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Viertes Buch.
Die Vaterstadt


Erstes Kapitel.
Das Vaterland

W Was ist das Vaterland? Was ist der Zauber, der in dem Namen ruht? Was berauscht der Klang, was durchbebt er die Adern, was macht er dein Auge strahlen, schwellt dir die Brust, wenn er in der Fremde dein Ohr trifft? Die sich nie sahen, deren Herzen nicht zueinander schlugen in der Heimat, sind dort, wo man ihre Sprache nicht versteht, Brüder; Feinde fliegen sich in die Arme. Was ist das Vaterland? – Die Scholle Sand unter unseren Füßen? Der Wind verweht ihn. Die fette Erdschicht, auf der die Weizenfelder unserer Väter wucherten? Die Überschwemmung spült sie ab, die Gräber deiner Väter werden Staub; ein Erdbeben, Städte begrabend, kann selbst Berge stürzen; ist der unfruchtbare, aufgewühlte Kies, der tote Schlackenboden noch dein Vaterland? Sind es die rauschenden Wasser? Sie gehen alle ins Meer. Die Welle, in der du heute dich badest, spült morgen an eine fremde Küste. – Die Lüfte über dir? Die Wolken segeln, dieselben Sterne blinken auf dich am Ural und am Fuß der Alpen. – Die Geschlechter der Menschen? Sind die es? Sie wachsen und welken. Das Gemüt findet überall ein Gemüt, und die nächsten Nachbarn wenden sich den Rücken. – Die eine Sprache reden? Die Bürgerkriege waren seit Anbeginn die grausamsten. – Was sind die Grenzen dieses Begriffes? Das Dorf, wo du geboren wurdest? Der Distrikt, der deine Mundart redet? Die Grafschaft? Die Provinzen, welche Erbschaft, Tausch, Eroberung an einen Fürsten gebracht, die nun ein künstliches Staatsband umschlingt? Warum die Grenzen so eng gesteckt, warum Preußen, warum nicht Deutschland? Warum nicht Europa? Macht es die Erinnerung an die gemeinsame Gefahr, an große Taten, Helden? Dann ist das beste Vaterland ein Heer kühner Abenteurer, ohne Wiege und Herd; ein Flibustier hat die schönste Heimat. Ist's der gemeinsame Vorteil, gemeinsame Bildung? – Dann suche dein Vaterland in Bombay, am Strande der Themse, am Quai der Seine. Ist's das gemeinsame Blut, eine Abstammung, o wie zerfliegt jeder Staat, wie würden die nächsten sich fremd, die Entfremdeten Brüder? – Ist das Vaterland nur ein Phantom? Freiheit, Liebe, Tugend, du siehst sie nicht, aber du erklärst sie schulgerecht. Das Vaterland erklärst du nicht, aber du fühlst es. – Deine Güter stürzest du, ihm opfernd, in den bodenlosen Abgrund; sein Name ist ein Trompetenstoß der Lust; tief ausholend, langschmetternd, weckt er das Heiligste in dir und du stürzest dich selbst dafür in den Tod. Das ist doch etwas. – – Es ist eine Zaubereiche mit Laub und Blüten, die aus Luft, Wasser, Erde, aus Tönen und Klängen, Reden und Gedanken Nahrung zieht. Der Baum saugt ein Seufzer und Jubellaute der blühenden und welkenden Geschlechter. Wenn dann der Sturm in der Krone rauscht, tönen in der Äolsharfe seiner Zweige die Stimmen wider von Jahrhunderten. Sein Laub ist ein festes Dach gegen Regengüsse und Sonnenbrand. Lagere dich unter ihm, freue dich seiner Kühlung, des Schutzes, horche auf die tausend Stimmen und Klänge, die alten Lieder in seinem Wipfel, aber wühle nicht nach seinen unergründlichen Wurzeln. Er ist oben grün, sei zufrieden!

Unter hochstämmigen Kiefern, das Gesicht im Ellbogen, lag ein Kriegsmann und sein Auge verfolgte das Spiel der vom leisen Luftzug durchschauerten Wipfel. Es war tiefe Stille in der weiten Heide. Nur die Bienen summten um die violetten Blüten des Heidekrauts, ein einsamer Specht hämmerte an den Fichtenstämmen, Krähen flatterten um das Nest oben. Das helldurchsichtige Himmelsblau verriet den nördlichen Herbsttag, und doch brannte die Mittagsonne. Die Kiefern schwitzten und der Lagernde hatte den Mantel von den Schultern fallen lassen, gern, wie es schien, von der kühlenden Luft umfächelt.

Es war unser Freund, nur hätte, wer ihn lange nicht gesehen, in dem sonnig gebräunten Gesicht den Genesenden vom sächsischen Schlosse nicht wiedererkannt. Der Schnurrbart bog sich in längerer Schweifung um die Mundwinkel, der Blick war fester, das zuckende Muskelspiel, das jede Bewegung des Gemüts verriet, war einem entschiedeneren Ausdruck gewichen, die Lippen etwas trotzig aufgeworfen. Nur die Augen waren dieselben, obgleich ihr Blick gewichtiger niedersank, wo er hinfiel. Trug die kecke, schöne Jünglingsmiene, wie er einst vor seinem Richter stand, einen sarmatisch ungarischen Anflug, so war ihm jetzt der Stempel des Preußen unverkennbar aufgedrückt. Mehr, als wir es zugeben, wirken Klima, Umgang, gemeinsame Hoffnung, Furcht und Gefahr auch auf den äußeren Menschen. Daß der Mohr unter jedem Himmelsstriche Mohr bleibt, der Jude Jude, stört nicht den allmächtigen Einfluß der Bildung auf die Natur. Die kräftige Gattin bringt einem entnervten Manne Gesundheit wieder, und die Züge der Jüdin vererben sich nicht allein auf die Kinder, sie gehen auch auf das Gesicht des Gatten über. Stephan war ein Preuße, ein Preuße, der jahrelang, hätte man schwören mögen, mit Friedrichs Heeren gezogen, gestritten, gesiegt. Ein Nichtpreuße hätte sich anders gelagert, den Fuß anders gegen den Baum gestemmt, die Arme jetzt anders unter den Kopf gelegt, als er sich hinstreckte, die Augen starr hinauf in die Kiefernwipfel. Es war dieselbe Uniform, die er auf dem Schlosse beim Abschied trug, derselbe Dolman, derselbe Säbel; doch Sonnenschein, Staub, Regen, Winterlager hatten gebleicht, gedunkelt, und wer nie einen Preußen gesehen, hätte doch in dem Manne, der dort lag, einen Soldaten erkannt, dem Winterstürme und Sonnenschein einen unzerstörbaren Charakterstempel aufgedrückt haben.

Ein Gast, der lange nicht bei ihm eingekehrt, schien wieder einen Besuch zu machen – die Phantasie. Er nickte den rauschenden Kiefern zu und horchte mit Lust der eintönigen Musik, die sich fortwiegte auf den Wipfeln meilenweit. Er sog den duftenden Harzgeruch ein und sein Auge verfolgte das Spiel, das der Wind mit einem Tannenapfel trieb. Eine Bremse schwirrte ihm um das Gesicht, er ließ sie gewähren, bis sein scharfer Blick das Insekt verscheuchte. Die Träume der Phantasie waren ernster Art gewesen, er hatte über eine Erklärung des Vaterlandes phantasiert; jetzt lachte er hell auf, daß er selbst über den Ton erschrak, der so unpassend die Stille ringsum unterbrach. Doch war er nicht allein; ein Kamerad, seiner Uniform nach, schritt, den Säbel aufgehoben, einen Tänzerschritt parodierend, durch das dicke Heidekraut auf ihn zu:

»Was ist dir, Stephan?« rief der andere, »worüber lachst du?«

»Über eine Fliege,« war die Antwort.

»Wie kann man über eine Fliege lachen.«

»Es ist so einsam hier, daß selbst eine Fliege zu einem Gegenstande wird. Ich habe nichts [getan], als sie scharf angesehen, und sie nahm Reißaus.«

»Du dachtest dir gewiß unter der Bremse Laudon bei Liegnitz, oder etwa schon an Lascy und Fermor?«

»Die kamen mir nicht in den Sinn.«

»Noch Geheimnisse zwischen uns?«

»Ich dachte an Eugenie."

»Das ist eine Blasphemie! An die Geliebte zu denken in der Sandheide vor Wendisch-Buchholz! Was hat die Gräfin mit einer Fliege gemein?«

»Eine Fliege trat einmal zwischen uns.«

»Davon hast du mir nie erzählt.«

»Ich erfuhr es auch erst neulich. Sie gestand es mir scherzweise in ihrem letzten Briefe. Ich dünkte ihr auf meinem Krankenbette so unaussprechlich kläglich, schwach, bemitleidenswert, als ich mit aller Anstrengung nicht einmal eine Fliege von der Nase scheuchen konnte. Da hätte, schreibt sie mir, das Phantasiegebäude ihrer Zuneigung, wie in seinen Grundfesten erschüttert, geschwankt. Sieh, und das könnte doch jetzt nicht mehr der Fall sein, da ich kaum zu pusten brauchte, und die Fliege ist fort.«

»Du bist bei froher Laune.«

»Ich glaube nicht.«

»Solch Bekenntnis ist ein gutes Zeichen.«

»Weg mit allen Zeichen! Die Vorbedeutungen sind mir zuwider. Seit ich vor der Liegnitzer Affäre träumte, wir würden morgen verlieren, habe ich es verschworen, jemals wieder zu ahnen und zu träumen. Sind die Pferde getränkt?«

»Die saufen noch. Das, mein' ich, unterscheidet allein unsere vertrackten Sandwüsten von den afrikanischen, daß man Wasser hier, wenigstens fürs Vieh, trifft.«

»Auch Wälder,« sagte der Liegende.

»Alle Ehre für die Kiefernheide. Willst du was loben, so rühme lieber den Sand und den Wind. Die Spuren unserer Hufe werden wenigstens gleich wieder verweht, und ich glaube, wir könnten uns getrost über Berlin weg bis zur mecklenburgischen Grenze durchschlagen, ohne daß uns ein Österreicher hört und ein Russe wittert.«

»Höre doch das Rauschen über uns.«

»Er schüttelt doch nur Tannäpfel ab.«

»Es hat mich lange keine Stimme so bewegt, als der Choral da oben. Es war mir, als bewillkommneten mich wieder die Geister meines Vaterlandes.«

»Man hört, daß du lange nicht in der Mark warst, um hier an Geister zu denken.«

»Statuierst du sie doch einmal, Chevalier, warum gerade hier nicht?«

»Für mich, Teuerster, ist das Summen und Brummen das langweiligste Konzert, und wenn die zähen, knorrigen Kiefernäste rechts und links geschüttelt knarren, überläuft mich eine Gänsehaut. Wie kann man in Italien gelebt, die Olivenhaine gesehen haben, unter Zitronen gewandelt sein, und nicht gähnen bei dem tristen Nadelholz! Ja, wäre es noch in Schottland oder in Norwegen, oder wo sonst die Fichten, von Nebelstreifen durchschwitzt, auf schroffen Klippen in den Abgrund schauen, wo ein Orkan sie fassen und mir nichts dir nichts hinunterschleudern kann, das kann ein pittoreskes Bild geben. Allein hierzulande, das du dein Vaterland zu nennen beliebst, sind sie doch nichts als die personifizierte Langeweile, meilenweit aneinander, nicht grün, nicht rot, nicht blau, sondern eine Tinktur von allem, ohne Abdachung, Terrasse, Abwechslung, außer hie und da ein Gestell, das der Jäger geschlagen, oder einen so dürren Waldfleck, daß selbst sie für ihre Wurzeln keine Nahrung fanden. Da schau diese lieblich violetten Blumenfelder von Kraut, so saftig, daß, wenn ich mit dem Fuße durchfahre, es ist, als ob ich mit dem Stiefel durch eine staubige Kratzbürste gestreift bin. Und dort gedeiht nicht mal das Kraut; die weißen und gelben Flechten halten kaum den Boden zusammen, und jenseits, wie es gelb und gelb schimmert, als hätte die liebe Sonne sich in der Mark in puren Sand umgesetzt. Ventre saint gris, das ist ein Vaterland!«

»Sieh doch oben das Hellblau an. Ich glaube, es schwimmt kein Atom drin; so rein ist's.«

»Das ist eine rechte Kunst! Weil der Himmel nichts zu reflektieren findet. Und nun denke dich erst hier im August her, wenn die Sonne um Mittag so brennt als in der Provence, aber kein Provenceröl aussiedet, nichts als Harz aus den Kiefernstämmen. Du hast dich verirrt, zu Fuß, in solcher meilenlangen Heide, wo jeder Weg ein Holzweg und jeder Baum ein Meilenzeiger ist, an dem geschrieben steht: Du kannst hingehen, wohin du willst. Die Zunge lechzt dir wie einem tollen Hunde, Stirn und Scheitel glühen und die Fußsohlen versinken in dem trocken gekochten Pulverstaub. Wenn du halb verschmachtend dich hinwirfst, findest du unter den Nadeln kaum Schatten, an Gras ist nicht zu denken, an einen schwellenden Moosteppich auch nicht, und du mußt zufrieden sein, wenn, wo du endlich hinfällst, die Ameisen nicht über dich herfallen. O, es ist nicht lächerlich, Patriot, glaube einem Franzosen, der verschiedene Vaterlande ausgekostet hat.«

»Ich lache nicht über dich.«

»Weshalb sonst, wo nichts lacht! Die Partie fängt mich an zu langweilen.«

»Ich lache, weil du mir schilderst, was ich selbst erlitt. In einer solchen Kiefernwüste lag ich als Knabe durstig und hungrig mit durchlaufenen Füßen.«

»Als du deinen Eltern entlaufen warst?«

»Die Zunge klebte mir am Gaumen, der Staub trocknete im Schweiß, ich hatte keine Tränen mehr, um zu weinen, und drückte das Gesicht in kindischer Verzweiflung in einen Busch Heidekraut. Das Vaterland, aus dem ich fort wollte, schien mir immer länger zu werden; irgend eine alberne Feengeschichte fiel mir ein, wo der zurückgelegte Weg dem Helden unter seinen Füßen wieder zuwächst. Ich wollte daher lieber gleich hier verschmachten, als umsonst noch eine Strecke wieder laufen. Aber wie ich das Gesicht so tief ins Kraut begrub, weckte der Anblick von ein paar blauen Beeren fürs erste wieder die Lust zum Leben.«

»Kurios genug,« sagte der andere, der sich zu ihm niedergesetzt, »daß du so wieder an die Grenze kommen mußt, wie du hinaus liefst. Hoffentlich geschieht's mit anderem Glück. Da bringt mein Kerl uns eine Mütze voll von dem, was dich damals mit dem Leben aussöhnte. Übrigens ist es gewiß besser, wenn man sich einmal in einer märkischen Heide verirrt, ein Offizier zu sein, als ein entlaufener Schulknabe; man überläßt das Beerensuchen und die Verzweiflung seinem Bedienten.«

Sie waren von früh auf heiß geritten; das frugale Mahl von Blaubeeren, aus der Branntweinflasche angefeuchtet und Kommißbrot, schien beiden vortrefflich zu schmecken. Nur Wasser fehlte: das, woraus die Pferde tranken, wäre Sumpf, erklärte der Bursche, ein reiner Fluß aber stundenlang nicht zu finden.

» Das ist der Gruß des Vaterlandes, Stephan,« nickte der Kamerad unserem Helden zu und reichte ihm die Flasche. »Du bist nun lange genug aus Österreich, um den Czernowitzer und Melnecker über den preußischen Nationalwein vergessen zu können. Unsere Reben wachsen in jedem Kornfelde; ich glaube, sie destillieren ihn noch einmal aus Kartoffeln, und das Weinlied hier heißt, wie's dir unsere Leute oft genug vorgesungen:

Krambambuli, der ist mein Leben,
Krambambuli ist meine Lust!«

»Ich hielt als Kind Branntweintrinken für eine Todsünde.«

»Es wird keiner als kluger Mann geboren. Die blauen Beeren, die du issest, heißen Beesinge, wenn man etwas erstaunlich und groß findet, vergleicht man es mit einem Ochsen und nennt es ›ochsig‹, Gott wird hierzulande zu einem Jott. Du wirst überhaupt mit jedem Schritt etwas Vaterländisches lernen, und doch fürchte ich, du wirst nicht klug genug zurückkehren, um mit dem zufrieden zu sein, was du wieder findest.«

Auch der Kamerad hatte sich hingestreckt und häufte spielend mit der Hand die vertrockneten Kiefernnadeln: »Ich fürchte, Stephan, die Phantasie spielt dir wieder einen Streich.«

»Ei, wieso?«

»Du denkst dir's besser, als es ist.«

»Ich spiegle mir keine goldenen Berge vor.«

»Golden oder nicht; von Bergen ist überhaupt nicht die Rede in dem lieben Land, das unser Vaterland sein soll.«

»Nun, ich sollte doch allmählich wieder gelernt haben, was preußisch ist.«

»Und von der schlimmsten Seite, das muß dir der Neid lassen. Ventre saint gris! mit meinem galanten König Heinrich zu reden, es war zu arg! Wie du die Batterie genommen hattest, der Rapport ankam, der gefangene Obrist selbst deine Bravour lobte und der General, dein Freund, dich zum Avancement vorschlug, glaubten wir nicht alle, nun sei dein Glück gemacht, und wahrhaftig, ein jeder gönnte es dir. Du wurdest gerufen, sprengtest heran, da mußte dein verdammtes Pferd vor der Front straucheln, du stürzen, himmelsakrament, nun mußte einer deinen Namen falsch aussprechen, der König korrigierte ihn ärgerlich, nahm eine Prise und damit glaubte er genug für dich getan zu haben, und es war nicht weiter die Rede.«

»Ist das nicht schon genug, wenn Friedrich meinen Namen weiß, und was er weiß, vergißt er nicht wieder. Ein Verdienst wurde anerkannt nach einer gewonnenen Affäre, nach einer Schlacht, die in den Kriegsannalen glänzen wird, die Friedrich noch einmal vom Untergange rettete; ist das nicht schon ein Fortrücken in meiner besonderen Karriere?«

»Du bist sehr bescheiden geworden.«

»Man wird mit jedem Jahre um eines älter, und lernt mit jedem Tage so viel Ansprüche auf Ehre kennen, die nicht in hundert Jahren zu befriedigen sind. Und gesetzt, ich stürbe als Leutnant und es lautete einmal in der Kriegsgeschichte: ›In dieser Schlacht bei Liegnitz nahm der Husarenleutnant Stephan Cabanis mit seiner Schwadron die erste Batterie, und eröffnete so den Sieg gegen den bis da unüberwundenen Laudon, wäre das nicht genug? Wer hat denn ein Recht auf Glück, auf Ehre? Wie vielen unter Millionen werden die Lorbeerkränze aufgesetzt, von denen sie in der Jugend träumten. Dividiere mal alles Verdienst in alle Belohnungen, wieviel kommt dann auf den einzelnen? Lange noch kein Portepee.«

»Man muß dir lassen, du bist ein ökonomischer Husarenleutnant.«

»Man rechne nur zusammen, was man hat, und vergleiche es nicht mit dem, was man wollte, so kommt immer ein Resultat heraus. Ist der Auftrag jetzt nicht schmeichelhaft, ehrenvoll, glücklich? Berlin kann durch unsere Botschaft gerettet werden.«

»Wenn uns nicht die Kosaken fangen und an ihre Pferdeschweife binden. Wäre das auch ein Resultat?«

»In der Brust, ja.«

»Prosit!«

»Ei, auf Wegen, wie diese, erreichen wir Berlin. Nur bis hinein. Und laß dann die ganze russische Armee stürmen, Himmel, es muß sich ja noch einmal so gut fechten lassen, der Arm ist frischer, die Brust voller, wenn wir unsere Vaterstadt, die Residenz unseres Königs im Rücken haben.«

»Da denkst du dir Berlin wieder anders als es ist.«

»Freilich ist es ein anderes geworden, als ich es im Sinne habe. Der Platz meiner Kinderspiele, der mir eine Welt dünkte, wird ein winkliger kleiner Hof sein, auf den Brunnen, damals für mich ein Turm, werde ich die Hand legen können, der Müllkasten war eine Burg, der Rinnstein ein Fluß, der Raum unter der Treppe eine Ritterhalle. Das wird nun alles anders sein.«

»Und die Menschen, Stephan?«

Stephan schwieg, der Freund fuhr ruhig fort: »Die Phantasie täuschte dich, wie du im Kaiserlichen ein Paradies hofftest; wenn sie dich nun nur nicht bitterer täuscht! Du denkst was von Preußen, was nicht da ist. Bei Kommißbrot und Schnaps im Lager hast du doch Traumbilder von deinen Landsleuten gepflegt, die nicht wahr sind. Sie sind nicht alle Enthusiasten, Helden, nicht jeder macht französische Verse, spielt die Flöte, sieht durch Herzen und eichene Bretter, die Genies sind im Lande so rar als anderwärts.«

»Als ob ich mir einbildete, in jedem Landsmann einen Friedrich zu finden!«

»Wenn auch das nicht, doch was Ähnliches. Du denkst, es muß alles zittern vor Aufregung, Spannung, jeder Gedanke soll bei der Größe Preußens, dem neuen Aufschwung der Dinge sein! Aber, Liebster, der Krieg dauert nun schon vier Jahre; die erste Begeisterung ist vorüber. Man liebt den König, Preußen, aber man schlägt doch die Hände über den Kopf zusammen über Teuerung, Not, Einquartierung, Plünderungen, Brandschatzungen und jammert nach Frieden. Und glaubst du, die Menschen sind anders geworden, freier, kühner? Der alte Registrator sitzt dir wie vor dreißig Jahren unter seinen Akten, und sieht heute just so viel vom Sonnenschein, wie damals durch die grünen Fensterscheiben, der Buchhalter addiert wie damals sein Konto, die Frauen trinken wie zu Anfang des Säculi ihren Kaffee, und schwatzen dabei eben dasselbe, und wenn man Anno Eins um zwölf zu Mittag speiste, tut man es jetzt um ein Uhr. Man sagt gehorsamer Diener, wenn man sich sieht, und zieht den Hut ab, und eine Invitation nimmt man an oder schlägt sie aus. Neben den Perücken und Schwarzröcken gibt es auch Freigeister die Menge, aber selbst unter unserer jüngsten Jugend sieh dich noch nicht nach Köpfen um, die einmal deine italienischen Poeten verschlingen werden. Unsere Dichter sprechen von Amoretten, werfen sich zehntausend Freundschaftsküsse zu, lassen den Amynt zur Chloe singen:

Ich bin's, o Chloe! Fleuch nicht mit nacktem Fuß
Durch diese Dornen! Fleuch nicht den frommen Amynt,

und nehmen die Backen voll, wenn sie von ihrem Cäsar sprechen, den sie aber nie beim rechten Namen zu nennen wissen, zum Exempel:

Er siegt! Mein Perseus siegt! – Ihr Freudenzähren,
Erstickt nicht meinen Lobgesang!
O Fluten meines Stroms, erzählt in allen Meeren
Des Drachen Untergang!

oder sie traktieren ihn wie den nackten Mann mit der Keule, Herkules geheißen, und lassen die Juno, ermüdet von Rachbegier, zu dem Sohne Jupiters rufen:

O mehr ein Gott als wir!
Geneuß, geneuß der Ruh, die dir entzogen,
Geneuß der Opfer, die von beiden Enden
Der Erde künftig jedermann
Dir bringen wird, nicht uns! –

Wirst du das auch geneußbar finden? Friedrich selbst findet es unerträglich langweilig.«

»Er ist Voltaires Freund und du von Voltaire erzogen. Voltaire paßt freilich nicht nach Pommern.«

»Immer noch besser als ein Schüler [von] Petrarc und Ariost! Wer französische Bildung genoß, findet sich mit französischem Witz in aller Welt zurecht, wie aber dein Dante mit unseren Schafzüchtern leben und nicht vor Unmut umkommen sollte, begreife ich nicht. Sonnenschein und Regen, Kaffeevisiten und Kartoffeln, Haudes Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, Sand, Kiefern und Komplimente, das ist unsere Alltäglichkeit; eine Herbstsonne, die auf ein Stoppelfeld scheint, wo die Lämmer um eine grüne Faser sich drängen, und ein Bach, wenn es hoch kommt, zwischen ein paar Erlenbüschen sich fortschlängelt, eine Wiese, auf der Veilchen und ein Wald, in dem Morcheln wachsen, unsere kühnste Wirklichkeit! Und dazu ist die Luft so träg und nüchtern!«

»Blitz! Die preußischen Trompeten zücken durch ihre Schläfrigkeit, daß sie wachen muß.«

»Nur nicht, wenn wir unseren Einzug halten, da wir froh sein können, uns bei Nacht und Nebel durchs Tor zu schleichen. Sei auf alles gefaßt, und wenn ich dir raten soll, hungere vierundzwanzig Stunden vorher, so erhebt dich wenigstens bei der Entree der Gedanke an die erste Mahlzeit in der Vaterstadt.«

»Wenn es so fortgeht, meine ich, daß es dieser Präparation nicht bedarf,« sagte Stephan aufstehend und schüttelte die Waldbeerblätter von der Mütze, die ihnen als Tisch gedient.


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