wichtig vor.

Der dritte Diener: Sie kommt!

Beate.

Beate: Oh meine Freunde! Seid Ihr da? Seid Ihr um mich? Seid Ihr gekommen, mich zu betrauern? mich zu beklagen? Seid Ihr gekommen, mich anzuklagen? Oh meine Freunde, dann geht nur wieder, denn es reicht kein Gefühl an mich heran! Bin ich denn noch? Bin ich nicht längst schon zerflossen und verflossen? Vielleicht bin ich nur der Schatten einstiger Vergangenheit, vielleicht nur der Traum von einem Menschen. Oh meine Freunde, einst war großer Frühling vor unendlichen Zeiten, und als er dahinschwand, starb auch ich!

Segen sei dem Blau des Himmels! Segen dem freundlichen Vogelflug! Segen jedem Ton und jeder Farbe! Segen und Liebe den Menschen, die aufwachsen wie die Bäume oder wie die Blumen auf dem Feld! Segen allen Menschen, die reinen Herzens sind! Oh, daß man aufsprießen könnte wie eine Blüte oder wie ein Halm! – Laß mich, oh Herr, nichts sein, als nur Seele! Ein Wölkchen, hinschwebend um jene, die ich liebe, statt sie – denk es, oh Herr! – statt sie zu morden! zufrieden, genährt von Deinem Strahl und Deiner Liebe, und sei's auch: in irgend einem Jammer erbebend, den Du mir schickst! Wie wollte ich schuldlos sein und rein, und wär's auch, daß an manchem Tag eine Träne niederfällt aus mir auf diese Erde! ( Alle sind allmählich vor ihr zurück- und hinausgewichen; allein:) Ich will, von Deinem Blitz getroffen, niedersinken. Ich will, daß Du mich hinschleuderst in den letzten Winkel des Weltalls! Macht mit mir, was Ihr wollt! Ich bin nichts als ein Zittern, weg von dieser Erde und auf zu Dir, oh Herr! Macht mit mir, was Ihr wollt! Es gibt keine Zeit, immer ist Ewigkeit, immer ist Ewigkeit!

Maria (ist unbemerkt hereingekommen).

Maria: Es fegt ein ewiger Sturm über die Erde, und Alles ist Schrei und Brand und Krampf! Ich saß in meinem Zimmer und habe das Rauschen der Tat gehört und spürte den Flügelschlag des Ereignisses. Ich habe gebetet, daß ein Wunder kommen möge, doch es kam nicht und es kam so. Doch einst, Frau Gräfin, wird alles Anders sein, mehr Sonne auf allen Wegen und Blüten an ihrem Rand!

Beate: Einst wird's sein, wie's einst war. Wir kommen aus Paradiesen und kehren in sie zurück.

Maria: So schweben wir zwischen den Seligkeiten auf dem Schlachtfeld des menschlichen Herzens. Oh, wäre jeder Augenblick Ihres Lebens gesegnet! Könnten Sie glücklich sein! Niemals dürfte Schrecken und Grauen Sie berühren! Hier stehe ich: ich liebe Sie! Oh meine Freundin: lassen Sie mich die Tat auf mich nehmen!

Beate: Hier ist Erde. Mein sei Alles!

Maria: Wer bin ich? Was bin ich? Es ist mein letzter Wunsch, zu Ihren Füßen hingelegt! Was liegt an mir? Ihnen kann noch ein Stern leuchten, die Sonne aufgehen in all der Nacht – mich aber, was liegt an mir? wer bin ich? mich aber – Alles, Alles möge über mich kommen! – Denken Sie: man würde Sie verhaften!

Beate: Sei's! – Wollen Sie zwischen Pöbel und Volk zu Gericht geführt werden?

Maria: Mag's sein! – Wollen Sie im Geheul der Menge auf den Galgen steigen?

Beate: Mein sei Alles! Mein ist die Schuld, mein sei die Strafe und mein die Rache! Die Strafe und Rache bis in's Letzte hin, und alle Qualen sollen über mich kommen, daß ich vergehe, hinsterbe, hinschwinde! – Man wird kommen und wird mich wegführen, und wird man mich foltern, eh' man mich hinrichtet? Wird man mich auf's Rad flechten? Wird man mich steinigen? Und vor ein Gericht wird man mich führen, mit Männern in roten Mänteln und roten Kapuzen. Jeder hat ein Schwert in der Hand, und ihre Augen blitzen und ihre Stimmen donnern! und in ihrer Mitte wird ein riesiger Richter sitzen, jedes seiner Augen ist ein blauer See, und sein weißer Bart wallt und wallt entlang wie die Kämme eines wogenden Gebirges. Und seine Stimme ist wie das Rauschen des Waldes. – Hier stehe ich, und man soll kommen und soll mich holen, mich hinführen und in alle Abgründe stürzen, daß ich, stürzend, vergehe, hinsterbe, hinschwinde –!

Maria: Mein seien die roten Richter! Mein das Donnern ihrer Stimmen und das Blitzen ihrer Schwerter, ihrer Augen!

Beate: Es störe nicht der Wille des Menschen den Gang des Schicksals, und es störe nicht eine hilfreiche Hand das Schreiten der Rache! Denn jene Hand wäre hilfreich dem Menschen, nicht aber jenen Mächten, denen ich mich hingeben will, daß ich vergehe, hinsterbe!

Maria: Noch sind Sie Mensch! Sie haben gemordet! Noch sind Sie Mensch! Sie haben Wünsche! Sie haben eine Leidenschaft! Suchen Sie Erfüllung! Greifen Sie, jagen Sie darnach! Trinken Sie die Erfüllung in sich ein! Jubeln Sie! Erblühen Sie, erstrahlen Sie in dieser Nacht der Erde! mich aber – es lechzt mein Herz darnach! – lassen Sie mich die Tat auf mich nehmen! Frau Gräfin, ( auf die Knie hinstürzend:) nicht Güte ist's, nicht Mitleid, nur Jammer, Jammer, endlos hinströmender Jammer! Vollendung! Vollendung! Was bin ich? Wer bin ich? Ich bin ein weggeworfenes Ding, ein abgehetztes Tier! Ein Ding, ein Tier! Einst glaubte man mir, daß ich Mensch bin, doch heute –! Man will mich erwürgen! Ich bin zernagt und angefressen von all den Tagen, angefault von all den Nächten! Warum sagt man mir, daß ich häßlich bin? Ich bin doch Frau, eine Frau! Warum zeigt man mir, daß man sich ekelt? Man will mich erstechen! Man glaubt nicht, daß ich Mensch bin! Will's nicht glauben! Und warum, warum will man mir's nicht glauben? Man hat mich betastet, befühlt, gebraucht, und da ich abgebraucht bin, sagt man mir, ich wäre abgebraucht! Wie aber kann eine Seele abgebraucht sein, da sie noch lebt? Alle Schranken fallen im Menschen, wenn er mit mir ist! Preisgegeben bin ich jedem Zorn und jeder Gier! Der Schweiß der geilen Männer trieft von mir! Entkleide ich mich, scheint mir Gestank vom eigenen Körper aufzusteigen! Schauderhaft, als ich krank war! Auch meine Füße trippelten einst über Wiesen! Heute – ich liebe anders, als andere Frauen! Bin ich schuldig deshalb? Gnade, Gnade, bin ich schuldig deshalb? Man bekreuzigt sich, wenn man mich sieht! Man ekelt sich! Und ich habe doch Vater und Mutter wie Alle! Bei Gott! ich habe Vater und Mutter! Kein Krampf des Lebens war mir unbekannt, alle Zuckungen des Schmerzes spürte ich! Ich schaudere vor mir selbst! Und einstmals liebte ich! Und nun verfaule ich bei lebendigem Leibe! Ich wurde gezeugt, geboren, wuchs auf, und siehe! es kam Donner um Donner über mich! Gerechtigkeit! Auch ich bin Gottes! Oh, es können die Menschen schlagen und peitschen und stechen und erniedrigen! Und warum? Hier stehe ich, und es kommt Einer des Weges und sagt: die will ich mißhandeln und erniedrigen! Wieso? Wie darf er das? Und er kennt mich doch nicht! Und wie darf er einen fremden Menschen erniedrigen? Gerechtigkeit! Einst bekam ich Veilchensträuße von schüchternen Knaben! Alles ist gruselig! Weh mir, daß ich Körper bin! Einmal war einer besoffen –! Ich bin hingeworfen den Menschen zum Fraß! Meine Seele ist zerfetzt, mein Herz ist zerrissen! Mein Körper zertreten – sehen Sie, sehen Sie diesen Fetzen! Ich stehe am Rand der Welt! Und sie liebt mich! Und ich muß sie lieben, sonst stirbt sie! Und ich muß bei Ihnen bleiben, sonst sterben Sie! Und jener Bösewicht sagt, ich soll mich erschießen, doch er ist ein Bösewicht! Was soll ich tun? Oh Raserei der Welt! Weg von diesem Toben und höher noch in's Leid! Ich will hingleiten zum Leid, weiter und höher, ich gleite hin, ein wenig höher noch, wo's süßer, ach, wo's süßer wird!

Beate: Oh Schwester, geliebte Schwester, vergiß mich! Geh Deines Wegs! Gott segne Dich! Er sei Dir freundlich! Laß mich! Sie sollen mich hinunter jagen und hinunterpeitschen den Weg zur Hölle! Du aber geh Deines Wegs! Gott segne Dich! Er sei Dir freundlich! Ich will meinem Jammer nicht im Wege sein, daß er jene ungeahnte Höhen erreiche, zu denen er strebt, seitdem ich lebe! Einst kommt das Ende! Und sterbe ich auf einem Scheiterhaufen, sterb' ich verhungernd auf der Straße, sterb' ich zerfressen und zerfetzt auf einem Bettlerbett, es komme, wie es mag! Ich will dastehen, will die Augen schließen, will die Finger in die Hände krallen, und will warten, bis die letzte Qual kommt, bis die letzte Pein kommt, bis der letzte Stein mich trifft, bis die letzten Flammen mich umzüngeln, will dastehen und warten und in mir singen: sieh, Herr, hier stehe ich, wehrlos und leidend, und warte, bis die letzte Qual kommt, bis die letzte Pein kommt, bis der letzte Stein mich trifft, bis die letzten Flammen mich umzüngeln – und in meinen letzten Notschrei wird sich ein Jubel mengen: sieh, Herr, hier stehe ich! ( In die Knie sinkend:) Laß mich! Laß mich! Und ich werde aufgehoben sein, und werde aufsteigen, aufsteigen, oh Schwester, denn sieh, es ist mir, als wäre dies Alles nur eine Ahnung von einem Himmel, der sich mir eröffnen müßte, weil ich so viel gelitten habe, von einem Paradies, in dem man unendlich glücklich weint!

Maria: Könnte auf dieser Erde noch Glück Dir erstrahlen! Könnte in diesem Leben noch Jubel Dir entströmen! Könnte ich Dir all' das Schreckliche ersparen! Könnte ich für Dich leiden, für Dich sterben! Läg' ich verendend auf der Erde, qualdurchbebt und schmerzdurchzittert, – es wäre mir der Schmerz süßer als Glockenklang über den Wiesen, sanfter als Frühlingswind –! Ich gleite hin, ich schwebe hin, zu irgend einem Ende hin, zu einer unendlichen Vollendung! Weiter, weiter hinauf, daß ich den letzten Gipfel erreiche, wo der Gott selbst thront, der große Gott des Unglücks, inmitten seiner süßtraurigen Engel und in seiner sanft-traurigen Landschaft, da man hinsinkt und hinschmilzt an seine breit-gütige Brust und er sagt: weine, mein Kind, weine am Busen des Gottes des Unglücks!

Beate: Manchmal – oh, mein süßestes, erhabenstes Geheimnis! – in mancher still-entrückten Stunde scheint es mir, als stiege ein Engel zu mir nieder, dann scheint es mir – es ist so sonderbar! – dann scheint es mir, als wär' ich auserwählt!

Maria: Als fehlte nur noch ein wenig Unglück –

Beate: Noch ein Stöhnen, noch ein Weinen, und siehe! es erstrahlt der Heiligenschein!

Maria: Oh, eine Heilige sein! Oh mein Herz! Oh Ihr Tränen! Oh mein Leid! Oh mein Herz!

Singe, oh Herz, Du mein Herz,
Du mein Freund, Du mein Kind,
Singe den Gesang des süßen Leids
Und meiner Tränen süße Melodie!
Aufsteigt dies Lied vor Deine Throne, Gott,
Aufschwingt es sich zu Euch, ihr Heiligen,
Oh, wär't Ihr meine Brüder, heilige Märtyrer,
Und meine Schwestern Ihr, die heiligen Frauen!

Beate:

Und es verschwindet Schmerz und Körper,
Schmerz wird Wonne, Körper wird ein Hauch!

Maria:

Oh Schwester!
Mich will die Erde nicht mehr halten,
Mich ziehen rasende Gewalten
Zum Paradies des Schmerzes hin!

Beate:

Wir steigen auf, wir steigen auf in andere Sphären,
Laß uns in's Jenseits wiederkehren
Zu Gott und seinem Dasein hin!

Maria:

Einst ist das Dasein mehr als Leben,
Laß uns schweben, Schwester, laß uns schweben
In unsere andere Heimat hin!

Beate:

Weit ist der Weg hin – noch sind wir da!

Maria:

Leid ist der Weg hin – schon sind wir nah!

Beate:

So gönn mir Vollendung –!

Maria:

Oh Schwester! Vollendung!
Von meinem Schmerz so süß erhellt,
Spür' ich den Duft schon anderer Welt!

Beate:

Von meinem Schmerz so süß entführt,
Fühl' ich mich sanft vom Jenseits schon berührt!

Maria:

Entfliehe, mein Leben, entfliehe von mir! –
Schon stockt mir der Atem, schon starrt mir die Hand!
Schon schwindet das Leben! Schon gilbt mir die Haut!
Wo bin ich? Wie wird mir? Wie fühl ich mich neu!
Bald bin ich nur eine Statue noch oder ein Heiligenbild –
Dann steh' ich einst in späteren Jahrhunderten
Als heilige Marie, als Dulderin,
Auf einem hölzern Postament in einem Kirchenschiff,
Als tröstende Verkünderin,
Daß auch der Jammer noch voll Süße ist!

Beate:

Zu meinen Füßen schmelzende Herzen von Müttern,
Zu meinen Füßen Ekstasen großer Seelen,
Zu meinen Füßen liegen Blumen
Und über meinem Haupt ein Strahlenkranz;
Benetzt von Tränen vieler Menschen,
Bespült von Fluten vielen Jammers,
Bekleidet golden mit der Liebe Gottes,
Steh' ich in ries'gen Hallen
Mit meinen Schwestern da!

Maria:

In mir sind Paradiese weit und offen
Und zum Empfang bereit für tausend Seelen –
Strömt ein, Ihr Kinder allen Jammers,
Und seid genährt am Busen meines Herzens!

Der Beamte tritt leise ein, hinter ihm die Marquise, Jakob und Dienerschaft.

Beate:

Heimwärts, heimwärts haben wir gefunden,
Zu Melodie und Duft und Klang löst sich das Dasein auf,
Das Zeitliche ist überwunden,
Schweben wir, Schwester, schweben wir auf!
Es fliegt die Seele hoch im Äther,
Im Grabe liegt der Leib,
Schon längst vergessen unter Erd' und Stein –
Doch knirscht das Holz in einer Kirche Winkel,
Dann weht ein süß' Gefühl durch mein Gebein!

( Sie verharren, in sich versunken, in ihrer Lage. Stille.)

Maria:

Erwachen wir! Ich höre irdisches Geräusch!

Beate:

Stimmen? Menschen? Dinge?
Nun ja, auch ich bin ja noch Mensch!
Entsteigen wir dem Throne des Gefühls,
Da sich zu unsren Füßen Mensch und Ding bewegen!

( Sie erheben sich.)

Maria ( zum Beamten): Mein Herr, Sie wünschen?

Jakob:

Verflucht Gefühl! Verflucht die Seele und die Liebe!
Verflucht der Taumel und der Glaube,
Des Teufels bestes Mittel zum Betrug!

Maria: Armer Mensch!

Jakob:

Fühlst Du Dich reicher?
Auch Du, auch Du, Du totgehetztes Wild?

Maria: Armer Mensch! – ( Zum Beamten:) Mein Herr, Sie wünschen?

Der Beamte: Es ist heute nachts ein Unglück in diesem Hause geschehen –

Maria: Ein Verbrechen, mein Herr, ein Verbrechen!

Beate: Ich habe meine Tochter erwürgt.

Maria: Hören Sie nicht auf sie! Denn, hören Sie! ich war's, die ihre Tochter erwürgt hat!

Beate: Sie lügt. Gnade ihr Gott! Eben war sie bei mir, mich zu bitten, die Tat auf sich nehmen zu dürfen, doch ich wollte es nicht dulden, und nun lügt sie so schamlos. Maria, Maria, warum lügst Du?

Maria: Mein Herr, vor Ihnen steht eine Mörderin. War ich schon so verbrecherisch, die Tat zu begehen, so elend bin ich nicht, die Sühne über einen anderen Menschen kommen zu lassen.

Beate: Ich schwöre bei Gott und allen Heiligen und beim Dasein meines Mannes, daß ich den Mord begangen habe!

Der Beamte: Und sind bereit, es vor Gericht einzugestehen?

Beate: So wahr mir Gott helfe – ich bin bereit!

Maria: Sie scheinen ihr zu glauben? So hören Sie denn, was ich nicht aussprechen wollte, doch nun sagen muß: die Gräfin ist krank!

Marquise: Allerdings, da man nicht glauben kann, daß ein gesunder Mensch freiwillig solch ein Verbrechen auf sich nimmt, scheint eine von Beiden krank zu sein.

Maria: Sie haben es erraten, Frau Marquise!

Der Beamte: Lassen wir das! Gehen wir davon ab, und wenden wir uns den Tatsachen und Beweisen zu!

Maria: Beweise trügen! Beweise gelten nicht! ( Ein Diener lacht auf.) Warum lacht der Mensch? Glaubst Du, die Beweise sprächen gegen mich? Und warum glaubst Du das? Und warum schweigen Alle so beklommen? Nein, meine Freunde, sie sprechen nicht gegen mich! Ich habe den Mord begangen, doch, Beweise habet Ihr nicht!

Der Beamte: Und doch haben sich im Verlaufe meiner Untersuchung Momente ergeben, die wohl als Beweise gegen Sie anzusprechen sind.

Maria: Wie? Gegen mich? Ach so! Dann allerdings gelten die Beweise! Wie sonderbar! Doch sprechen Sie! Welche sind's? Sprechen Sie, mein Herr!

Der Beamte: Als die Frau Gräfin an der Leiche ihrer Tochter heute morgen aus der Ohnmacht erwachte, war ihr erstes Wort – Ihr Name! Dieser Diener hörte es.

Maria: Gut. Hast Du's gehört, mein Freund? Bravo! Zwar hinkt's ein wenig, man könnte sagen, die Gräfin hat nach mir verlangt – doch weiter, mein Herr!

Der Beamte: Die Frau Marquise hörte, wie Sie gestern zur Frau Gräfin sagten: man müßte Ihre Tochter erschlagen!

Maria: Bravo! Weiter!

Der Beamte: Ferner hat man beobachtet, daß Sie gegen Ihre Gewohnheit die ganze Nacht in Ihrem Zimmer auf- und abgingen, und als man am Morgen zu Ihnen kam, fand man Sie in größter Erregung.

Maria: Bravo! Weiter!

Der Beamte: Ihre allgemein bekannte Veranlagung, Ihre Freundschaft zu jener Johanna –

Maria: Bravo! Ich weiß schon, was Sie meinen! Bravo! Weiter!

Der Beamte: Und so geht's weiter. Auch richtet sich – ich danke Dir, mein Gott! es ist Alles klar! – der Verdacht des ganzen Hauses gegen Sie!

Maria: Bravo! Bravo!

Ein Diener: Ja, ich frage mich: wer kann's gewesen sein?

Ein anderer Diener: Ich frage mich: wer kann es sonst gewesen sein?

Maria: Bravo! Wer kann's gewesen sein? Wer kann es sonst gewesen sein! Rutscht mir den Buckel herunter! Wer sonst als die Marie! Ja, ja, hier steht sie – zerreißt sie, Ihr Hyänen! Wer hätte gedacht, daß mir die Dummheit so schnell helfen wird! Ich danke Euch, meine Freunde! Ihr habet erraten, wer's gewesen ist, und habet erraten – vor Allem! – wer dessen fähig war! Ich danke Euch! Es ist Alles klar!

Schufte! Schurken! Woher wisset Ihr Alles so genau? Läuft das Rad Eures Verstandes erst, werdet Ihr geschäftig, wenn es sich darum handelt, Einen an den Galgen zu bringen? Ihr Lügner, redet mit? Hier stehe ich, Maria, und habe ein Schicksal, einen Weg, und Ihr Schicksalslosen, Nichtigkeiten, Ihr Ungeziefer, waget Euch über meinen Weg? Könnte ich Euch zertreten! Könnte ich die Hölle über Euch schicken! Ja, ich habe die Komtesse erwürgt, doch was habe ich Euch getan? Du hier mit der Fratze eines Pavians, was habe ich Dir getan? War ich nicht immer freundlich zu Dir? Und Du, mein Freund, grinsende Mißgeburt, warum verrätst Du mich? Bei allen Himmeln, warum verrätst Du mich? Sag's mir! Sag's mir, und ich will Dir Alles verzeihen! Wenn ich nur wüßte, warum Alle mich verraten – ah, pfui, geht, daß ich Euch nicht anspucke, und Euch niederschlage! Beweise, Ihr Schurken? Beweise habt Ihr nicht! Rührt mich nicht an! Wer will es wagen? Ich könnte Euch beweisen, daß Ihr lügt, hört Ihr's? Und dennoch: ich habe die Komtesse erwürgt!

Marquise: Und dies Geständnis gilt?

Maria: Kein Wort mehr! – Mein Herr, wir gehen!

Johanna (hereinstürzend).

Johanna: Was gibt es hier? – Nun! Was gibt es hier?

Maria: Mein Kind, ich habe einen Mord begangen und werde verhaftet.

Ein Diener: Ja, einen Mord –

Ein anderer Diener: Und nun wird sie verhaftet –

Johanna: Einen Mord? Schön. Ich gehe mit!

Der Beamte: Wie?

Johanna: Nun ja! Ich gehe mit!

Der Beamte: Nun, nun, um Gottes Willen! Wie könnte denn das angehen.

Johanna: Wie? Und warum? Wenn ich es will? Ich will mit ihr gehen!

Marquise: Oh mein Gott, welch eine Treue!

Johanna: Schweig! – Hören Sie! Ich will es!

Der Beamte: Um Gottes Willen! Wie könnte, ja, wie dürfte ich denn das tun?

Marquise: Nun, mein Kind, vielleicht begehen Sie auch einen Mord, dann kann gar wohl Ihr Wunsch in Erfüllung gehen.

Johanna: Glauben Sie?!

Marquise: Gewiß! Oh mon dieu, wie naiv!

Johanna ( sich mit einem Dolch auf die Marquise stürzend): Verfluchte Hexe!

Marquise: Hilfe! – Pfui Teufel! ( Sie wird von Johanna niedergestochen; Alle stürzen zu Johanna und zur Marquise.) Wie scheußlich, so zu sterben! Ekelhaft! So habet Ihr mich endlich doch darein verwickelt. Tragt mich fort! ( Sie wird hinausgetragen.

Johanna: Warum stürzet Ihr Euch auf mich? Ich gehe ja mit! Ich lese in Euer aller Augen ein Triumphieren, weil Ihr Euch auf mich stürzen dürfet. Ja, ja, ich gehe doch! Nun, führen Sie mich weg! Gehen wir, mein Herr!

Jakob: Welche Kraft ist in all' diesen Menschen! Wahrlich, sie scheinen unbesiegbar!

Maria: Nun denn! Mein Herr, wir gehen! ( Alle ab, außer Beate.)

Beate ( allein): Welch unnatürlicher Lärm! Und es ist ja nur Erde! Die Menschen schreien und kämpfen und zerreißen sich – und es ist ja nur Erde!

Graf Umgeheuer.

Der Graf: Guten Tag!

Beate: Guten Tag!

Der Graf: Schönes Wetter heute!

Beate: Die Sonne scheint!

Der Graf: Unsere Tochter ist gestorben, sagte man mir?

Beate: Ja, ja –

Der Graf: Das einzige Kind! Die armen Eltern!

Beate: Welch fürchterliches Unglück!

Der Graf: Wer hat sie getötet?

Beate: Eben hat man darüber gestritten. Ich glaube, daß ich es war.

Der Graf: Madame! Madame!

Beate: Ja, ja –

Der Graf: Doch das ist schlimm, Beate, das ist schlimm! Beate! Wach auf! Hörst Du mich nicht? Beate, wach auf! Was ist dies Alles? Was ist's mit uns? Nimmt's kein Ende? Hier bist Du und da bin ich – spürst Du es? Spürst Du's nicht? Stürzt ein, ihr Dämme –! Was reißt in mir entzwei? Was löst sich auf in mir? Alles versinkt, was war! Schluchten verschwinden, Flammen verlöschen und Berge versinken in's Nichts! Beate! Du! Ich! Leben! Liebe! Beate! Beate, jetzt ( mit einer Bewegung, als risse er sich die Brust auf:) jetzt: ich liebe Dich!

Beate: Mein Herr, wie sprechen Sie?

Der Graf: Wach auf, rüttle Dich auf, denn siehe, ich liebe Dich!

Beate ( in seine Arme sinkend): Welch überirdisch Glück!

Ende des dritten Aktes.

Vierter Akt

Gerichtsplatz im Freien. Morgendämmerung.

Jakob.

Jakob ( allein): Fluch über Fluch! Jammer über Jammer! Und sie hören mich nicht! hören mich nicht! Daß doch die ganze Welt aufginge in Brand und Flamme, wenn schon in jeder Brust verzehrend Feuer brennt! Genug der Worte! Worte, Worte, immer nur Worte, tatlose Worte, verbrecherisch-tatlose Worte! Jammert und winselt nicht der ganze Erdball in dieser Brust? Oh, ich spüre Dich, Schmerz, den vor tausenden Jahren einmal ein gepeinigter Sklave gefühlt hat, und dann die sinnlose Reue seines Herrn! Geprügelte Dirnen seufzen in mir, verlassene Mütter, verlassene Frauen, die Hungernden wimmern, und es wehklagen die Gemarterten, es zerspringt mir diese Brust, und es entsteigen ihr nicht Schwerter und furchtbare Dämonen, immer nur Worte! Worte! Und ich kann die Hand zum Himmel erheben, doch ihn nicht erreichen! Und steigt niemals der ekelhafte Dunst von dieser Erde in Euere Nase? Ah, doch einst wird die ganze Welt vor Schmerz zerbersten, dann ist das Wort verklungen, der Atem ausgehaucht und die Träne zu Ende geflossen! Ich wollte, es wäre so weit! Ja, Gott, hör mich: ich wollte, es wäre so weit!

Verbrecher und Strolche haben sich versammelt.

Der erste Verbrecher: Hier wird es vor sich gehen. Hier werden sie gerichtet werden.

Der zweite Verbrecher: Wehe ihnen!

Der dritte Verbrecher: Wie heißen sie?

Der zweite Verbrecher: Maria und Johanna.

Jakob: Hier seid Ihr! Kommt näher! Ich muß mit Euch sprechen! Ich muß mit Euch beraten! Es geht um wichtige Dinge, es geht um die allerwichtigsten Dinge, die's gibt! Es geht um Leben und Tod!

Der erste Verbrecher: Was willst Du von uns?

Jakob: Seid Ihr um mich? Hört mich an und antwortet mir! Wie gefällt Euch das Leben? – Nun! Wie gefällt es Euch?

Der zweite Verbrecher: Im Jenseits wird uns Alles vergolten. Amen!

Jakob: Hört zu! Ihr Verzweifelten, Auswurf der Menschheit, Ihr Desperados, werdet mir helfen! Im Laufe Eueres Lebens: habet Ihr Gutes gesehen? Schönes erlebt?

Der zweite Verbrecher: Als mich Einer einmal in's Zuchthaus schickte, sagte er: so ist das Leben – doch er zerdrückte dabei eine Träne. Aus dieser Träne werden Blumen wachsen, hoch hinauf zum blauen Himmel wachsen mit goldenen Blüten und goldenen Früchten, und in ihrem Schatten werden Kinder spielen und singen zum Klang von sonderbaren Violinen!

Jakob: Ein Verbrechen, Qual, Reue, fünf Jahre Zuchthaus – und eine Träne!

Der dritte Verbrecher: Was willst Du von uns?

Jakob: Hört zu und antwortet mir!

Der vierte Verbrecher: Ich heiße Max.

Jakob: Glaubt Ihr an Gott?

Der vierte Verbrecher: Ich heiße Max, und weiter weiß ich nichts.

Der zweite Verbrecher: Und all das: Tränen, Blumen, Kinder, Himmel und den Klang der Violinen, und all das sollt Ihr mir über mein Grab hinschmeißen!

Jakob: Allerorten ist's blutig! Gräber, Tränen, Schreie, Flüche, Verzweiflung – und in all das seid Ihr hereingestellt, Böses zu tun! Oh, ich klage Euch nicht an! In all das seid Ihr hereingestellt, Böses zu tun!

Der erste Verbrecher: Ich aber wollte, es wäre anders!

Jakob: Siehst Du! Du willst es anders! Und doch mußt Du, wie Du mußt! Seht Ihr: so ist der Mensch: mit einem Schein von Willen, der nur dazu da ist, ihm zu beweisen, daß er keinen hat; hineingejagt der Eine in jenes Wirrsal und der Andere in dieses! Wahrlich, ein ganz mißlungenes Produkt, und ganz mißlungen Leben und Welt!

Der zweite Verbrecher: Vielleicht nicht so ganz; wir wissen es nur nicht anders – doch, wir wissen es anders, nur sehen wir es nicht.

Der erste Verbrecher: Sag endlich, was Du von uns willst!

Jakob: Ein Ende! Daß Alles aufhört! Daß der Mensch verschwinde! Daß die Erde ausstirbt! Möge sie Wüste werden! Mögen die Tiere einander auffressen, doch nicht die Menschen! Denn der Mensch weiß, der Mensch spürt, wenn er aufgefressen wird!

Der erste Verbrecher: Was aber sollen wir armen Menschen dazu tun?

Der fünfte Verbrecher: Armer Herr! Die Menschen sollen nicht verschwinden! Solche Leute, wie wir es sind, die sollen verschwinden, und solche, wie Du einer bist! Hüte Dich! Ich habe viel Böses auf dem Gewissen, doch ich weiß, daß es bös ist, und ich glaube an Gott. Ich habe gestohlen, habe Meineide geschworen und habe auch schon einmal einen Menschen umgebracht, doch bevor ich wurde, was ich bin, war ich Priester; dann bin ich geglitten, geglitten, doch das ist mir geblieben: ich weiß, was bös ist, und ich glaube an Gott.

Der zweite Verbrecher: Gott? Das ist es nicht.

Der fünfte Verbrecher: Was wär' es denn?

Der zweite Verbrecher: Etwas in uns.

Der erste Verbrecher: Ich nenn's immer das Wesen.

Der zweite Verbrecher: Ich nenn's Seele.

Der dritte Verbrecher: Nun aber frage ich: wer hat sie geschaffen?

Der fünfte Verbrecher: Ja, meine Lieben, das ist die Frage: ob Gott die Seele oder ob unsere Seele Gott geschaffen hat – das ist die Frage!

Der dritte Verbrecher: Da hat er Recht.

Der vierte Verbrecher: Ich heiße Max, und weiter weiß ich nichts. Ich nehm' das Leben, wie es kommt. Es ist ein Ragout. Ich sammle Schmetterlinge. Ein bescheidenes Vergnügen, und doch: wie viel Freude bereitet es mir! Wäre ich ein großer Herr oder eine Prinzessin, ich täte etwas Anderes. Doch wenn ich so die Tierchen, die an hellen Tagen schillernd durch die Luft flattern, vor mir aufgespannt sehe und sie mit ihren bunten Farben mir betrachte, dann glaube ich, ich bin Postbeamter, und es ist Sonntag Vormittag.

Jakob: Banale Individuen!

Der sechste Verbrecher: Wir bedauern sehr, mein Herr, daß wir Sie enttäuschen müssen!

Jakob: Ich habe Besseres von Euch erwartet. Es gibt so Viele Euresgleichen – Ungeheueres sah ich schon vor mir! Wolltet Ihr Alle Euch vereinigen, unter meiner Führung, unter meiner Fahne – ah, was sah ich nicht schon vor mir! Die Welt nur voller Leichen und aufgehen in Flammen, und wieder überall Wildnis und überall Friede!

Der sechste Verbrecher: Im Namen des Satanas! In Ewigkeit! Amen!

Der dritte Verbrecher: Gehen wir, gehen wir! Hast Du uns dazu hergerufen?

Der zweite Verbrecher: Es gibt Mädchen, die so zart sind, daß man sie kaum zu berühren wagen dürfte; wohlbehütet wie eine gebrechliche Pflanze wachsen sie auf; manchmal sieht man sie über die Straße gleiten, vor so einer niederknieen zu dürfen, müßte süß sein.

Der erste Verbrecher: Über sommerliche Wiesen gehen, Wein trinken, singen – es gibt viel Schönes!

Der zweite Verbrecher: Herrlich, herrlich ist die Welt!

Der dritte Verbrecher: Gehen wir, gehen wir! Es wird Tag! Wir müssen uns verkriechen!

Der siebente Verbrecher: Ach, müßten wir uns nicht immer verkriechen! Müßten wir nicht immer Verbotenes tun!

Der fünfte Verbrecher: Vieles ist traurig, doch weil es traurig sein muß, weil es sein muß, darum eben ist's heilig. Auch das Unglück ist heilig. Alles ist heilig!

Der erste Verbrecher: Gehen wir, gehen wir! ( Sie verlaufen sich.)

Der fünfte Verbrecher: Ich habe viel Schuld, doch ich wollte, es wäre anders; hier stehe ich, ein Priester, jawohl, ein schlechter, ein verkommener Priester, und doch: ein Priester vor Dir: die Welt ist nicht eingeteilt in Glück und Jammer, sondern in Gut und Böse, und in der Nacht umflattern mich mit sausendem Flügelschlag die Gespenster.

Der dritte Verbrecher: Menschen kommen, Menschen kommen! Gehen wir! ( Sie verlieren sich.)

Es ist Tag geworden. Die drei Richter. Maria und Johanna werden hergeführt. Volk strömt herbei. Jakob verliert sich in der Menge. (Ab.)

Das Volk: Hier stehen sie! – Die Mörderinnen! – Tod gegen Tod! – Richter, beginne!

Maria: Sieh, so war mein Traum: mich mit Geheul umbrandend, beschließt die haßerfüllte Menge meinen Tod.

Johanna: Ich aber wünschte mir ein sanfteres Ende, mit Dir allein!

Das Volk: Richter beginne! – Beginnet! – Richtet die Mörderinnen!

Der erste Richter: Maria und Johanna, ich beginne. Maria und Johanna, Ihr seid angeklagt und sollt gerichtet sein. Ihr seid angeklagt des Mordes im gräflichen Haus, und ich frage Euch in unserem, der Richter, Namen, im Namen dieses Volkes, das das Verbrechen aus seiner Mitte bannen will, und im Namen des Andenkens der Toten: bekennet Ihr Euch zu der Tat, und gestehet Ihr, schuldig zu sein?

Maria: Ich bin schuldig, und urteilt über mich und verurteilt mich im Namen dieses Volkes, das das Verbrechen aus seiner Mitte bannen will, und im Namen des Andenkens der Toten!

Johanna: Und im Namen aller Heiligen! und im Namen des Lebens und des Todes! ich bin nicht schuldig! Ich habe den Mord begangen, doch ich bin nicht schuldig!

Das Volk: Hört Ihr's? Hört Ihr's?

Maria: Sag, daß Du schuldig bist, damit wir endlich sterben können!

Johanna: Ja! Ich will sterben! Doch ich bin nicht schuldig!

Das Volk: Wie kann sie nicht schuldig sein! – Habt Ihr's gehört? – Sie hat gestanden! – Beide haben gestanden!

Johanna: Schweigt! Ihr! Schreihälse! Heulende Menge!

Maria: Laß sie, Johanna, laß sie schreien!

Johanna: Sie sollen nicht schreien!

Der erste Richter: Warum hast Du den Mord begangen?

Johanna: Was kümmert's Dich? Weil sie bös war! Sie hat mich gehöhnt! Zwei Wesen erfüllt sich das Schicksal, und sie hat gescherzt! Sie war herzlos, bös und mitleidslos! Sie mußte sterben!

Der erste Richter: Und keinen anderen Grund?

Johanna: Nein! Keinen anderen Grund!

Der erste Richter: Und mußte auf all das die Antwort Totschlag sein?

Johanna: Ja! So mußte es sein!

Der erste Richter: Sahst Du sie zum erstenmal?

Johanna: Ja! Zum erstenmal! Was kümmert's Dich?

Der erste Richter: Und gleich auf's erste böse Wort der Tod?

Johanna: Ja! Und? Was wollt Ihr? Wer seid Ihr? Ihr wollt richten? Ich aber will nicht gerichtet sein, nicht in Eurem Namen und nicht im Namen dieses Volkes! und im Namen keines Menschen und keiner Macht der Erde will ich gerichtet sein!

Der zweite Richter: Warum, Johanna, konntest Du so Böses tun?

Johanna: Wie fragst Du doch so sonderbar! Ich habe einen Menschen umgebracht – nun? und? was wollt Ihr dabei? Was wollt Ihr dazu? Ich habe einen Menschen umgebracht, und das ist meine und seine Sache und Gottes Sache! Und zwischen uns dreien wird's abgetan! Doch Ihr? Seitdem ich lebe, tobt in mir das Unglück und der Kampf! Seitdem ich lebe, brennt's in mir – nicht wahr, Maria? –: Sehnsucht und die Liebe, der Schrei und Krampf! Seitdem ich lebe, steigt es in mir auf, von Jahr zu Jahr, von Tag zu Tag, und endlich, einmal, eines Tages steigt es vollends auf! Dann bricht's aus mir heraus, dann steigt's in diesen meinen Arm und ich durchbohre einen Menschen – und dann kommt Ihr von Euerer Arbeit, aus Eueren Häusern – und wollt richten!

Der erste Richter: Weil, was Du getan hast, auf der Erde geschehen, sind wir bestellt, es auf der Erde zu sühnen!

Johanna: Nichts geschieht auf der Erde – Alles geschieht im All! Wie seid Ihr doch so sonderbar! Warum nehmt Ihr Euch so wichtig? Wie gebärdet Ihr Euch? Wer seid Ihr – fremde Menschen?

Der dritte Richter: Wir haben nach dem Recht und dem Gesetz Urteil zu sprechen!

Johanna: Recht und Gesetz? Was ist das? Mich hat Gott geschaffen, und wollt Ihr über Gott zu Gericht sitzen? Wollt Ihr über Gottes Werke sagen: dieses ist gut und jenes ist schlecht!? Hier stehe ich, und es geschah, was geschehen mußte! Habt ihr, würdige Richter, schon einen Mord begangen? Nein? Und wie wollet Ihr da über mich richten? Habet Ihr, schreiende Menschen, schon einmal Maria geliebt? Nein? Und warum schreiet Ihr dann? Böse, blutrünstige Menschen! Feige Hyänen des Rechts und des Gesetzes! Ich aber habe einen Mord begangen – ohne Recht und Gesetz! Und nun will ich mit Maria sterben! Doch wir wollen sterben, wann wir es wollen, nicht aber, wann es Euch beliebt! An einem Tag, wenn der Donner brüllt und die Blitze flammen! oder an einem festlichen, sonntäglichen Tag! Dann, nicht wahr, Maria? Vorher aber wollen wir vielleicht noch schwärmen! Auf Flüssen fahren und über Heiden gehen! In abendlichen Stunden beieinander sitzen und plaudern! Und vielleicht ist der Tod nicht gar so nahe?

Das Volk: Genug! – Das Urteil!

Der zweite Richter: Nimm's hin, wie's ist, und verteidige Dich!

Johanna: Wie sollte ich? Geht nach Hause! Ich weigere mich Euch! Der Tod ist groß, doch nicht, wenn er von Euch kommt!

Maria: Immer ist er groß, Johanna, immer ist er groß!

Johanna: Ich nehme ihn nicht aus Eurer Hand! Geht! Was wollet Ihr noch? Warum stehen sie da, Maria, und starren? Warum gaffen sie? Warum gehen sie nicht?

Der dritte Richter: Unsere Gewalt schwebt über Dir, Johanna! Denke daran!

Johanna: Gewalt! Das werdet Ihr nicht wagen!

Das Volk: Wir werden es! – Genug der Worte! – Verteidige Dich! – Hier ist Gericht und Urteil! – Gericht und Urteil!

Johanna: Und wer wird über Euch zu Gericht sitzen? Weh' Euch! Ja, ich will sterben, Maria, mit Dir! Sterben! Ja! Ja! Doch wer seid Ihr, fremde Menschen? Möge ein höheres Wesen, das selbst in seiner Brust den Zorn und den Mord fühlt, in seinem Herzen die Liebe, das Alles von mir weiß, möge es mich, nachdem es mich ganz begriffen hat, verurteilen zu ewigen Qualen und zu ewiger Verdammnis, doch Ihr –! Hütet Euch, daß Ihr nicht zu noch ewigerer Verdammnis und zu noch ewigeren Qualen verurteilt werdet!

Das Volk: Macht ein Ende! – Genug! – Das Urteil! – Sie soll schweigen!

Johanna: Bedenket, was Ihr tun wolltet! Einen Menschen umbringen? Hinunterstoßen in den fürchterlichen Tod?

Das Volk: Ja! – So soll's sein! – Das wollen wir!

Johanna: Bedenket! Arme, verblendete Menschen! Ihr, Brüder und Schwestern, die Ihr weinen sollt, wenn ein Unglück geschieht! Vielleicht wollen wir erst morgen sterben oder in einer Woche! Vielleicht warten noch verzückte Stunden auf uns! Noch ist Leben! Und ich will diese giftige Frucht: Leben aussaugen bis zum letzten Tropfen, eh' ich tot bin!

Der zweite Richter: Es naht das Urteil! Verteidige Dich!

Johanna: Ich weiß nichts! Das Urteil! Oh, Ihr armseligen Menschen, schwache Geschöpfe, die Ihr gleich mir hinschleicht und hinschwankt über die Erde, die Ihr um Euere Freunde klagt, die Ihr an Leichen jammert, die Ihr vor dem Tode zittert, und wenn Ihr schon lahm und blind und halb verwest seid, noch am Leben hängt – Menschen, Richter, seid einsichtig! sind wir nicht Freunde in Qual und Leid?

Der erste Richter: Mein Urteil –

Johanna: Schweig! Das Urteil! Hilf mir, Himmel! Was soll ich noch sagen? Ich soll mich verteidigen und ich weiß ja nichts! Tut es nicht! Richter, Menschen, tut es nicht! Habet Ihr die Gewalt? Prügelt mich! Sperrt mich ein! Doch tötet mich nicht!

Maria: Johanna! Johanna!

Johanna: Laß mich, Maria, laß mich! Ihr Menschen, Freunde, erbarmet Euch meiner!

Das Volk: Seht! Nun wird sie klein vor uns! – Kein Erbarmen! – Das Urteil!

Johanna: Wehe! Wie wird mir! Bin ich nicht auch ein Mensch, wie Ihr? Ist kein Gefühl in Euch? Sprich nicht das letzte Wort! Du hast kein Recht –!

Das Volk: Wir haben das Recht!

Johanna: Schweigt! Ihr Bestien, böse Menschen! Schweigt! Ihr sollt schweigen!

Maria: Laß sie, Johanna, laß sie schreien!

Johanna: Wie sollte ich sie schreien lassen? Ich – ( in die Kniee fallend:) ich kämpfe doch um mein Leben!

Maria: Wollten wir nicht zusammen sterben?

Johanna: Nein! nein! nein! Ich kann es nicht! Dort gibt es kein Leben! Dort gibt's keine Maria und keine Johanna! Keine Küsse und keine seligen Stunden! Ich kann es nicht! Ich will leben! will leben!

Maria: Vielleicht, Johanna, kämen wir in ein Paradies.

Johanna: Ich will kein anderes Paradies, als Dich!

Eine Frau: Armes Wesen!

Johanna: Nie mehr gehen! Nie mehr atmen! Nie mehr träumen! Nie mehr lebendig sein!

Ein Mann: Gnade uns Allen Gott, wenn wir beim jüngsten Gericht nur nach Gesetz und Recht geurteilt werden sollten!

Johanna: Das Leben ist bös; jeder Tag ein Raubtier, das an mir nagt. Doch ich will ja benagt, ich will ja zerfressen sein! Ich will ja nur leben!

Maria: Johanna, Du hast mich betrogen!

Johanna: Ich bin ein armes Wesen. Gnade uns Allen Gott, wenn wir beim jüngsten Gericht nur nach Gesetz und Recht geurteilt werden sollten!

Ein Kind ( beginnt zu schluchzen).

Der erste Richter: Mein Urteil –

Eine andere Frau: Schweig!

Das Volk: Schweig! – Halte an Dich! – Johanna! Johanna! – Warten wir! warten wir!

Johanna: Ich sehe es ja ein: ich war bös und schlecht – doch ich will mich ja bessern!

Die erste Frau: Armes Geschöpf!

Der dritte Richter: Und doch: Gerechtigkeit!

Das Volk: Keine Gerechtigkeit! – Hüte Dich! – Hütet Euch! – Nieder mit der Gerechtigkeit! – Nieder mit der Gerechtigkeit!

Maria ( niederkniend): Ja, Ihr Richter, übt Gnade an ihr, gönnt ihr, zu leben! Noch ist sie nicht am Ende! Noch hat sie nicht den ganzen großen Schmerzensweg zurückgelegt! Laßt sie leben! Noch hat sie nicht den Sturm des Daseins ganz durchfühlt, noch war sie zu kurze Zeit vom giftigen Hauch des Lebens angerührt! Ach, laßt sie leben! Noch hat sie nicht zu Ende geatmet, noch nicht zu Ende geliebt! So laßt sie denn leben und übt Gnade an ihr!

Das Volk: Übt Gnade! – Laßt sie leben!

Der erste Richter: Hörst Du's? Dies Volk vereinigt seine Bitten mit den Deinen.

Johanna: Oh, größtes, einziges Glück: Leben!

Der dritte Richter: Bittest Du, Maria, nur für Deine Freundin – und für Dich bittest Du nicht?

Maria: Für mich nicht! Bei Gott! nicht für mich!

Der dritte Richter: Wie kann das sein?

Maria: Sie will leben. Ich will's nicht.

Ein Mann: Auch hast Du das Leben nicht verdient!

Der erste Richter: Böser war Deine Tat, nicht zu entschuldigen durch den Zorn des Augenblicks.

Johanna: Und Maria? Maria soll sterben? Nein, meine Freunde, seid barmherzig bis an's Ende! Warum sollte ich dann auf der Erde bleiben wollen? Soll ich weiter wanken und mir sagen: an mir hat man Gnade geübt, Maria aber hat man den Kopf abgehackt! Man hat ein großes Schwert genommen und hat ihr den Kopf abgehackt! Und soll ich kommen und schauen: da liegt der Rumpf Marias und dort ihr Kopf! Narren! – Maria, wie konntest Du so von mir denken? Diese meine Freunde werden nicht hier barmherzig und da mitleidslos, hier gnädig und da allzugerecht sein.

Der dritte Richter: Auch die Gnade muß gerecht verteilt sein!

Das Volk: So ist es! – So ist es!

Johanna: Wie wißt Ihr, wo sie beginnen soll? Freude über Allen! Strahlender Tag!

Das Volk: Schweig! – Du bist nicht zum Richten herbestellt!

Johanna: Aber Freunde, sie hat für mich gebeten – ich bitte für sie!

Ein Mann: Es wird nicht eine Bitte wie die andere erfüllt!

Das Volk: So ist es!

Johanna: Aber wollt Ihr uns denn trennen?

Das Volk: Ja! – Wenn's sein muß! – Genug!

Johanna: Aber hört doch, hört doch: vielleicht hat sie den Mord gar nicht begangen?

Der erste Richter: Sie hat gestanden.

Johanna: So war es vielleicht auch nur Zorn des Augenblicks!

Der erste Richter: Auch das war's nicht!

Johanna: Maria, bitte für Dich, flehe für Dich! – Sie will nicht! Oh Gott, sie schweigt!

Das Volk: Genug! – Sie soll schweigen!

Johanna: Aber hört doch, hört doch: vielleicht – vielleicht hat sie den Mord gar nicht begangen! ( Aufspringend:) Ja! Das ist's! Sie hat ihn gar nicht begangen!

Das Volk: Sie hat gestanden!

Johanna: Aber Ihr seht doch: sie will sterben! Sie hat gestanden, um zu sterben!

Der zweite Richter: Wer hätte ihn begangen?

Johanna: Ja! Wer? – Die Gräfin! Die eigene Mutter!

Das Volk: Schweig! – Hüte Dich! – Was wagt sie hier?

Johanna: Ja! Ja! Die Gräfin war's! Hat sie nicht auch gestanden? Maria war es nicht! Maria war es nicht!

Das Volk: Die Gräfin ist krank! – Verrückt!

Johanna: Und wenn sie verrückt ist, kann sie nicht auch den Mord begangen haben? Ach was, sie braucht gar nicht verrückt zu sein! Ja! ja! die Gräfin war's! Maria war es nicht! Hört zu, hört zu: die Komtesse war sehr bös und hat die Gräfin immer nur gekränkt. Nur Maria hat sie nicht gekränkt. Maria und die Gräfin haben einander geliebt, und so nimmt sie's auf sich! Warum auch nicht? Auf uns Beide wartet nur Jammer – die Gräfin hat sich mit ihrem Mann versöhnt!

Das Volk: Sie spricht irr! – Sie will uns betrügen!

Johanna: Wartet! Wartet! Wartet einen Augenblick! Trauert die Gräfin um ihre Tochter? Nein! Warum also war sie irr an dem Morgen nach jener Nacht? Nicht, weil die Tochter tot war! Es mußte etwas Anderes sein! Seht Ihr?

Das Volk: Laßt sie schweigen! – Genug der Worte! – Genug des Betrugs!

Johanna: Laßt mich! laßt mich! Stört mich nicht! Sie lag früh ohnmächtig an der Leiche – die Komtesse war schon viele Stunden tot – wie kam sie zu der Toten? Hat sie sie etwa am frühen Morgen aufgesucht? Glaubt Ihr das? Oder war sie durch den Schrei der Sterbenden hingelockt worden? Dann hätten Andere den Schrei auch gehört! Seht Ihr? Seht Ihr? Oh, wartet nur! So war die Gräfin, bevor man schlafen ging, bei ihrer Tochter! Ja, man hat gehört, daß Maria sagte: man müßte die Komtesse erschlagen – doch, zu wem sagte sie's? Zur Gräfin! Seht Ihr: die Gräfin war mit im Spiel! Doch nein, wartet, wartet: worauf sagte das Maria? Auf die Frage der Gräfin: wo ist meine Tochter! Sie wollte also, bevor man schlafen ging, zu ihrer Tochter gehen! Seht Ihr, seht Ihr, ich weiß es, ich weiß es, die Gräfin war's!

Ein Mann: Wann wird's genug sein mit den Worten?

Der erste Richter: Schweiget! Laßt Johanna sprechen!

Johanna: Oh, sie war sehr unglücklich, an jenem Tag ging sie von Einem zum Anderen und fragte immerzu: liebst Du mich? liebst Du mich? und niemand fand sich – wer blieb ihr noch? So geht sie denn zu ihrer Tochter – und dann, und dann geschah's! Maria war es nicht! – Vielleicht hat sie ihre Tochter gefragt: ich fliehe zu Dir, liebst Du mich? und die Komtesse hat gesagt: laß mich schlafen! Und dann geschah's! und dann geschah's! Maria war es nicht!

Maria: Johanna, Johanna, was sprichst Du!

Johanna: Laß mich, Maria! Ich sehe Alles, Alles weiß ich! Unglücklicher Tag, Not der einsamen Seele, und die Gräfin, von Allen verlassen, trotzt: ich muß, ich muß es hören, daß mir jemand sagt: ich liebe Dich – und schleicht, mit der Kerze in der Hand, zu ihrer Tochter: ich fliehe zu Dir, sag mir, daß Du mich liebst! – Laß mich schlafen! – und Alles reißt in ihrer Brust, und sie stürzt sich auf sie und würgt sie, würgt sie fassungslos – oh, ich weiß Alles, Maria! – würgt sie, würgt sie, bis sie tot ist! Und dann sinkt sie hin. Am nächsten Morgen ahnt sie kaum, was da geschah, und ist betäubt, und da kommt Maria: ich brauche nichts, als Unglück – Sie aber, Frau Gräfin, sollen noch glücklich sein, ich will's auf mich nehmen! Und sie nahm es auf sich! Die Gräfin war's! Maria war es nicht!

Das Volk: Sie lügt! – Sie spricht irr! – Die Gräfin war's! – Wie können wir es wissen! – Verurteilt sie! – Nein! Sprecht sie frei!

Der erste Richter: Schweiget!

Der zweite Richter: Das leichtgläubige Volk will sich betören lassen!

Der dritte Richter: Wir müssen ihre Worte auf die Wahrheit prüfen.

Der zweite Richter: Überflüssige Arbeit!

Der dritte Richter: Die Gerechtigkeit erfordert's!

Das Volk: So ist es! – Gerechtigkeit! – Narrheit! – Sie war's! – Sie war es nicht!

Johanna: Sie war es nicht! Die Gräfin war's!

Der erste Richter: Schweiget!

Der zweite Richter: Daß wir der Narrheit unter die Arme greifen?

Der dritte Richter: Daß wir's erkennen, ob es Narrheit ist!

Das Volk: So ist es! – Prüfet Alles! – Sie war es! – Narr! Sie war es nicht! – Tod gegen Tod! – Daß man Dich statt ihrer köpfen wollte!

Der erste Richter: Schweiget!

Jakob.

Jakob: Gericht? Bravo! Gericht! Narren! Kindische, einfältige Narren! Schämt Ihr Euch nicht dieses häßlichen Spiels? Glaubt Ihr an Euch? oder tut Ihr nur so und spielt nur – das Gerichtsspiel? Schamlose Menschen! Und sie versinken nicht in die Erde!

Der erste Richter: Wer bist Du?

Jakob: Ich bin Einer aus dem Volk! – Sagt's nicht, brüllt's nicht eine dröhnende Stimme in Euch, wie dumm Ihr seid? Wer ist schuldig? Wer ist schuldlos?

Der dritte Richter: Das wollen wir prüfen.

Jakob: Soll ich Euch sagen, wer wahrhaft schuldig ist? Ich aber sage Euch: es ist die Welt nicht wert, daß sie besteht, und das Leben nicht wert, daß es atme!

Das Volk: Bei Gott! – So ist es! – Alles ist bejammernswert!

Jakob: Seht Ihr? Denkt Ihr so? Fühlt Ihr so? Nun denn! Wenn Einer einen Mord begeht, so laßt ihn morden und stört ihn nicht darin! – Ich weiß nicht, ob diese beiden Frauen, wie Ihr es nennt: schuldig sind, doch wenn sie's sind, so sind es arme Wesen und sind verurteilt, es zu sein!

Der dritte Richter: Darnach ist hier nicht die Frage. Das wartet des Spruches aus einem anderen Gericht!

Jakob: Ich aber warte nicht, denn immer ist darnach die Frage! Wie kannst Du anders leben, als darnach zu fragen? – Sie sind gewiß nicht gern, wie sie sind, und sie beherbergen den Teufel gewiß nicht mit Vergnügen! Doch er sitzt in ihnen. Schön, er sitzt in ihnen! Und sie haben nicht die Kraft, ihn zu vertreiben. Schön, sie haben nicht die Kraft! Das sind Tatsachen, traurig, doch unumstößlich! Doch, was hat der Mensch mit diesen Tatsachen gemein?

Das Volk: Wer ist der Mann? – Wer ist es?

Jakob: Nein, Ihr Leute, wir wollen es anders machen! Wir wollen den Dingen auf den Grund gehen und wollen über jene Tatsachen zu Gericht sitzen: daß in des Menschen Brust der Teufel sitzt und daß er nicht die Kraft hat, ihn zu verjagen! Hier stehe ich und habe gesehen und habe gesehen! und habe gesehen, daß die Welt erbebt und erdröhnt, und nun kommt das Ende: wir wollen aufhören, Menschen anzuklagen, und ich, uralter Mann, ich klage das Schicksal, Gott, die Vorsehung an!

Das Volk: Hüte Dich! – Wer bist Du? – Was wagst Du, furchtbarer Mensch!

Jakob: Seid Ihr empört? Glaubt Ihr an Gott? Nun denn! So ist er unzulänglich! Ich klage ihn an, daß er den bösen Geist in uns sitzen läßt, uns nicht die Kraft gibt, ihn zu verjagen, dafür uns aber die Dummheit verliehen hat, Menschen zu beurteilen, Menschen zu verurteilen, daß er uns so gemacht hat, wie wir sind, kurz, daß Alles so ist, wie es ist! Ja, er thront da oben und sieht auf uns hernieder, doch dort, meine Freunde, sitzt der Teufel und schielt auf uns herab! Jawohl, sie raufen um unsere Seelen, vielleicht aus angestammtem Haß, vielleicht zum Spiel, und vielleicht weiden sie sich an unserem Jammer, wie wir, bald hin-, bald hergezogen, durch unser niederträchtiges Leben taumeln – jawohl, sie raufen um unsere Seelen, doch wo toben ihre schwarzen und ihre weißen Heerscharen, wo toben ihre Engel und Dämonen? In des Menschen Brust! Seht Ihr! Wer ist des Kampfes Gegenstand, nichts Anderes, als dieses Kampfes Gegenstand? Der Mensch! Was ist der Schauplatz dieses Kampfes, nicht mehr, als Schauplatz dieses Kampfes? Der Mensch! Wer ist der Preis in diesem Kampf, nichts mehr, als Preis in diesem Kampf? Der Mensch! Wer hat die Qual, wer blutet in dem Kampf? Der Mensch! Seht Ihr? Das ist der Mensch!

Das Volk: Wehe uns! – Er soll schweigen! – Wehe uns! – Was will er? – Gott ist gut, der Teufel ist bös! – Er soll schweigen! – Wehe uns!

Jakob: Sie sind nicht schuldig! Niemand ist schuldig! Was wollt Ihr von diesen Frauen?

Johanna: Sprich nicht von uns!

Das Volk: Sie sind schuldig! – Schweig!

Jakob: Alles Leben ist schlecht!

Das Volk: Es ist nicht wahr! – Leben! Leben!

Jakob: Wollt Ihr für immer, wollt Ihr für ewig Spielzeug und Fangball der höheren Mächte sein? Ewig hin- und hergezogen, ewig hin- und hergezerrt? Glaubt Ihr an höhere Gerechtigkeit? Und wer beweist es mir, daß diese höhere Gerechtigkeit nicht nur Dummheit der höheren Gewalt ist? Alles Leben ist schlecht!

Johanna: Und doch, trotz Allem: ich will so sein, wie ich bin, und will das Leben, wie es ist!

Jakob: Und nun ist es Zeit, daß wir die Folgen daraus ziehen! Wir wehren uns und wollen die uns zugewiesene Rolle nicht mehr weiterspielen! Wir wollen den höheren Mächten einen Strich durch die Rechnung machen und wollen ihnen ihr Spielzeug wegnehmen, – was sind sie ohne uns! Wir erklären allen ober- und unterirdischen Mächten den Krieg! Der Mensch verschwinde! Das Leben verschwinde, vertilgt alles Leben! Retten wir uns! Werft Euch in die Flüsse, stürzt Euch in die Flammen! Tötet einander! Tötet Euch selbst! Revolution gegen Gott! Massenselbstmord!

Das Volk ( tumultuarisch): Wehe uns! – Tötet ihn!

Jakob: Sagt, daß diese Frauen nicht schuldig sind! Und daß sie gut getan haben!

Das Volk: Tötet ihn! – Steinigt ihn! – Sie sind schuldig! – Das Urteil!

Der erste Richter: Mein Urteil: sie sind schuldig. Sie haben gestanden. Mein Urteil: der Tod!

Maria: Und so soll's sein!

Johanna: Ja, so soll's denn sein!

Das Volk ( heulend): Ja! ja! – Der Tod!

Jakob: Hört mich doch! hört mich doch!

Das Volk ( mit Steinen nach ihm werfend): Schweig! – Schweig! – Tötet ihn!

Jakob: Bedenket! Bedenket! Spürt Ihr's denn nicht? Von Gott erfüllt zu sein und doch ein Schuft zu bleiben, von Wellen der Ewigkeit bespült zu sein, und doch nur dumm zu bleiben, Alles zu sein und nichts zu sein – das ist auf dieser Erde: Mensch sein!

Das Volk ( immer mit Steinen werfend): Schweig! – Tötet ihn!

Jakob ( sich vor den Steinwürfen verbergend): Menschen! Menschen! Hört mich doch! Hört mich doch!

Der erste Richter: Führt sie weg!

( Maria und Johanna werden weggeführt.)

Das Volk ( Maria und Johanna nachströmend): Ja! – Weg! – Zu ihrer Strafe! – Seht, nun verkriecht er sich! – Sehen wir ihn wieder, erschlagen wir ihn! ( Ab.)

( Die drei Richter verlassen als letzte den Ort. Jakob kriecht aus seinem Versteck hervor.)

Beate und der Graf (gehen vorüber).

Beate: Ach, ich bin so müde. Kaum tragen mich die Füße, und mein Herz geht in gewaltigen Schlägen. Ich möchte immer wach sein, und doch: ich möchte immer schlafen. Doch lassen wir's! – Sag mir nochmals das Gedicht, daß Du heute nachts an mich gerichtet hast!

Der Graf ( stehen bleibend):

Keine Stunde, die uns naht,
Ist mir fremd,
Denn Hand in Hand
Durchschwebten wir Äonen!
Einst in anderen, längstvergangenen Tagen –
Haben wir einmal als Kinder
Voller Eintracht miteinander Ball gespielt?
Warst Du Castor? War ich Pollux?
Warst Du Teich und ich der Nebel?
Warst Du Stein und ich der Bach?

Ach, von jenen hellen Tagen
Blieb ein Hauch,
Ach, von jenen hellen Tagen
Blieb Gesang in meiner Brust!

Keine Stunde, die uns naht,
Ist mir fremd,
Denn in's Unbegrenzte hin
Bleiben wir Freund!

Dann wieder einst in andern Tagen
Bist Du Wind und ich die Blüte,
Bist Du Strahl und ich das Blatt,
Dann wieder einst an blauen Tagen
Werden wir in süßer Eintracht
Als Schwalbenpaar von hier nach Japan ziehen –
Aus Ewigkeiten in die Ewigkeiten
Wandern die Gefühle,
Und da Du bist,
Faßt, ewig zu sein, mich unendliche Lust!

Beate: Oh teurer, teurer Freund! ( Sie gehen weiter.)

( Jakob sinkt in die Kniee.)

Ende des vierten Aktes.

Fünfter Akt

Erste Szene

Im Freien.

Volk (sich an einen Zaun herandrängend).

Ein Mann: Was gibt es hier?

Ein Zweiter: Zwei Huren werden geköpft.

Ein Dritter: Was gibt es hier?

Der Erste: Zwei Huren werden geköpft.

Der Dritte: Recht so!

Jakob und der Priester (der fünfte Verbrecher).

Der Priester: Fliehen Sie! Wenn das Volk Sie sieht und Sie erkennt, sind Sie des Todes!

Jakob: Wohin soll ich fliehen? Überall sind Menschen! Überall ist Erde!

Der Priester: Und überall ist Gott!

Jakob: Warum aber – hilf mir! – warum ist er so blutrünstig?

Der Priester: Die Menschen sind's!

Jakob: Warum aber, warum sind sie's?

Der Priester: Weil sie seiner nicht immer und nicht ganz teilhaftig sind! ( Ab.)

Jakob: Ich bin verloren!

Ein Mann: Dort stehen sie schon.

Ein Anderer: Wie stolz sie dastehen!

Ein Dritter: Als warteten sie darauf, gekrönt zu werden!

Ein Vierter: Hier kommt der Scharfrichter.

( Der Scharfrichter geht vorüber.)

Beate und der Graf.

Beate: Ich kann nicht mehr. Verzeih mir! Alles in mir ist in's Wanken geraten, und ich bin fast nicht mehr. Wo bin ich hingeraten? Ach, könnten wir noch über Wiesen laufen und durch Felder!

Der Graf: Wie ist Dir?

Beate: Mir ist wohl, doch ich spüre schon den Flügelschlag des Todesengels und höre sein Rauschen. Sieh, ich werde sterben. Mir ist, als hätte ich keinen Körper mehr und als verginge ich in's All.

Ein Mann: Da gehen sie! Wie sie hinschreiten! Als wär's der Weg zum Paradies!

Eine Frau: Wie leicht und selig sie über die Erde schweben! Und ihre Blicke strahlen!

Ein anderer Mann: Welch ein Glanz in ihren Zügen! Als wären sie schon von einer anderen Welt!

Eine andere Frau: Wahrlich, sie sind, bevor sie sterben, schon im Jenseits!

Beate: Was gibt es dort? – Sieh, nun sinke ich hin, ich kann nicht mehr und halte mich nicht mehr, und doch war's herrlich! Ach, wie schön! Nochmals! Nochmals! – Trauerst Du? Trauere nicht! Juble! Herrlich die Qual, herrlich der Jammer, herrlich der Schrei, denn er wurde erhört, und es kam die Stunde, da ich Dich halte. – Nochmals! Nochmals! – Ich danke Dir, mein Freund, ein Anderer hätte aufgehört in all' den Jahren, mich zu lieben, Du aber – ja, ich danke Dir, mein Freund! – Und nun, an der Grenze zweier Welten, wie fühl' ich mich groß! Unendlich der Jammer, unendlich das Glück! Ein Ganzes bist Du, Welt, ein Rundes, und Alles, Alles war mein! Alles ist gut, auch der Kummer ist gut! – Nochmals! Nochmals! – Es lebe das Chaos, das blutende Herz, es klinge der Gesang der Menschenseele und Aufschrei donnernden Gefühls! Alles, alles war mein! Und nun neigt sich's zur Nacht, zur sanften Dämmerung, und es durchleuchten mich nur noch die matten Strahlen einer untergehenden Sonne. Nebel umflattern mich, Schleier umwallen mich, ferne Bilder steigen auf und steigen nieder; und irgendwo und überall ertönt in mich, ertönt aus mir ein Klang, und es ist mir, als sänge die Erde in meiner Brust ihr großes Lied. Ich höre das Rauschen des herbstlichen Waldes, höre ferne Glocken läuten, und der Abend senkt sich nieder über ein Tal. Wir gehen unter'm dunklen Laub der Bäume, sanft weht der Wind, ein Vogel ruft. Und Du bist mein Gatte und mein Freund. – Und jener Mensch? Ich kannte ihn. Komm näher, her zu uns!

Jakob: Mir graut vor Dir und vor der ganzen Welt! Was ist in Dir? Was macht das Sterben Dir so leicht?

Beate:

Daß ich von seinem Dasein weiß!
Dies Wissen war ja meine Seele! –
Und nun lebt wohl! Ich muß mich von Euch wenden.
Und nun lebt wohl!

Der Graf:

Beate! Beate! Bleib bei mir! – Und sie entgleitet mir!
Beate! Beate, bleib bei mir! Hörst Du mich nicht?
Was bin ich ohne Dich!

Ein Mann: Nun betet der Priester.

Beate:

Wir fliegen hin durch die Räume der Welten,
Zwischen Bergen und Wolken fliegen wir hin!
Wir segeln hin am Blau des Himmels,
Zwischen Sternen und Monden segeln wir hin!

Der Graf: Beate! Beate! Bleib bei mir!

Ein Mann: Nun steigen sie hinauf.

Johannas Stimme:

So sterb' ich denn! Und es ist gut so!
Ich hab' mich nicht geschaffen, wie ich bin,
Und soll ich sterben, sterb' ich denn,
Maria, mit Dir!

Beate:

Und alles ist Licht und Alles ist Farbe,
Und überall ist Lied und Melodie.
Nun kehren wir ein in andere Sphären –
Du bist bei mir. Ich liebe Dich. ( Sie stirbt.)

Johannas Stimme: Maria!

Marias Stimme: Johanna!

( Stille.)

Der Priester.

Der Priester: Nun? Jakob? Du?

Jakob: Wie wird mir!

Der Priester: Knie nieder!

Jakob ( kniet nieder).

Der Priester: Bekreuzige Dich!

Jakob ( bekreuzigt sich).

Der Priester: Falte die Hände!

Jakob ( faltet die Hände).

Ein Mann: Es ist geschehen.

Der Priester: Sag: Amen!

Jakob: Amen!

Ende des Dramas.

Verwandlung:
Epilog

Wüste.

Jakob.

Jakob ( allein):

Was ist mit mir? Wo finde ich mich wieder?
Verjagt und ausgesetzt, gehaßt von jenen,
Die ich zu heilen, hergekommen bin!
Wie bin ich doch gestürzt! Wie bin ich klein
Vor einer einzigen Träne einer Frau!
Was ist geschehen? Was war's?
Hat sich die Welt in diesem Kopf
In falschen Farben widerspiegelt?
Hat doch die Welt in diesen Kopf
Den richtigen Schatten nicht geworfen?
So hätte sich dies Leben voller Übermaß und Galle
Für einen unvernünft'gen Haß versprüht?
Und sie fluchen mir! Und sie steinigen mich!
Oh, harte, undankbare Welt,
Die Du die ganzen Fluten Deines Jammers
In diese Brust entströmen läßt!
Oh, mitleidslose Welt, und keinen Dank!
Und sie fluchen mir! Und sie steinigen mich!
Eh' sinkt in mir die Welt in Schutt und Asche,
Wenn irgendwo ein Kind vor Hunger schreit,
Eh' eine armselige Träne rinnt,
Wenn diese Welt in Schutt und Asche sinkt!

Graf Umgeheuer (mit einem Sack auf dem Rücken).

Jakob:

Was willst Du, Mensch? Und wohin wandelst Du?

Der Graf:

Ein Mensch! Ach, sieh! ein Mensch in dieser Wüste!
Ich hätte nicht gedacht, ein lebend Wesen
Hier zu finden! Wohin ich gehe? Ach,
Ich weiß es nicht, mein Freund! Ich gehe hin,
Ich gehe hin mit meiner Last der Trauer,
Ich gehe hin und weiß nicht, wo ich lande.
Sieh, was ist der Mensch?
Im besten Fall ein groß Gefühl!
Ich traure, traure, tue nichts, als das.
Sie schwebt mir vor, sie schwebt um mich,
Und ich bin nichts, als Träne und als Wehmut!
Ach, daß dies Leben doch vorüber ist,
Und ich es nicht nochmals zu ihren Füßen,
Wie ich es sollte und wie ich's versäumt,
Zu ihren Füßen nicht verseufzen darf!
Nun ist sie fort, und ich bin nichts als Stöhnen,
Bin nichts als Sehnsucht, als ein Hauch von ihr!
Warum ist doch der Mensch nicht jeden Augenblick,
Nicht jeden Augenblick in seinem Leben
Gesegnet und begnadet!

Jakob:

Warum! Warum!

Der Graf:

Warum erkennt er sich nicht selbst und seinen besten Teil!

Jakob:

Warum!

( Der Graf will weiter gehen.)

Jakob:

Wohin?

Der Graf:

Nach Osten, nach Westen, zum Meer, zu den Bergen,
Ich schweife hin, wie der Wind durch die Welt,
Ach, ich bin nirgends und bin überall,
Bin heimatlos und aufgelöst im All!
Ich bin ein Liebeslied auf abendlichen Feldern,
Bin die Umarmung eines Bräutigams,
Das hingehauchte Wort, das Stammeln eines Liebenden,
Bin die Musik bei einer Hochzeit
Und bin die Träne am Rande eines Grabs!
Hier Blumen, Erde, Knochen
Aus dem Grabe meiner Frau,
Die ich mit diesen Fingern mir
In einer dunklen Nacht herausgekrallt
Aus der Verwesung Gruft!
Und hier – als Flöte fein geschnitzt –
Das Schienbein meiner Frau!

Nach Osten, nach Westen, zum Meer, zu den Bergen,
Vom Morgen zum Abend, durch Tag und Nacht!
Ach, es ist schön, mein Freund, so hingegeben sein!
Man fühlt sich wohl, man fühlt sich süß,
Man fühlt sich eingehüllt in's Leid,
Vom Traum begleitet, von der Sehnsucht hingetragen
Zu unendlichen Gestaden –
So geh' ich weiter und immer weiter,
Vom Unglück angerührt, mit einem Hauch von Glück,
Ein trauriger, fröhlicher Wanderer,
Und wenn's mich überkommt,
Dann spiel' ich auf dem Schienbein meiner Frau
Zärtliche Melodien!

( Er geht weiter.)

Jakob:

So schmachtet zart der Leidende hinüber,
Wenn in dem Zürnenden der inn're Teufel wühlt.
Es löst sich auf der Schrei der Erde,
In jeder Brust ist süße Melodie!
Und doch! Und doch! Der Kampf bleibt Kampf,
Der Schmerz bleibt Schmerz
Und das Verbrechen bleibt verbrecherisch!
Ich aber will den Menschen nicht
Voll Kampf und Schmerz und voll Verbrechen sehen!
Ich will ihn selig sehen und gut!

Eine Stimme:

Oh Jakob, Du mein Feind,
Du Schrei der Erde,
Oh Jakob, Du mein Feind, wie lieb' ich Dich!
Aufsteigt die Klage hin in's All,
Aufsteige sie,
Solang die Erde menschlich ist!
Solang die Erde menschlich ist,
Bleib Du lebendig, ewiger Protest!

Beate, Maria, Johanna (schweben auf einer Wolke nieder).

Der Graf:

Beate! Maria! Johanna! Beate! Welch herrlicher Traum!

Beate:

Wir schweben nieder, oh Geliebter, zu Dir her.

Der Graf:

Und ihre Stimme! Der Klang ihrer Stimme! Welch seliger Traum!
Beate! Beate! Seh' ich Dich nochmals? Seh' ich Dich wieder?
Wie hätt' ich das jemals, jemals gehofft!

Beate:

Wir schweben nieder, oh Geliebter, Dich zu holen.

Der Graf:

Beate! Beate! Welch herrlicher Traum!

Beate:

Du warst verirrt, nun findest Du nach Haus.

Der Graf ( hinstürzend):

Oh Du meine Schwalbe aus paradiesischen Zeiten,
Oh Du mein Kind, oh Du mein Herz,
Du bist mir entglitten in unendliche Weiten,
Du bist mir entglitten himmelwärts!
Ich bin Dein Priester, ich bin Dein Diener!
In unendlicher Liebe denke ich Dein!
Oh Du, meine Freundin, mein Glück und mein Leben,
Du meines Daseins einziger Stern!
Wie seh' ich Dich, Engel! über mir schweben!
Wie seh' ich Dich nah! wie seh' ich Dich fern!
Ich bin nur Dein Schatten, zur Erde geworfen!
Ich bin nur Sehnsucht, Beate, nach Dir!
Oh Du, mein Schicksal, Himmel und mein Sternenzelt,
Von Deinem Schein beleuchtet,
Ich wandle unter Dir, Du meine ganze Welt,
Von Dir erleuchtet!
Oh Du, des Jenseits süße Melodie!
Oh Du, des Jenseits süßes Bild!
Als Tränenstrom fließ' ich vor Deinen Füßen,
Zu Deinen Füßen in unendlicher Reue
Denke ich Dein in unendlicher Treue!

( Er bleibt regungslos.)

Jakob:

Und wie es war, und wie es ist –
Es ist die Erde allerorten noch voll Wunden!
Weh mir! Weh uns, daß sie es ist! –
Ich aber will auf dieser Erde stehen
Und schreien und klagen,
Bis sie ein Gott in einen Abgrund stürzt –
Oder sich ihrer erbarmt!
Will schreien und klagen,
Bis sich der Mensch zum Himmel erhebt –
Oder zertreten wird!

So mögt Ihr, meine armen Freunde, gehen,
Und mögen Euch die anderen Welten
Das Unglück dieser Welt in Übermaß vergelten –
Ich aber bleibe stehen! Ich bleibe stehen!

( Pause.)

Maria und Johanna:

Schweben wir, schweben wir, schweben wir auf,
In unsere ewige Heimat zu kommen,
Befreit von allem irdischen Gefühl,
Sind wir vom Himmel aufgenommen.
Vom Irrtum des Vergänglichen
Uns Menschen zu befreien,
Wollen uns die wahrhaft Lebendigen
Wahrhaftes Leben verleihen!

Beate:

Es ist des Menschen Herz ein Paradies,
Und diese Welt nicht des Gerechten und des Klugen,
Wer hier des Hasses ist, ist schon vernichtet,
Wer hier zu richten kommt, ist schon gerichtet,
Wenn großer Liebe Paradiese werden!
So ist die Welt in ihren Fugen!
Die Gottheit strahlt! Die Gottheit lebt
In jeder Brust auf Erden!

Die drei toten Frauen:

Keine Seele ist verloren,
Jeder Mensch ist auserwählt,
Jeder Mensch ist auserkoren,
Trotz Teufeln und Dämonen,
Daß er dem Göttlichen sich vermählt!

So schweben wir, schweben wir, schweben wir auf,
Unsterbliche Seelen, unsterblich in Äonen!

( Sie entschweben mit dem Grafen.)

( Jakob bleibt aufrecht stehen.)


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