Willibald Alexis
Cabanis
Willibald Alexis

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6. Das Familiengericht

Die Tür ging auf, und herein trat, von seinem Inspektor geführt, mein Bruder Gottlieb. Er war es, über den die Familie richten sollte, oder vielmehr, es war längst gerichtet, es war nur ein hochnotpeinliches Halsgericht, das vor der Familie vollzogen werden sollte. Die Demütigung eines armen Menschen, seine Schmach, dazu hatten sie sich geputzt, die eifrigen Geschäftsmänner ihre Schreibtische verlassen, die deutschen Frauen ihre Wirtschaft! – Ich mußte unwillkürlich, wenn in der Folge mein Lehrer die kannibalische Grausamkeit der Römer schalt, welche mit lechzenden Augen den Verbrechern zusahen, die erfinderische Grausamkeit den wilden Tieren vorwarf, an meine Verwandten denken. Doch es waren nicht übersättigte Römer, nur Bürger und Bürgerinnen einer Stadt, die noch nicht jährlich an sieben Siegen ihres Friedrich zehren konnte, es war nicht Grausamkeit und Blutdurst, nur die grausame Langeweile einer eintönigen, farblosen Zeit.

Der junge Inspektor war sehr blaß, er ging unwillig an das Geschäft des Berichtens. Gottlieb sah trotzig und verdrossen vor sich nieder. Er hatte sich nicht einmal geputzt, was ihm verargt wurde, und grüßte auch nicht beim Eintreten. Die Blicke, die alle auf ihm hafteten, machten ihn nicht verlegen.

»Gottlieb!« hub der Vater mit einer Ruhe an, die ich nur zu gut kannte, um sie für etwas anderes zu halten als für die schwüle Stille, welche einem Gewitter vorangeht. »Gottlieb, willst du frei heraus reden? Ein offenherziges Geständnis mildert vielleicht die Züchtigung.«

»Sie wissen's ja alle schon«, entgegnete der Trotzige.

Der Inspektor nahm rasch das Wort, indem er versicherte, daß Gottlieb bei der Lehrerkonferenz heut' früh gestanden. Der Lehrer stellte hierauf selbst zusammen, wovon bis auf uns Kinder alle schon wissen mochten: von Gottliebs Ungehorsam gegen seine Lehrer, seiner Faulheit, seinem Trotz, wie er ungeachtet seiner vorgeschrittenen Jahre noch auf den Schulbänken der unteren Klassen sitze. Es sei nicht sowohl Unfähigkeit als Unlust. Eine Kontrolle sei zuletzt nicht mehr möglich gewesen, da er einen Tag um den anderen die Lehrstunden versäumt und sich auf den Straßen umhergetrieben habe. Manchen heimlichen Gängen war man nur halb auf die Spur gekommen.

Weshalb er indes heut' vor dem Familiengericht stand, war ein Vorfall ganz besonderer Art. Er hatte zu wiederholten Malen die öffentliche Ruhe gestört, es war Unfug geschehen, und die Behörde hatte sich einlegen müssen.

Es war eine prächtige neue Kutsche durch die engen und schmutzigen Gassen der Altstadt gefahren. Die Markleute sahen verwundert der seltenen Erscheinung nach, bis die Besitzerin unglücklicherweise ihren Kopf vorbeugte und man eine Jüdin erkannte. Einer rief die Entdeckung dem anderen zu, und wo die Equipage vorbeifuhr, erhob sich groß und klein und gaffte, lachte und schrie in den Wagen. Witze und Spottreden, bis am neuen Markte die Passage ganz versperrt wurde. Man wußte bald, es war die Tochter des reichen Agenten Sußmann, die Kutsche war aus London zum Hamburger Tor hereingekommen, man hatte sie als für den Hof bestimmt angestaunt, und nun stolzierte die Toditer eines Hebräers darin.

»Heraus mit der Schicksel!« – »Zeigt ihr, was Pflaster ist!« – »Am Ende will das Judenpack mit Vorreitern kutschieren!« – »Führt sie unter dem Langarm durch, dann kann sie zu Fuß nach Hause laufen«, von solchen Stimmen hallte es rechts und links. – »Heraus!« brüllte in einem Chor der Markt, »wir wollen ihr den Weg in die Jüdenstraße weisen.« – Das Mädchen war ohne Schutz; ihr reich gallonierter Kutscher zitterte auf dem hohen Bock, dem bebänderten Diener, hinten auf, kniffen die Gassenjungen in die Waden, sie fragten ihn, ob er sich nicht schäme, hinter'm Judenmädchen oben zu stehen? – Die Jüdin sah keine Rettung, wäre nicht Bruder Gottlieb gewesen. Man wußte nicht, was Gottlieb antrieb, sich des Judenmädchens anzunehmen.

»Um eine Jüdin!« rief es hier und dort im Familienkreise, als die Untersuchung so weit gediehen war.

»Ungeratener Bube!« unterbrach hier mein Vater die Untersuchung und seine eigene künstliche Fassung. »Was ging dich das Judenmädchen an? Hattest du Mutter und Vater nicht schon genug Kummer gebracht, mußtest du ihnen auch noch die Schande antun?«

Aber Gottlieb blickte finster vor sich hin und sagte nichts als: »Ob's ne Jüdin ist, das ist mir egal!«

Meine Mutter, die einen entschiedenen Widerwillen gegen die Juden hatte – ein Widerwille, der so weit ging, daß kein Handelsjude ins Haus durfte, daß sie in keinem jüdischen Laden einkaufte –, meine Mutter konnte einen Schrei nicht unterdrücken.

Die Untersuchung ging nun weiter. – Eine Art zünftigen Studentengeistes herrschte seit alters unter den Schülern der beiden Berliner Gymnasien. Die einem angetane Beleidigung wurde bisweilen als allen zugefügt aufgenommen. Auf dem Weihnachtsmarkte, dem fröhlichsten Volksfeste unserer Hauptstadt, gab es nicht selten kleine Schlachten, wo ganze Klassen verbrüdert ins Feld rückten. Der Schüler vom grauen Kloster war wohl wieder von der Wache entlassen, dafür aber vom Direktor ins Karzer gesperrt worden. Dies hatte unter seinen Mitschülern einen Durst nach Rache erweckt. Ihr Achill hatte einsitzen müssen (»brummen« nach dem Kunstausdruck), um einen Alumnus vom Joachimsthal! Sie hatten gelobt, einer für alle und alle für einen, die Schmach nicht auf sich sitzen zu lassen, und da es nun schwer war, an den Wachtsoldaten Rache zu üben, gegen die Lehrer und den Direktor nur in gewissen Fällen, so sollten die vom Joachimsthal es büßen. Solche Verabredungen blieben nicht lange geheim. Man wußte schon am anderen Morgen in der Burgstraße, was abends vorher in der Klosterstraße beschlossen war, und durch alle Klassen ging der ernste, mit Drohungen begleitete Aufruf an die wehrfähige Mannschaft: sich nachmittags an den Sandbergen zu stellen. Wir lächeln über den Ernst, aber wo ist die Grenze zwischen Ernst und Spiel? Der Student macht sich lustig über die Ernsthaftigkeit der Schüler, der Mann in Amt und Würde belächelt den blutigen Hader der Studenten, und läßt sich keine reifere Zeit denken, für welche der Zwist der Könige zum Kinderspiel wird? – Es ficht sich überall um etwas, und das gehört im Grunde genommen nun einmal zum Leben.

In der Hasenheide, einem sandigen Kiefernwald auf der südlichen Spreeseite, versammelten sich die Helden. Dort ward die große Schlacht für Vaterland und Ehre geliefert. Vom Nachmittag bis Abend stritt man, und es floß, wenn nicht Blut, doch Schweiß. Die Heldenwelt der Iliade stand aus ihren Gräbern auf. Gottlieb war ein grimmiger Hektor gewesen, er hatte gesiegt. Dort standen die Reste des Klosters, Posto fassend auf den steileren Sandhöhen, die Rollberge genannt. Höhnisch fragten sie hinunter, ob die anderen Lust hätten, für das Judenmädchen 'rauf zu klettern? Mehr brauchte es nicht für Gottlieb: »Dort oben ruhen wir aus«, rief er, schwang die Kiefernwurzel; ein Hallo, und der Sturm war beim ersten Ansatz gelungen. Die Verteidiger purzelten und stürzten von der Höhe, mancher von den Siegern mit, es gab Beulen, blutige und sogar zerrissene Kleider, verstauchte Glieder, die Helden knirschten weniger vor Wut als vor verschlucktem Sand, der Staub wirbelte über ihren Köpfen hoch und verbarg Siegern und Besiegten etwas, was wenigstens ebenso schlimm war wie die Höker und der Pöbel auf dem neuen Markt. Eine starke Polizeiwache, von Bürgern und Volk begleitet, war von dem Eifer der Kämpfer unbemerkt durch den Wald herangeschlichen und hatte sie umzingelt. Schon wurde einer nach dem anderen zum Jubel der Bürger nicht sanft gefaßt. Sollte das der Lohn des Siegers bleiben? Man wollte nicht allein den Griechen, sondern auch den Göttern widerstehen. Man schlug sich, das Wurzelende traf das Kinn des Polizeisergeanten, daß er blutend zurücktaumelte. Der Schreck über das ungeheuere Attentat gab ihnen Zeit. Sie brachen durch; verfolgt, gejagt, kam ihnen die Dunkelheit zu Hilfe und ehe die Nemesis ihn, hatte Gottlieb die Stadt erreicht.

»Gewalt gegen die königliche Polizei!« Der Oheim Rat schlug die Hände zusammen, der Pate Schlipalius nahm wohlgefällig eine lange Prise, und sein Nachbar hörte ihn schmunzeln: »Das kostet was.« Freilich hatte es schon etwas gekostet, denn dem verwundeten Sergeanten war noch gestern abend ein hübsches Geldstück ins Haus geschickt worden. Er hatte nun früh am Morgen auf der Stadtvogtei zu Protokoll gegeben, daß er an Nasenbluten leide. Die fiskalische Untersuchung war beseitigt, aber die Familie entrüstet; das hatte der französische Teil doch nicht erwartet! – »Unser Name kommt in die Polizeiakten!« Sein Urteil war durch alle Instanzen Verdammung! Der Vater erhob sich wieder, langsam, kalt: »Willst du's leugnen?«

»'s ist just so.«

»Hast du sie aufgewiegelt?« – Gottlieb besann sich einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf.

»Haben sie dich verführt?« fuhr der Vater fort und trat einen Schritt näher. Der Richter war wieder auf einen Augenblick Vater. Er hoffte.

Aber Gottlieb lachte. – Hätte er doch nicht gelacht!

»Warum machtest du ihren Anführer?«

»Ich konnte sie doch nicht allein lassen! Es war meine Klasse, und ich bin Primus.«

»Ich glaube, er täte es noch einmal«, sagte der Ohm Rat. »Noch hundertmal!« schrie Gottlieb.

»Und die Polizei!« rief entsetzt der Rat.

»Gottlieb, und die Familie!«

»Ich mag nichts von der Familie wissen. Sie hat noch nie was von mir wissen wollen.«

»Und du sollst doch!« sprach der Vater. »Wärst du Sohn von einem Tagelöhner, hätte ein Fremder dich hier zurückgelassen, man überließe dich auch deinem Lose. Wenn du barfuß auf der Schwelle lägst, ich ließe dich vom Hausknecht fortjagen. Aber du bist mein Sohn geworden, du bist es nun einmal, und weil du zur Familie gehörst, die du lästerst, darum nimmt man sich deiner noch einmal an, darum versucht man noch, dich am Rande des Verderbens aufzuhalten, darum spricht man noch einmal zu dir, ehe es zum Äußersten kommt. Höre mich an!«

Gottlieb stand da, den Blick am Boden, und hörte oder hörte nicht.

»Seit du aus der Wiege gekrochen, Gottlieb, hast du mir Kummer gemacht. Ich habe dich strenge gehalten, wie ein rechtschaffner Vater; mir kannst du's nicht zurechnen, daß du ein schlechter Mensch wurdest. Ich habe dir nie etwas verziehen, nie etwas nachgesehen. Ich war nie so schwach, auf deine Gelüste und Wünsche zu hören. Mein Arm wurde eher wund als dein Rücken; mich klage nicht an einst da oben, daß du so bist. Du hast dieser würdigen Frau, die dich als Knabe geschützt und gewartet, dich erzog, gleich ihrem eigenen Kinde, mit schrecklichem Undank gelohnt. Sieh um dich her, die ehrbare Familie, die du so oft gekränkt, noch in diesem Augenblick. Ehe ich dich ausstoße und einem neuen Schicksal überlasse, gebe ich dir noch Mittel zur Buße. Man hat für dich gebeten – bedenke, was das heißt: für dich gebeten! – Den Kopf auf! Sieh die achtbaren, ehrwürdigen Frauen und Herren, die um dich gelitten, sieh sie dir an und dann falle auf deine Knie. Rutsche umher von einem zum andern und flehe zu jedem, daß sie dir die Hand reichen, daß du sie küssen, daß du ihnen abbitten darfst, was du ihnen angetan hast.«

Es glänzte etwas in Gottliebs Auge. Er schlug die Wimpern auf, schaute sich um, aber schnell wischte er das Naß weg. Seine Knie hatten gezittert, jetzt stand er wieder kerzengrad und schüttelte mit dem Kopf.

»Gottlieb! Zum letzten und zum ersten Male bittet dich dein Vater.« – Seine Stimme zitterte.

»Ich tu's nicht.«

Der Oheim Rat ergriff Hut und Stock, drückte dem Vater die Hand und verließ, sich etwas gegen die Damen verbeugend, das Zimmer. Gottlieb war geliefert. Nun war keine Gnade mehr. Der Oheim war der Sanfteste von der Familie.

Gottlieb wurde abgeführt. Es war eine Totenstille im Zimmer. Ich sah auf meine Mutter; sie hielt das Tuch ans Gesicht. Der Kopf ruhte auf der Stuhllehne. Mein Vater verbarg seines an der Fensterscheibe, die großen Muhmen wehten sich mit ihren Fächern. Niemand sprach ein Wort, und wie fürchterlich lebendig war doch die Unterhaltung, die von draußen hereinklang! – Einige Gesichter – es sei zu ihrer Ehre gesagt – blickten fragend hin, wie weit das gehen solle. Stephanie schmiegte sich zitternd an mich, aber der Pate Advokat hinter mir murmelte: »Er muckst noch nicht.« Da entfuhr dem Armen ein flüchtiger Schmerzenslaut. Die Tante Rätin sprang vom Kanapee auf und faßte den Vater am Arm: »Um Gottes willen, Herr Schwager, jetzt halten Sie inne!« Der junge Inspektor war hinausgeeilt und kehrte mit Gottlieb zurück. Seine Backe blutete etwas, er sah noch wilder als vorhin aus. Er schüttelte sich fieberhaft, aber von Zerknirschung war nichts in seinem Gesichte.

»Will Er nun abbitten?« sprach mit einer furchtbaren Ruhe der Vater vor sich hin, ohne ihn anzusehen.

Auf allen Gesichtern ängstliche Spannung. »Ich tu's nicht.«

Es überlief jeden eiskalt, auch die große Kusine fuhr doch zusammen. Nur der Vater nicht. Er schien mir zu wachsen, wie er sich aufhob, aber der Mensch war fort, es war ein Richter geworden von Stein und Erz. Er sprach nichts, er winkte nur. Die Tante sprang noch einmal auf und umfaßte seinen Arm: »Mein Gott, Sie wollen ihn doch nicht totschlagen lassen?«

Die Tür öffnete sich abermals, und die beiden großen Unteroffiziere traten ein. Sie hielten keinen Stock, kein Röhrchen, nur über dem Arm des einen hing eine blaue Jacke mit roten Aufschlägen. Wer hätte nicht gewußt, was das zu bedeuten hatte; aber wohl nicht alle hatten vermutet, daß es bis dahin kommen würde. – Der Unteroffizier probierte mit einem Zollstabe.

»Er hat das Maß«, sagte er und trat zurück.

Gottlieb hatte das Maß, damit war es ausgesprochen: er gehörte nicht mehr der Familie an. Noch jetzt, mein Verehrtester, trotz der Glorie, die das Haupt eines preußischen Kriegers umstrahlt, kennen Sie den Schrecken in bürgerlichen Familien, wenn es an die Tür der Eltern pocht, die einen kantonpflichtigen Sohn haben. Man betrachtet den Gerufenen als einen doppelt Verlorenen. Der Tod von der Kugel ist nur der Tod des Leibes; es gibt noch einen anderen. Der Soldat ist ein Ausgestoßener, Verlorener. Und, sonderbar, dennoch betrachtet man gerade bei uns das Unterstecken ins Regiment als ein Korrektionsmittel für ungeratene Söhne, auf die keine sanftere Züchtigung mehr wirken will. Ein unbestimmtes Herkommen läßt den Vätern diese alte patriarchalische Gewalt. Es ist eine letzte Kur auf Tod und Leben, oder besser, man erledigt sich so auf die wohlfeilste Weise eines Familiengliedes, welches nur Kosten, Sorgen, Schande verursacht. Was der Soldat tut, fällt nicht mehr auf die Familie zurück.

Meine geneigten Leser wissen, welche Metamorphose in den zwanzig Jahren seit 1740 mit dem preußischen Soldaten vorgegangen. Der Funke des Prometheus ist in die stolze Marionette gefahren. Das war damals anders. Der Gedanke an Ehre, an Auszeichnung lag sehr fern. Man dachte nur an Faulenzer, zusammengelaufenes oder -getriebenes Gesindel von allerwärts her, preisgegeben einer bleiernen Disziplin und doch allen rohen Lastern des Müßiggangs.

Der Vater winkte den Unteroffizieren: sie breiteten die Montur aus.

»Sieht Er, Bube, dort! Das ist ein neues Haus für ihn, weil ihm seines Vaters nicht gefällt! Seines Vaters Haus war für ihn zu eng, probier' Er's, ob das weiter ist! – Es sind nur drei kurze Schritte, Gottlieb, und Er ist aus der Familie, von der Er nichts wissen wollte. Ich bitte ihn nun nicht mehr, es soll ihn niemand mehr bitten, soll keine Träne mehr um ihn fließen, ich werde nicht mehr des Nachts auf ihn warten, des Morgens soll Er mir nicht mehr Wermut in den Kaffee tröpfeln, seinen Namen streich' ich aus der Hausbibel, an seinem Geburtstage soll man fasten. Nun hat Er die Wahl, nun geh Er, geh Er schnell ...«

Gottlieb ging nicht, aber auf seinen zusammengebissenen Zähnen stand das Wort von vorhin geschrieben.

»Wenn er nicht kommt, so geht ihr nur zu ihm.«

Die beiden Korporale hatten ihn gefaßt. Noch einmal blickte ihn der Vater von der Seite an; es war noch etwas von Erwartung im Auge, ein letzter matter Schein von Hoffnung. Aber die späte Reue kam nicht. Er wandte sich schnell nach dem Fenster. Nun rissen sie meinem Bruder – regungslos ließ er's geschehen – die Jacke vom Leibe und zogen ihm die Montur an, die nicht sitzen wollte. Die Frauen wandten sich ab. Stephanie und ich, wir weinten Arm in Arm bitterlich. Gottlieb aber kam den Unteroffizieren unerwartet zu Hilfe. Auf einen Ruck mit beiden Armen saß die enge Montur, aber die Naht platzte. Sie meinten, das täte nichts, knöpften ihn zu, und nun war er – ein Soldat.

Mit einer Stimme, die aus dem Grabe kam, eiskalt, tonlos, so redete der Vater zum letzten Male: »Dahin hat Er's nun gebracht, aber Er wird's noch weiter bringen. Aus meinem Haus ist Er verstoßen, aus der Familie ausgeschieden, Er gehört nicht mehr dazu. Was Er mir zu melden hat, geht durch den Feldwebel. – O, wir werden bald von ihm hören. Nun ist Er der Zucht ledig. Nun wird Er, wenn Er nicht unter der Muskete steht, dem lieben Gott die Tage stehlen, auf den Promenaden im Sonnenschein liegen, die Bürger foppen und ehrbare Frauen belästigen. Nun kann Er sich balgen nach Herzenslust in den Branntweinschenken und sich an liederliche Dirnen hängen. Des Tages wird er saufen und würfeln, und nachts werden sie ihn ausziehen. Nicht mehr anständige Bürger, der Korporal wird ihn nach Hause schleppen. Um den rotgeschminkten Vetteln was in die Schürze zu werfen, um von ihnen betrogen zu werden, wird Er betrügen. Vom Betrügen ist nur ein Schritt zum Stehlen. Unter den Fuchteln wird Er sich sehnen nach der Züchtigung seines Vaters. O, hätt' ich doch stärker geschlagen – hätt' ich ..., es wäre doch nicht dazu gekommen! Aber dabei bleibt's noch nicht stehen. O, Er will weiter, Er will höher hinaus. Nach dem Galgen geht Er geradeswegs. Wenn Er Spießruten läuft, wenn der Boden unter Ihm brennt, wenn das Blut Ihm vom Rücken läuft, wenn die Fetzen Ihm herunterhängen, dann denke Er ...«

Ein Aufstand unter den Frauen unterbrach hier den Vater. Meine Mutter, die keine Träne vergossen hatte, war einem langen Kampfe mit der Ohnmacht erlegen. Der Vater tat nichts, er konnte nichts tun; er sank blaß, schlaff in den Stuhl, indes der Mann der einen großen Kusine das Riechfläschchen, das ihm seine Frau gab, der Mutter hinhielt.

Noch während der Verwirrung rief der Pate Advokat die Dienstboten herein. Er übernahm die Rolle des Vaters. Er zeigte ihnen den verlorenen Sohn, er sagte ihnen, daß er nicht mehr ins Haus gehöre, daß er nicht mehr über die Schwelle treten, daß niemand ihm die Tür öffnen, nicht einmal eine Botschaft von ihm annehmen dürfe. Wer dem nicht pünktlich nachkomme, werde fortgejagt.

In Gottlieb war eine Veränderung vorgegangen. Der Trotz hatte eine andere Farbe angenommen, seit er des Königs Kleid trug. Stramm, wie ein gedienter Soldat, stand er da, größer, dünkte mich, als früher, und sah dem Vater, dem grausamen Vater, dessen Regiment nun aus war, dreist ins Gesicht. Der Vater sah ihn nicht wieder an.

Christel mußte dem Gottlieb ein Stück Brot geben. Es sei das letzte aus seines Vaters Hause, verdolmetschte der Advokat die symbolische Handlung. Er solle sich nun noch einmal die Wände ansehen, wo er geboren, wo er erzogen worden, es sei das letztemal. Gottlieb sah sich die Wände an, von allen Anwesenden keinen einzigen. Es trat keine zweite Träne in sein Auge.

Der Vater bat den Advokaten, an seiner Stelle den Fortgehenden für die Teilnahme und Aufmerksamkeit zu danken. Er stand auch auf, er verbeugte sich tief, aber er sprach kein Wort, und ich glaube, er erkannte keinen von ihnen.


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