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Zehntes Kapitel.
Was ist ihm Preußen?

Es waren mehrere Tage in trüber Einsamkeit vergangen. Aus den verdrießlichen Blicken der Väter, aus der Einsilbigkeit bei Tische hätte man schließen mögen, daß sie von dem gewußt, was zwischen Eugenie und Stephan vorgefallen. Die Anspielungen blieben aus. Auch die Laune des Fräuleins schien versiegt, oder doch auf einen Kern gestoßen, der für ihre gesunden Zähne zu hart war. Im Rat der Alten, zu dem sie oft im geheimen gerufen wurde, erklärte sie: eine Festung, die man nicht mit Gewalt nehmen könne, müsse durch Hunger gezwungen werden. Immer wieder abgeschlagene Stürme verrieten nur den Belagerten die Ohnmacht der Belagerer und zeigten jenen, wie stark sie wären. Der Graf billigte das; Ausdauer und Zeitverlust lagen aber außer dem strategischen System des Marquis, welchen indessen andere Pläne ebensosehr beschäftigten und die Versicherung des Fräuleins wenigstens beschwichtigte: daß sie sich einmal das Wort gegeben, sie müßten ein Paar werden, und was sie sich vorgenommen, habe sie noch immer ausgeführt.

Eines Tages fand Stephan den Marquis auf seiner Stube. Der Husar des Offiziers schien verlegen und stahl sich fort. Inmitten des Zimmers lagen seine Uniformstücke auf der Erde.

»Was soll das, mein Vater?« fragte Stephan.

»Du sollst sie zum letztenmal getragen haben.«

Mit einer Heftigkeit, die sich selbst nur mit Mühe hielt, nahm Stephan den Dolman auf und küßte den gestickten Namenszug des Königs. Es war eine vollkommene Antwort für den Marquis.

»Wozu das nun, mein Vater?« fuhr er ruhiger fort, nachdem er die anderen Uniformstücke sorgsam an den Nagel gehängt und den Staub abgeklopft. »Wir kennen uns doch. Sie kennen mich wenigstens und wissen, wie mich selbst damals keine Drohung zurückhielt, als mich noch kein Eid an Friedrich band.«

»Ich drohe auch nicht; ich will vernünftig mit dir reden.– Es ist aus mit ihm. – Bei Hochkirch ward er geschlagen. Bei Kay verlor er eine Armee. Bei Kunersdorf wurde er vernichtet, Torgau und Glatz sind über, Wittenberg ist über, Dresden ist über, Kolberg fällt, er selbst liegt in Glogau, in Betten eingehüllt, er stirbt an den Füßen und kann die Arme nicht rühren –«

»So lebt doch sein Kopf.«

»Um ihn an die Wand zu stoßen, Varus, gib mir meine Legionen! ruft er –«

»Doch wohl noch nicht? Sein Geist fuhr in seine Generale. Fink –«

»Hat sich mit dreizehntausend Mann kriegsgefangen bei Maxen ergeben –« rief der Marquis und hielt ihm einen erbrochenen Brief hin, den vor einer halben Stunde ein Eilbote aus Dresden gebracht.

Stephan entfärbte sich, indem er ihn durchflog. »Die Götter sind neidisch auf den größten Sterblichen.«

»Wo nun der Glorienschein, vor dem das blinde Volk auf die Knie sank? Es ist nicht mehr eine verlorene Schlacht, die durch eine zweite repariert wird. Jetzt ist er geschlagen in der Meinung. Er ist nicht mehr der Unüberwindliche in Europa, der Alexander fand sein Babylon, der Cäsar die Säule des Pompejus, der Karl sein Pultava; noch ein Schach und er ist matt.«

Stephan riß den Säbel von der Wand, zog ihn halb aus der Scheide und drückte den Metallgriff an die Lippen. »So wird er nicht allein stehen in seiner letzten Stunde, wenn sie kommt.«

Die Bewegung schien dem Marquis nicht zu mißfallen. Er nickte ihm zu: »Ich ließ dich strenge erziehen, damit das Eisen aus der Schmiede käme, wenn ich es brauchen will. Es ist gut; aber vernünftig, Etienne, laß uns ruhig die Sache überlegen.« – Er setzte sich und lud den Offizier ein neben sich. »Du siehst, es geht zu Ende; seine Bewunderer und Neider, auch seine eigenen Generale, die hartnäckigen Degenköpfe wie die Erleuchteten, glauben es. An Frieden ist nicht zu denken, es gibt keiner nach. Wer weiß, ob ein rascher, ehrenvoller Schlag es ausmacht, man wird ihn sich aufreiben lassen; er wird verglimmen wie der Docht einer Lampe, dem das Öl fehlt. Willst du so mit auslöschen? Was ist dir Friedrich?«

»Was mir Friedrich? O, mein Vater, fragen Sie jenen gemeinen österreichischen Soldaten, einen guten Patrioten für seine Kaiserin, der in die Hände klatschte, als der Geschlagene, Verfolgte, Umringte, wie ein Blitz durch seine Feinde fuhr und gerettet war. Was war ihm Friedrich? – Was ist Friedrich ganz Europa, das mit ihm jubelt, wenn er siegt, zittert, wenn er verliert? Gellt Ihnen nicht der Jubelruf der Freude noch ins Ohr von dem fabelhaften Roßbach? Warum, fragte ich mich oft, als ich noch für Theresias Sache glühte, warum zwingt er auch seine Feinde zur Bewunderung? Warum hängen sich gerade an ihn die Gewaltigen wie ein Hornissenstock, warum blickte jeder freie Sinn hoffend und wünschend auf den einen? Weil es nur der eine ist, weil er so hoch fliegt, weil er so kühn will, weil er so klar sieht, daß sie alle zuschanden werden und in Neid und Furcht zusammenschrumpfen vor dem Helden des Lichtes. – Vater, Sie können ihn hassen, aber auch Sie müssen ihn bewundern.«

»Gut, Etienne,« fuhr der Marquis im ruhigen Tone von vorhin nach einigem Besinnen fort. »Ich lasse das Licht gelten. Doch wo einmal ein solches Licht geleuchtet, wird es nicht wieder finster; wo einmal ein hellerer Geist durch das Dunkel vergangener Jahrhunderte sich Bahn gebrochen, da weiß man, wie es aussieht, es bleibt hell. Er war kein Zauberer, er war nur das Werkzeug eines mächtigeren Willens. Es mußte so kommen und es wird noch mehr kommen, mag dann Friedrichs Name noch auf der trunkenen Zunge entzückter Weiber schweben oder Gras wachsen über seinem verwitterten Leichensteine. Die witzigen Philosophen in Frankreich räumen nach ihren Kräften so viel und mehr als er auf unter den alten Spinngeweben, und die Aufklärung wird siegen mit und ohne Friedrich. – Laß dich nicht blenden vom Namen. Ist er tot, so ersetzt ihn ein anderer –«

»Und wer ersetzt ihn für Preußen?«

»Was ist dir Preußen? Du weißt kaum mehr, wie es aussieht.«

»Aber ich weiß, was es geworden! Tausend Stimmen der Weltgeschichte rufen mich hin und rufen mir zu: Preußen in Europa! In dem altgewordenen Weltteil, wo das reiche, üppige Italien, das hochherzige Spanien, der schwedische Norden untergingen, in sich selbst zerfallend, da stampfte auf angeschwemmtem Sande, am dürftigen, kalten Meere, zwischen düsteren Kiefernwäldern, trägen Flüssen und monotonen Seen der Fuß eines Königs ein Volk aus dem Boden, dessen Namen man kaum gehört, und auf Sandschollen gründete Friedrich einen Staat, der der Welt in seinem Jünglingsalter schon Gesetze gab. Und lebte kein Friedrich mehr, ich hätte keine Mutter, keinen Vater mehr in Berlin, doch preise ich mich glücklich, daß ich als Preuße geboren wurde –«

»Eigensinniger Bube!« – rief der Marquis, der schon während der Rede aufgesprungen war. Die Arme verschränkt dastehend, fuhr er fort: »Was ist dies Preußen? Eine große Lüge. Eine schwindsüchtige Gesundheit, eine geschminkte Schönheit, ein massives Schloß von übertünchter Leinwand. Auf Gruben steht das Gebäude im Flugsand. Wer hält den stolzen Bau ohne soliden Boden? – Nur der eine, der ihn gemacht hat. Wenn er tot ist, sinkt der künstliche Staat von selbst zusammen und der erste Wind aus Ost oder West stürzt ihn und weht den losen Staub über die glänzenden Trümmer. Throne muß man fester bauen, als in Ufersand, wo kaum Schilfgras gedeiht.«

»Das sind Fragen für die Zukunft.«

»Ich aber will in die Zukunft fragen, Herr Sohn.«

» Vorwärts, Vater, heißt die Losung aller Hohenzollern.«

»Wenn nun aber mal einer das vergäße, und seitwärts riefe, oder gar rückwärts? Wenn nun einmal einer nicht mehr das Mark in sich fühlte und nicht spräche: Selbst ist der Mann, wenn er die Majestät nicht mehr in seinem Degen und in den guten Werken suchte, sondern in einen neidischen Purpur sich hüllte, einen Mantel um den Kopf zöge? Heda, Herr Sohn, woran scheiterte Alexanders Reich?« –

»Daß er vergaß, daß er ein Macedonier war!«

»Heda, wenn Friedrich zehn Enkel hat, wird der Elfte sich nicht betten wollen auf dem alten Ruhme, wird er nicht vergessen, wollen, daß er Tag und Nacht fortarbeiten muß, um zu erhalten? – Herr Sohn, was dann?« –

Etienne schwieg.

»Wär's dann nicht aus mit dem Preußen, das wir lieben? Antwort, Herr Sohn.«

»Dann hat es doch gelebt, Vater, und es war ein schönes Leben, und was gelebt hat, lebt ewig fort für die Geschichte; wir aber leben noch mit und unsere Söhne werden's auch noch und unsere Enkel und Urenkel. Darum fort mit den trüben Ahnungen.«

»Etienne, ich drohe nicht, ich bitte dich – ich beschwöre dich – wie ein Vater bitten kann, dringe ich in dich. Ich habe große Hoffnungen auf dich gebaut. Wenn ich dir auch nicht nahe war, du warst mir immer nahe. Unsere Schiffe fuhren auseinander, der Wind trennte sie auf hoher See; doch verlor ich dich nie aus dem Auge; ob der Ozean stürmte oder spiegelglatt silbern flimmerte im Sonnenlichte, dein weißes Segel sah ich am fernen Saum des Horizontes, oder auf dem Schaum der turmhohen Wellen, und mein Herz folgte dir stolz und bang. Etienne, mein liebstes Kind, steuere nicht eigensinnig gegen eine Klippe, du bist es nicht allein, auch meine Hoffnung führt das stolze Schiff.«

»Vater, Sie haben keine Gründe, die mich bewegen könnten –«

»Auch nicht, wenn ich dir sage, daß du kein Preuße bist, daß dein Vaterhaus nicht in Berlin steht, deine Voreltern nicht in den Kirchen dort beteten, ihre Gebeine nicht in den Grüften ruhen, wenn ich dir sage –«

»Halt!« rief Stephan. Eine Totenblässe hatte sein Gesicht überzogen; dann kehrte das Blut verdoppelt zurück. Er faßte des Marquis Arm und seine Augen hafteten scheu auf den Lippen des Angeredeten, indem er mit bewegter Stimme aber tonlos sprach: »Wenn Sie etwas aussprechen wollen, was meine Mutter kränkt, schweigen Sie. Ist es, was die Ahnung mir aufdrängt, lassen Sie den Schleier über dem Geheimnisse und wenn er mein Glück verdeckt. Ich habe kein teures Erbteil aus dem Vaterhause als diese Erinnerung.«

Der Marquis blickte ihn eine Weile stumm an, die Tränen drängten sich zwischen den grauen Wimpern vor. Plötzlich flog er an seine Brust und preßte ihn stürmisch daran.

»Du kannst mit Ehren an deine Mutter denken, und du wirst der Stolz deiner Mutter sein.«

Sein Herz war bewegt. Er schien mit etwas zu kämpfen, auf den Lippen schwebte eine Mitteilung, zu der er nur die Aufforderung abwartete. Doch Stephan kam ihm nicht entgegen. »Lassen Sie ruhen, was so lange geruht hat – es ist jetzt nicht Zeit, an sich selbst zu denken. Erlaubt es mir das Kriegsglück, eile ich nach Berlin –«

»Und du nimmst meinen Segen mit,« rief der Marquis, küßte ihn zum Abschied noch einmal auf die Stirn und drückte ihm wie symbolisch den Dolman an die Brust. »Meinethalben auch das.«

Es war nichts Außerordentliches, wer den Marquis kannte; und doch bewegte es mehr als je den jungen Mann. Es trieb ihn ins Freie. Die Sonne eines ungewöhnlich warmen Herbsttages tat ihm wohl. Die Luft hauchte erfrischend auf seine heißen Wangen. Er ging unter den Linden des Dorfes auf und ab. Der Friede schien hier zurückgekehrt, die Besorgnis entwichen, die Kinder spielten in der Sonne, die Weiber trockneten Wäsche. Man grüßte ihn freundlich, denn auch er war es gegen alle gewesen und seine Besuche in den Hütten der Dürftigen hatten ihm die Herzen geneigt gemacht.

Das trockene Laub knisterte unter seinen Füßen, es folgte ihm vom Winde getrieben auf seinen Tritten und er folgte dem Windzuge. Er führte ihn zu den Hecken hinaus. Der heitere blaue Himmel glänzte nieder auf die weiten Stoppelfelder, einzelne Lerchen trillerten in der Luft, in weiter Ferne grüßte ihn der blaue Gipfel der Landskrone. Es war ein Sonntag im Kalender und ein Sonntag in der Natur. Er hätte sich auf sein Pferd schwingen mögen, nicht diesmal ins Gemetzel, sondern in die weite lachende Welt. Die Flügel der Phantasie trugen ihn über Kiefernwälder und Sandflächen gen Norden. Er setzte über die Elbe. Wie die Landskrone in blauer Ferne, grüßten ihn alte, bekannte Hügel, – die Mühlberge mit ihrem spitzen Nadelholz, der blaue weite See zu ihren Füßen, mit dürftigen Resten dürftiger Sagen. Er hörte die Mühlen um Berlin klappern, der Marienturm stieg auf, er sprengte durch die Straßen, er suchte nach dem Kinderschlitten, den er stehen gelassen – sein Herz klopfte, als er dem Vaterhause sich näherte. Es stand noch auf dem alten Flecke. Die Tür war verschlossen, Gras wuchs auf den Schwellen, es war so einsam tot ringsum. Wer öffnete ihm, wenn er anklopfte?

Da schlug ein Hund an. Es war ein grimmiges Tier, das sich halb knurrend aufrichtete und dem träumenden Spaziergänger die Zähne wies. Es bewachte einen Mann, der, das Gesicht auf dem Arm, gegen den Zaun gekehrt lag. Die gebräunten Füße lagen im Staub der Straße, ein Knittel, ein Bündel Lumpen und die Stiefel neben ihm. Die Hand, mit den Spuren harter Arbeit, war offen; und doch widersprach der Riesenleib, der feste Muskel- und Knochenbau, die breite Schulter, der nervige Arm, der Vorstellung: daß sie nur offen sei für milde Gaben. Er atmete tief. Der ganze Leib bewegte sich. Nur wer nichts zu verlieren hatte, konnte auf diesem Bette, das täglich hundert Füße niedertraten, auf diesem Kissen von Staub, auf diesem Pfühl von Nesseln so gesund schlafen. Die Ameisen, deren Schloß sein Ellbogen eingedrückt, störten ihn nicht, die Käfer summten vergebens um sein Ohr; träumte er, so war doch ihr Flügelschlag zu schwach, um den Flug dieser derben Träume zu stören. Nicht einmal auf den Erntewagen, der seine Fuße rädern mußte, wenn er vorbeifuhr, hatte der Sorglose geachtet. Daß man ihm seine Stiefel nicht nähme, dafür wachte der Hund.

Daß Stephan nicht in der Absicht stehen geblieben, schien das Tier zu begreifen, indem es mit ersticktem Geknurr sich wieder hinlegte, doch mit den klugen Augen den Fremden nicht verlassend. Der Wind häufelte welkes Laub über den Schlafenden. Wie viele Stürme, rauhe Herbste, strenge Winter mochten über ihn hingestrichen sein, und sie hatten dem Starken so wenig angetan als die gelben Lindenblätter. Wie viele standen ihm noch bevor! Und was errang er, indem er ihnen widerstand, Jahr um Jahr? – Er hungerte und durstete, um sich einmal satt zu essen. – Er fror, um einmal warm zu schlafen auf der Ofenbank. Er ging barfuß durch die Welt, bis die Füße schwach wurden. – Was konnte ihn berauschen, daß er den grauen Schnee für Frühlingsgrün, den dürren Bäumen goldene Früchte ansah? – Welches gaukelnde Gefühl konnte ihn stärken, beleben zum sauren Wege diesseits der Grube – welche Aussicht drüber weg! Durchwärmte ihn das Bild einer Geliebten, erhob ihn die Begeisterung für einen großen König, für das Vaterland, das Licht? –

Was drängten sich ihm diese Vorstellungen bei dem einen auf, er hatte schon viele Unglückliche gesehen? Und war denn gerade dieser unglücklich? – Er bückte sich, einen Taler in die offene Hand gleiten zu lassen. Der Hund fuhr auf: seine Zähne grinsten ihm ins Gesicht, der Taler war nebenbei gefallen, als der Offizier zurückfuhr. Es hatte ihn nicht ein Blick getroffen, denn der Mensch schlief fest, der Kopf lag im Schatten des Zaunes, er konnte auch nichts gesehen haben; aber es war, als hätte eine betäubende Pflanze dort ihn angehaucht. Er strich sich die Stirn. Es war ihm, als müsse er sich wieder bücken, aber der Hund fletschte ihm noch immer die blendend weißen Zähne. Er hätte den Hund mit einem Steinwurf fortjagen können. –

So stand er noch, als ein leichter Jagdwagen den Weg gefahren kam. »Was machen Sie da?« rief ihm der Graf herunter. »Nichts, gar nichts,« antwortete er hastig, und trat, daß sein Schatten auf den Schlafenden fiel, ihnen entgegen. »Sie sollten mit uns fahren, die Luft ist schön. Wir wollen nur die Verwüstungen im Forste aufnehmen,« rief ihm der Graf zu, und ehe er wußte warum, hob ihn der Förster in den Wagen. Der Graf war gesprächig, der heitere Tag schien seine Besorgnisse verscheucht zu haben. »Es hat seit lange nicht gebrannt, das Gesindel muß sich verzogen haben, und ich freue mich, wie meine Bauern schon so ruhig geworden sind, daß sie sich auch freuen, nämlich auf den Nachmittag, wo ein Bärenführer seine Künste produzieren will.« – Stephan hörte nicht zu, er behauptete, der Wagen ginge ihm zu schnell; dann, als der Kutscher im Schritt fuhr, es würde ihm zu weit, die Waldluft bekomme ihm nicht. Er war ebenso schnell, als er der Einladung gefolgt, wieder herunter und auf dem Rückwege. Die Mahnung des Grafen, der ihm nachrief, er möge nicht so laufen, das sei schlimmer, als ein rasches Fahren, mochte er nur mit halbem Ohre hören, wenigstens folgte er ihr nicht.

»Haben Sie eine Erscheinung gehabt?« fragte ihn Amelie bei Tische. »Du siehst blaß aus,« bemerkte scharf der Marquis.

»Es war nichts –« antwortete Stephan, und fügte hinzu, als setze er voraus, daß man seiner Beteuerung nicht traue: »Ich kann Ihnen versichern, ich habe mich getäuscht, es war nichts. Sie müssen mich immer noch für einen Fieberkranken halten, wenn auch mein Körper gesünder ist als der alte Feldscher zugibt, und es ist nicht gut, wenn man zu genau von allen Phantasien eines Genesenden Rechenschaft verlangt.«

»Es regt nur auf, was schlummern gehen sollte,« bemerkte Eugenie.

»Wir dürfen also bald den Durchmarsch des Kürassier-Regiments *** erwarten?« unterbrach zum Grafen gewandt, Stephan das Gespräch.

»So meinten die Fouriere. Es soll mir ein Vergnügen sein, unseren alten Freund und ehrenwerten Feind, den Major, der es jetzt als Obrist kommandiert, wieder zu begrüßen, obgleich ich es ihm nie vergebe, wenn er Sie uns mitnimmt. Sie sollten noch einige Wochen bleiben –«

»Keine Sekunde!« rief Stephan. »Nur die preußische Trommel, fühle ich, wird die noch entwichenen Lebensgeister wieder zurückrufen. Es wäre besser für mich, ich wäre schon dem Freikorps gefolgt.«

Ein Blick Eugenies traf ihn. In dem Augenblick ließ sich draußen eine Trommel vernehmen. Sie zuckte zusammen: »Mein Gott, was ist das?« Einige sprangen ans Fenster.

»Das ist keine preußische Trommel,« – sagte der Offizier – »und doch –«

Der Graf kehrte lachend zurück: »Keine Unruhe, meine Freunde. So viel der Staub zu sehen erlaubt, ist es der Bärenführer. Die Trommel mag eine preußische sein, sie ist aber etwas degradiert. – Wie du blaß bist, mein Kind! Woran denkst du?«

»Ich dachte an den Augenblick,« entgegnete Eugenie, »an jenen Abend, wo auch die preußische Trommel von der Straße wirbelte.«

»Vergessen wir alles, was hinter uns liegt,« sagte Stephan, »und denken nur an das vor uns.«

»Alles!« warf Amelie ein. »Das wäre doch schlimm. So fiele ja auch das, was wir noch tun wollen, bald in dieselbe Klasse des Vergangenen, und was sollte uns Mut machen weiter zu arbeiten? Für uns Frauenzimmer wäre die Maxime noch erträglich, zum Exempel wenn dabei auch die Jahre ins vergessene Register kämen, aber für Helden, die um den Ruhm, alles was sonst das Leben interessant macht, in die Schanze schlagen, paßt sie nicht.«

Der Marquis griff in das Gespräch ein, sich erst für das pro, dann für das contra ereifernd, zuletzt kam er darauf hinaus, der Ruhm wäre eitel, auch Kronen könne man vergessen, aber keine Ehrenkränkung. Denn von einem Bogen Papier, von einem weißen Kleide, so wohltätig der Anblick sei, bliebe doch nichts so vor dem Auge schweben, als ein Fleck darauf. »Nur daß alles Weiße,« warf der Graf ein, »chemisch zersetzt, nichts als ein glänzender Fleck ist, hinter welchem der Stoff zur Fäulnis da liegt, wie der Schnee, das allerglänzendste Weiß, sich im Frühling in Kot auflöst.« – Stephan, wieder in Gedanken verloren, fragte dazwischen, ob man nichts vom Rittmeister Izwitz wisse? Amelie behauptete, ein so zerstreutes, häßliches Tischgespräch noch nicht gehört zu haben und meinte, die Serviette hinwerfend, man solle lieber zum Bärenführer gehen, denn der Witz der Affen verspreche mehr Unterhaltung als der der gelehrten und tapferen Kavaliere an der Mittagstafel.

Die Gesellschaft nahm halb unbewußt den Vorschlag an, vielleicht mehr durch den Tumult im Dorfe als Amelies Worte hingelenkt. Die Hohlstraße zwischen den Linden, in der Nähe des Kretschams, bildete den Hauptschauplatz, zu dem ein rotjäckiger Affe auf dem Rücken eines Kamels, das ein Trommelschläger führte, einlud. Die Dorfjugend stürmte lärmend hinter den drei Tieren her, denn der polnische Sklave, ungeschickt wie sein Bär, mochte kaum, eingehüllt den ungelenken Körper in einen alten schmutzigen Pelz, die ungelenken Füße in ungeheuren Wasserstiefeln und über dem fettigen schwarzen Haar eine ungeschlachte Bärenmütze, auf höheren Rang in der Tierwelt Anspruch machen als das Kamel mit seinem ehrenfesten Tritte; und im Vergleich zu dem zierlichen kleinen Affen, der auf dem Rücken desselben Äpfel fing, fraß und den Knaben zuwarf, trat der Mensch fast allzusehr in den Schatten. Die Mittagssonne einiger heiteren Tage hatte den Sand des Bodens pulverisiert und die Staubwolken um die Tritte des Kamels machten den Spaziergang so wenig angenehm, als das Schauspiel selbst es für die feingebildeten Zuschauer zu sein versprach. Sie lächelten sich auf ihrem erhöhten Schauplatz unter den Linden an, der Graf bemüht, durch ein Gespräch mit dem Marquis seine Nichtaufmerksamkeit für die Sprünge an den Tag zu legen, während jener darzutun suchte, daß die Affen im südlichen Europa zu Hause sein könnten, wenn man etwas auf ihre Kultur verwenden wollte. Nur Amelie amüsierte sich, zum Verdruß ihres Schutzherrn und vielleicht um so mehr als er ihn verriet, dem geschickten Tiere Näschereien zuzuwerfen. »Sollte man große Affen nicht zu guten Soldaten abrichten können?« fragte sie, sich zu Stephan umwendend. »Der preußischen Erziehung müßte, dünkt mich, alles möglich sein, und der Stock könnte doch auch hier einen patriotischen Trieb erwecken.«

Stephan achtete nicht darauf; sein Auge verfolgte einen Hund, der sich dann und wann im Zirkus sehen ließ, halb als freiwilliger Zuschauer, halb als Wächter. Er trieb den Affen hinauf, wenn er Miene machte, vom Kamel herunterzuspringen, und fuhr selbst wohl mit einem Satz auf das geduldige Tier, eben nicht zur Freude des armen Affen, welchen des Hundes kluge Augen dicht vor seinem possierlichen Gesicht in nicht geringe Angst versetzten.

Die Kunststücke der Tiere boten so wenig als die deklamatorischen Erklärungen ihrer Führer etwas Besonderes; obschon die Bauern und ihre Kinder sich kaum durch die Anwesenheit der hohen Zuschauer zurückhalten ließen, ihr ungeheures Erstaunen in allerlei Worten und Tönen laut zu machen. Die Mütze ging umher und kam natürlich schwerer zurück, als ihr Eigentümer bei einer Dorfvorstellung erwarten konnte. Nun sollte dafür auch noch etwas Außerordentliches Trumpf und letzte Zugabe werden. Beim Schall der Trommel und einiger verstimmten Blasinstrumente wurde der Bär aufgefordert, sich über seine Kräfte anzustrengen. Petz indessen, schon ermüdet durch die Tagesarbeit, schien zu meinen, daß er für den gewöhnlichen Lohn bereits genug getan, und von dem außerordentlichen doch nichts abbekäme. Er wollte so wenig den Worten als der Musik gehorsamen. Der Führer riß ihn an der Kette, er zauste ihn am Ohr; der Bär hielt es für geratener, sich in den Sand zu werfen. Als ihm sein Tanzmeister hierhin folgte, entstand eine Kontension, die jedem minder abgehärteten Körper als dem seines Lehrers hätte äußerst gefährlich werden können, allen aber es insofern wurde, als sie einen unermeßlichen Staub aufwühlte. »Schlag zu! Schlag zu!« schrie der Liegende seinen Kameraden an, und dieser folgte der Anweisung in dem Maße, daß die Wirkung bei jedem anderen als dem Bären statt des gewünschten Aufstehens das Liegenbleiben gewesen wäre. Das Kreischen der Dorfjungen, das Grunzen des Bären, die Schläge, das Geschrei der Führer, das Stöhnen des Kamels, das Kläffen der Hunde und die Mißtöne der Instrumente harmonierten mit den Staubwirbeln, man konnte nichts sehen und nichts hören, und die Gesellschaft wandte sich instinktartig zugleich von dem unangenehmen und empörenden Schauspiel ab.

Ihnen vorangegangen waren indessen bereits der Marquis und Stephan. »Ich kann das Prügeln nicht sehen,« rief dieser.

Der Marquis sah ihn hell an und drückte ihm kräftig die Hand. »Du bist doch von meinem Blut. Morgen, Etienne, sollst du erfahren, was noch keines Menschen Ohr gehört und noch keines Menschen Zunge ausgesprochen.«

»Morgen,« sagte Stephan – er sagte es vielleicht nur, um etwas zu sagen – »morgen oder übermorgen, meinte der Schulze, kommen die Kürassiere.«

»Dann um Mitternacht erwarte mich,« flüsterte der Marquis ihm zu, als die Gesellschaft sie eingeholt. Man trennte sich nicht wieder bis zum Abendessen.


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