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Achtes Kapitel.
Die beste Welt

Man übernachtete früher, und anders als man gewollt, in einer Fuhrmannsschenke am Wege. Die Schwadron lag hier, deren Patrouille die Reisenden eskortiert hatte. Boten wurden alsbald ausgesandt, um Nachricht vom Marquis zu erhalten. Der Graf, die Komtesse, Amelie waren beruhigt. Nur Stephan schien in Gedanken versunken, wenn er minutenlang am Fenster stand, wo ihm von unten die lauten Stimmen der Husaren heraufschallten, welche keine Lust zu haben schienen, das reichliche Geschenk der Reisenden bis morgen in den Taschen zu behalten.

Für die Bequemlichkeit war nicht zum besten gesorgt. Amelie kochte Tee, ein seltenes Getränk in jener Zeit, mehr wie eine Arznei nach dem Schreck, als wie eine Erfrischung; der Graf blätterte in seiner Brieftasche und Eugenie saß, blaß und schön, auf dem Bette, ihren linken Arm leicht in einer Binde.

»Kommen Sie her, Etienne,« sagte sie freundlich und hielt ihm die Hand entgegen. »Schütten Sie Ihre Sorgen vor der Schwester und Freundin aus. Ihr Pflegevater wird wiederkommen und meine Wunde wird übermorgen heil sein, wenn Sie um uns beide besorgt sind.«

Er küßte die Hand. »Um den Marquis habe ich keine ernste Besorgnis. Man muß diesen Mann kennen, um zu wissen, wie er sich aus jeder Gefahr zu ziehen versteht. Wer steht dafür, daß er nicht freiwillig verschwunden ist!«

Er setzte sich zwischen den Damen an den Tisch, und doch waren seine Gedanken in der nächsten Minute weit entfernt von den Freundinnen, die sich alle Mühe gaben, ihn zu erheitern. Er war seit dem Vorfall stiller als sie ihn je gesehen, fast konnte man ihn verstört nennen.

»Was ist das, Etienne! Dürfen wir es nicht wissen?« fragte Amelie.

»Es will mich ein Bild nicht verlassen,« sprach er, mit der Hand über die Stirn fahrend.

»Mein Gott, Sie machen ein Gesicht, wie damals bei dem Rückfall.«

»Es ist auch dasselbe Bild.«

»Sie sind uns noch immer die Erklärung schuldig.«

Der teilnehmende Blick der Komtesse unterstützte die Aufforderung des Fräuleins. Ein tiefer Seufzer machte sich Luft aus Stephans Brust, die Aufforderung schien ihm willkommen:

»Sie wissen so viel, warum nicht das auch. Ich hatte in meines Vaters Hause einen Bruder –«

»Gottlieb!« fuhren die beiden Damen auf. Stephan erinnerte sich, daß er ihnen von diesem Bruder erzählt.

»Wir nahmen immer so lebhaft teil an dem gutmütigen Jungen, wie er Sie so oft vertreten, gerettet. Es ist unrecht von Ihnen, daß Sie uns nicht längst schon mehr von ihm erzählt haben,« sagte die Komtesse.

»Eben Ihre lebendige Teilnahme, meine Freundinnen, ließ mich schweigen. Ich konnte Ihnen nichts Erfreuliches mehr sagen.«

»Was ist aus ihm geworden? Sprechen Sie; uns interessiert alles.«

»Fragen Sie lieber: Was hat die barbarische Strenge des Vaters aus ihm gemacht?«

»Ich erinnere mich,« sagte Amelie, »Sie erwähnten einmal, daß er aus dem Hause gejagt, unter die Soldaten gesteckt wurde. Die Details blieben Sie uns schuldig.«

»Ich kann Ihnen das jetzt nicht alles wiederholen. Gottlieb erhielt freilich nur sein Recht, aber ein Recht, das, wenn es gegen jedermann streng zur Ausübung käme, uns alle zu unverbesserlichen Sündern machte. – Mich empört die bloße Erinnerung,« fuhr er sinnend fort, »wie der Vater handelte, und doch litt der Mann vielleicht mehr dabei als der gestrafte Gottlieb, vielleicht mehr als wir alle. Es war eine Grausamkeit aus Pflichtverletzung, aus einer religiösen Schwärmerei. Er dünkte sich als Mann zu handeln, indem er gegen sein eigenes Gefühl handelte. Glaubte doch der herbe Friedrich Wilhelm, er müsse als königlicher Richter seinen eigenen großen Sohn hinrichten lassen, und er glaubte, es sei noch gegen sein Gewissen, als er ihn begnadigte.«

»Vermutlich dachte man wie bei Hofe auch in den Bürgerhäusern,« bemerkte Amelie.

»Es war eine Verirrung der Tugend bei einem armen, arbeitsamen, strengen Volke,« fuhr Stephan fort, »das von seinem dürftigen Boden zur rastlosen Tätigkeit angewiesen war. Das Nützliche war so dringend, daß man an das Schöne nicht denken konnte, und die Üppigkeit an Friedrich Augusts Hofe, welche Sachsen entnervte, war eine zu gute Lehrerin. Sie hat gewiß nicht wenig auf die republikanische Strenge unseres vorigen Königs gewirkt; und verdanken wir nicht diesem eisernen Boden, aus dem er aufwuchs, die Kraft unseres Helden, dessen herrliche Gaben an einem weichlichen Hofe vielleicht untergegangen wären!«

»Sie verteidigen die Grundsätze Ihres Vaters und kommen von Ihrem Bruder ab, der uns mehr interessiert.«

»Ich stelle ihn mir lebendig vor, wie er Sie aus den Händen der Krämersfrau befreit,« sagte Amelie. »O, ich möchte ihn einmal sehen!«

»Und wenn Sie ihn nun gesehen hätten,« sprach Stephan, die Augen zu Boden.

»Sie machen uns entsetzlich neugierig. Sahen Sie ihn denn wieder, seit Sie Berlin verließen?«

»Wenn es doch nur ein Traumbild wäre! Zu meiner Schande bekenne ich, daß er lange Zeit mit allen Erinnerungen aus dem elterlichen Hause in mir untergegangen war. Mit der Liebe für Preußen erwuchs auch sein Bild wieder. Jener Grenadier bei Kollin, der bis auf den letzten Atemzug für Friedrich lebte, erweckte sein Andenken. Ich weiß nicht warum, aber ich wünschte, es wäre Gottlieb gewesen; mich überkam die Überzeugung, es wäre ein Glück für ihn, wenn er geendet.«

»Er ist vielleicht längst nicht mehr Soldat,« sagte Eugenie, Amelie zuwinkend, daß sie von einem Gespräche abbräche, welches den Genesenden sichtlich aufregte. Stephan merkte es.

»Nein, meine Freundinnen, es muß heraus. Kann ich teilnehmendere Seelen finden, um ihnen mit zu vertrauen, was mich nun einmal bewegt? Ich habe ihn wiedergesehen, Eugenie, es war der Missetäter, den sie im Dorfe gepeitscht, den sie bei uns an der Laube vorüberschleppten, dem Sie voll mitleidigen Entsetzens meine Börse zuwarfen; ich sah, erkannte sein dunkles Bild bei Hochkirch, um ihn im nächsten Augenblick in der entsetzlichen Nacht wieder zu verlieren –«

Eugenie und der Graf hörten mit Aufmerksamkeit zu.

»Der Unselige –« rief die Komtesse schaudernd.

»Und er lebt noch –« sprach der Graf.

»O was gäbe ich darum, wenn ich ihn in Ehren begraben wüßte,« fuhr Stephan fort. »Ich konnte es glauben, ich zwang mich, es zu glauben, während es in Dresden meine erste Bruderpflicht war, mich, sobald ich ausgehen konnte, nach dem Freikorps zu erkundigen, von dem ein Teil damals noch in der Stadt lag.«

»Die Einwohner dankten dem Himmel,« bemerkte der Graf, »als es fortgezogen wurde.«

»Ich arbeitete in den Tagen meiner Genesung, wie Sie wissen, in dem Gartenzimmer, das nach dem Wall hinausgeht. Eines Abends vertiefte ich mich im Schreiben. Es waren die Jugenderinnerungen, von denen Sie einige Abschnitte so gütig angehört haben. Das Bild des unglücklichen Bruders, wie er tückisch dastand vor dem unbarmherzigen Vater, wie sie ihm den Rock auszogen, ihm die Montur anzwangen, wie er mit trotzigem Blicke kehrt machte, um die Schwelle des Vaterhauses nicht wieder zu betreten, war mir vor den geschlossenen Augen in aller Lebendigkeit aufgestiegen. Lebt er, fragte ich mich, oder ruhen seine Gebeine unter der Rasendecke, unter den wallenden Ähren eines der Schlachtfelder, die den Ruhm von tausend tapferen Preußenherzen bergen, ein großes Leichentuch für ihre Namen, das nur die Ewigkeit lüften wird? Da glaubte ich ein Geräusch zu hören, ich schlug die Augen auf, es regte sich etwas am Fenster. – Der Mond schien hell. – Ein Mann in Uniformstücken erhob sich bis über die Brust draußen und stierte mich an. – War er's – oder war's ein Traum, eine Fieberphantasie? – ›Gottlieb, was willst du?‹ schrie ich; das Entsetzen gab mir eine Kraft, wie Kindern vor Gespenstern. Die Fenster klirrten, das Bild verschwand, ich glaubte, es stürzte etwas – ich kam erst wieder zu mir, als Sie, meine Freundin, an meinem Bette standen, und mich fragten, wie es mir ginge?«

»Man fand eine Leiter nachher am Fenster,« sagte der Graf.

Ein unwilliger Blick der Tochter traf den Vater. »Es waren Fieberphantasien, Etienne, lassen Sie es dabei ruhen.« Sie bemühte sich mit Laune Geschichten zu erzählen, wo fieberhaft Erhitzte ähnlich getäuscht worden. »Wie viele hätten nicht tote Freunde, ja sich selbst gesehen! Ihre ganze Seele war einmal in dem Augenblick bei Gottlieb, kein Wunder, daß jeder Blumentopf vor dem Fenster, oder, wenn es ein Soldat war, jeder blaue Rock mit rotem Kragen vor Ihren geistigen Augen sich in den verwandelte, den Sie einmal sehen wollten. Sie werden Berlin, Ihr Elternhaus wieder sehen und auch den armen Gottlieb; aber gewiß ganz anders, als Sie es sich vorstellen.«

»Wenn ich ihn nun gestern schon wieder gesehen hätte?« fuhr Stephan auf und wandte sich ab. Es war nicht eine Person unter den Zuhörern, welche weniger als der Erzähler durch den dumpfen Ton seiner Worte erschüttert geschienen. Niemand sprach ein Wort mehr. Eugenie sagte, als sie sich trennten, freundlich seine Hand drückend: »Ihre Phantasie ist und bleibt Ihr schlimmster Feind. – Betrachten Sie mich immer als Ihre Schwester.« Die Betonung der beiden Worte hätte die Feindin, vor der er gewarnt worden, aufregen müssen; aber die Phantasie schweifte in anderen Regionen.

Der Aufbruch der Husaren zwang auch die Reisenden, schon am frühen Morgen ihr Nachtquartier zu verlassen. Nach ihren Gesichtern zu urteilen, mochte niemand von der Gesellschaft geschlafen haben. Der Graf bemühte sich umsonst, durch Geld und Versprechungen von dem Detachement eine Eskorte zu erhalten, die Angst trübte seine Laune; Amelie und Stephan waren sehr still, Eugenie, die mutigste, wenigstens die aufgeregteste, besorgte allein die Geschäfte. Der Leutnant hatte wenigstens die Freude, seinen Burschen, der mit einem Husarentrupp über Nacht angekommen war, wieder zu finden. Er war es gewesen, der beim Ausmarsch der Preußen seinen kranken Herrn hatte vorstellen müssen, und die passive Rolle bis zum Tor ziemlich gut gespielt hatte. Der Graf freute sich, einen bewaffneten Mann mehr um sich zu wissen, der im Fall der Not auch wohl bessere Dienste leisten dürfte als der Marquis, von dem keine Nachricht eingehen wollte. Die Dienerschaft desselben folgte weniger als der Graf bekümmert dem Freunde ihres Herrn; denn es war nicht das erstemal, daß er sie plötzlich verlassen, ohne Anzeige, ohne Grund, und, ebenso plötzlich wieder erscheinend, ihnen nicht im geringsten die Mühe gedankt hatte, die sie sich gegeben, ihm auf die Spur zu kommen. »Der Mann gehört einer vergangenen Zeit an, er hat sich selbst überlebt,« urteilte der Graf. »Seine Phantasien führen ihn auf geradem Wege ins Kindesalter zurück.«

Die fernere Reise geschah nicht ohne Aufenthalt und Gefahr. Sie mußten durch ein Terrain, welches die Streifpartien beider Teile sich streitig machten. Verwüstete Felder, ausgeplünderte Dörfer, Armut, Mangel, roher Soldatenübermut überall, und nur die diplomatische Gewandtheit des Grafen – so glaubte er – brachte sie glücklich durch die Parteigänger der kriegführenden Mächte; wohingegen auf jeder Station, von jedem Kommando, das ihnen Schutz gewährte, seine Angst durch die Warnungen vor den Marodeuren gesteigert wurde. Auch die Nachrichten vom großen Kriegsschauplatz beruhigten keinen Teil der Gesellschaft. Die preußische und die österreichische Armee schienen in einzelne Korps aufgelöst; in der allgemeinen trostlosen Verwirrung war keine Gewißheit gebende Entscheidung zu hoffen. Für Friedrich lauteten sie insgesamt trübe, aber die drohende Ankunft der Russen konnte nicht einmal seine erklärten Feinde befriedigen.

Eugenies Herz blutete bei den Leiden des Landvolks; ihre Börse war schon bei den ersten Stationen geleert. Kaum hielt man sie, daß sie nicht aus dem Wagen stürzte, als sie einmal einen Bauern mißhandeln sah, der sich geweigert hatte, seine Pferde auszuspannen. »Was hat der arme Mann gesündigt, was hat mein Vaterland verbrochen? Trägt der arme Hüfner die Schuld, daß Friedrich Schlesien nahm, daß die Kabinette sich gegen ihn verschworen, daß Menzel das Archiv verriet? Drei Jahre haben Freunde und Feinde sein Brot gegessen, seine Kühe geschlachtet, ihre Pferde haben in seinem Hafer gewühlt; er hat liefern müssen, was ihm übrig blieb, sie haben gebrandschatzt, geplündert, seine Kornfelder zerstampft. Bei Nacht, im Sturm, Regen hat er, gestoßen, geprügelt, ihnen den Weg zeigen müssen, sie zwangen ihn zu schanzen, während die Kugeln um ihn summten, und jetzt muß er froh sein, daß sie ihm nur die letzten Pferde und nicht das Leben nehmen.«

»Ändern wir's?« sagte Amelie.

»Es läßt sich leiden,« fuhr die Gräfin fort, »wenn uns eine auch wie geringe Schuld drückt, auch wenn die Strafe in gar keinem Verhältnis dazu steht.«

»So trösten wir uns damit, liebe Freundin, daß den guten Bauer gewiß auch eine Schuld drückt. Wenn er auch nicht mit geholfen hat, Schlesien zu nehmen, hat er doch vielleicht seinen Bruder bei der Erbschaft übervorteilt, den Vater im Altenteil gekränkt, seine Frau geprügelt. Wer weiß, ob er sein Gut nicht selbst vertrunken hätte, wenn ihm nicht die Soldaten zuvorgekommen wären.

»Glaubst du denn an eine beste Welt?«

»Sie liegt am Ende in uns selbst.«

» Wir, Liebe, träumen uns vielleicht eine Vollkommenheit zusammen, die Phantasie zeigt uns einen Trost – aber der arme Bauer: Zieht ihm die Phantasie nun den Leiterwagen fort? Wenn sie ihm seine Hütte niedergebrannt, seine letzte Kuh geschlachtet, seinen Pelz vom Leibe gezogen haben, kann er sich warm träumen? Wenn er dasitzt, auf dem rauchenden Schutt und die Arme verschlungen, den ersten Schneewolken entgegensieht, tröstet ihn da der heulende Wind?«

»Sie stellen sich das wie eine Gräfin vor, deren zarter Fuß nie in andere als seidene Strümpfe fuhr und die den Winter sich nicht denken kann ohne taftgefütterten Zobelpelz. Sind unsere Voreltern in Wäldern und Höhlen nie glücklich gewesen? Denken Sie an unseren Ochsenjungen, der nie einen Strumpf auf den braunen Beinen gehabt und nie anders geschlafen hat, als auf bloßem Stroh, und haben Sie je bemerkt, daß es dem drolligen Burschen an Trost gebrach! In Ungarn soll's Hirten geben, die nie unter einem Dach, im Winter gar im Schnee schlafen, wo er am tiefsten liegt! – Ist das nun nicht recht vornehm stolz von Ihnen, zu glauben, daß der Bauer keine Phantasie hätte? Er denkt nicht an Italien und Petrarca; aber an eine rauchende Biersuppe, an einen Schnaps, und ist so glücklich als wir, die selbst eine Leberpastete gleichgültig läßt, weil wir immer einen verdorbenen Magen haben. Überhaupt, Cousine, wir sind schlechte Wirtschafterinnen mit dem Gute, das uns der Himmel gegeben. Wieviel Glückseligkeit ließe sich aus Ihrer einen für hunderte, ja für tausend Geschöpfe bereiten, und Sie sind nicht einmal selbst damit zufrieden.«

»Sind die Leiden nicht die größten, Amelie, wo man für andere mitleidet? Du scheinst zu meinen, daß Hunger, Durst und Kälte das Bitterste ist, was jemand treffen kann und eine volle Tafel, Seidenkleider und was dahin gehört, das höchste Glück.«

»Ich meine eigentlich, daß man nur da ein Recht hat, für andere mitzuleiden, wo ihnen das helfen kann. Wo nicht, halte ich es für unnütze Quälerei. Man quält nicht allein, was einem niemand verbieten kann, sich selbst, sondern auch die anderen mit. Ich meine, die Guten könnten alle glücklich sein, wenn nicht der Stolz und Eigensinn wäre. Eine gute Portion von den Guten will absolut Märtyrer sein, und wenn wir auch nicht mehr auf Spitzsäulen klettern, um oben vom Regen gewaschen und von der Sonne gebleicht zu werden, so finden wir tausend andere Arten heraus, um uns zu quälen und darauf was zu gut zu tun. Ein Mann, zum Exempel, will nicht um die Hand seiner Geliebten anhalten, weil sie reich und er arm ist, er dünkt sich ein entsetzlich tugendhafter Held und bedenkt nicht, daß das Mädchen, die ihn wirklich liebt, sich über seine Tugend zu Tode grämt, oder Sie, zum zweiten Exempel, Komtesse –«

»Erinnere dich unseres Abkommens,« fiel Eugenie schnell ein.

»Fürchten Sie nichts, Cousine, ich muß mir ja Ihre neue Glückseligkeit gefallen lassen. O, ich will Sie auch bewundern, und, wenn das nicht abgöttisch wäre, wollte ich Ihnen einen Tempel bauen und allemal, wenn ich mir etwas nicht versage, was ich mir versagen sollte, wollt' ich meiner Göttin Weihrauch opfern und sie recht sehr um Verzeihung bitten, daß ich gar keine Lust verspüre, ihr nachzuahmen. Über die Tür des Tempels schriebe ich: ›Sorgen ohne Not.‹«

»Dafür gibt es auch Not ohne Sorgen. Hältst du das für besser?«

»Gewiß; denn eine recht große Not,« fuhr das Fräulein fort, »eine, die uns aller Sorge überhebt, ist im Grunde ein Glück. Stellen Sie sich vor, der arme Bauer hat sich die Jahre über abgequält, mit seinem Hab und Gut, das täglich geringer wurde, hauszuhalten. Er stand mit Sorgen auf und ging mit Sorgen zu Bette. Nun hat er endlich nichts mehr, die Marodeure, die ihm das Letzte nahmen, sind seine Wohltäter; er ist von Gott und Rechts wegen ein Vagabund; er kann selbst unter die Soldaten gehen, selbst plündern, wirtschaften in anderer Gut, die Verzweiflung macht ihn zum freien und glücklichen Manne.«

»Kannst du dir auch den Himmel der Verzweiflung denken,« fiel die Gräfin ein, »wo man hinaus ist über allen Erdenschmerz, alles erduldet hat und von keiner Hoffnung mehr getäuscht wird, wo man sich berauscht in dem Gefühl der Nichtigkeit des gesuchten Glückes, der Ohnmacht des überstandenen Schmerzes, wo eine Träne die höchste Wollust wird –«

»Dann geht man in ein Kloster La Trappe –«

»Man kann auch täglich auf ein Hoffest gehen, im steifen, unbequemen Kleide, zwischen kalten Menschen müßte man leere Redensarten eintauschen, immer aufmerksam, gefällig, nichts versäumend. Das ist ein ärgeres La Trappe als in der Normandie. So lange man mit sich selbst allein ist, lebt noch der Schmerz; wo man frische Wiesen sieht und grüne Bäume und den blauen Himmel, da ist auch die Hoffnung noch nicht abgestorben. Nein, in der tödlichsten Langenweile hergebrachter Förmlichkeiten, da kann man am besten lächeln, weil, was das Auge trifft, schal und gleichgültig, daran erinnert, daß uns alles – alles gleichgültig wurde.«

»Ach, wie viel glücklicher sind doch die Männer –« rief Amelie plötzlich aus.

»Warum das?«

»Wenn sie am Hofe bleiben müssen, und alt sind und stumpfsinnig und kein Gefühl mehr haben, dann können sie noch immer intrigieren – denn wenn auch alle anderen Empfindungen längst abgestorben sind, der Ehrgeiz bleibt leben.«

»Intrigieren die Frauen nicht?«

»Ja, aber nur für andere; sie selbst bringen's zu nichts; die guten Zeiten, wo man Päpstin Johanna werden konnte, sind vorüber. Ein Mann kann von Geburt schon mehr als wir, er darf dem Schein trotzen; wenn er alt wird, wird er darum weder eine alte Frau noch eine alte Jungfer, er wird ein Greis. Wenn er stumm ist, nennt man ihn ehrwürdig, wenn er faselt, liebenswürdig, wenn er ein gescheites Wort vorbringt, erstaunenswürdig. – Im Kriege schlägt der Mann zu, er nimmt keine Einquartierung ein, er bleibt nicht zurück beim Abschied, sondern zieht vorwärts und weiter. Er kann Haus und Hof verlassen und schlimmstenfalls geht er unter eine Räuberbande.«

Eugenie schauderte unwillkürlich zusammen. Ein schneller Blick aus Amelies dunklen Augen bemerkte ihre Bewegung. Rasch nahm sie wieder das Wort.

»Der arme Gottlieb! Und ich sage doch, er ist glücklicher als Etienne.«

»Wie kannst du nur scherzen?«

»Ich scherze nicht.«

»Du gefällst dir in Paradoxien.«

»Nein, Cousine, diesmal nicht. Die Eltern haben ihn fortgejagt aus dem Hause, sie haben ihn unter die Soldaten gesteckt; die Soldaten haben ihn wahrscheinlich auch fortgejagt. Es will ihn niemand haben, alle stoßen ihn aus, fangen mit ihm Krieg an; nun weiß er, woran er ist, er stößt sie wieder, er fängt auch Krieg an mit aller Welt, er ist etwas – ein Räuber. Was ist denn der arme Etienne? Den haben sie auch gestoßen und geneckt, aber etwas säuberlicher. Sie zwangen ihn nicht gerade fortzulaufen, aber sie nötigten ihn doch. Die Geschichte im elterlichen Hause hat sich bei den Kaiserlichen wiederholt. Sie gaben ihm nicht den Laufpaß mit Schimpf und Schande; aber er konnte mit Ehren nicht bleiben. Weiß er jetzt, wie er bei den Preußen dran ist? Sie sagen, er wäre ein braver Soldat und zeigen ihm den Rücken. Und hier bei uns? Wenn er fort wollte, würden wir uns die Augen ausweinen, aber wenn er uns den Arm bietet, uns in den Wagen zu führen, nehmen wir ihn nicht an. Ein Straßenräuber weiß jeden Augenblick,, was er zu tun hat, wer sein Freund ist und wer sein Feind, und das Mädchen, das ihn erst einladet und dann ihm vor der Nase die Tür zuschlägt, schlägt er ebenfalls tot.«

»Deine Phantasien sind heute fürchterlich.«

»Es ist auch eine fürchterliche Zeit.«

»Hast du die Geschichte von dem Judenmädchen mitgehört?«

»Freilich. Wäre das in Italien passiert, da wäre er von den Soldaten desertiert, hätte das Mädchen entführt, in die Berge geschleppt, sie wäre eine Räuberbraut und er ein freier Mann, ein Mann, den man fürchtet und nicht verabscheut. Sehen Sie, Cousine, welchen Unterschied ein paar Grade nördlich und südlich machen. Da würde des armen Gottliebs Kühnheit und Liebe in Liedern gepriesen werden, edle Damen sängen sie zur Gitarre; hier spottet man über ihn, wenn man von ihm spricht, nennt ihn einen liederlichen Taugenichts und schämt sich seiner.«

»Wenn er doch tot wäre!« sprach Eugenie vor sich hin.

»Und das Judenmädchen?«

»Weißt du, ob sie ihn geliebt hat?«

»Gewiß.«

»Wir alle wissen nichts davon.«

»Sie muß ihn geliebt haben; wie jeder Unterdrückte einen freien Menschen lieben muß. Aber hätte eine echte wahre Glut in ihrer Seele gelodert, so hätte sie auch die kalten Sittengesetze der fremden Heimat verachtet; barfuß wäre sie ihm gefolgt, sie hätte sich als Mann verkleidet, wäre unter die Soldaten gegangen, ihm nicht von der Seite gewichen, mit ihm hätte sie gehungert, gedurstet, gefroren; wenn er erschöpft nicht weiter konnte im morastigen Hohlwege, sie hätte ihm zugelächelt, zugerufen: ›Mut, Gottlieb, ich bin bei dir.‹ Arm in Arm wären sie ins Feuer gegangen, das Brüllen der Kanonen wäre ihr Hochzeitslied gewesen, die Blitze von der Redoute hätten ihnen festlich ins Auge geleuchtet. Zwei Kugeln aus einem Geschütz treffen beide in die Brust. Sie wären niedergesunken, Arm in Arm, und über die Leiber der so Vermählten stürmten die anderen fort, gefühllos wie immer der Strom der Welt sich hinwälzt über die Herzen, die fühlen. Er hat nun einmal keine Empfindung. Da liegen sie – es ist still um sie her geworden – sie möchten noch einmal Mund an Mund drücken, die Lippen öffnen sich, die Kraft versagt – die Hände drücken sich fest, die Augen blicken sich an, jedes möchte dem anderen Licht einhauchen, bis der Glanz tot wird, der Druck der Hand kalt. Wäre das keine Hochzeit, so heilig, wie nur eine, die der Priester segnet?«

Amelie wandte das Gesicht ab, als sie ausgesprochen, Eugenie sah vor sich nieder, beide schwiegen und keine wollte der andern die Tränen zeigen, die sie verstohlen abwischten.

»Du hast eine Novelle gedichtet,« sagte die Gräfin.

»Ja, es ist nur eine Novelle, und Novellen gehören nach Italien und Spanien,« entgegnete das Fräulein. » Wir haben kein Recht zu fühlen, und wenn uns das Unglück begegnet, müssen wir's ja nicht merken lassen. Es war auch keine Tochter des Orients, mit dunkel glühender Leidenschaft, mit Pulsen, die rebellisch schlagen gegen die weichen Formen und die harten Sittenregeln, es war nur ein simples Judenmädchen und sie dachte an den Fluch des Vaters, an seine Eisenkasten und blieb ein gehorsames, vernünftiges Kind, was auch recht, gut und besonders vernünftig ist.«


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