Willibald Alexis
Cabanis
Willibald Alexis

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3. Eine warme Frühlingssonne

Es waren acht volle Monate vergangen, seit der Freudenbrief aus den schlesischen Gebirgen allen Gesichtern im Schloß einen anderen Ausdruck gegeben hatte. Die Komtesse duldete keinen Betrübten mehr. Ein neuer Geist waltete in ihr, der Geist der Freude, ihre Launen waren verschwunden, ihr Witz kränkte, ihre Verstandesschärfe beleidigte nicht mehr; und doch herrschte sie, es gehorchte ihr alles mit Freuden, auch der Vater, der Geist war ihm zu neu, um dagegen zu intrigieren.

Acht Monate waren vergangen; auf das große Pergament von Friedrichs Ruhm, das anhub mit dem Worte Mollwitz, war mit dem Wort Hubertusburg das letzte Siegel gedrückt, es war Friede nach sieben blutigen Jahren, und ein Schlag mit ihrer Zaubergerte hatte die Göttin aus der Lausitz an die Ufer der Spree versetzt. Willenlos war ihr der Vater gefolgt. – Und wie lange hatte er gezögert, den sie erwartet, und mußte sein Regiment das letzte sein! Sie saß im Wagen, abwärts vom Wege, die Märzsonne schien hell auf die wogende Menschenmasse, und ihr Auge ließ kein Gesicht der Benarbten, Bärtigen, Sonnverbrannten vorüber, ihr Ohr hörte scharf durch die tausend- und hunderttausendfachen Jubeltöne des Willkommens auf die wohlbekannte Stimme. »Erkennt er dich nun aber nicht?« flüsterte bescheiden der Vater. »Wir stehen zu weit abwärts, um uns ihm bemerkbar zu machen.«

»Er wird mich erkennen.«

»Und wenn auch – wird er sein Regiment verlassen können?«

»Er kommt, er kommt, verlassen Sie sich darauf.«

»Wird er hier öffentlich unter all den Leuten ein Wiedersehen wünschen? – Wir könnten in jenes Wirtshaus treten, wenn es gleich schlecht ist, und den Jäger mit ein paar Zeilen hier lassen.«

»Die Freude gehört nicht hinter Schloß und Riegel. Da sehen Sie, wie die Frau den Husaren bald vom Pferde reißt vor Freude – dort, dort ...«

»Wer weiß, ob das dem Husaren dieselbe Freude macht.«

»Kußhände und Blumen und Branntweinflaschen! Ach, das ist ein Fest, was man nicht macht. Wer wollte da vornehmer sein? Himmel und Erde sind gleich lustig. So klar ist der Horizont; es ist doch auch schön in dem Lande. Hören Sie dort die Trompeten – um die Tannen herum schwenken sie – wie der Staub aufsteigt. Ach, wer auch zu Pferde säße!«

»Man sieht auf dich.«

»Niemand sieht auf mich – auf die Sieger allein sehen alle –, hören Sie den Jubel – es sind die Totenköpfe ...«

Der Graf schüttelte den Kopf. Vierundzwanzig Trompeten schmetterten keck, die Mützen und Hüte flogen, der Jubel war grenzenlos, das Geschrei der Kinder um den Wagen ließ kein Gespräch mehr zu, man hörte kein Wort. Der Graf, zurückgelehnt in der Ecke, beschäftigte sich damit, die blonden Köpfe der barfüßigen Buben zu zählen, die wie exotische Früchte an den Ästen einer großen Ulme hingen, sich überschreiend, neckend und balgend um den besseren Platz. Sie jubilierten und wußten nicht, um was, sie schrien sich die Kehlen rauh und hatten von dem gewonnenen Kriege keinen Schluck saures Bier. Sie zerrissen an Rinde und Ästen ihre zerlumpten Hosen, und jeden Augenblick schwebte einer in Gefahr, Arm und Bein zu brechen. »Und wie können sie doch froh sein?« Diese Frage quälte den Grafen. Er rechnete aus, wer zuerst herunterfallen müsse, er ließ eine Säge an den Stamm legen, und noch hatten ihre Zähne nicht das Mark berührt, so mußte er stürzen. Er bettete diesen hier, den anderen dort, den dritten ließ er zerquetschen, die Geretteten gerieten sich in die Haare, ältere mischten sich drein, Wache kam – was Wunder, daß er über ein so ernstes Phantasiespiel die Wirklichkeit dicht neben sich jetzt erst bemerkte, da Eugenie schon dem staubbedeckten, gebräunten Reiter in den Armen lag. Es war Etienne, er hatte sie gesehen, er hatte Platz gemacht durch die dichten Massen; pfeilschnell war er herangesprengt und in dem Augenblick abgesessen, da Eugenie aus dem Wagen sprang. Sprechen konnte sie nicht, er auch nicht, und der Graf wollte nicht, die barfüßigen Buben störten ihn, die ihm nicht mehr zum Schauspiel dienten, sondern selbst Zuschauer geworden waren. Er wenigstens wollte nicht mitagieren vor diesem Publikum.

Etienne war nie so sanft gefahren wie jetzt an Eugenies Seite, das Geschrei der Buben war Musik, es war ein Festlied, ein Brautgesang, der seine Seligkeit, statt zu stören, erhöhte. Sie scherzte, lachte, er mußte auch seine Börse leeren, und sie bestimmte ihm die Knaben, denen er die letzten Groschen zuwarf. »Aber wo ist Gottlieb?« fragte sie. »Er freut sich auch mit, Berlin ist seine Vaterstadt ...« – »Aber wo ist er?« – »Er verläuft sich nicht, wenn er auch tagelang fort ist, denn er ist kein leibeigener, sondern ein freiwilliger Hund.«

Der Wagen, der schon immer langsam hatte fahren müssen, war jetzt genötigt, stillzustehen. Betrunkene oder Verunglückte verursachten einen Auflauf, der die Fahrstraße auf längere Zeit zu sperren drohte. Eugenie und Etienne stiegen aus, der Gedanke war ihnen willkommen, Arm in Arm in Etiennes Vaterstadt einzutreten, Arm in Arm die Orte zu sehen, die so oft Gegenstand ihrer Mitteilungen gewesen waren. »Mit wie manchem von diesen fremden Gesichtern magst du bekannt sein, ohne es zu wissen?« sagte sie. »Es hat dich mancher als Kind gestreichelt, auf seinem Schoß gewiegt, und ihr geht euch jetzt kalt und fremd vorüber.«

»Oder er hat mich auch nicht gestreichelt.«

»Das sagst du so ernst. Auf wen siehst du da?«

Auf den Etienne hinsah, war ein sehr alter Mann, der, auf einen anderen gestützt, vor ihnen ging. Ärmlich, aber reinlich gekleidet, war doch nicht der Gedanke des Bedürftigseins der erste, den sein Anblick erweckte. Die grünsamtene Pelzmütze, noch stattlich auf dem weißen Haar, sprach von besseren Zeiten, daran erinnerte auch sein Gang. Er blieb oft stehen, sich an der warmen Frühlingssonne zu letzen; noch mehr Freude schien ihm der Anblick der Soldaten zu gewähren. Er wies seinen Begleiter darauf hin, er nickte wohlgefällig, er grüßte sie, er salutierte.

»Fort, alter Herr«, sagte sein Führer, »wenn wir so bei jedem Nachzügler stehenbleiben, kommen wir nicht beizeiten nach Haus. Ihr müßt ausruhen nach den Strapazen.«

»Zeitig genug, Gevatter, kommen wir in das eine Haus, wo wir alle ausruhen.«

»Pfui, wer wird ans Grab denken an einem Tag voller Gloria!«

»Nun läßt sich's mit Vergnügen sterben«, sagte der andere. »Gerade nun, Gevatter! Wie viele haben's nicht erlebt und mußten in die Grube, ehe es ausgemacht war, eh' daß wir wußten, ob unsere Söhne um nichts gefallen waren oder um ihren König. Nun wissen wir's. Ach, wie die Sonne warm scheint!«

Er deutete auf einen großen Feldstein: »Wollt Ihr Euch nicht niedersetzen?« – »Meinethalben, Inspektor. Wir rufen das Marketenderweib heran und trinken ein Gläschen Kirsch aufs Wohlergehen Friderici, regis Borussiae in aeternum!«

Der alte Mann hatte sich auf den Stein gesetzt, und unwillkürlich waren die jungen Leute stehengeblieben. Es standen, saßen, sprangen, lagerten Tausende umher, es fiel nicht auf, keiner sah auf den anderen.

Der Alte lüftete die Mütze und sammelte auf seinem kahlen Scheitel die Strahlen der Sonne, die noch hoch am Nachmittagshimmel stand: »Wie das wohl tut«, sprach er zum Gevatter, und die Hände ruhten gefaltet im Schoß. »So, meine ich, schien die Sonne seit sieben Jahren nicht.«

»Und ist doch erst März, Inspektor. Laßt uns den Juli abwarten. Ein Sommer in Frieden, das ist der Herrgott in Frankreich, wir wissen nicht mehr, wie es tut.« Der Alte schüttelte den Kopf.

»Verstehe«, sagte der andere. »Wir denken wieder an die Toten. Die freuen sich mit uns, sie trinken wie wir heut, im Himmel oben oder unten, wo's heiß ist, ein Vivat dem König.«

Der Alte hielt das Gesicht in die Sonne. »Ein König soll sein wie die Sonne, wo er hinblickt, soll es warm werden und wachsen, wo er hinblickt, sollen die Sümpfe trocknen, die Luft soll gesund werden, die Jugend froh, und das Alter soll sich wohl fühlen. Der Blick eines Königs soll nicht gehen, wie der Blick eines Richters, durch Mark und Blut, dafür ist der Richter da – des Königs Blick soll Gnade sein. Des Königs Auge soll nicht suchen nach dem Fehler, der vergessen ist, es soll leuchten für alle Gnade und Hoffnung, des Königs Auge soll Wunden heilen, und wohl dem Lande, wo der König die Gnade ist – Amen, Amen!«

»Alter, was ist Euch? Die Stimme kenne ich kaum wieder. Wenn Ihr mir ein Prophet werdet, so wird mir bang bei Euch. Ihr wart im Leben keiner. Was denkt Ihr denn?«

»Ich war ein sehr strenger Mann in meinem Leben.«

»Ei, das ist der König auch, und die hochselige Majestät war es noch mehr.«

»Es muß schön sein, Gevatter, ein König zu sein, wo man das Recht hat, den armen Sündern zu vergeben. Das haben wir andere nicht, wir müssen streng sein, es ist unsere Schuldigkeit, wir sind sonst schlechte Eltern. Nicht?«

»Will's da hinaus? Freilich, Inspektor, Ihr tatet Eure Schuldigkeit, nicht mehr und nicht minder, gebt Euch zufrieden. Der Krieg ist aus, die Toten kommen nicht wieder. Wer im Krieg gestorben, ist mit Ehren gestorben. Kommt, legt Euch schlafen, der Gottlieb kommt nicht zurück – 's ist Friede, sag' ich Euch. Er hat kein Recht, an Eure Tür zu kratzen, es ist entgegen den Friedenspakten.«

Der Alte hatte sich erhoben. Er tastete lächelnd nach der Sonne, die sich schon nach den Giebeln der Häuser senkte: »Wie sie warm scheint, wenn sie nur auch ins Grab schiene.«

»Ist er es?« hauchte Eugenie zum Freunde. Sie hatten kein Wort bisher gewechselt.

»Woher kennst du ihn, den ich Mühe gehabt habe, in dieser Verwandlung wiederzuerkennen?«

»Als ob es mit dem Mann, Etienne, der seinen einzigen Sohn so geliebt und so gemartert und so verloren hat, ein anderes Ende hätte nehmen können! Laß uns ihm etwas Sonne in sein ödes Haus scheinen lassen, und schnell, ehe er in das letzte geht, wo schon sein Gottlieb ihn erwartet. Es ist doch schön, wenn man reich ist.«

Etienne drückte stumm ihre Hand. »Morgen schon, Etienne«, fuhr sie fort, »sieh, wie er geht, morgen schon, deiner Mutter wegen, es könnte zu spät werden.« Und nun wandte sie sich um und zeigte nach rechts: »Dort ruht sie, nicht wahr, in der Gegend muß es sein? Du magst ihm wohl nicht mehr begegnen? Laß uns den Umweg machen zu ihr. Ich will, ein Blatt von der Trauerbirke über ihrem Leichenstein pflücken, laß uns über ihm noch einmal unsere Hände reichen und lauschen, was sie zu uns spricht. O, sie wird uns freundlich zurufen. Können wir besser gesegnet und besser begleitet«, setzte sie leise hinzu, »zum erstenmal miteinander in deine Geburtsstadt treten?«

Über ungebahnte Felder – es war heute alles ein großer Garten der Freude – ging Eugenie an Etiennes Arm nach dem Garten, in dem die ruhten, welche schlafengegangen waren, ohne Botschaft hinüberzunehmen von Friedrichs gekrönten Taten. Die Komtesse wies dem Freunde schon von fern den Marmorstein, so genau war ihre Phantasie seiner Beschreibung gefolgt. Die untergehende Sonne warf ihre letzten Strahlen auf das selige Paar, wie es auf dem Stein saß, Arm in Arm; als sie nur noch die obersten Zweige des laublosen Baumes rötete und der Abendwind in den Wipfeln rauschte, verließen sie den Kirchhof. Der Gruß der Mutter mußte ein freundlicher gewesen sein. Ihre Augen glänzten. Erst als sie zum Halleschen Tor eintraten, brachen sie das Schweigen.

Es war weder Eugenie noch Etienne angenehm, daß sie von der Straßenjugend mit Jubel begleitet wurden. Die Gräfin bat ihn, da er keine Börse mehr zu leeren hatte, durch seine Offiziersstimme die immer lästiger Werdenden zu verscheuchen. Er zuckte die Achseln: »Die Berliner Gassenbuben sind eine Macht, die Friedrich selbst anerkennt.« Die Unterhaltung war italienisch geführt worden, und Eugenies Blicke mochten dem kleinen Volk wohl ihren Unmut verraten haben, was aber das Übel nur schlimmer machte und neben den Vivats noch viele Witzworte und Sticheleien hervorlodcte. Etienne empfahl seiner Braut das einzige, was dagegen helfe: Geduld und Schweigen.

»Entsinne ich mich doch, daß ich schon einmal so habe leiden müssen, und gerade hier auf dem Platze«, entgegnete sie, »es ist aber schon lange her. Als meines Vater Gesandtschaftsposten mit dem ersten Schlesischen Kriege zu Ende ging und wir in unserer schönsten Staats- und Reisekarosse zum Tor hinausfuhren, verfolgte uns auch ein Rudel ungezogener Straßenjungen. Der Kutscher, die Jäger und Vater selbst hatten vollauf zu tun, um sie nur loszuwerden. Besonders entsinne ich mich eines über alle Maßen dreisten kleinen Taugenichts, der seinen Schlitten an unseren Wagen gehängt hatte und nicht eher losließ, als bis ihn unser Kutscher blutig geschlagen. Ich weiß noch, daß das Kind mich dauerte, aber es lohnte mir auf sehr ungalante Weise meine Fürsprache. Ich war damals mehr erbittert als jetzt.«

»Mein Gott«, rief Etienne, erstaunt sie anblickend, »hast du denn nicht mein Tagebuch ausgelesen?«

»Nur bis nach der verhängnisvollen Gerichtsszene. Du bist mir den Rest immer schuldig geblieben.«

»Unsere Bekanntschaft, Eugenie, ist viel älter, als wir denken. Ich war ja der ungezogene Junge, und hier auf der Schläfe ist noch immer die Narbe von des Kutschers Peitsche.«

»Seltsame Fügungl« rief sie nach einer Pause, seinen Arm fester an sich drückend. »Wir kommen nicht aus den Wundern heraus. Ich meinte immer, da du mir nie angabst, wo du die Narbe da bekommen hast, wie du doch mit den ändern tatest, du trügst sie aus einem kleinen Liebesabenteuer, das man mir zu verschweigen für besser hielt, und ich war so edelmütig und fragte nicht.«

»Und war es denn nicht mein erstes Liebesabenteuer?« entgegnete Etienne.

Sie wurden von dem Strome der Rückkehrenden die lange Friedrichstraße fortgedrängt. Es war das erstemal, daß Eugenie sich in einer großen Stadt, allein, am Arme eines Mannes, in solchem Volksgewühl befand. Es war ihr nicht bang zumute unter den Äußerungen der Roheit. Lag doch allen eine großartige Aufregung zugrunde. Der Verschluß in engen vier Mauern wäre ihr in dem Augenblick drückend, beängstigend vorgekommen. Sie war nicht müde, sie wollte sehen, alles sehen und hören, was sich sehen und hören ließ. Sie forderte den Freund auf, sie auf dem weitesten Umwege in das Hotel zu führen, ihr alle Plätze seiner Kinderspiele zu zeigen, sie wolle noch einmal Kind sein, was auch die erwachsene Welt dazu denke.

Beim Laternenlicht sah die Komtesse den Fleck, wo Etienne Munfael gespielt; der Adler rauschte über ihrem Scheitel, sie sah Friedrich Wilhelms Biesen im Parademarsch um die Ecke biegen und hörte die dumpfe Trommel des Totenmarsches schlagen. An dem Haus seiner Kinderjahre führte er sie nicht vorüber. »Ein andermal, Eugenie!« Sie mochte nicht in ihn dringen. »Siehst du da drüben an dem grauen Hause den Lampenschein?« –

»Da wohnte der Pate Schlipalius, und der Schein kommt ...«

»Von der Blechlampe der Frau Kurzinne«, fiel Eugenie rasch ein. »Ich hatte vergessen, dich zu fragen, ob sie noch lebt.«

»Seit die Russen hier waren, weiß ich nichts von der – Freundin meiner Jugend.«

Sie bogen in die kleine Gasse ein. Das Gezänk aus dem Eckladen überzeugte sie wenigstens, daß in dem Laden noch Branntwein geschenkt wurde. Eine krächzende Weiberstimme zeigte auch, daß noch eine Frau die Wirtschaft führe, und bald machte ein Blick durch die den Ladentisch umdrängenden Gestalten die Gräfin mit der Person der leibhaftigen Frau Advokatin Schlipalius bekannt, die trotz ihres Alters noch in voller Kraft der Zornlaune zu sein schien.

Die menschliche Neugier will ihr Recht auch im Hochgefühl der Freude und des Schmerzes. Die Gräfin war neugierig. Etienne wollte sie schnell weiterführen, aber sie wollte nur im Vorübergehen kennenlernen, wovon sie soviel gehört hatte. Alles, alles, woran ihres Geliebten Jugend sich knüpfte, war ihr ja voller Interesse; was sollte es nicht sein ein Aufgebot, der schneidende Witz jener Gattung Weiber, die damals noch und weit später den Humor der brandenburgischen Hauptstadt repräsentierte?

Die alte Kurzinne war noch die Alte. Zwei Dezennien schienen spurlos an ihr vorübergegangen zu sein; man vergesse aber nicht, daß der Humor bei dieser Weiberklasse auch Spekulation ist; der Ruf bringt Kundschaft, und die Kundschaft sich zu erhalten, ist Pflicht eines Kaufmanns.

Sie erklärte den Gästen, wie man mit den Russen umspringen müsse und wie sie den Kosaken, die ihr Sauerkraut essen und nicht bezahlen wollten, Mores gepredigt habe; sie schimpfte auf ihren toten letzten Mann, auf die vorigen, auf alle Männer, auf die schnippische Jugend, auf das faselnde Alter, auf das Wetter, auf den Krieg, auf den Magistrat, auf die Franzosen, auf die preußischen Generäle, die den Krieg nicht verstanden hätten, und – auf den König. »Wozu haben wir einen König? Daß er ehrliche Bürgerfrauen einstecken läßt, wenn die Russischen mit uns Trommelfell spielen, oder daß er schlechte Advokaten auf der Leiter pardoniert? Die Advokaten bleiben Galgenvögel und geben Kassengut an, ob pardoniert oder nicht, aber eine ehrliehe Bürgerfrau fragt nicht, ob der Russe mehr trinkt oder der Preuße. Wer bezahlt, ist ehrlich. Sieben Jahr hat er bezahlt, meint ihr? Aber als wir in der Klemme steckten, hat er da bezahlt? – Wird er jetzt bezahlen? Bar, sag' ich, bar, mein Herr! Papierschnitzel nehm' ich nicht. Was ist bar? Silber oder Gold? Gold graben wir nicht. Messing, davon kann er Rechenpfennige machen; Dukaten macht man anders. Das wissen die Jungen und die Österreicher. Aber mit den roten Backen bleibt mir vom Halse! Sind das Zweigroschenstücke? Eine Kupfernase und ein Paar Augen 'reingeschlagen! Ist das ein Gesicht von einer Majestät? Er hat ja Scheren genug, um uns zu scheren. Ich habe nur eine, wollte ihm aber ein anderes Gesicht damit schneiden als ein kupfernes. Frieden hat er gemacht, ja, Frieden, aber was für einen? Von Papier und Tinte. Wozu ist Papier gut? Daß Rabulisten ehrliche Frauen um ihr alles bringen, daß sie Kaffeescheine schreiben, Tabak riechen; zu Drachen ist es gut am Bindfaden vorm Köpenicker Tor, da kann der Friede in den Himmel fliegen, eine ruinierte Bürgerfrau hat nichts davon, und Papier ist gut dazu ... Vor die Tür, ihr Lumpengesindel, oder die Kurzinne wird euch leuchten.«

Der zurückgedrängte Strom der Barfüßer trieb auch die Lauscher fort. Das wohlbekannte Kurzinnenlied, auch das summte noch aus der neuen Generation der Gassen, die doch wie oft seitdem gewechselt. Sie glaubten es noch in den Ohren klingen zu hören, als die Glücklichen schon in das Hotel Unter den Linden traten, wo außer dem ängstlich besorgten Grafen ihnen an der Hand des holländischen Gesandten der Marquis von Cabanis entgegenkam. Der Abend verstrich bei einem festlichen Familienmahl. Es war alles zur Freude da, nur der Hund fehlte, um sie für Etierme und Eugenie ganz vollkommen zu machen.


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