Abraham a Sancta Clara
Fabeln und Parabeln
Abraham a Sancta Clara

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Krähe und Taube

Es hat Äsopus mit seinem Dickkopf schon längst spitzfindig gedichtet, wie die Krähe einmal hie und dort die schönen Federn, welche andern Vögeln ausgefallen, zusammengeklaubt und sich darmit sehr prächtig bekleidet und aufgeputzt hat; nachdem ihr aber ein jeder Vogel seine Federn ausgerupft, alsdann ist sie als eine andre Bettlerin dagestanden – eben diese Kräh war so nasenwitzig, daß sie fast allen Tieren dero Tun und Lassen durchgegrippelt, ihnen ganz freventlich allerlei Mängel ausgestellt hat, indem sie selber doch wenig Vollkommenheit an sich hatte. Einmal hat sie die Taub mit diesen Worten angeredet: »Meine Schwester, ich muß bekennen: wann du in der Sonn stehst, so hast du ein Kröß und Halskrause trutz der Burgermeistrin zu Straßburg; entgegen ist in andern Sachen nit viel Besondres an dir. Mein, sag mir, was bewegt dich darzu, daß du dein Nest allzeit an ein Ort machst, da dir doch die Jungen so oft ausgenommen werden?« Die Taube gab zur Antwort: »Dies macht meine Einfalt; denn ich will lieber betrogen werden als betrügen . . .«

Gleichwie die Tauben äußerlich keinem Menschen schaden, so sind sie auch inwendig ohne Gall und ein rechtes Sinnbild der Redlichkeit; dahero ist ein Politicus oder Diplomaticus keine Taub, wohl aber ein andrer Vogel zu nennen, dessen Reden darum nit redlich, weil die Uhr inwendig anderst geht, als sie auswendig zeigt. Solcher Simulanten und Heuchler ist eine große Menge in der Welt, die im Mund Ave, im Herzen prave (du Bösewicht!) tragen. Dieser Gesellen Zechmeister ist der gottlose Judas gewest, der unter dem Kuß einen tödlichen Schuß verborgen hatte.

 


 


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