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Siebentes Kapitel.
Feindes Hand

Wer lange auf Leichensteinen liest, büßt das Gedächtnis ein. Der gestirnte Himmel über ihm, der krähende Hahn, das erste Morgengrau, die ihn alle noch auf dem gesprenkelten Marmorsteine liegen sahen, schienen die Wahrheit dieser Moral aus der Ammenstube zu bekräftigen.

Verstört richtete er sich auf, er schüttelte den Traum ab. Vergebens; es war alles Wahrheit, der harte Marmor, die goldene Schrift, die Zypressen, die Trauerbirken, die kalt blickenden Todesengel. Der Morgenwind durchschauerte ihn wie ein Fieberfrost. Es schlug sieben von den Türmen, sie trommelten die Reveille drinnen. Was war ihm noch Berlin? – Sein Vater war nicht sein Vater, sein Vaterhaus nicht sein Vaterhaus, die einzige, die ihm etwas war, war nicht mehr. Fortgespült der Boden, auf dem er das stolze Gebäude seiner Träume aufrichten, verschwunden die Heimat, in der er einst ausruhen wollte. Fort war die Stärke, die er im Feldlager errungen, die Phantasie des Knaben war wieder Meisterin geworden über den Mann. Sie, die stolze Paläste dem Bettler aufbaut, wenn in den Hut ein größeres Silberstück klingt, stürzt in derselben Schnelligkeit dem Reichen seine Türme und Schlösser ein, sobald ein Unwetter, an das er nicht gedacht, nur in das Strohdach seiner kleinsten Scheuer einschlägt. War er so verwaist, so heimatlos, wie er sich in dem Augenblick dünkte? War Friedrichs Feldlager, seine zweite Heimat, untergegangen, waren seine Hoffnungen tot, der wunderbare Wohltäter ihm verschwunden, war die nicht mehr, deren teure Versicherungen auf seiner Brust ruhten? Es schien, als sei das alles Staub, Dunst, Lumpen in einer einzigen Nacht geworden, und vor ihm kein Leben voll Gefahr und Lust, dem die Jugendbrust des Mannes laut und freudig entgegenschlägt, sondern eine aschgraue Verwesung – so schien es, wer ihn sitzen sah, in die graue Herbstdämmerung regungslos starrend. Und er war doch noch reich, er hatte ein Vaterland, für das er schwärmte, einen König, den er vergötterte, teure Angehörige, deren Zuneigung er sich errungen, eine Geliebte, die, den Stolz überwindend, bekennt, daß sie ohne ihn nicht leben kann, er hatte selbst ein stolzes Bewußtsein; er war jung, gesund, kräftig, und was der Leichenstein ihm hier als verloren nannte, das hatte er ja längst nicht mehr besessen – die teure Mutter und den Glauben an sein Vaterhaus. Er war ein Mann, und doch konnte der Eindruck des Momentes ihn niederschlagen, wie der Blitz die Eiche mit hundertjährigen Wurzeln bis auf den Grund zersplittert. Die steinernen Griechengötter sahen ihn verwundert an, so mißbilligend, wie besonnene Männer einen, der nicht ihre Nervenstärke teilt, und den die Phantasie, bald eine wohlgesinnte Fee, bald eine Furie mit Schlangengeißeln, jetzt den Bebenden in den bodenlosen Abgrund stürzt, jetzt den Seligen in den siebenten Himmel trägt. Und daß die Zerschmetterten, daß die Gehobenen doch Männer bleiben, mögen sie so wenig fühlen, als die steinernen Götter mit den hohlen Augen und ungelenken Gliedern fühlten, was Etienne bewegt.

Er sprang auf und drückte die Hand aufs Auge, er schüttelte den Nachttau vom Rock und die Träume von seiner Seele. Was wollte er noch in Berlin? – Ein Mann sein. Der Augenblick mußte ihm lehren, wie er zu handeln hatte: er war es seinem Könige, seiner Sache, sich selbst schuldig, dort aufzutreten als Bote, Lauscher, Vermittler. Die bitteren Empfindungen, die er zu verwinden hatte, durften um keinen Moment ihn in dem hindern, was er Pflicht nannte.

Ohne Schwierigkeit kam er mit den Marktleuten durch das Tor. Vor zwei Jahren hatte er die Österreicher verlassen, um sie heute beim ersten Schritte durch das Tor seiner preußischen Vaterstadt wiederzufinden! Nicht so ruhig, als sie hier im nicht mehr bestrittenen Besitz dieser Torwache standen, zeigten sie sich auf den Straßen. Ihre Unzufriedenheit, daß ihnen die Russen zuvorgekommen, daß diese allein, oder doch zum größten Teil die ausgeschriebene Kontribution erhalten sollten, sowie über die zu gelinde Kapitulation mit der Stadt, sprach sich bei den Gemeinen wie bei den Befehlshabern laut aus. Man murrte hier schon in einzelnen Gruppen, dort schimpften andere, Offiziere nicht ausgenommen, auf Tottleben, indes Verwegnere bereits in einzelne Häuser drangen, sich nach einer Befriedigung umzusehen, welche ihnen die Kapitulation nie gewähren konnte. Doch boten ihnen die Wohnungen der armen Weber in diesem Quartier der Stadt die wenigste Entschädigung dafür.

Konnte Stephan noch lächeln, als er über den runden Platz am Halleschen Tore ging und auf den Mittelstein trat, von dem die Reihen der Pflastersteine in langen Radien wie Sonnenstrahlen auslaufen? Wie oft galt es hier einen Wettlauf mit seinen Spielgenossen, wer zuerst darauf stände! Versuchte es ihn doch fast, das wohlbekannte Echo zu befragen. Lauter war der Tumult, drängender das Gewühl gegen die Mitte der Stadt zu. Adjutanten sprengten umher, daß die Funken stoben; die Kosaken ritten auf dem Bürgersteig. Wo war die Reinlichkeit hin, wo die strenge Polizeiordnung, welche Friedrich Wilhelm mit unerbittlicher Strenge aufrechterhalten, wenn es ihm gleich nicht gelang, Berlin in ein Haarlem und Leyden zu verwandeln! Die Bänke und Tische der Branntweinschenken wurden auf die Straßen getragen, man biwakierte auf den Plätzen, überall zusammengestellte Waffen, zusammengekoppelte Pferde, aufgepflanzte Kanonen, Wachtfeuer; die schöne Königsstadt war in ein Lager verwandelt. Der Siegesübermut wußte nicht, wie er sich genug Luft machen sollte. Man betrachtete die Bürger, die der Parolebefehl zu insultieren verbot, als wären sie nicht da. Man wich ihnen nicht aus; die Equipagen, wo jemand noch wagte, sich darin sehen zu lassen, mußten vor einem einzelnen Kroaten ausbiegen, welcher, seine Pfeife im Munde, nicht Lust hatte, nur einen Schritt rechts oder links von der Mitte des Dammes zu gehen. Hier hatte sich ein Husar das Bett auf die Straße tragen lassen und rauchte, gespornt und gestiefelt in den Federn liegend, indes sein Kamerad nach den Tauben auf den Dächern schoß. Die Federn stäubten, das Schrot rollte von den Ziegeln, die Weiber schrien, die Soldaten lachten. Die Tauben waren außer dem Gesetz.

Die Erhitzung zwischen den Befehlshabern der beiden Völker sprach sich schon deutlich aus. Lascys wütendes Gesicht drängte sich durch die Suite des russischen Feldherrn und seine Augen sprühten Feuer gegen Tottleben, welcher keinen Augenblick über der Würde des Kriegers die feine Sitte des Weltmanns vergaß. Es gab hier Stürme, die abgeschlagen wurden, und doch, stündlich heftiger, endlich drohten zum Ziel zu kommen. Mitten unter den bebärteten, sonnenverbrannten Gesichtern der Russen und Slavonier, unter den Habichtsnasen des Südens und Augen, die iberische Glut, dalmatische Schlauheit atmeten, unter den Federhüten und behangenen Bärenmützen, die auf die Schädel treuer Söhne des österreichischen Vaterlandes und glücklicher Abenteurer drückten, welche Ruhm- und Beutelust unter den Fahnen des Doppeladlers versammelt, sah man die wohlfrisierten Scheitel, die gestickten Atlasröcke der Berliner Magistratspersonen. Ihre Rücken waren geschmeidig, ihre Zungen beredt, ihre Blicke traurig, auf ihren Brauen aber doch der Stolz, den auch der Besiegte nicht verleugnet, wenn er ein Recht hat stolz zu sein. Lascy wies ihnen den Ellbogen, Tottleben zuckte die Achseln.

Mit unermüdlicher Tätigkeit sah man einen Mann unter diesen Abgeordneten der Stadt ab und zu kommen, kein Achselzucken des russischen Generals, keine Drohungen des Österreichers schreckten ihn zurück. Er wußte sich seinen Weg zu bahnen durch die Schultern und Rücken der Adjutanten, selbst durch die Kolben der Grenadiere; wo nicht seine Überredungskunst, und der wohlwollende Ton und Blick des redlichen Mannes, da half das Gold, das er mit uneigennütziger Großmut für das Wohl seiner Vaterstadt spendete. Es war der edle Bürger, der reiche Kaufmann, der große Fabrikherr Gotzkowsky, ein Patriot, wie wenige, der seine großen Mittel würdig und wirkungsvoll zum Besten seines Königs, seines Vaterlandes, seiner Mitbürger verwandte. Die Geschichte hat seinen Namen mit unverlöschbaren Zügen in ihre Tafeln eingetragen für das, was er 1760 an Berlin tat; er sollte später auch noch für Sachsens zweite Hauptstadt derselbe rettende Engel werden, der er jetzt seiner Vaterstadt war, als der ergrimmte Friedrich seine eiserne Hand auf Leipzig legte, daß es Berlins Unglück und die verblendete Hartnäckigkeit seines Kurfürsten büße. Gotzkowsky hat sich mit dem Opfer seines ungeheuren Vermögens einen Platz in der Geschichte erkauft, die Dankbarkeit der Mitwelt hat ihn nicht belohnt; die Gerechtigkeit, die den Menschen als Menschen ehrt, sollte noch auf Preußens Throne geboren werden. Gotzkowsky starb, man sagt gebrochenen Herzens; daß sein Vermögen zerronnen war, soll ihn nicht am tiefsten gedrückt haben. Auch die Nachwelt hat ihm nicht gedankt für solche Dienste. Denn als wir neulich in Berlin von der Bühne herab seinen Namen nennen hörten, mit einem Aufruf an Berlins Bürger, da steckten die Zuschauer die Köpfe zusammen und fragten sich: wer Gotzkowsky gewesen? Ein hilfloser fünfundsiebzigjähriger Greis benutzte die patriotische Aufregung, welche das vaterländische Stück »Leonore« in Berlin hervorgerufen, und erinnerte einige Wohltäter, daß er der letzte Hinterbliebene Sohn des Wohltäters der Stadt, des Bürgers Gotzkowsky sei, der dem Altertum groß genug erschienen wäre, um ihm Statuen zu errichten, neben denen eines Schwerin und Seydlitz, auf dem Wilhelmsplatze.

Der Rausch des Sieges machte blind. Sonst hätte der junge Mann in militärischer Haltung und der schlechten, ihm nicht passenden Kleidung auffallen müssen, wie er untätig von Straße zu Straße, von Platz zu Platz schlich, bald mit untergeschlagenen Armen viertelstundenlang die Gebäude anstarrend, bald sich in die Gruppen der fremden Soldaten drängend, sie musternd, ihre Gespräche behorchend. Stolz, Mißbehagen und Wißbegier auf seiner Stirn, trat er hin, unbekümmert um den Verdacht, den er unter jedem anderen Verhältnis hätte erregen müssen. Die russischen Offiziere waren zum Teil trunken, die Österreicher waren es von Ingrimm und hielten es nicht für nötig, auf etwas anderes achtzuhaben, als daß ihnen das nicht entging, was sie als ihr Recht forderten. Sie überließen, gegen ihre Gewohnheit, die Polizei ihren Alliierten und ein Unfall, der die Russen betroffen hätte, wäre ihnen nicht so ganz unwillkommen gewesen.

Etienne hatte auf diese Weise ungehindert bis Abend die Stadt durchlaufen; er mochte in jeder Straße, auf jedem Platze gewesen, jedes Haus angestarrt haben; nur von dem einen Hause, von der einen Straße hielt ihn ein Etwas ab. Und was war dies Etwas? Waren die Feinde trunken von Siegeslust und Beutegier, die Bürger von Schreck, so war auch er in einem Taumel umhergeirrt, der ihn unempfindlich machte gegen die verwundenden Eindrücke. O wie anders hätte es ihn zu anderer Zeit ergriffen, die Fahnen der Feinde in der teuren Stadt seines Königs zu sehen, wie hätte der österreichische Zapfenstreich, der eben aus dem Schloßportal kam, sein Ohr verwundet; das Berlin war aber nicht mehr sein Berlin. Noch hatte ihm kein befreundetes Gesicht zugenickt, noch kein wohlbekannter Laut ihn getroffen, die Häuser waren anders, Paläste, wo Hütten gestanden, und doch alles tot, wüst, verlassen. Er war im Traum in der Residenz seiner Könige, in der Stadt war er erzogen; es mochte alles ja noch wie ein Traum verschwinden! Er hatte gehört, daß die Preußen sich nach Spandau zurückgezogen, er hatte gesehen, wie man Gewalt übte, Geiseln herbeischleppte, wie die Kontributionsforderungen sich mehrten, wie man Fabriken und Magazine erbrach, verwüstete, die Waffen der Bürger einforderte, um sie zu verbrennen, er sah, übermüde auf dem Strohlager niedersinkend, das er den Kosaken abgebettelt, wie sie mit preußischen Wappenschildern das Feuer anfachten, das sie vor der Nachtkälte schützen sollte. Ein Laut des Schmerzes entfuhr ihm, als der schwarze Adler auf dem weißen Schilde brach, doch nur ein Ach. Dann zog er die Mütze über den Kopf und hüllte sich in den Mantel, den der Kosak ihm gegen ein Geldstück für die Nacht abgetreten, und überließ die Linderung seines Schmerzes dem Sorgentöter Schlaf, der schnell seine lange vorenthaltenen Rechte ausübte. War es, daß lange Gewohnheit, unter freiem Himmel sein Nachtlager zu suchen, oder die Scheu, an ein Haus zu klopfen, oder die Furcht, sich zu verraten, oder was sonst ihn die Lagerstätte der Kosaken wählen ließ, der Abgehärtete schlief fester auf dem Steinpflaster Berlins, als er sich entsann, je als Kind in dem weichen hochgetürmten Bette seines väterlichen Hauses geschlummert zu haben.

Er hatte geträumt von seiner Mutter. Sie kniete vor ihm, sie sah ihn wehmütig an; dann schüttelte sie mit dem Kopfe, stand auf und winkte ihm. Ihn dünkte, sie halte einen Brief in der Hand, aber als er aufsprang, versank sie in eine Nebelgruft und die Gestalt zerging. Es schiffte ein Mann in einem Kahne über die Spree, Stephan warf mit einem Stein aus dem Fenster nach ihm, er traf, der Mann sank blutend nieder, es war sein Bruder Gottlieb, und der ihn unterstützte, ihm half ans Ufer steigen, war sein alter Vater. Stephan wollte ihnen mit Herzensangst nacheilen, aber er war mit Fußschellen an den Boden gekettet. – Er war wieder ein Kind, er zankte sich mit einer Spielkameradin. Er schlug nach ihr in der Wut. Sie weinte und sagte, sie wolle es der Mutter klagen. Da fiel er ihr um den Hals und bat sie, es doch nicht zu tun. Und wie sie sich küßten, wuchsen sie und wurden immer größer, bis es Eugenie war. Doch auf einmal stieß sie einen Schrei aus und es war nicht Eugenie. – Die Jungen spielten und lärmten auf der Straße, er unter ihnen, sie jagten und schlugen nach etwas, es war der Adler, den die Russen gestern im Wachtfeuer verbrannt. Der Vogel erhob sich aus den Flammen, noch flatternd mit gelähmten Flügeln. Kreischend stürzte die Brut ihm nach, die Kinder aber waren Kosaken, sie hüpften wie die Frösche, sie hoben sich wie Heuschrecken, sie pickten mit den Spießen nach ihm. Die Picken wurden lange, krumme Schnäbel, die Brut wurde zu Raubvögeln, der Vogelkrieg stieß in die Luft. Der Adler wehrte sich verzweifelt, aber er wurde matt. Sie kreischten und schrien, die Federn stäubten. Mit brustsprengenden Herzschlägen sah Etienne dem aufsteigenden König der Lüfte nach, denn immer dichter um ihn kreisten die Reiher und Habichte – da stießen sie hoch oben über dem Fürstenhause zusammen, der Adler schien verloren und der Träumer – erwachte.

Es war ein klarer Herbstmorgen; über ihm das helle Blau, durchstrahlt von der Frische des jungen Tages. Das Morgenrot beschien die grauen Zinnen des königlichen Schlosses, das stolz seinen kolossalen Bau über die niedrige, noch dämmernde Häusermasse erhob. Umher schlief es noch, selbst die Wachen schienen, auf ihre Gewehre gelehnt, zu träumen, kein Lärm des Marktes, keine Waffenschmieden, keine rollenden Wagen, kein Staub; nur das eintönige Klappern der entfernten Mühlen. Die Brust fühlte sich gehoben, das Blut pulsierte freier, die bösen Träume waren fort, die Kosaken schnarchten und ein schöner Adler wiegte sich mit seinen Fittichen in dem durchsichtigen Luftmeer. Er trank den Sonnenstrahl und schwebte über die goldenen Zinnen des Schlosses im ruhigen Fluge, bis er, dem Auge unkenntlich, ein schwarzer Punkt, in der Luft verschwand.

Etienne, wenn er späterhin von seinem Aufenthalte in Berlin erzählte, unterließ nie, wenn er an diesen Punkt kam, hinzuzusetzen, der Adler könne doch auch noch ein Teil seines Traumes gewesen sein. Denn die Naturkundigen zweifeln stark daran, daß große Adler sich bis in die Ebenen von Berlin verirrten, namentlich zu einer Zeit des Kriegsgetöses. Dagegen behauptete er hoch und teuer, ein Adler, den er als Knabe 1740 über den Straßen von Berlin schwebend erblickt, verfolgt von allerhand Raubtieren niederer Gattung, sei ein wirklicher großer Steinadler gewesen. Wie dem auch sei, gestärkt, frisch, mutig stand er auf, ließ dem Kosaken den Mantel zurück und machte sich auf den Weg. Noch begegneten ihm wenig mehr als einzelne Reiter, Schildwachen, Boten, Milchverkäuferinnen, nur die österreichischen Kompagnien sammelten sich hie und da vor den Wohnungen ihrer Hauptleute. Er trat in eine Straße, die er gestern nicht berührte, er trat vor ein Haus, zu dem niemand ihm den Weg gewiesen, und er hatte ihn doch in zwanzig Jahren nicht vergessen. Die Fensterladen waren geschlossen, Spinngewebe überzogen die Kellerlöcher und das Gras drängte sich durch die Ritzen der steinernen Stufen. Die Tür war zu, doch steckte der Schlüssel von innen; also war das Haus bewohnt, aber wie er auch das Ohr anlehnte, es war totenstill darin. Niemand atmete mehr in dem Hause, der seinem Herzen teuer war, aber es schlief etwas darin, mehr als ein lebendes Wesen, ein Geheimnis, und er zitterte, es durch den Klopfer zu wecken. Wie oft hatte er gestanden wie jetzt, wie oft mit gepreßtem Atem gehorcht, ob es die Treppe herunter, den Flur herauf kam, wie oft die Schwelle verflucht, weil seine Sohlen daran klebten, wenn er in Todesangst entfliehen wollte – ach, immer nur im Traum; heute stand er wirklich, lebendig, wachend auf dieser Sandsteinschwelle, an der braun angestrichenen Eichentür, er hielt den stählernen Klopfer gefaßt und wagte nicht, anzuschlagen.

Es kamen zwei Leute die einsame Straße herauf, beide alt, beide strengten sich an, schnell zu gehen. Es brauchte nicht seines Seherblicks, um in dem einen den Mann zu erkennen, der ihm bis jüngst noch als Vater galt. Auch der Mann neben ihm war ihm nicht ganz unbekannt, denn zwanzig Jahre hatten den alten Stadtphysikus, der ihm und dem Bruder manches Loch im Kopfe verbinden müssen und alle Monate der Mutter zur Ader ließ, nicht so umgewandelt, wie die Stadt, in deren Dienst der Mann geschworen hatte. Er war nicht älter wie damals, denn der krumme, gebückte Sonderling war nie jung gewesen, er trug denselben abgeschabten Rock, die Nase war noch ebenso rot, die Locken der Perücke so steif und kraus und er keuchte wie vor zwanzig Jahren. Etienne konnte erwarten, daß der alte Doktor Zierlein ihn noch beim Ohre fassen, ihn Patron nennen und mit der Hand ihm den Kopf streicheln werde; denn er gehörte zu den bejahrten Leuten, welche die Eindrücke ihrer Jugend so konserviert wie ihre Kleider ins Alter mit hinübernehmen. Er statuierte keinem Wachstum. Wen er als Knaben gekannt, der blieb für ihn Knabe, und Männer in Amt und Würden ließen es sich von dem allwärts beliebten Familienfreunde gefallen, noch mit Du angeredet zu werden. Die Gewohnheit gab ihm viele Rechte, und in der Meinung der Bürger war er ein geschickter Arzt und weit den jungen Windmachern vorzuziehen, die zierlicher gingen, redeten und Rezepte schrieben, als der alte Zierlein. Die alten Männer lenkten quer über den Fahrweg nach dem Hause. Jetzt mußten sie ihn sehen. Der Doktor kicherte aus seiner heiseren Brust und zeigte mit dem langen Rohrstock nach ihm. Etienne mochte, er konnte ihnen nicht entgegentreten. Wieder war er nicht Mann, sondern der nervöse Phantast. Das Blut stieg ihm zu Gesicht, die Pulse stockten. Er ließ den Drücker los, sprang die Schwellenstufen herab und erst an der Ecke, als es zu spät war, schämte er sich und wollte umkehren. Die Tür aber schlug eben zu und der Schlüssel wurde umgedreht.

Es war indes lebendig geworden. Wenig gut angezogene Leute ließen sich auf der Straße sehen; aber auf den Gesichtern der wenigen malte sich die Besorgnis, man ging hastigen Schrittes, man fragte sich, schüttelte den Kopf. Aus den halbgeöffneten Fensterläden schielten Hauben und Perücken und die Dienstmädchen mit ihren messingnen Marktkörben schlugen die Arme über den silbernen Mützen zusammen. Etwas Außerordentliches ging vor, hörte Etienne aus den abgerissenen Gesprächen, und er wurde von dem Strom der Besorgten und Neugierigen nach dem Gegenstande mit fortgezogen, welcher die allgemeine Angst verursachte. Es war vom russischer Oberfeldherrn der Befehl eingegangen, das Zeughaus in die Luft zu sprengen. Eine Explosion, welche dieses Denkmal einer edlen Baukunst vernichtete, konnte nicht ohne Zerstörung für die schönsten Gebäude der Stadt abgehen. Tottleben wurde vergebens bestürmt, den barbarischen Befehl zu ändern; er ging nicht von ihm aus, seine Hände waren gebunden. Die große Angst der Bürger war nicht ohne Grund, und selbst der Umstand, welcher Berlin rettete, sprach dafür, welcher Gefahr die Residenz bei einer ungeschickten Ausführung ausgesetzt gewesen wäre. Es war ein russisches Detachement abgeschickt, um aus einer entfernten Mühle die benötigten Vorräte Pulver herbeizuholen. In neugieriger und in peinlicher Erwartung standen Bürger und Soldaten in der Nähe des Gebäudes, eines Meisterwerks des großen Schlüter, und die Aufmerksamkeit wurde einstweilen durch die Vorbereitungen der Ingenieure und eine Farce beschäftigt, indem man die Waffen der Berliner Bürgerschaft zerschlug und verbrannte. Auch hier hatte die Strenge der Sieger eine Hand offen und ein Auge zugedrückt gehabt; man zerhackte und scheiterte auf einige verrostete Jagdflinten und alte Säbel, die schwerlich Friedrichs Feinden jemals Schaden tun konnten.

Etienne näherte sich durch eine Quergasse dem Zeughause; er wollte noch einmal die berühmten Larven der sterbenden Fechter, auch von Schlüters Meisterhand gefertigt, sehen. Nur eine Person außer ihm hatte denselben Weg gewählt, ein Mann mit spitzer, rötlicher Nase, die er den Lüften zugekehrt trug. Die Hand spielte auf dem Rücken mit der Tabaksdose und seine Schritte schienen nach antikem Maße geregelt. Als Stephan eben diesen Spaziergänger, der in Träumen verloren schien, eingeholt, hatte er eine Empfindung, wie er sie nur aus Erinnerung von seinen Reisen im Süden kannte. Der Boden unter ihm bebte, er fühlte einen Luftdruck, eine Erschütterung, die Häuser schienen zu wanken, die Dose des Herrn fiel aufs Pflaster und ihr Eigentümer wäre ihr vielleicht gefolgt, wenn Etiennes Arm ihn nicht unterstützt hätte. Ein fernes, anhaltendes Getöse wie von tausenden Raketen begleitete die Erschütterung und ängstlich flatterten die Vögel an den Wolken hin. Eine Totenstille banger Erwartung lagerte über Berlin, als das Getöse verhallte, die Häuser standen und der Boden wieder fest wurde. Mit offenem Munde, mit bleichem Gesicht stand so mancher, gespannt, was daraus werden könne, doch keiner mochte blasser sein, als dieser Unbekannte, welcher jetzt, an die Mauer gelehnt, dort den Schutz suchte, den Etiennes Arm vorhin ihm bot. Er blieb still.

»Ein Erdbeben?« flüsterte der Einheimische noch ton- und atemlos.

»Nicht wohl möglich,« entgegnete Etienne, schnell gesammelt, und langte die Stahldose auf, deren Inhalt weitzerstreut umherlag. »Die Zuckungen, Rücke, Stöße am Vesuv und Ätna sind tiefer, durchgreifender. Es war eine Explosion, die sich schnell und ohne zu großen Widerstand entladen hat.«

»Gütiger Himmel! So ist das Zeughaus gesprengt!«

»Dann«, entgegnete Etienne, »würden wir hier nicht so unverletzt stehen.«

»Meinen Sie?«

»Ich bin dessen gewiß.«

»Mein Gott, so lassen Sie uns eilen, ehe uns Stücke auf den Kopf fallen.«

»Wir müßten dazu Siebenmeilenstiefeln haben,« lächelte der jüngere Mann. »Wenn nur eine Seite des festen Gebäudes gesprengt worden, lägen wir wahrscheinlich schon zu Boden, und flöge das ganze Zeughaus in die Luft, so stiege ein Viertel von Berlin mit. Beruhigen Sie sich, dort können wir die Ecke sehen. Es steht fest wie je.«

Der Einwohner wagte sich vor, mit der Hand noch vorsichtig die Mauer anfassend: »Den Himmlischen Speisopfer und Dank! Schon fühlte ich den Acheron unter mir und hörte des Cerberus entsetzliche Stimme.«

»An bösen Hunden, mein Herr, fehlt es auch hier auf der Oberwelt nicht. Doch wenn ich mich nicht täusche, können gute Patrioten sich gratulieren. Es möchte die Pulvermühle in die Luft geflogen sein, die zum Zersprengen den Vorrat schaffen sollte, und die Ungeschicklichkeit der russischen Soldaten läßt uns für diesmal mit blauem Auge davonkommen.«

Die Vermutung bestätigte sich sehr bald. Der Unbekannte blickte wieder in die Wolken und dankte dem Vater der Götter, welcher unaufgehalten vom Arm der ränkesüchtigen Juno seinen rächenden Blitzstrahl in Vulkans Schmiede geschleudert, bevor der Fackelbrand glühte, um sein Verderben zu tragen in die Hallen seines Cäsars.

»Indessen ist Vulkan darum noch nicht tot, er hinkt nur,« sagte Etienne.

Der andere freute sich, einen gebildeten Mann unter der unscheinbaren Hülle zu finden. Er ersuchte ihn, ihn nach Hause zu begleiten, indem dieser schreckliche Moment seinen Vorsatz wankend gemacht, nämlich zu sehen, wie weit ein friedlicher Bürger, dem die gütigen Himmlischen sonst nicht abhold wären, sich in das Getümmel der wilden Söhne des Mavors wagen könne? Diese Probe sei ihm aber doch etwas zu stark. Etienne suchte ihn zu beruhigen, daß Proben der Art nicht wiederholt zu werden pflegten, und das Pulver, genug zu dem Vorhaben, nicht so schnell herbeizuschaffen sei, wenn es nicht überhaupt aufgegeben werde.

Ein bedeutungsvolles Lächeln schwebte über der Stirn des nicht ausdruckslosen Gesichts und seine Augen hatten etwas schelmisch Feierliches, als er, die Hand aufhebend, erwiderte: »Man versuche die Götter nicht! – Schon einmal hörte ich die ehernen Pforten des Hades klingen und die unerbittliche Hand der Parze hielt mich am Scheitel. –«

»Hat man Sie insultiert?« übersetzte Etienne.

»Nein, ich hütete mich bisher auszugehen, denn die Blicke der bebärteten Sarmaten üben eine gorgonische Kraft auf die frommen Häupter der Söhne Apollos. Nur die Gefahr meiner werten Freunde, der wackeren Herren Voß, Haude und Spener, hatte mich jetzt gedrängt und bewogen. Ich lasse aber das eine Warnung sein, und sage mir: Wo deines Amtes nicht ist, laß deinen Fürwitz.«

Etienne fand sich nicht veranlaßt, weder weiter zu fragen noch der oberflächlichen Aufforderung des Begleitens entgegenzukommen: indem der Fremde wieder vollkommen wohlauf und rüstig genug, um seines Weges zu gehen. Dieser schien indessen nicht so geneigt, den jungen Mann, dessen Gesicht oder dessen Dienstleistung, vielleicht mehr aber noch seine Kenntnis der alten Mythologie ihn für ihn eingenommen, ohne weiteres gehen zu lassen.

»Man versuche die Götter nicht!« wiederholte er, als Etienne Miene machte geradaus zu gehen statt mit ihm umzukehren. »Bellona saß nicht an Ihrer Wiege, junger Mann.«

»Nein,« antwortete der Angehaltene kurz.

»Was wollen Sie denn dort im Gedränge? Sie sahen nicht, was ich gesehen.«

»Was war das?«

»Ein finsterer Bastard, mißgeboren in des Erebus düsterstem Schoße, geschleudert auf dem gemißbrauchten Bogen der Iris, um auseinander berstend Tod und flammendes Verderben zu speien auf friedliche Seelen.«

»Das war eine Bombe,« sagte Etienne.

»Sahen Sie schon eine Bombe einschlagen, und wären beinahe getroffen worden?«

»Mehr als eine.«

Etiennes Auge mußte dabei von einer gewissen stolzen Zuversicht leuchten, die überall anspricht. Der Mythologe schien auch etwas von dem Mute abzubekommen, als er ihm zum Abschiede die Hand schüttelte: »Also Sie sind ein Feuerwerker. Besuchen, Sie mich: ich will Ihre Kritik hören, wenn ich Ihnen meine Ode vorlese auf die Bombe, die mich beinahe getroffen hätte. Wenn der Gelehrte einen Schuh beschreibt, kann er auch von einem Schuster Weisung annehmen.«

Etienne lächelte wieder und fragte nach der Adresse seines neuen Gönners, dessen nähere Bekanntschaft zu machen ihn in dem Augenblick wenig drängte.

»Ich bin der Professor Ramler,« entgegnete der Gelehrte und nahm eine Prise aus der Dose, welche der Offizier ihm zurückgegeben.

Berlin stand auf einer Pulvermine, sein großer König hatte die Perle aus seiner Krone verloren, Preußen wankte, und Ramler war ein guter, ein wahrhafter Patriot; selbst die Gleichgültigkeit, die Geringschätzung, die sein Cäsar-Friedrich gegen seinen Sänger zeigte, konnte die Begeisterung bei ihm nicht kühlen. Und doch schien der Dichter in dem Augenblicke die Pulvermine und den preußischen Thron und den Friedrich-Cäsar vergessen zu haben, als er die freudige Überraschung auf dem Gesicht des Feuerwerkers wahrnahm. Wer bezahlt dem Dichter solche Augenblicke, wer verargt ihm die Freude? Daß er trotz der Freundschaftsstudien zum »Philosophen für die Welt« noch wie ein Kind fühlen könnte, spräche mehr für den Dichter, als alle Anrufungen der Pierien, die er oft aus ihrem siebenten Himmel zitierte, um auf endlosen Periodenleitern zu seinem Orden herabzusteigen. Er drückte mit Wärme dem jungen Manne die Hand und wiederholte in herzlichem Tone: »Besuchen Sie mich.«

»Nur etwas befremdet mich,« sagte Etienne nach einem kurzen, gedrängten Gespräche, in welchem Ramler erfahren, daß den er begrüßte gerade kein Feuerwerker, sondern jemand sei, der ihm noch einen Gruß von Rabener zu überbringen hatte, »wie ein gekrönter Dichter, dem Minerva glühende Worte geliehen, um den grimmigen Mavors zu schildern, wie ein Dichter, der so vertraut wie Sie in Ihren Oden mit dem ehernen Hall der Trompete und dem klingenden Huf der Streitrosse nicht selbst Lust hat, auch einem Kosakenbart ins Gesicht zu sehen. Kommen Sie –«

»Nein, nein, Wertester,« entgegnete Ramler. »Wir Poeten führen unseren Krieg in den Wolken und Lüften und taugen nicht, wo es ans wirkliche Rippenbrechen geht. Nahm doch unser Opiz, wie er selbst gesteht, Reißaus, und Horaz warf seinen Schild bei Philippi fort, woraus hervorgeht, daß Dichter niemalen tribuni militum werden sollen.«

»Sie wollen damit doch nicht Ihren verehrungswürdigen Freund Kleist verdammen, dem die Russen selbst den Lorbeerkranz auf seine tote Heldenstirn drückten?«

Ramler wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Den Tag bei Kunersdorf nenn' ich mein Philippi. Die Feinde haben den großen Dichter beerdigt; aber sein eigener König hat nur einen braven Major verloren. Lassen wir das gut sein. Es kommt vielleicht für Preußen eine Zeit, wo seine Könige auch seine deutschen Dichter achten, und dann ziehen die Poeten wohl auch mit ins Feld. Bis dahin muß man schon zufrieden sein, wenn die einen kommen, sehen und siegen, und die anderen nachkommen, staunen und singen.«

Es war augenblicklich still geworden nach der großen Aufregung. Die Bewohner Berlins hatten sich, ledig des ersten Schreckens, in ihre Häuser zurückgezogen. Während die Österreicher anfingen, sich eigenmächtig und gegen die Kapitulation in den entfernten Stadtteilen einzuquartieren, unterhandelte man auf dem Rathause, räumte und zerstörte Magazine, brandschatzte hier auf eigene Hand und war nicht allzu gewissenhaft in Deklaration dessen, was königlich und was Privateigentum sei. Gotzkowsky mußte überall zur Hand sein, den Vermittler zu machen zwischen dem Übermute der Gewalthaber und den bedrückten einzelnen. Er lief und fuhr von einem Ende der Stadt zum anderen, und wenn seine Kommis und Fabrikarbeiter hinter ihm mit schweren Geldsäcken keuchten, die der edle Mann aus seinem eigenen Vermögen hergab, drang er auch bei Nachtzeit und während des Mittagsschläfchens in die Kabinette der feindlichen Generale. Russische Soldaten lagen in apathischer Erschlaffung um das Zeughaus und träumten in der Mittagssonne von der Beute, die schon unter ihren Sätteln steckte, oder noch hinein sollte, als Etienne den still gewordenen Platz aufsuchte.

Ramlers Ausgang hatte die Hauptwache zum Ziel, wo die Berliner Zeitungsschreiber in Erwartung einer barbarischen Rache gefangen saßen. Sie sollten Spießruten laufen, um einiger – wie die Sieger meinten – boshafter Artikel willen und wegen übertriebener Angaben von den Verlusten der Russen. Auch dies nach einem ausdrücklich vom Hauptquartier in Frankfurt eingegangenen Befehl. Wir greifen der Geschichte vor, wenn wir hier anführen, daß die grausame Exekution nicht zur Ausführung kam. Gotzkowskis goldene Überredungskraft fand eine mildernde Deutung der »schwarz auf weißen« Artikel heraus, und die Unglücklichen kamen diesmal mit einem nachdrücklichen Verweise davon, den sie mit ausgezogenen Röcken vor der aufgestellten Gasse der Rutenschläger blaß, zitternd und des Entsetzlichen gewärtig, hinnehmen und noch darüber quittieren mußten. Es war die schärfste Zensur, welche je den Mut der Journalisten in Berlin niedergeschlagen hat. Auch muß der persönliche Schreck damals so fürchterlich gewesen sein, daß er sich in der Art wie die Weihe der apostolisch-katholischen Bischöfe durch alle Generationen der Zeitungsschreiber bis auf unsere Tage vererbt hat. Seit der Zeit nämlich steht in den Berliner Zeitungen kein boshafter Artikel mehr, denn sie liefern gar keinen Artikel, sondern schreiben nur ab. Mit ganz besonderer Berechnung werden aber die russischen Streitkräfte darin angegeben, indem der effektive Bestand der anrückenden Mannschaften und Kanonen jedesmal um das dreifache vermehrt, der erlittene Verlust wenigstens um die Hälfte vermindert wird. Die wenigsten Zeitungsleser wissen, woher das kommt; aber das Faktum ist historisch und in den Archiven der Vossischen und der Haude und Spenerschen Zeitung kann man nach den erklärenden Dokumenten suchen. Später haben sich auch noch andere Blätter, die von Staats- und Gelehrtensachen Kunde geben, diesem Berliner Herkommen angeschlossen, und man muß dies kennen, wenn man die Artikel über Rußland verstehen will.

Außer zwei Ebräern in ehrwürdigen Bärten und stoffhaltig reichen Röcken, welche in ernstem Gespräch vertieft unter den Bäumen seitwärts von der Hauptwache ab und zu gingen, die Perlmutterknöpfe ihrer großen Stöcke oft bedächtig zur Nase haltend, sah Etienne nur einen noch lebendigen und wachenden Menschen auf der Straße, – denn auch die Schildwachen schlummerten, – der ebensowenig zu den Ebräern als zu den Kosaken gehörte. Hatten sich in den zwanzig Jahren nicht die Zeiten und Moden vollständig geändert, so war der mit zierlichem Bedacht in schwarzer Seide und Tuch mit dem feinsten Weißzeug angetane, schön frisierte und gepuderte junge Herr von der französischen Kolonie, und seine halb untergeknöpften Beffchen deuteten auf den geistlichen Stand. Wie er, den Claque unterm Arm, mit anmutigen und doch nicht würdelosen Schritten, freilich mehr auf den Zehen als auf den Sohlen daherkam, sah sich das junge Gesicht rechts und links um. Man hätte darauf Gutmütigkeit, Ernst, auch mehr: Kraft und Tiefe wenigstens in der Anlage – Furcht und Mut zugleich, vor allem aber Neugier entdecken können. Er blieb stehen vor der Wache. Als er sich rundum gedreht und von seinem Standpunkte aus nichts als schnarchende Kosaken entdeckt, schien ein Entschluß ihn zu durchzucken. Eine Leiter stand zufällig an dem Wachtfenster. Im Augenblick darauf hatte der junge Mann sie bestiegen, im folgenden wollte er ins Fenster sehen, im nächsten stieß er einen Schrei des Entsetzens aus, strauchelte, und rücklings überschlagend wäre er auf das Straßenpflaster gefallen, hätte der eine Ebräer, der gerade um die Ecke trat, den halb Ohnmächtigen nicht aufgefangen.

»Herr Kandidat, Herr Kandidat, was ist Ihnen? – Herr Ephraim schauen Sie, er ist totenblaß.«

Herr Ephraim, an solche Dienstleistungen wohl so wenig als sein ehrwürdiger Freund gewöhnt, sprang ihm doch bei, den jungen Mann zu halten.

»Herr Itzig, das ist kalter Todesschweiß.«

»Es wird doch nicht sein so arg, er schlägt die Augen auf.«

»Gott was wird man sagen! Er ist von der Kolonie, als ich mich nicht irre.«

»Ich habe ihn gesehen bei Moses Mendelssohn. Fällt mir der Name nicht gleich bei. Er ist von guter Familie.«

»Sprechen Sie, Herr Kandidat, was ist Ihnen?«

Der halb erwachte junge Geistliche mochte noch nicht die Kraft zu sprechen gewonnen haben, aber mit allem Ausdruck inneren Schauders zeigte er auf das Fenster, wo die beiden reichen Ebräer jetzt das sahen, was Etienne mit dem jungen Geistlichen fast zugleich wahrgenommen, ohne daß es auf ihn eine ähnliche Wirkung hervorgebracht hätte. Ein breitbackiges Kosakengesicht mit einem langen schwarzen Barte, vielleicht auch noch durch einige Narben häßlicher als gewöhnlich, war in dem Augenblick von innen am Fenster aufgetaucht, wo der Kandidat von außen hineinsehen wollte. Die so unerwartete, so unmittelbar nahe Berührung der beiden Köpfe hatte auf den Frisierten eine völlig entgegengesetzte Wirkung gehabt von der, welche sich auf dem Gesicht des Sohnes vom Ural kundgab. Denn während der Kandidat von einem Schwindel ergriffen zurückgestürzt war, lehnte das lachende Vollmondsgesicht seinen breiten Unterkiefer auf die Arme und stierte in dummer Gleichgültigkeit das ungewohnte schwarze Menschenwesen an, das sein Anblick getötet zu haben schien.

Die beiden ebräischen Herren sahen nun auch, was der Kandidat gesehen, auch sie waren etwas erschrocken, wenngleich nicht wie der Kandidat vor dem langen Barte; sie fürchteten das Aufsehen, das der Vorfall zu machen anfing; denn der Schrei des jungen Mannes hatte schon Leute herbeigezogen, und sie waren nicht hier unter den Bäumen, um dem Pöbel ein Schauspiel zu geben, sondern über die ihren Glaubensgenossen auferlegte Kontribution zu beratschlagen. Als daher der junge Geistliche seine erste, ziemlich wohlartikulierte Frage vorbrachte: »Kommt er mir nach?« begann der reiche Herr Itzig:

»Mein wertgeschätzter Herr Kandidat, beruhigen Sie sich. Auch die feindliche Armee hat ihre Disziplin, und es wird nichts geschehen friedlichen Menschen, wie Ihnen und uns, wenn wir ihnen nichts tun zuerst.«

Herr Ephraim sandte aus seinem stillernsten Gesichte einen Stoßseufzer auf, denn er meinte, es geschähe ihnen genug, indem man ihre Kassen in Kontribution setze.

»Sie haben doch nicht wollen stürmen die Hauptwache?« setzte Itzig hinzu.

»Das sei ferne von mir. Der Allwissende kann mir's bezeugen!« beteuerte der Kandidat.

»Sie sehen mir doch aus wie ein guter Patriot, Herr Kandidat.«

»Schweigen Sie um des Himmels willen!«

»Aber mein Gott, was haben Sie gewollt auf der Leiter und den Kopf rein stecken zu den fremden Truppen? Man hätte Sie können halten, Sie verzeihn's mir, für einen Spion.«

»Daß ich mich schäme, es zu bekennen, meine Herren, aber mich trieb nichts als die Wißbegier, diese Naturkinder der Polarkreise und der scythischen Steppen von ganz nahe in Augenschein zu nehmen.«

»Wenn Sie wären gewesen, Herr Kandidat, ein Professor von der Naturgeschichte, hätten Sie gewußt, daß Pulver anrühren gefährlich ist, daß man einen schlafenden Löwen nicht muß wecken, einem Feind nicht ins Gesicht sehen, versteht sich, wenn man nicht mit einem Degen an der Seite kommt, und daß der Weg auf der Leiter zwar hoch führt, aber nicht allemal wieder zurück. Mancher Mann bleibt hängen. Danken Sie Gott, Herr Kandidat, und kommen Sie hier weg.«

Der junge Geistliche wischte den Schweiß von der Stirn, dankte den beiden angesehenen Männern und bemerkte dabei mit Schrecken, wie sich die Zahl der Zuschauer vermehrte. Ephraim bot ihm seine Kutsche hinterm Gießhause an, sie sollte ihn längs dem Weidendamm in seine Besitzung an der Spree fahren, wo er in seinem schönen Garten sich von dem Schreck erholen und mit der Dunkelheit unbemerkt zu den Seinigen zurückkehren könne. Der Kandidat lehnte es ab, denn es blieb zweifelhaft, was bei seinem geistlichen Stande ehrenkränkender gewesen wäre, der Spott hier auf offener Straße, oder jene Zuflucht davor.

»Herr Kandidat,« sagte der andere Handelsherr zum Abschied, »Sie hätten tun sollen wie der Ritter Sankt Georg, als mir neulich unser Mendelssohn gesagt, wenn Sie durchaus sehen mußten die russischen Kosaken. Wie sich der Ritter hat malen lassen bloß zur Probe fürs Pferd papierne Drachen, hätten Sie doch auch vorher sich malen sollen kleine papierne Kosaken mit langen, langen Bärten. Wenn Sie hätten recht lange angesehen vorher die Kosaken von Papier, wären Sie doch dran gewöhnt worden, und wären Sie doch nicht so erschrocken gewesen vor dem Kosaken von Fleisch und Bein, als er zum Fenster rauf guckte.«


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