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Fünftes Kapitel.
Träumereien in Köpenick

Warum drückte die leichte Flanelldecke, mit der die Mildtätigkeit des Kastellans den Gefangenen versehen, ihn, als läge der Berg Atlas auf seiner Brust? Und die Nacht war doch kalt! Der Mond schien ins Fenster, der Wind rauschte über die Heide, er kam von Berlin her. Selbst die Glocken der Türme glaubte er zu hören, als es ganz still war.

Er sprang auf. Eine kalte, klare Nacht lag auf dem Spiegel der Spree. Der Sand drüben sog das Mondlicht ein. Silberne Lämmerwolken schichteten sich über das blaue Gewölbe des Horizonts. Die Brücke war aufgezogen, es brannten nirgends Wachtfeuer, kein menschliches Wesen war zu sehen; nur drüben an den blendend weißen Leichensteinen des Köpenicker Kirchhofs bewegten sich einige dunkle Gestalten.

Was wiegte diese Nacht in ihrem geheimnisvollen Schoße? Ein Geräusch von drüben, es flog etwas am Waldsaume hin, dürre Zweige brachen, ein Pferd galoppierte. Bald jagte der Reiter über die mondhelle Stelle, sein Schatten flog über die Leichensteine hin, die Hufe des Pferdes dröhnten dumpf auf den morschen Bohlen. Er hielt, er rief, er forderte Einlaß. Ungeduldig wiederholte er den Ruf, man kapitulierte, man wollte erst anfragen beim Kommandanten. Seine Flüche oder seine Ungeduld siegten. Die Brücke rasselte nieder und der Reiter stob über das Pflaster nach dem Schlosse.

Was brachte der Adjutant? Befehl zum Überfall? Berlins Unterwerfung? Nachricht von Friedrich? Und die Garnison wußte nichts davon! Das Herz stürmte mit mächtigen Schlägen gegen Stephans Brust. Konnte er nicht noch hinfliegen, atemlos, auch tot, seine ausgestreckte Hand mit Friedrichs Schreiben war ja genug. Fühlte er sich nicht stark, die Tür zu erbrechen? Er riß, sie ging von selbst auf, sie war nicht einmal verschlossen! Was war das?

Ach, sie war fester verriegelt, als mit hundertpfündigen Schlössern, mit der Großmut des Generals. – Die heiße Stirn auf das kalte Fensterbrett gelehnt, fragte er sich, ob je hier ein Gefangener gesessen, je einer hier sitzen würde, den so schwere Fesseln anketteten. Seine Logik hatte keinen Ausdruck für die Fragen, die ihn wie Blitze an einem gewitterschweren Himmel durchzuckten. Wußte nicht der General, wer er war, was er vorhatte, was von dieser Sendung abhing? Hatte der brave Mann nicht schon seine Pflicht als Untertan, als Befehlshaber seiner Kaiserin verletzt, indem er ihn nicht vor ein folterndes Kriegsgericht stellte, ihn nicht durchsuchte, ihn nicht in Ketten legte, – ja, er konnte, er sollte mehr tun! Und warum unterließ er es? – – Hätten Tod und Leben für Stephan selbst auf dem Spiele gestanden, der Besitz seiner teuersten Hoffnungen, o, er hätte keinen Augenblick gezaudert. – Aber das Vaterland, das Schicksal von Hunderttausenden, sein König, seine Pflicht – und wenn es Pflicht war, eiserne Pflicht, warum zauderte er doch, warum wagte sein Fuß sich nicht über die Schwelle? – »Warum tat er es denn nicht? Was hinderte, was band ihn?« fragte er sich laut. »Weil er mit meinem Vater befreundet? Wieviel Richter verurteilen die Söhne ihrer Freunde zum Tode, Brutus seine eigenen! – Nein, weil eine freundliche Regung für mich aufstieg, weil mein Blick ihm gefiel, weil ich ihm leid tat. Darum setzte der General seine Pflicht aus dem Auge, darum spielte er die edelste Komödie, darum vielleicht setzte der Feldherr seiner Kaiserin einer Verantwortung sich aus, die ihm an den Hals geht. Und sein letztes Wort war: Ich vertraue darauf

Friedrichs Stern sank, es versank das Meteor der zu erringenden Ehre, das, wie er es sich auch abgeleugnet, doch spöttisch lächelnd zu seinem reinen Eifer, im Hintergrunde aufgestiegen war. Er entsagte dem Ruhm, Berlin zu retten, der Pflicht gegen seinen König, empfahl dessen Sache einer Macht, welcher er keinen Namen gab, und versuchte sich am Stolz zu berauschen, daß er einer Ehre gefolgt, deren Beweggründe nur einer außer ihm kannte. Da drang ihm ein Klang ins Ohr, wie sein Name. War es Täuschung der aufgeregten Phantasie? Aber es wiederholte sich. Das Wasser plätscherte, sonst war es tiefstill. Er sah hinaus. Der Mond war halb versunken hinter dem Fichtenwalde, und nur der obere Teil des Schlosses wurde von ihm beschienen: das Mauerwerk bis über das erste Geschoß, der Fluß und die Brücke lagen im Halbdunkel. Doch glaubte er gerade unter seinem Fenster sich etwas bewegen zu sehen. Das Wasser plätscherte, ein kleiner Nachen war dicht an die Mauer getrieben, und ein Mann lehnte sich, aufs Ruder gestützt, an die Wand. Das Gesicht des Mannes war ihm zugekehrt, aus den geöffneten Lippen drangen Töne, Silben, Worte herauf, aber der Nachtwind trug sie nicht bis zu ihm, und doch glaubte er sie zu verstehen. Kein Mondstrahl fiel auf das Gesicht, und doch glaubte er es zu erkennen.

Was konnte der Mann hier wollen? Warum die Heimlichkeit? Wen konnte man hier fürchten? Nur die Feinde des Königs. Also ein Preuße, ein Lauscher für die Garnison. Er hatte ihn, den Gefangenen, gesehen, vielleicht erkannt. Er wollte ihn retten, Botschaft von ihm haben. Die Vorstellungen jagten sich durch sein erhitztes Gehirn. Er bog sich über, er machte dem Schiffer ein Zeichen, der Mann antwortete, daß er ihn verstände. »Wer da?« zischelte der Gefangene hinab. Die Frage wäre bei der Höhe der Wand kaum hinuntergekommen, wenn er sie laut, unbekümmert um die Schildwachen, getan hätte. Und doch tönte es ihm an der unvollkommenen Schallleiter wie eine Antwort herauf: »Gut Freund!« Der Entschluß war schnell wie der Gedanke da. Stephan wickelte ein Band fest um die Brieftasche, er küßte sie, und faltete die Hände; der Mann unten sah alles und nickte mit dem Kopfe; nun maß er die senkrechte Tiefe, die Brieftasche fiel, das Wasser blitzte auf, der Kahn bewegte sich, aber nur von der Anstrengung des Schiffers, den kostbaren Wurf zu fangen. War es ihm gelungen? – Es mußte ihm gelungen sein; denn ohne zu suchen, stieß er von der Mauer ab. Stephan zeigte nach Berlin zu, er streckte beide Arme aus, wie segnend über den Schiffer, und dieser schien ihn zu verstehen. Er ruderte so geräuschlos als möglich hinüber. Jetzt landete er unentdeckt; eine andere Gestalt reichte ihm den Arm, er sprang heraus, und der Kahn, achtlos wie ein Werkzeug, das man nicht mehr braucht, zurückgelassen, schwamm, vom Strom getrieben, weiter. Stephan jauchzte: »Er weiß, was er trägt!« Die dunklen Gestalten, von seinen Segnungen begleitet, verschwanden mit vorsichtig eilenden Schritten nach der Heide, welche den Fahrweg gen Berlin verbirgt. Pochenden Herzens blieb der Gefangene am Fenster, bis sie die Vorposten mußten umgangen haben, bis er sich mit angestrengtem Ohr für versichert hielt, daß kein Anruf, kein Schuß durch die Nacht klang. Eine Zentnerlast war von seiner Brust gewälzt. Bebend vor Lust, oder wie hieß das Gefühl, – sank er auf seine Matratze. Die Posaunenengel, hell im Mondlicht, das noch den Plafond der Stube beschien, blickten mit ihren Pauswangen munter auf sein schon dunkles Lager.

Was hatte er getan? Wem hatte er sein Geheimnis vertraut? Wer bürgte ihm für den unbekannten Schiffer? Nicht einmal eine flüchtige Versicherung desselben. Ohne nur ein Wort zu brechen, konnte der Fremde die Depeschen den feindlichen Generalen ausliefern. Wie wollte er sich einst verantworten, wie vor Friedrichs Augen bestehen, deren Blick in die verschwiegenste Tiefe der Brust dringt? Und doch war seine Brust leicht. Eine Stimme, die kein Gewicht vor dem Richter hat, die er nicht einmal laut werden lassen darf, sagte ihm: die Briefe sind in guter Hand. Er wußte nicht, wer der Schiffer war, er hat es nie erfahren, aber es mußte ein Freund sein, ein guter Preuße, warum konnte es nicht sein Bruder sein? Nichts hatte er gesehen, als die dunklen Umrisse einer kräftigen, männlichen Gestalt, nichts als ein paar Laute gehört, die, aus gepreßter Kehle vorgestoßen, vom Winde verweht in der Entfernung, nichts waren, sie konnten ebensogut von einem Knaben, einer Bauerndirne, wie von Gottlieb herrühren. Und doch war es Gottlieb vor seiner Phantasie, der unten im Kahn stand, er war es, der mit kräftiger Hand über den Strom ruderte, er, der drüben aussprang, nur sein Bruder brachte die Depeschen nach Berlin. Seine Fesseln wurden leicht; eine Vorstellung hatte sie gesprengt, sie fühlten sich wie Blumenketten an.

Wie schnell verschwand der selige Traum, schnell wie die rosigen Feenschlösser des Abends. Gewiegt von der freudigen Vorstellung, schloß er die Augen auf dem Kissen, und die ersten Träume zwischen Schlaf und Wachen zogen schon wie unfreundliche Regenwolken über den lichten Horizont. Es war noch hell und schon wieder dunkel; es regnete und schneite, und war kalt. Die Dielen öffneten sich, und der russische General stieg bis zur Brust auf, nickte ihm höhnisch zu, und fragte, ob er einen Gruß von ihm nach Berlin bestellt hätte? Mit einem Male veränderte sich die Szene. Gottlieb schritt durch einen Sumpf nach Berlin, da faßte ihn jemand am Schopf, es war General Tottleben. Sie rangen beide, und stürzten über das Brückengeländer ins Wasser. Gottlieb schwamm, die Brieftasche im Munde, weiter. Tottleben ging unter, aber sein blutender Kopf kam wieder zum Vorschein, und trieb wie der verlassene Kahn unterm Schlosse gegen die Brückenpfosten, und der offene Mund fragte immerwährend den Gefangenen, ob dies das geschenkte Vertrauen belohnen heiße? Der Schlummernde wälzte sich, um die häßlichen Bilder zu verscheuchen, aber sie wollten nicht gehen. Er strengte sich an, Gottlieb zurückzurufen, und erst als Gottlieb auf einmal stehen blieb, und sich, den Kopf in den Händen, niedersetzte, wurde ihm wohl. Der General schien zufrieden, sein Haupt tauchte unter, und von allen Türmen Berlins läuteten die Glocken.

Die Leutseligkeit seiner Gefangenwärter erstreckte sich nicht bis dahin, ihm Gesellschaft zu gönnen. Noch brachte Stephan einen Tag, noch eine Nacht in banger Angst zu. Die Einsamkeit, die Untätigkeit rief aus den kaum überwundenen Phantasien reiche Bilder hervor, nur zu bereit, zu erscheinen, und ihren Herrn zu meistern. Das Ohr auf dem Boden, horchte er die Kanonenschläge heraus, er wollte die preußischen und die russischen unterscheiden; an der Bildung, am Zuge der Wolken erkannte er den Dampf der Geschütze, am Zuge der Krähen die Wendung der Gefechte. Es dröhnte auf der Treppe, die Tür ging auf, und der General trat herein, jemand an der Hand, der unsichtbar blieb. Er fragte ihn lächelnd nach seiner Brieftasche, und als Stephan sie nicht aufweisen konnte, forderte er ihn auf, ihm in ein anderes Zimmer zu folgen. Dort ließ er die Hand los, und der unsichtbare Begleiter wurde nun sichtbar, ein Leichnam lag er auf der Erde, von Picken durchbohrt – der Chevalier. Es kostete alle Manneskraft, diese immer wiederkehrenden Tagesgespenster zu vertreiben. O er war froh, daß es Gespenster blieben, denn er hätte Tottlebens Blick nicht ausgehalten. Wachend, nüchtern mußte er sich die Frage wiederholen, auf die er keine Antwort wußte. Was hatte er getan, als doch Tottlebens Vertrauen getäuscht! – Die menschliche Schwäche findet einen Trost in sich selbst. Zwei Wünsche kämpften in ihm: daß die Depeschen an ihr Ziel gelangten, und: daß er sie nie fortgegeben, daß sie noch auf seiner Brust ruhen möchten! Der Trost des Schwachen war, daß er selbst sich ganz ohnmächtig fühlte, das eine zu fördern und das andere ungeschehen zu machen. Die Entscheidung lag in einer höheren Hand.


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