Willibald Alexis
Cabanis
Willibald Alexis

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3. Der Tote Mann

Es war abermals ein tatenreiches Jahr ohne Entscheidung vergangen. Die Flammen, welche beim Abschied vom Schlosse unserem Freunde leuchteten, leuchteten ihm nicht auf den Weg nach Berlin, wie er vermutet und gehofft. Noch einmal war die Gefahr, welche Friedrichs reicher Hauptstadt gedroht, davon abgelenkt. Die dahin beorderten Korps fanden vollauf an allen Punkten des ausgebreiteten Kriegstheaters zu tun, bis der Winter 1759, der strengste in diesem Kriege, als neuer Feind gegen den noch unerschütterten Helden auftrat. Sein Heer trotzte dem fürchterlichen Winterlager in Sachsen, Friedrich zeigte, daß er auch mit den Elementen zu ringen wußte. Stark und frisch trat er im neuen Jahr auf, aber der Frühling trieb seine Blüten und Knospen nicht zum Kranz für die Stirn des alternden Königs, Fouqué, sein Liebling, hatte sich bei Landshut ergeben müssen, ein Verlust, der Friedrichs Herz traf – er hat ihn nie verwunden –, Glatz wurde erobert. Verfolgt von Daun, und Lascy verfolgend, führte der große Feldherr inmitten beider Heere jenen wunderbaren Zug von Sachsen nach Schlesien, von Schlesien nach Sachsen. Man wagte nicht, den Löwen anzurühren, man wagte nicht, ihn in die Enge zu treiben, man zitterte vor der Kühnheit des Gedankens, einen Friedrich zu verfolgen; der in die Enge Getriebene konnte kehrtmachen und die Mähne schütteln. Sein Heer verschmachtete in der Julihitze, seine Preußen dürsteten nach einer Schlacht. Da setzte der Löwe im Angesicht eines doppelt so starken Feindes über die Elbe; statt sich zu verteidigen, griff er an, er belagerte Dresden. Die preußischen Bomben äscherten die reiche Königsstadt ein, Friedrich selbst schwebte in Gefahr, den Belagerten in die Hände zu fallen. Unüberwunden zog er nach Schlesien, einer noch größeren Gefahr entgegen. Sein kleines Heer war bei Liegnifz umzingelt, eiserne Arme hielten ihn umklammert, und die letzte Stunde des Großen schien in der hellen Sternennacht zu schlagen. Da erwachte, hell wie jemals, Friedrichs Genius; am Abend gab man ihn verloren, ehe die Morgensonne alle Schläfer in Dauns Lager erweckte, hatte er Laudon geschlagen, geworfen und stand im Siegermarsch auf das errettete Breslau, groß wie je in der alten Glorie. Es war nicht die größte Schlacht des Krieges, aber nie bis dahin war Friedrich aus einer so dringenden Gefahr so plötzlich, schnell, so durch Entschlossenheit, Kraft und Vertrauen in sich gerettet.

Ihn selbst, den im Zauber seines Namens Gerüsteten, zu überwinden, gaben die Feinde auf. Die Hand zitterte, die sich gegen ihn erhob, der wohlberechnete Schlag wurde unsicher, wenn er seinem Blick begegnete; auch der Schlafende kann aufspringen, und das Entsetzen entwaffnet die Mörder. Man wollte ihn besiegen, indem man seine Mittel vernichtete, man gab den Ruhm auf um des Vorteils willen. Berlin war Friedrichs Waffenschmiede, der Mittelpunkt einer blühenden Industrie, schon glänzend durch Bildung, reich durch Gewerbe und Handel. Hier sammelten sich die Lebenssäfte im Winter, so daß der preußische Baum seine Laubkrone wieder den Stürmen des Sommers entgegenbreiten konnte, hier wuchs sein Heer, hier füllten sich seine Kassen, seine Magazine, seine Rüstkammern. Hier konnte ihm aber auch eine Wunde beigebracht werden, die nicht mehr zu heilen war. Aber dieselbe Macht, welche um seine königliche Stirn schwebte, hatte auch den Gewitterschlag von seiner Königsstadt abgewandt. Kein Feldherr hatte es gewagt, mit ganzer Kraft sich gegen sie zu wenden und den entscheidenden Schlag zu tun. Jetzt richteten sich aufs neue die politischen Blicke seiner Gegner auf die preußische Hauptstadt. Österreicher und Russen waren einig. Das Geheimnis, gepflogen zwischen neidischen Feldherren, besprochen zwischen Hofräten, Kabinettsräten, beraten von Feldherren, Diplomaten und Frauen, welche nicht dasselbe wollten, nicht dasselbe dachten, blieb doch Geheimnis, und die drohenden Gewitterwolken wälzten sich gegen die Hauptstadt, ehe Friedrich, der anderen Plänen nachsann und begegnete, davon erfuhr.

Was in der Not zu tun war, darüber war sich Friedrich keinen Augenblick im Zweifel. Zwei Husarenoffiziere flogen aus seinem Hauptquartier mit Depeschen nach Berlin. Sie trugen auf ihrer Brust einen Blitzstrahl, der zündet, wo er trifft, und die Nacht zum Tage macht. In dem Schreiben stand: »Friedrich kommt.« Das Wort war viel, es war mehr als ein Heer. Es kam alles darauf an, zeitig den Generälen in Berlin die Nachricht zu bringen, daß Friedrich von dem Angriff wußte, daß er aus Sachsen eile, seine Hauptstadt zu retten, aber der Auftrag war schwierig, gefahrvoll. Die märkischen Kreise wimmelten von österreichischen Parteigängern, Kosaken streiften schon diesseits der Spree. Nur durch die dichtesten Kiefernheiden, durch Sandwüsten, die keine Plünderer lockten, durften die Offiziere hoffen, die bedrohte Residenz zu erreichen. Sie waren schon durch geplünderte Dörfer gekommen, wo kaum die Feinde abgezogen, und nur ihre Ortskenntnis und die Schnelligkeit ihrer ausgesuchten Pferde hatten sie vor der Gefangennahme gerettet. Doch auch Friedrich selbst, vor dem das Unmögliche so oft die Knie beugte, hätte ihnen nicht Flügel gegeben und den Körpern ihrer Tiere unermüdliche Kraft. Es gab hier nicht mehr Postverbindungen, Etappen; Stellvertretern durften die Ermüdeten ihr wichtiges Geschäft nicht anvertrauen, und ihr Auftrag selbst machte es ihnen zur Pflicht, dazu ihr Vermögen zu berechnen und zu sparen.

Als sie ihr Abendbrot zu sich genommen hatten – die Pferde draußen schwelgten noch bei einer reichlicheren Mahlzeit –, kontrollierten die späten Gäste ihre Brieftaschen. Es war sowenig etwas von den Leuten im Kruge zu besorgen, als man von ihrem Stumpfsinn Erkundigungen einziehen konnte. Freund und Feind waren den Verlassenen hier an der Grenze ein gleiches Schreckenswort. Daß Polacken mit langen Barten und Spießen dagewesen, aber wieder abgezogen seien, war die einzige Auskunft, welche darauf hindeutete, daß schon Kosaken in der Gegend streiften. Der Chevalier nahm versiegelte Briefe aus seiner Mappe und reichte sie Stephan: »Steck's zu dir.«

»Warum das?«

»Wenn wir uns trennen müßten – wenn mir etwas begegnete, der ist an den Kommandanten, der an Seidlitz und dieser für Lehwald.«

Sie waren noch zu aufgeregt, um zu schlafen, und setzten sich wieder an den Tisch, wo die Blechlampe ihre dürftigen Strahlen auf die noch nicht weggeräumten Schüsseln und Teller warf. Ein unbehaglicher Anblick, alles unfreundlich, wüst, drückend, bis auf das Stroh, das ein größerer Junge auseinanderschüttete. Der Chevalier bemühte sich, ein Gespräch fortzuführen, an dem er selbst den wenigsten Anteil nehmen mochte. Fragen und Antworten zeugten von seiner Zerstreuung.

Die Lampe brannte düster, ihr Rauch wirbelte um die niedrigen Balken. Eine Unzahl matter Fliegen kroch auf der unsauberen Tischplatte und lagerte um die Reste der Speisen. In der Neige Bier war es schwarz vom Gewimmel der mit dem Tode ringenden Insekten. Ihr Flügelschlag, ihr Gesumme, das Schnarchen der heimischen Schläfer und das Ticken der Wanduhr waren das einzige, die dumpfe Nachtstille des Waldhauses unterbrechende Geräusch. Wieviel Schläge hatte diese alte Wanduhr getan, seit Stephan das Vaterhaus verlassen hatte, wieviel lagen noch dazwischen, bis er es wiedersah? Und doch wünschte er sich nicht zu beeilen. Er las wieder in der Brieftasche, als der Chevalier die Augen auf ihn richtete:

»Wie oft willst du ihn noch lesen? Du mußt den Brief auswendig kennen.«

»Kann man sich etwas Angenehmes zu oft vorführen?«

»Die Phantasie liest etwas hinein, was nicht darin ist.«

»Was wahr ist, bleibt wahr. Sie ist ihm behilflich gewesen zur Flucht, er ist dem Tode, der Schmach entgangen, und, was noch besser ist, sie hat Regungen in dem verwilderten Sinn entdeckt, die noch hoffen lassen.«

»Und das glaubst du?«

»Sie kann mich nicht täuschen wollen.«

»Dich nicht, aber sich selbst. Sie ist ein Weib. Die lesen in jedes Buch hinein, was sie darin finden wollen, Schlimmes und Gutes, wie die Wetterfahne ihrer Laune steht.«

Stephan schwieg. Es mahnte ihn an Kämpfe, die er selbst durchgefochten hatte, und er fragte sich nach dem, was er gewonnen. Der Wind rauschte wieder in den Kiefern draußen.

»Das Vaterland ist doch etwas!«

Der Chevalier lächelte wehmütig. »Wieder das! Ich wurde auf einem Schiff geboren, mein Vater war ein Franzose, ein jüngster Sohn, der kaum sein Geburtsland gesehen hatte, meine Mutter eine Amerikanerin. Mein Vater starb auf dem Wege nach Petersburg, um ein Russe zu werden, meine Mutter folgte ihm, nämlich in das Vaterland jenseits. Mich warf das launenhafte Glück nach Potsdam. Aus dem Waisenhause kam ich in das Kadettenhaus. Ein englischer Onkel von Mutterseite, der sich aus britischem Spleen gegen seine Verwandten meiner erinnerte, ließ mich in Genf erziehen, und als ich erzogen war – ich weiß nicht, ob als Franzose, Amerikaner, Russe, Engländer, Brandenburger oder Schweizer –, trat ich ins preußische Militär. Was bin ich nun, sage mir, was ist mein Vaterland?«

»Friedrich!«

»Und was ist Friedrich selbst?«

»Eine Größe.«

»Aber eine unbekannte, aus der man noch nicht die Wurzel gezogen hat. Ist er glücklich? Nach den Sonnentagen von Mollwitz und Hohenfriedberg war er's vielleicht, wo die Welt zu des jungen Gottes Füßen lag, sein Degen der Schlüssel war zu Ruhm und Macht. Kennst du in dem verdrießlichen Mann, dem nichts mehr Vergnügen macht, den siegestrunkenen Jüngling wieder; wo sind die Phantasieträume, die Wolken von Morgenrot, auf denen er sich schaukelte? Was hat er gewonnen? Schlesien und dafür den Haß und Neid einer halben Welt. Frieden? Mit niemandem, oder höchstens mit denen, die von ihm noch etwas erwarten. Vertrauen? Hm, hm! Bewunderung? Nun ja, ich bewundere ihn. Ich werde nicht von ihm lassen, weil ich eben, weil wir alle nichts sind ohne ihn. Ja, ich bewundere ihn, aber davon ess' ich nicht, trink' ich nicht, atm' ich nicht. Was ist der Nähr- und Lebensstoff darin? Und wenn man mir sechs Bretter zusammenschlägt und eine Grube gräbt, was nehm' ich von Friedrich mit?«

»Wird der Bauer im Tode die Ernten schmähen, die ihm sein Brot lieferten, weil er nichts davon mit hinübernimmt? Wir leben, mein' ich, von unseren Stimmungen. Sie sind wandelbar, vergänglich, aber unser ist die Schuld, wenn wir sie nicht genossen. Wir haben geschwärmt, geglüht, unser Geist erhob sich in die Wolken, wir waren selig. Ist das nichts? Zähle die begeisterten Momente, die seligen Augenblicke zusammen; gibt es keine Summe von schönen Gefühlen, von großen Gesinnungen, von berauschenden Gedanken, würdig gelebt zu haben?«

Stephan reichte ihm die Hand: »Auf Wiedersehen morgen!« Die Hand war heiß, der Puls ging heftig, es dünkte ihm, wie im Fieber. Ungeduldig wies der Chevalier den zaudernden Kameraden fort. Er löschte das Licht aus und ging. Die Sterne flimmerten blendend am ganz reinen Oktoberhimmel. Es war kalt. Das Schnarchen des Jungen leitete ihn in die Scheune, wo sein Lager bereitet war. Aber er erwehrte sich auch in dem doppelt umwickelten Mantel nicht der Kälte, welche mit der Zugluft durch die schlecht verwahrten Wände drang. Seine Gedanken erhielten ihn zwischen Schlaf und Wachen, um doppelt den Frost zu empfinden. Endlich sprang er auf; er suchte nach einem geschützten Ort und sah die Leiter am Heuboden angelehnt. Mit wenigen Tritten war er oben, er mußte aber halb im Schlaf gestiegen sein, denn als er sich hineinschwang, stieß er die Leiter um und schnitt sich dadurch den Rückweg ab, aber er fand hier, was er erwartet hatte.

Es mochte schon spät sein, als er die Augen wieder aufschlug und die Besinnung zurückrief, wo er sei. Geweckt hatte ihn niemand, auch war es ringsum still, die Sonne schien durch die enge Dachluke. Er arbeitete sich aus den Heumassen auf, weniger frisch, als er gehofft hatte. Erst die umgestürzte Leiter brachte ihm in Erinnerung, was vorgefallen war. Er rief nach Bruno, dem Troßbuben, aber keine Antwort kam. Es sah unordentlich, zerstört auf dem Hofe aus. Ihn überraschte unangenehm der Gedanke, daß sie ohne ihn fortgeritten wären. Als auf sein wiederholtes Rufen niemand erschien, schickte er sich zum Sprunge an, der, nachdem ein Teil des Heues vorausgeworfen war, ohne Fährlichkeit abging.

Auch jetzt zeigte sich auf dem Hofe kein lebendes Wesen. Bruno war fort. Er wollte die Stalltür aufreißen, sie war offen und die Pferde verschwunden. Es zuckte eine Angst heiß ihm durch das Gehirn; wir zaudern gern auf dem Wege, der uns zu einer entsetzlichen Gewißheit führt. Er stand still in dem Torweg des öden Gehöftes und ließ, die Hand am Säbelgriff, das Auge hinausschweifen. Es begegnete ihm nichts als die monotone Kieferneinsamkeit, die kein Kriegsruf, kein Sturmwind aufstört. Die Sonne stäubte in schrägen Strahlen durch die Nadelkronen und glänzte auf dem hellen Sande. Verspätete Zugvögel zwitscherten auf den Ästen.

Er wandte sich um, die Fenster der Hütte waren zerschlagen, die Tür, erbrochen, lag über der Schwelle. Den Säbel ziehend, trat er an das Fenster und übersah das Bild der Zerstörung, soweit die im Zugwind herumfliegenden Federn aus den aufgeschlitzten Betten es vergönnten. Die Kacheln des Ofens waren eingeschlagen, der Tisch umgestürzt, die Gerätschaften lagen in Scherben umher, alles Spuren übermütiger Zerstörungslust. Nichts Lebendes im Zimmer als der alte Kater, dessen Feueraugen vom Gesims herabglühten. Sie waren auf etwas Totes gerichtet, ein blutender Leichnam, halb seiner Kleider beraubt, lag über der umgestürzten Bank. Ein klaffender Hieb über die Stirn war das Siegel, das keine sterbliche Hand wieder löst, das Siegel des Todes.

Warum steigen wir teilnahmslos über Hunderte von Leichen nach einer Schlacht, und warum durchbebt uns der blutende Anblick des einen, der getroffen daliegt, von demselben Eisen wie die Ähren des Schlachtfeldes gemäht? Er hat das Leben so liebgehabt wie die tausend Brüder, die Wunde hat ihn ebenso geschmerzt; er hat ebenso gedürstet. Eine stolze Wehmut hebt dort die Brust, hier durchschüttert uns Grauen und Entsetzen! Was stand unser Held, der nie gezittert, wenn er über Leichenberge stürmte, zitternd da, und verbarg das Gesicht in seinen Händen? Es war sein Freund. Hätte eine Kugel ihn an seiner Seite niedergerissen, er würde ihm die Hand gedrückt haben, eine Träne hätte sich vielleicht durch die Wimpern gedrückt, aber der Ehrentod hätte alles anders gemacht. Doch der Chevalier war nicht im Schlaf ehrlos erwürgt worden. Er mußte sich verzweiflungsvoll verteidigt haben: ein bärtiger Sarmate, dessen Leiche er jetzt im Winkel entdeckte, sprach für seinen letzten Todesmut, die Kinder, die später aus ihrem Versteck zum Vorschein kamen, bestätigten es.

Einige Minuten saß er wie übermannt vom Anblick und den Gedanken auf der Bank. Es war etwas in der Zerstörung nicht zerstört – die hölzerne Wanduhr. Sie tickte wie am Abend vorher, wie vorm Kriege, wie vor fünfzig Jahren. Sie war ebenso ruhig gegangen, als sie sich hier mordeten, wie jetzt, wo der Einsame vor seinem eigenen Atemzuge erschrak. Da lag die Patronentasche des Kameraden, wohl das einzige, was die plündernden Kosaken zurückgelassen hatten, und der Namenszug »Friedericus Rex« darauf glänzte ihm im Sonnenstrahl entgegen. Er sprang auf, er schüttelte die Träume, das gräßliche Bild, ab, drückte dem Toten die Hand: »Vergib mir, der König ruft!«


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