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Drittes Kapitel.
Not und Hilfe

Auf der Treppe war Amelie, mit sich uneinig, stehen geblieben, als einige Damen der aufgelösten Gesellschaft ihr schon von oben entgegenkamen. Es bedurfte kaum ihres Scharfblicks, um in den freudestrahlenden Gesichtern zu lesen, was sie vorhatten, nämlich eben empfangene Neuigkeiten auszutragen. Nicht Amelies Zärtlichkeit, nicht ihr schelmisches Drohen, daß sie davonflögen, wenn sie käme, bewogen auch nur eine länger zu verweilen, als nötig war, um sich zu embrassieren. Erst als sie oben die Kammerrätin auffing und mit lauter Stimme rief: »Wissen Sie denn schon– machten auch die Halt, die schon bis zur Haustür waren.

»Was denn?« fragte es.

»Den Skandal!« sagte Amelie mit von Lachen unterdrückter Stimme. Das mächtige Wort zog wie ein Magnet die Vorposten zurück.

»O reden Sie, liebes Kind,« äußerte die mütterlich besorgte Kammerrätin.

»Ach, unsere würdige Klinkauf!« rief das Fräulein und streckte den Arm über das Geländer hinauf. »Darf ich ein bißchen hinaufkommen; eine Geschichte habe ich, eine süperbe Geschichte.«

»Liebstes, bestes Fräulein, von Herzen gern. Warum sind Sie nicht früher gekommen? Treten Sie ein, – die Damen werden wohl auch die Güte haben –«

»Nicht doch, sie erfahren es schon noch« – sagte Amelie – »was soll ich die Damen noch einmal heraufinkommodieren.«

Die würdigen Frauen sahen sich fragend an.

»Es ist ja noch nicht spät, liebe Süßmilch –«

»Wenn uns die gute Klinkauf noch bei sich haben will –« entgegnete die Süßmilch.

Amelie war am Arme zweier Freundinnen in das Gastzimmer gedrungen, und es fehlte, als sich die Tür wieder schloß, keines der hochfrisierten Häupter, welche um den Tisch gesessen, als die Kannen noch dampften. Die geläufige Zunge der spät Hinzugekommenen war unerschöpflich in Erwiderung auf die Liebesversicherungen, und besonders wurde die Wirtin mit süßen Versicherungen überschüttet:

»Wie lange wir Sie nicht bei uns gesehen haben! Ist das recht, liebe Klinkauf, ist das recht unter Freundinnen wie wir! Der Graf sagt: ›Ich muß etwas der Klinkauf getan haben, sie kommt nicht mehr, sie grüßt nicht mehr; was ist das.‹ – Hat auch der Graf gefehlt, was haben wir verschuldet! So rächt man sich doch nicht. Ach und die gute Komtesse ist untröstlich. Wissen Sie noch, wo wir uns zuletzt sahen? Es war an der katholischen Kirche. Wir stiegen die Walltreppe hinauf und Sie gingen über die Brücke – halt, ich versah mich, Sie gingen nach dem Zwinger. Sie drohten uns noch von der Galerie her mit dem Finger. Ach, wir haben eine schwere Zeit gehabt, die Angst und die Kontributionen und die Einquartierung; liebe, beste, süße Klinkauf, welche Freude, Sie wiederzusehen und so wohl. Wie ging es Ihnen die schlimme Zeit?«

»Sie wollten ja, Liebste,« – fing die Hagere an.

»Ach, Fräulein Süßmilch! Bei Gott, ich hätte Sie nicht wiedererkannt, so stark sind Sie geworden. Wissen Sie, die Belagerung ist bei Ihnen gut eingeschlagen. Sie sehen ohne Scherz wie eine frische Augustrose aus. Da dürfen wir uns nicht sehen lassen. Im ganzen Hotel ist keinem die schmale Kost bekommen. – Stand denn bei Ihnen auch das Wasser in den Kellern?« –

»Der Kaffee wird schon kalt sein, sonst würde ich –« sagte die Wirtin.

»Der Kaffee unserer Klinkauf hat zu gutes Renommee in Dresden, kalt und warm, um nicht auf ein Schälchen Appetit zu haben,« entgegnete das Fräulein wider Erwarten, und schob sich mit ihrem Stuhl an den Tisch.

»Was ist denn eigentlich passiert, meine Gute?« sagte die beleibte Dame, sich zu ihr setzend.

»Sie verzeihen, ich bin noch etwas außer Atem von den hohen Treppenstufen. Darf ich um ein Stückchen Kuchen bitten –«

Die Tochter der besorgten Mutter präsentierte den Teller. Amelie nickte ihr zu: »Wie scharmant die Ottilie sich auswächst. Ich sehe sie noch, wie sie in Blasewitz auf den Tisch sprang und die größte Waffel von der Schüssel nahm. Darum brauchst du dich nicht zu schämen, mein Herzensmädchen, wir waren alle einmal Kinder. Nicht so, liebe Kammerrätin?«

»Sie haben sich doch jetzt erholt, – von der Treppe mein' ich.«

Amelie aber mußte den Kuchen essen, und wäre sie noch ein Kind gewesen und die Gouvernante hätte neben ihr gesessen, wie die wißbegierigen Damen jetzt, so wäre sie gescholten worden über die unmanierliche Art mit beiden Händen und die großen Bissen und daß sie stumm auf die Fragen nur ein Ja zunickte, und wie sie drauf, gleich einem unartigen Mädchen, die Wirtin am Rock zupfte, deren Aufmerksamkeit doch zwischen dem Fenster und dem neuen Gaste geteilt schien. »O, Sie müssen bei uns bleiben, liebe Klinkauf. – Womit haben Sie sich denn die Zeit vertrieben in der langen Belagerung? Uns drüben ist sie recht lang geworden.«

»In der Stadt will man doch nicht der Meinung sein,« bemerkte die Wirtin im gedehnten Tone.

»Ach die bösen Zungen! Wenn wir von denen nichts zu leiden hätten, wie viel ruhiger könnten wir leben! Nicht wahr, meine würdige Freundin!«

»Was gibt es denn eigentlich?« fragte Ottilies Mutter, und die Blicke der ganzen Gesellschaft wiederholten so dringend die Frage, daß Amelie nicht mehr vom Treppensteigen erschöpft sein durfte.

»Aber in Gegenwart des Kindes!« sagte sie mit einem mißbilligenden Blick zu Ottilies Mutter.

»Ottilie, geh hinaus!« befahl diese. Aber Ottilie wollte nicht gehen.

»Mama, Sie haben gesagt, wenn ich erst erwachsen wäre, brauche man kein Geheimnis vor mir zu haben.«

»Ottilie, sei nicht unartig.«

»Mama, Sie haben gesagt, ich wäre jetzt ein erwachsenes Mädchen.«

Der Kammerherr trat eben aus dem Nebenzimmer. Er mußte sehr wichtig beschäftigt gewesen sein, da er, unbekannt mit Amelies Ankunft, nur Ottilies letzte Worte gehört zu haben schien.

»Wer wagt unserer liebenswürdigen Kleinen abzustreiten, daß sie erwachsen sei,« fragte er, ihre Hand graziös an die Lippen drückend.

»Fräulein Amelie will eine Geschichte erzählen, und ich soll hinausgehen.«

»Fräulein Amelie! ...«

Beide sahen sich und beide durchzuckte, als sie sich sahen, ein Etwas, das bei beiden nicht dasselbe Etwas war. Der Kammerherr wurde rot, das Fräulein nicht. Der Kammerherr dachte an etwas Vergangenes, das Fräulein an etwas Künftiges, der Kammerherr wußte nicht, was er tun sollte, das Fräulein wußte es im Augenblick, der Kammerherr war erschrocken und das Fräulein sehr vergnügt.

Während der Name noch auf seinen Lippen schwebte, war ihm die Besitzerin desselben schon mit vollkommener Unbefangenheit um den Hals gefallen.

Und als die sprachlose Umarmung zum sprachlosen Erstaunen vorüber war, trocknete Amelie mit dem Taschentuch das Auge und hielt ihm die Hand hin: »Sie guter, guter Kammerherr – da waren wir nun so lange getrennt und da sehen wir uns jetzt wieder. – Wenn doch das immer der Mensch bedächte, wenn er Abschied nimmt, daß er wiederkommen kann! Nicht wahr, lieber Kammerherr, das ist wahr? Ach, es gibt Wahrheiten im Leben, die niemand wegleugnen kann. Wir wissen das. Und wie Sie gesund aussehen! Wie ich mich dazumal um Sie geängstigt habe. Es geht nichts über Angst. Das greift die Nerven an.« –

Der Kammerherr wußte nicht, was er sagen sollte, Amelie auch nicht, wie es weiter gehen sollte, aber die Damen konnten meinen, das gehöre zur Skandalgeschichte, und das wollte sie auch nicht. »Wie uns unsere Freundinnen ansehen! – Ja, wäre es anderswo, lieber Kammerherr, da dürften wir nicht geradeaus sprechen, wie uns ums Herz ist. Aber ich ... denke in Augenblicken, wo es einem übergeht, nimmt man's nicht so genau. Wir sind ja hier unter uns, unter lauter guten Menschen, und die verstehen sich doch! Nicht wahr, wir verstehen uns?«

Sie drückte so herzlich der Kammerrätin und dem Fräulein Süßmilch und der Steuerrätin die Hand, trocknete wieder das Gesicht. Und während noch alle gerührt oder betroffen waren, kam sie doch zuerst wieder zu Worten: »Aber mein Gott, Kammerherr, wie kommen Sie nach Dresden? Kamen Sie mit den Österreichern, oder waren Sie versteckt während der Belagerung? Wenn das war, ach, ich hoffe aber nicht, – gut, daß ich es dann nicht gewußt; ich hätte keinen ruhigen Augenblick gehabt, keinen einzigen, um Gottes willen, Kammerherr, welchen Gefahren haben Sie sich exponiert!«

»Die gute Klinkauf hatte es übernommen, ihren Protegé die Zeit über zu verstecken,« sagte die korpulente Dame. »Nicht wahr, die ganze Zeit über?«

Amelie war so glücklich, aus einer Überraschung und Entzückung in die andere übergehen zu können, und jede war doch eine Lüge wert, die sie währenddessen hätte vorbringen können. Sie mußte die Wirtin für ihre unbeschreibliche Güte und Aufopferung küssen und wieder küssen und die Wißbegierigen bekamen noch nicht ihre Geschichte.

»Sie meinen, holdseliges Fräulein –« hub der einzige Mann unter den drei Damen jetzt mit entfärbtem Gesichte fragend an.

»Daß es um Sie geschehen war, wenn man Sie entdeckt hätte! Ach, Sie kennen nicht diese Preußen. Meine Freundinnen, wäre es nicht entsetzlich gewesen, wenn diese rohen Unmenschen einem Kavalier wie unserem Kammerherrn auf die Spur gekommen wären. Ich versichere Ihnen, mit Stricken hätten sie ihn gebunden, ohne Distinktion mit Stricken, ihn auf einen Leiterwagen gelegt, ohne Matratzen, ohne Stroh – können Sie sich vorstellen, lieber Kammerherr, Sie ohne Stroh – ach, der Kopf wird mir schwindlig.«

»Apropos!« fiel die Rätin ein. »Bei der Matratze! Ist denn Ihre liebe Einquartierung, meine Gute, aus dem Tore ruhig herausgekommen? Ich sah, wie Sie den guten Mann einpackten, und dachte bei mir: Ach Gott, ach Gott, ein so gebrechliches und krankes Geschöpf – er konnte ja nicht ein Glied rühren – wenn er über Stock und Block durch Nacht und Wind fährt –«

»Sie sind die Güte selbst, –« sagte Amelie, mit einem langen Blicke, der den Rest der Rede aus den Mienen der Wirtin auszusaugen schien.

»Man ist doch ein Mensch, fühlt doch auch menschlich – mein liebes junges Fräulein. Ist's gleich nur ein Preuße, war's doch ein hübscher, junger Preuße. Denken Sie sich, beim Tumult am Tor, wenn da ein solcher wilder Kroat den Wagen umgestoßen hätte, der arme Kranke wäre aufs Straßenpflaster gefallen, denken Sie sich, bestes Fräulein, ein gebrechlicher Körper, der an eine Extrapflege gewöhnt ist, hielte das nicht aus. Denn Pandurenfäuste greifen anders zu, als solche liebe, kleine, feine Hände.«

»Wir müssen alle sterben, liebe Klinkauf. Dürfte ich Sie um eine Prise ersuchen.«

»Sie sind zu grausam gegen die Männer, liebstes Fräulein.«

»Dafür liebe ich meine Freundinnen desto mehr.«

»Man sah Sie aber doch auch recht freundlich gegen den Protegé Ihrer – verehrungswürdigen Familie.«

»Der Undankbare! Das sind die Männer alle. Verzeihung, lieber Baron, Sie machen eine Ausnahme, Sie sind dankbar – das weiß ich – auch für den kleinsten Dienst.«

Der Baron drückte die Hand an die Brust. »Allein jenen Menschen, ich bitte Sie, erwähnen Sie dessen nicht mehr, aber erzählen muß ich Ihnen, wie er sich gegen uns benommen hat –«

»Mama, ist denn das die Geschichte?« sagte Ottilie halblaut. –

»Ach, tausend Geschichten lassen sich von ihm erzählen, tausend Geschichten, mit denen ich das Zartgefühl unserer würdigen Freundinnen nicht beleidigen will. Sie haben recht, was habe ich nicht für ihn getan, was tat nicht die Komtesse, was nicht unser Graf. O unsere Menschenliebe hat uns bei unseren alten Freunden, sie hat uns am Hofe, sie hat uns in Warschau geschadet. Das war ihm gleichgültig. Der Impertinente meinte, was man gutwillig gab, darauf hätte er ein Recht.«

Mit einer Zungenfertigkeit, welche selbst diesen Zirkel in Erstaunen setzte, häufte sie auf den unglücklichen Abwesenden eine Last von Vorwürfen, aus deren verworrener Verschlingung auch ein Rabulist sich nicht herausgeholfen hätte. Indem sie niemand zu Worte kommen ließ, übersah sie, daß ihre überwundene Gegnerin die Niederlage nur zu einem neuen Angriff benutzte. Denn als ihr Atem zu Ende schien, erhob sich die Klinkauf mit triumphierender Miene:

»Aber, mein wertgeschätztes Fräulein, sagen Sie, wer ist der Verwundete in dem Kabinett der Komtesse.«

»Der Leutnant ist längst mit der Garnison zum Tore hinaus.«

»Das werden Sie uns doch nicht glauben machen wollen, da unsere Freundin, die Frau Steuerrätin, den vermeintlichen Leutnant gesund wie einen Fisch aus dem Wagen springen sah – wie einen Fisch gesund, sage ich Ihnen – auch ging der Doktor ja vorhin erst fort. Hat unsere menschenfreundliche Komtesse vielleicht zwei Preußen aufgenommen, vielleicht zwei Brüder, die sich so ähnlich sehen, daß man sie verwechselt?«

Die Blicke der zwölf Damen hafteten mit schadenfroher Lust auf Amelie, so scharf, daß ihnen der stumme Gedanke, der sich zu den Lippen drängte, nicht entgangen wäre. Aber nur einen Moment zuckte flüchtige Röte über ihr Gesicht, nur einen Moment suchten ihre Blicke den Boden; dann die Arme der zunächst Stehenden heftig ergreifend, sprach Amelie:

»So ist es verraten! – Ich rechne auf Ihre Verschwiegenheit – ich bitte, riegeln Sie die Tür ab –«

Es war im Augenblick geschehen.

»Ihre scharfen Augen haben Sie nicht getäuscht. Wir verbergen jemand im Kabinett, der um alles in der Welt nicht entdeckt sein will.«

»Ja, das glaube ich,« sagte die Klinkauf, jede Silbe mit schmunzelnden Lippen verschlingend.

»Er rechnet ganz auf Sie, Teuerste,« fuhr Amelie fort. »Der Marquis von Cabanis ist hier.«

»Der Marquis?« rief es.

»Sie nehmen mir die Botschaft aus dem Munde,« sprach der Baron.

»Sie wissen das, Kammerherr,« fuhr die Wirtin auf, »und haben mir nichts gesagt!«

»Eben während Sie die Damen hinausgeleiteten, fuhr sein Reisewagen drüben vor. Kaum hatte ich ihn rausspringen sehen, so stürzte ich herein, es zu melden, als ich die Damen angenehmer durch unsere Freundin unterhalten fand. Der Postzug steht noch vor der Tür.«

Im nächsten Augenblick waren alle bis auf eine am Fenster. Amelie stand in der Mitte des Zimmers und dankte es der Dämmerung, die einen Schleier auf die Blässe geworfen, welche plötzlich ihr Gesicht überzogen. Sie verwünschte und pries doch im Augenblick den Zufall, welcher die Zuschauerinnen verhinderte, Zeuginnen der wiederkehrenden Röte der Bestürzung zu werden. Wer sie gesehen, wie sie ihr Batisttuch mit den Fingern zerriß, die Lippen kniff und mit der Spitze ihres kleinen Fußes die Diele stampfte, hätte Eugenies nie betroffene Freundin nicht wiedererkannt. Der Mops, der ihr zu nahe kam, erhielt einen Stoß mit dem Fuß, und das Wort »Zufall!« welches sich dabei aus ihren Lippen pressend, verriet, daß er nur der Repräsentant für ein körperloses Wesen sei, dem man keinen Fußtritt geben kann, durfte dem armen Geschöpf für seine unverdienten Leiden keinen Trost gewähren. Doch nur wenige Momente herrschte diese finstere Gewalt über das immer heitere Mädchen; als die Flut der allgemeinen Aufmerksamkeit vom Fenster zurückwogte und aufs neue mit fragenden Blicken die erste Verkünderin der nicht erwarteten Neuigkeit umgab, strahlte der Sieg, oder wenigstens der Mut zu siegen, wieder in ihren Augen.

Die erste Frage: »Was will der Marquis hier?« schwebte auf zehn Zungen. »Was hat der Marquis mit dem Kranken zu tun?« war die nächste und Ottilies Frage: »Ist denn das die Geschichte?« bildete den Refrain.

Amelie wollte von Staatsgeheimnissen sprechen, sie wollte durch Winke die gefährlichste ihrer Gegnerinnen, die Wirtin, auf ihre Seite ziehen, die Aufmerksamkeit war aber zu gespannt, um sich jetzt noch durch Winke und Andeutungen befriedigen zu lassen.

»Der Marquis kann doch nicht im Bette liegen, da unser Freund ihn eben aus dem Wagen springen sah,« sagte die Klinkauf.

»Und sie schließen richtig, meine Freundin,« entgegnete ihr zunickend mit mehr Feierlichkeit das Fräulein. »Wer aus dem Wagen springt, um einen Kranken zu besuchen, der kann nicht dieselbe Person mit dem Kranken sein, der im Bette liegt.«

»Er will ihn besuchen,« rief es.

»Wenn er uns nicht besuchen wollte, warum wäre er gekommen, meine Freundinnen! Ja, der im Bette liegt –«

»Ist er krank?« unterbrach es auf die Weise von vorhin.

»Ach, das ist eben das Geheimnis – und doch, ich hoffe, es soll Ihnen keine halbe Stunde länger ein Geheimnis bleiben. Lassen Sie mich hinüberfliegen, den Marquis um die Erlaubnis bitten – Ihnen wird, Ihnen darf er sie nicht verweigern – und dann erfahren Sie vor aller Welt zuerst, wer dieses gefährliche, wer dieses interessante Wesen ist, dessen Leben nun hoffentlich außer aller Gefahr schwebt –«

»Ach, gewiß ein Spion!« schrie Ottilie.

Amelie hielt mit drohendem Lächeln die Finger an den Mund. »Indessen die Preußen sind ja nicht mehr hier,« setzte sie hinzu, »und was dazumal Verbrechen war, ist bei anderen Umständen auch etwas anderes geworden –«

Sie wollte nach der Tür, aber man ließ sie nicht.

»Ich fliege mit Ihnen,« rief die Klinkauf, in ihre Saloppe fahrend.

»O wir alle,« rief die Hälfte der Versammelten.

»Um des Himmels willen,« wehrte das Fräulein ab. »Sie kennen den Marquis –«

»Eben weil ich ihn kenne, will ich aus seinem eigenen Munde hören –« sagte die Wirtin.

»Er verzeiht es mir nun und nimmer – er will vielleicht noch nicht hier sein –«

»Dann wäre er mit sechsen vorgefahren!« warf ihr die entschlossene Gegnerin ein. »Mein liebes Fräulein, wenn von vertrauten Hofangelegenheiten die Rede ist, dann sind andere Leute die Vertrauten des Marquis –«

»Hören Sie mich,« sprach Amelie, die Wirtin festhaltend und schien doch noch nicht zu wissen, was diese von ihr hören sollte. »Es ist ein Privatgeheimnis, eine teure, werte Person; stören wir nicht die ersten Gefühle des zärtlichen Wiedersehens –«

»Ist es vielleicht sein Sohn?« fuhr plötzlich die Klinkauf auf.

Amelie schwieg, die Dunkelheit war zum zweitenmal ihre helfende Vertraute. Ein Blitz durchzuckte sie. Plötzlich hing sie dem Fräulein an der Brust: »O mein Gott, verraten Sie mich nicht; ich habe es Ihnen nicht gesagt.«

»Es ist sein Sohn!« hallte es echoartig durch das Zimmer. Amelie hatte diesen ersten Augenblick der Verwunderung wohl berechnet, um sich loszureißen und durch die Betroffenen sich drängend, Tür und Treppe zu gewinnen. Selbst einen Entschluß, im Notfall Gewalt zu gebrauchen, hätte man in den Mienen des entschlossenen Mädchens lesen mögen, der diesmal nur alles darauf ankam, ihren Gegnerinnen den Vorsprung abzugewinnen. Noch aber hatte sie nicht die Tür erreicht, als diese aufging und im hellen Scheine vieler Kerzen jemand eintrat, den weder sie noch die Gesellschaft erwartet und dessen Erscheinen das ganze künstliche Gebäude ihrer Lügen auf einmal umwarf.

Es war der Marquis: aber anders als wir ihn drüben gesehen. In voller Grandezza eines wirklichen oder eingebildeten Wertes stand er auf der Schwelle; durch diese, seine Hackenschuhe und die aufrechte Haltung, die er affektierte, fast groß zu nennen. Zwei Jäger hielten hinter ihm vier Armleuchter empor und das Licht der acht Kerzen strahlte auf seinen Scharlachrock, die goldenen Tressen desselben und die silbernen des Kastorhutes unter dem Arme. Auch die Miene des sonst wenig gebieterischen Gesichts hatte etwas Feierliches, an Hoheit Streifendes, als er auf der Schwelle, den rechten Fuß wie zum Menuettschritt etwas vorgebeugt, stehen blieb und, ohne den Kopf zu neigen, die noch halb im Dunkel eingehüllte Versammlung musterte. Daß es auf ein Imponieren abgesehen war, mußte man aus dem Umstande entnehmen, daß er mit zwei Jägern und vier Armleuchtern – mochten sie auch erst im Hausflur angezündet sein – über die Straße gekommen war. Aber einige mit heraufgekommene freiwillige Zuschauer, welche ihre neugierigen Gesichter hinter der hellbeleuchteten Gruppe hervorstreckten, vermehrten die Feierlichkeit derselben.

In dieser Attitüde blieb er eine Weile stehen, die Damen musternd. Mit Wohlgefallen schien er das Erstaunen in allen Abstufungen auf den Gesichtern zu lesen und mit demselben Gefühl hörte sein scharfes Ohr, wie es von Mund zu Munde ging: »Es ist der Herr Marquis.« Es war eine stumme Pause, aus Verwunderung, Staunen und Lust; und nur eine Person teilte nichts von diesen Gefühlen, Amelie, die, wie alle Hoffnung aufgebend, sich auf einen Armstuhl lehnte.

»Ich grüße Sie, meine Damen!« sagte der Eintretende und neigte ein wenig den Kopf und bewegte ein wenig den Hut. Von dem Luftzug der elf bauschigen Frauenröcke, welche im selben Augenblick in weiten Kreisen die Dielen küßten und ebenso wieder aufrauschten, wurden die Flammen der Kerzen geweht. Nur die Klinkauf grüßte nicht, sondern flog ihm entgegen.

» Oui, c'est mon cher Marquis!« sie stürzte ihm um den Hals. Der Marquis erwiderte mit der Grazie der Zeit die stürmische Begrüßung, wußte sich aber sogleich wieder freizumachen und durch sein gehaltenes Wesen die Dame in die Grenzen zurückzuweisen, welche sie gegen seinen Willen überschritten hatte. Auch mochte die besondere Vertrautheit, welche sie dadurch an den Tag zu legen versuchte, nicht ganz nach seinem Sinne sein, denn er begrüßte nun jede der anderen Damen auf dieselbe artige Weise. Die Tür war wieder geschlossen, die Armleuchter standen auf dem Tische und die Jäger in ehrerbietiger Erwartung an der Schwelle.

»Ist die Dame krank?« fragte er leise, auf Amelie deutend, welche den Kopf gesenkt, nichts von allem, was um sie vorging, zu sehen schien, als ihre kleine Hand, welche sie fest zusammengepreßt auf den Tisch drückte.

»Meine Teure,« sprach die Wirtin, »hier ist der Marquis. Er ist expreß herabgekommen, um uns das aufzuklären, was Ihre Verschwiegenheit uns mitzuteilen für zu gut hielt.«

»Daran erkenne ich diese würdige junge Dame –« sagte der Angeredete und hob die Unwillige sanft auf – »o, wenn doch jedes Geheimnis so gut aufbewahrt würde.«

»Ein Geheimnis!« wiederholte es durch das Zimmer. »Nun erfahren wir es am Ende doch nicht,« klagte Ottilie halblaut.

»Es bedarf keines Geheimnisses mehr,« erwiderte der Marquis.

»Kurz und gut!« rief die Wirtin, ob durch das Benehmen des Marquis oder durch den nie ganz unterdrückten Verdacht gegen Amelies Aufrichtigkeit mehr gereizt, bleibe dahingestellt. Aber die lebendigere Röte ihrer Wangen, der Glanz ihrer Augen, die zitternde Beweglichkeit ihres Körpers deutete auf einen heftigen Entschluß. »Kurz und gut, mon cher Marquis!« rief sie. »An der Nase lassen wir uns nicht herumführen, wir wissen, was wir sehen, und Anstand und Sitte sind uns etwas wert. Ist der kranke Mensch drüben in Meronis Alkoven ein preußischer Offizier oder Ihr Sohn?«

»Er ist mein teurer Sohn,« entgegnete der Marquis, jede Silbe betonend.

Amelie war aufgesprungen, sie stand auf den Zehen und folgte ungläubig den Bewegungen seiner Lippen. Eine Liebende, welche das unerwartete Ja von denen des unerbittlichen Vaters hört, kann nicht aufmerksamer dem Zucken seines Mundes, dem Blicken seiner Augen, dem Schalle seiner Stimme folgen. Noch traute sie nicht ihren Ohren, noch kaum ihren Augen, so weit sie sie aufgerissen hatte. Einmal war es ihr, als müsse sie dem alte Manne um den Hals fallen, dann als könne alles nur Täuschung sein. Aus letzterer riß sie die nächste Anrede desselben, die er mit großer Herablassung und Aufmerksamkeit an sie richtete.

»Wie dank' ich Ihnen, mein wertes Fräulein, für Ihre Vorsicht. Sie wußten nicht, daß die Freundinnen meiner würdigen Klinkauf auch die meinigen sind, und daß ein Geheimnis zwischen ihnen und mir ein Verstoß gegen diese Freundschaft wäre. Sagen Sie mir, meine Teure, was die Damen bereits durch Sie wissen, damit ich ihnen ihre kostbare Zeit durch keine Wiederholung raube.«

»Nichts,« riefen viele zugleich. Amelie aber fand es geratener, dieses Nichts durch viele Worte zu erläutern, welche der Marquis, ihre Hand in seiner haltend, ebenso aufmerksam abzuwägen schien, als sie bei jeder Silbe ihn prüfend ansah. Als sie ausgesprochen, nickte er wohlgefällig und hub eine lange, man konnte meinen, wohlstudierte Rede zum Lobe der Freundschaft, des Edelmuts, der Aufrichtigkeit und der Nächstenliebe an. Einige von der Gesellschaft hielten die Tücher an die Augen, und auch der Marquis schien so gerührt, daß er sich niedersetzte.

»Und während unserer ganzen Belagerung war er drüben versteckt?« fragte die Wirtin.

Der Marquis hob die Hände gravitätisch zum Himmel und sprach von den Greueln des Krieges, von der Ruchlosigkeit der Soldaten, von den Gefahren der Belagerung, und er hätte sich noch weiter von der Frage entfernt, hätte ihm die Ungeduld der Klinkauf dazu Zeit gelassen.

»Wenn Meronis drum wußten, warum blieb es uns verborgen?«

»Und darauf soll ich unserer Klinkauf mit drei Worten antworten, mit drei dürren Worten, wo der Entschluß eines Jahres dazu gehörte! Die Zeit wird kommen, wo wir triumphieren, meine Freundin, wo die rohe Gewalt einer weisen Abschätzung der Mittel und Wege unterliegen muß. Morgen, meine Freundin, hoffe ich auf eine Stunde, wo wir, wie in glücklicheren Zeiten, unseren Scharfblick prüfen und wägen können. Ich habe Ihnen viel, viel mitzuteilen, aber mein erstes Geschäft wird sein, Sie zu überzeugen, daß kein Mißtrauen, daß nur die Notwendigkeit mich zwang, vor Ihnen geheim zu halten, was Sie vor allen zuerst wissen mußten.«

»Aber war das erlaubt, Marquis, uns ein Jahr lang – es ist über ein Jahr her – nichts von sich wissen zu lassen! –«

»Das Jahr war nicht ohne Früchte,« sagte er feierlich, sich erhebend.

»Hier glaubte man, Sie wären in den Vesuv gestürzt.«

»Und wenn ich unten gesessen hätte bei dem Feuerschmied Vulkan und seinen Kriegsambos geschwungen, wenn der Schall gedrungen wäre über Appenninen und Alpen bis an die mährischen Gebirge, die hohen Sudeten, die Lehmufer der Oder, wenn Friedrichs Niederlagen Folgen gewesen wären der machinierenden Tätigkeit eines Mannes, der aus der Ferne wirkt – wie dann –«

Amelie kannte den Marquis und sein Wesen. Nicht ohne Lächeln betrachtete sie den kleinen, etwas verwachsenen Mann, wie er sich mit dem Vulkan verglich, in steigendem Affekte die Möglichkeit seiner Teilnahme an den den König von Preußen betroffenen Unfällen ans Licht setzte und zugleich doch in geheimnisvolles Dunkel hüllte. Sie kannte ihn und wußte, daß es teils Deklamation war, teils Selbsttäuschung. Der in Plänen und Chimären lebende konnte sich mit künstlich verworrenen Netzen nicht eng genug umstricken, die klare Aussicht auf eine natürliche Entwicklung erschreckte ihn, wie das Tageslicht den Geisterbanner; er empfand ein Mißbehagen, wenn sich etwas natürlich löste, wenn gleich nach seinem Wunsche, und eine Leere der Seele, wenn nicht neue Pläne ihr Nahrung gaben. Um diese Leere zu vertreiben, dies Mißbehagen zu verscheuchen, die helle Aussicht zu verschließen, kurz um sich wohl zu befinden, schlug er dies Netz ebenso bereitwillig um sich selbst, als um andere. Sie glaubte jetzt zu ahnen, weshalb er, statt ihr Lügengebäude durch ein Wort über den Haufen zu werfen, es noch künstlicher ausgebaut hatte. Es war ein Spiel seiner Phantasie, an das er, es war gleichgültig, welchen eingebildeten oder wirklichen Vorteil knüpfte. Aber sie fürchtete, daß er, ebenso leicht von seiner geschäftigen Einbildungskraft verführt, den Plan mit einem anderen vertauschen könne. Für sie stand ein Menschenwohl, für ihn nur eine Intrige auf dem Spiele. Deshalb war es ihr angenehm, als der Marquis jetzt plötzlich abbrach und Miene machte sich zu entfernen.

Mit noch mehr zuvorkommender, wenngleich nicht minder feierlicher Höflichkeit nahm er von den Damen einzeln Abschied. Jede wußte nachher etwas zum Lobe des herrlichen Kavaliers aus der guten Zeit zu sagen, und selbst der Mops der Dame vom Hause war von ihm gestreichelt worden.

»Eine Bitte, meine Freundinnen!« sagte er mit leiser Stimme beim Abschied. »Versparen Sie mir das Vergnügen, durch Ihre gütige Vermittelung unsere Freunde in der Stadt wissen zu lassen, was ich Ihnen eben eröffnet, nur bis ich morgen mit dem kaiserlichen Gouverneur gesprochen. Es kann noch viel, sehr viel sich ereignen. – O Gott, was könnte ich Ihnen noch mitteilen, meine Damen – noch zu Großem könnte er aufgespart sein – darum nur bis übermorgen reinen Mund.«

Er hielt den Finger auf die Lippe und alle versprachen ihm. Auf der untersten Treppe fragte er Amelie, die an seinem Arme ging:

»Meinen Sie, Fräulein, daß sie bis morgen früh reinen Mund halten können?«

»Sie müssen wohl,« entgegnete sie, »denn die Haustüren sind schon verschlossen.«


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