Emile Zola
Nana
Emile Zola

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Dreizehntes Kapitel

Gegen Ende des September kam Graf Muffat, der am Abend bei Nana dinieren sollte, in der Dämmerung zu ihr, um ihr mitzuteilen, daß er plötzlich Order erhalten habe, nach den Tuilerien zu kommen. Das Haus war noch nicht erleuchtet, man hörte das laute Gelächter des Personals in der Küche; er stieg behutsam die Treppe hinauf, die im tiefsten Dunkel lag. Oben öffnete er geräuschlos die Tür des Salons; ein rosiges Licht breitete sich an der Decke des Zimmers aus, die roten Vorhänge, die schwellenden Diwane, die feinlackierten Möbel, der Überfluß von Stickereien, Bronzen und Porzellangegenständen lagen schon in langsam herniederwallender Finsternis da, die auch in den Nischen den Glanz des Elfenbeins und den Schimmer der Goldverzierung nicht hervortreten ließ. Und hier in dieser Finsternis, in der man nur ein weites, weißes Unterkleid sah, bemerkte er Nana in den Armen Georges'. Ein Leugnen war unmöglich. Seiner Brust entwand sich ein halberstickter Schrei; er blieb wie angewurzelt stehen. Mit einem Satz war Nana aufgesprungen und schob ihn in das Schlafzimmer, um so dem Freunde Zeit zur Flucht zu geben.

»Geh hinein«, murmelte sie, »ich will dir sagen...«

Sie war außer sich über diesen plötzlichen Besuch. Niemals hatte sie in diesem Salon, noch dazu bei offenen Türen, sich so gehen lassen. Nur ein heftiger Streit mit Georges, der aus Eifersucht gegen Philippe wütete, hatte dies vermocht; der arme Zizi weinte so heftig an ihrem Busen, daß sie nicht wußte, wie sie ihn sonst beruhigen sollte, da sie im Grunde viel Mitleid für ihn fühlte. Und gerade, als sie die Dummheit beging, sich so weit zu vergessen, noch dazu mit einem jungen Taugenichts, der ihr nicht einmal mehr Veilchenbuketts bringen konnte – so kurz hielt ihn seine Mutter –, gerade da mußte der Graf kommen und sie überraschen! Schade, nun war es mit den Chancen vorbei! Das hatte sie von ihrer Gutmütigkeit!

Unterdessen war es in dem Zimmer, wohin sie Muffat gedrängt hatte, völlig Nacht geworden. Im Finstern herumtappend, klingelte sie wütend nach einer Lampe. An allem war Julien schuld! Wenn im Salon eine Lampe gestanden hätte, so wäre alles dies nicht vorgekommen. Nur diese dumme Abenddämmerung hatte sie hingerissen.

»Ich bitte dich, mein Mäuschen, sei vernünftig«, sagte sie, als Zoé Licht gebracht hatte.

Der Graf saß auf einem Stuhl, seine Hände ruhten schlaff auf den Knien, und sein ganzer Körper bebte noch. Nicht ein Wort des Zornes kam über seine Lippen. Er zitterte, wie von einem Schreck erfaßt, der ihm das Blut in den Adern erstarren ließ. Dieser stumme Schmerz rührte Nana, und sie versuchte ihn zu trösten.

»Nun ja, ich habe gefehlt... Es ist sehr schlimm, was ich getan habe... Du siehst, ich bereue meine Schuld! Ach, ich bin wirklich sehr betrübt darüber, zumal es dich ärgert... Komm, sei nun artig und verzeihe mir!«

Sie hatte sich ihm zu Füßen geworfen und suchte seine Blicke mit der Miene zärtlicher Unterwerfung zu erhaschen, um zu sehen, ob er ihr ernstlich böse sei; als er sich dann wieder beruhigte und einen langen Seufzer ausstieß, fing sie noch mehr an zu schmeicheln und brachte schließlich im Ton wahrer Güte den Hauptentschuldigungsgrund vor:

»Siehst du, mein Lieber, du mußt mich nur recht verstehen... Ich kann doch meinen armen Freunden eine unschuldige Umarmung nicht verwehren.«

Der Graf ließ sich erweichen und verlangte nur, daß Georges fortgeschickt werde. Aber jetzt waren alle Illusionen in ihm zerstört; er glaubte nicht mehr an die geschworene Treue. Er wußte nun, daß ihn Nana schon am nächsten Tage wieder betrügen werde; nur eine feige Gier, ein Ekel gegenüber dem Leben, das ihm ohne sie nicht denkbar war, ließen ihn noch fernerhin die Qual ihres Besitzes erdulden.

Es war der Wendepunkt ihrer Existenz, und mit verdoppeltem Glanz blendete Nana Paris. Sie erschien immer größer am Horizont des Lasters und dominierte in der Stadt durch die Unverschämtheit, mit der sie ihren Luxus zur Schau trug, durch die Geringschätzung des Geldes, mit der sie in gewissenlosester Weise das Vermögen anderer verschwendete. In ihrem Hause war gleichsam eine Goldschmiede: ihre ewig neuen Wünsche flammten darin auf, und ein leiser Hauch ihrer Lippen verwandelte das Gold in feine Asche, die der Wind zu jeder Stunde zerstreute. Noch nie hatte man eine so rasende Verschwendung beobachtet. Ihr Glanz schien auf einem Abgrund erbaut zu sein, in den sich die Männer mit ihrem Vermögen, ihrem Körper, sogar ihrem Namen stürzten, ohne auch nur die geringste Spur davon zu hinterlassen. Dieses Weib, dessen Geschmack nach Radieschen und Mandeln stand, die sie knabberte, während sie das Fleisch kaum anrührte, zahlte jeden Monat für ihre Tafel Rechnungen in Höhe von fünftausend Franken. In der Dienerstube herrschte sinnlose Vergeudung, man ließ im wilden Übermut die Weinfässer auslaufen, und alle Rechnungen gingen erst durch drei, vier Hände, an denen immer etwas kleben blieb. Victorine und François herrschten unumschränkt in der Küche, luden Leute ein, an die sich noch eine ganze Schar von Vettern und Basen schloß, die außerhalb des Hauses gefüttert wurden. Mitten in dieser allgemeinen Plünderung gelang es der schlauen Zoé, immer den Schein des Rechtes zu wahren, indem sie die Diebstähle vertuschte, um dadurch ihren eigenen Raub um so mehr sichern zu können.

Oben bei Madame ging die Zerstörung noch schneller vor sich: Kleider für zehntausend Franken, zweimal getragen, wurden von Zoé verkauft; Schmucksachen verschwanden, als hätten sie sich zwischen den Schubladen verkrümelt; mit toller Gier wurden alle Neuigkeiten des Tages gekauft; am nächsten Tag lagen sie schon vergessen in den Ecken und wurden auf die Straße gekehrt. Nana konnte nichts sehen, ohne es zu begehren, und mochte es noch so teuer sein; so richtete sie auch beständig unter den Blumen und wertvollen Nippsachen um sich herum Unheil an und war um so glücklicher, je mehr das launenhafte Zerstörungsspiel einer Stunde kostete. Nichts blieb in ihren Händen ganz; sie zerbrach alles, das eine verblich, das andere wurde schmutzig zwischen ihren kleinen, weißen Fingern; eine unbeschreibliche Trümmerstätte bezeichnete ihre Spur.

Endlich kamen noch die großen Ausgaben zu dieser Verschleuderung in kleinen Einzelheiten hinzu: zwanzigtausend Franken bei der Modistin, dreißigtausend bei der Weißnäherin, zwölftausend beim Schuhmacher; ihr Marstall verzehrte fünfzigtausend, und binnen einem halben Jahr hatte sie bei ihrem Schneider eine Rechnung von einhundertzwanzigtausend Franken. Ohne daß sie ihren Haushalt vermehrt hatte, der nach Labordettes Schätzung im Durchschnitt vierhunderttausend Franken kostete, beliefen sich in diesem Jahre ihre Ausgaben auf eine Million. Sie war selbst bestürzt über diesen Betrag, da sie nicht imstande war anzugeben, wohin eine derartige Summe gekommen sei. Die Herren, die sie einen nach dem anderen an sich gelockt hatte, und das Geld, das ihr gleichsam schubkarrenweise zuströmte, reichten nicht hin, den Abgrund auszufüllen, der ihre verschwenderische Haushaltung immer tiefer unterhöhlte.

Indessen ging Nana noch mit einer letzten Laune um. Da sie noch einmal von der Idee geplagt wurde, ihr Zimmer zu restaurieren, glaubte sie jetzt, eine glückliche Wahl getroffen zu haben: ein Zimmer, in dem sich teerosenfarbener Samt mit kleinen Silbertupfen in Form eines Zeltes bis zur Zimmerdecke spannen sollte, mit goldenen Schnüren und einer goldenen Spitze verziert. Das mußte nach ihrer Ansicht reich und zart sein und einen prächtigen Hintergrund zu dem Purpurzauber ihrer Haut bilden. Im übrigen sollte das Zimmer zur Aufnahme eines Bettes dienen, eines Wunderwerks, über das man staunen sollte. Nana dachte an ein Bett, wie es kein zweites gab, einen Thron, einen Altar, zu dem ganz Paris strömen werde, um sie auf ihm in königlicher Nacktheit zu verehren. Es sollte ganz aus getriebenem Gold und Silber bestehen, ähnlich einem großen Schmuck mit goldenen Rosen auf einem silbernen Gitter; am Kopfende selbst sollte eine Amorettengruppe unter Blumenwerk sich lachend herniederneigen. Sie hatte sich an Labordette gewandt, der ihr zwei Goldarbeiter empfahl. Nana war schon mit den Zeichnungen beschäftigt. Das Bett sollte fünfzigtausend Franken kosten, die ihr Muffat als Neujahrsgeschenk hoffentlich spenden würde.

Besonders erstaunt war die junge Frau aber darüber, daß sie trotz dem Geldstrom, dessen Flut ihre Glieder umspülte, doch beständig auf dem trocknen saß. An manchen Tagen war sie in Verzweiflung, wo sie die lächerliche Kleinigkeit von einigen Louisdor hernehmen sollte. Dann mußte sie sich entweder von Zoé etwas vorschießen lassen, oder wenn sie konnte, verschaffte sie sich wohl auch selbst Geld. Allein bevor sie zu diesen letzten Hilfsquellen griff, fühlte sie ihren Freunden auf den Zahn, indem sie mit der anscheinend größten Unbefangenheit den Herren alles bis auf den letzten Sou aus der Tasche lockte. Besonders berücksichtigte sie seit einem Vierteljahr Philippe in dieser liebenswürdigen Weise, so daß er schließlich in solchen kritischen Momenten immer gleich sein Portemonnaie daließ. Bald war sie dreist geworden und hatte von ihm kleine Darlehen von zweihundert oder dreihundert Franken verlangt, niemals mehr, für kleine Läpperschulden; Philippe, der im Juli mit der Verwaltung der Regimentskasse betraut worden war, brachte dann das Geld am nächsten Tage und entschuldigte sich damit, daß er selbst nicht reich sei, denn die gute Mama Hugon behandelte ihre Herren Söhne gegenwärtig mit sonderbarer Strenge. Nach einem Vierteljahr hatten diese kleinen Darlehen schon ungefähr die Höhe von zehntausend Franken erreicht. Der Kapitän ließ hierbei stets sein helles, wohltönendes Lachen vernehmen. Trotzdem magerte er zusehends ab, war bisweilen sehr zerstreut, und ein schmerzlicher Zug umschattete sein Gesicht. Allein ein Blick Nanas verwandelte ihn sofort, und sein ganzes Wesen geriet in eine Art Ekstase. Sie umschmeichelte ihn wie eine Katze, berauschte ihn mit Küssen und bemächtigte sich seiner durch ihre bezaubernde Hingebung. Dadurch fesselte sie ihn immer wieder an sich, wenn sich ihm auch bisweilen Gelegenheit geboten hätte, aus ihren Schlingen zu entkommen.

Als Nana eines Abends bemerkt hatte, daß sie auch Therese heiße und daß ihr Namenstag auf den 15. Oktober falle, schickten ihr alle Herren Geschenke. Kapitän Philippe brachte das seinige selbst, eine vergoldete, altertümliche Konfektschale aus Meißner Porzellan. Er fand Nana allein in ihrem Ankleidezimmer, als sie gerade aus dem Bade stieg; sie war in einen weiten Mantel aus weißem und rotem Flanell gehüllt und eifrig damit beschäftigt, die auf einem Tisch ausgebreiteten Geschenke zu mustern. Sie hatte schon ein Fläschchen aus Bergkristall zerbrochen, als sie es entkorken wollte.

»Oh, du bist reizend!« sagte sie. »Was ist denn das? Zeige einmal... Bist du denn ein Kind, dein bißchen Geld für solche Kleinigkeiten auszugeben?«

Sie schalt ihn, weil er nicht reich war, im Grunde aber war sie zufrieden, zu sehen, daß er alles für sie ausgab, der einzige Beweis der Liebe, der sie rührte. Indessen spielte sie an der Konfektschale herum, öffnete und schloß sie wieder, um zu sehen, wie sie konstruiert sei.

»Nimm dich in acht«, murmelte er, »das ist sehr zerbrechlich.«

Aber sie zuckte die Achseln und entgegnete:

»Glaubst du denn, daß ich Packträgerhände habe?«

Plötzlich blieb ihr das Scharnier in den Händen, der Deckel fiel zu Boden und zerbrach. Verblüfft richtete sie ihre Augen auf die Scherben und rief aus: »O je, nun ist es entzwei!«

Darauf begann sie zu lachen, denn die auf dem Boden umherliegenden Bruchstücke erschienen ihr drollig. Eine krampfhafte Heiterkeit hatte sich ihrer bemächtigt, und sie zeigte das dumme, boshafte Lachen eines Kindes, das sich an der Zerstörung ergötzt. Philippe war einige Augenblicke sprachlos; die Unglückliche wußte nicht, welche Sorgen ihn diese Nippsache gekostet hatte. Als sie seine Bestürzung sah, suchte sie sich zu mäßigen:

»Verzeih mir, es ist nicht meine Schuld... Es hatte einen Riß. Diese alten Sachen halten nicht mehr viel aus... Auch ist es ja nur der Deckel. Hast du gesehen, wie er heruntersprang?«

Wieder brach sie in ein tolles Gelächter aus. Als jedoch dem jungen Mann trotz seiner Anstrengung die Augen übergingen, umschlang sie zärtlich seinen Hals.

»Du bist wohl toll! Ich liebe dich doch trotzdem. Wenn man nichts zerbricht, können die Kaufleute nichts mehr verdienen. Alles das ist ja nur dazu gemacht, zerbrochen zu werden... Schau, der Fächer da ist auch nur geleimt!«

Sie hatte einen Fächer ergriffen und hastig auseinandergefaltet, wobei die Seide entzweiriß. Dies schien sie zu erregen. Um zu zeigen, daß ihr die anderen Geschenke von dem Augenblick an, wo sie das seine zerbrochen hatte, gleichgültig waren, vergnügte sie sich mit der Zerstörung, nahm sie einzeln in die Hände und bewies ihm dadurch, daß sie sie zerbrach, daß kein einziges solide gearbeitet sei. Dabei leuchteten ihre Augen, und zwischen den schelmisch aufgeworfenen Lippen schimmerten blendend weiß die Zähne. Als endlich alle Geschenke in Stücken dalagen, errötete sie heftig, schlug lachend mit den Händen auf den Tisch und lispelte wie ein ungezogenes Mädchen:

»Nun ist's aus; nichts mehr, nichts mehr ist da!«

Durch diesen Freudentaumel wurde jetzt Philippe wieder erheitert, beugte sie zurück und bedeckte ihre Brust mit Küssen. Sie ließ es geschehen, hing sich an seine Schulter und war so glücklich, als hätte sie sich seit langer Zeit nicht so gut amüsiert. Ohne ihn loszulassen, fuhr sie in zärtlichem Ton fort:

»Sage mir, mein Schatz, du könntest mir morgen wohl zehn Louisdor bringen... Eine dumme Rechnung meines Bäckers geht mir im Kopf herum.«

Bei diesen Worten war er erbleicht, und als er ihr hierauf noch einen Kuß auf die Stirn drückte, sagte er kurz:

»Ich will es versuchen.«

Schweigend kleidete sie sich an, während er die Stirn gegen eine Fensterscheibe preßte. Nach einiger Zeit wandte er sich vom Fenster um und versetzte langsam: »Nana, du solltest mich heiraten.«

Dieser Gedanke erheiterte das junge Weib plötzlich derart, daß sie vor Lachen gar nicht dazu kam, ihre Kleider zuzuknöpfen.

»Aber, mein armer Kerl, du bist ja krank! ... Bietest du mir etwa wegen der zehn Louisdor deine Hand an? ... Niemals! Ich liebe dich viel zu sehr! Danke schön für die Dummheit!«

An jenem Abend war auch Georges trotz Nanas Verbot im Hause erschienen. François hatte ihn wohl vorübergehen sehen, allein keiner der Diener hinderte ihn, und alle lachten nur unter sich über die Bestürzung, in die ihre Herrin geraten werde. Georges hatte sich soeben bis in den kleinen Salon geschlichen, als ihn die Stimme seines Bruders stutzig machte; er verbarg sich dicht hinter der Tür und hörte nun die ganze Szene, die Küsse und den Heiratsantrag. Vor Schreck erstarrt, ging er wie geistesabwesend davon; ihm war, als sei sein Hirn aus dem Kopf geschwunden. Erst in der Rue Richelieu, in seinem Zimmer über den Gemächern seiner Mutter, machte er seinem Herzen in wilden Seufzern Luft. Beständig trat ein schreckliches Bild vor seine Augen: Nana in den Armen Philippes; das erschien ihm wie Blutschande. Sobald er sich beruhigt glaubte, kam diese Erinnerung wieder, und ein neuer Ausbruch eifersüchtiger Wut warf ihn auf sein Bett; krampfhaft biß er in die Decken und stieß gräßliche Verwünschungen aus, die ihn noch viel toller machten. So verging der ganze Tag, und er schützte Kopfschmerzen vor, um in seiner Einsamkeit fortrasen zu können. Die Nacht jedoch war noch schrecklicher, ein mörderisches Fieber schüttelte ihn, und furchtbare Phantasien durchtobten sein Hirn. Wenn sein Bruder in demselben Hause gewohnt hätte, er wäre seinem Messer zum Opfer gefallen. Am Tage wollte er vernünftig handeln: er müsse sterben, dachte er, und er werde sich zum Fenster hinabstürzen, sobald ein Omnibus vorbeifahre. Dennoch ging er gegen zehn Uhr aus; er rannte in Paris umher, streifte über die Brücken und empfand ein unbesiegbares Bedürfnis, Nana noch einmal wiederzusehen. Vielleicht würde sie ihn durch ein freundliches Wort retten. So schlug es drei Uhr, als er das Haus in der Avenue de Villiers betrat.

Gegen Mittag war Madame Hugon durch eine Schreckensbotschaft niedergeschmettert worden. Philippe befand sich seit dem vorigen Abend im Gefängnis. Man beschuldigte ihn, aus der Kasse seines Regiments zwölftausend Franken entwendet zu haben. Schon seit einem Vierteljahr veruntreute er daraus kleine Summen; er hatte immer gehofft, sie ersetzen zu können, und das Defizit durch falsche Buchführung verheimlicht; dank der Nachlässigkeit des Verwaltungsrats gelang dieser Betrug.

Die alte Dame, vor Schreck über das Verbrechen ihres Sohnes erstarrt, richtete ihren verzweifelten Zorn gegen Nana; sie kannte die Beziehungen Philippes zu ihr. Ihre traurige Stimmung rührte von diesem Unglück her, das sie aus Furcht vor einer Katastrophe in Paris zurückhielt; aber niemals hatte sie so viel Schande befürchtet, und jetzt machte sie sich ihre Geldverweigerungen zum Vorwurf. Sie war in einen Lehnstuhl gesunken, ihre Glieder hingen herab wie gelähmt, sie fühlte sich nicht imstande, einen einzigen Schritt zu tun, und war gleichsam auf diesen Stuhl gebannt, um zu sterben. Indessen tröstete sie wieder der Gedanke an Georges; Georges blieb ihr, er konnte einschreiten und sie vielleicht retten. Ohne daher die Hilfe eines Freundes zu erbitten, nur von dem Wunsche beseelt, diese Angelegenheit unter vier Augen zu erledigen, schleppte sie sich die Treppe empor und tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie wenigstens eine liebende Seele um sich habe. Allein oben fand sie das Zimmer leer, und der Hausmeister sagte ihr, Herr Georges sei schon frühzeitig ausgegangen. Im Zimmer selbst ergriff sie die Ahnung eines neuen Unglücks; das Bett mit seinen durchwühlten Decken sprach deutlich von einem tiefen inneren Kampfe, Kleidungsstücke lagen in wilder Unordnung auf dem Boden umher, und ein umgestürzter Stuhl schien Unheil zu künden. Georges mußte sich bei jenem Weibe befinden... Da stockten die Tränen der Madame Hugon, und mit festem Entschluß ging sie wieder hinunter. Sie verlangte ihre Söhne von jener Dirne und wollte sie selbst zurückfordern.

An diesem Tage hatte Nana seit dem frühen Morgen allerhand Unannehmlichkeiten gehabt. Schon um neun Uhr war der Bäcker mit seiner Rechnung erschienen: ein Lumpenbetrag von einhundertdreiunddreißig Franken bei dem königlichen Haushalt, den Nana führte. Er hatte sich bereits zwanzigmal anmelden lassen und war ärgerlich darüber, daß man von dem Tag an, da er keinen Kredit mehr gab, einfach aufhörte, Waren bei ihm zu nehmen; die Diener unterstützten sogar seine Sache: François meinte, Madame werde ihn sicher gar nicht bezahlen, wenn er nicht energisch auftrete; Charles wollte auch hinaufgehen, um eine rückständige Strohrechnung zu regeln, während Victorine riet, man solle warten, bis Herrenbesuch gekommen sei, und dann sofort das Geld verlangen.

Als Nana nun zum Frühstück herunterkam, traf sie den Bäcker. Sie nahm die Rechnung und sagte ihm, er solle gegen drei Uhr wiederkommen, worauf er sich schimpfend entfernte und schwur, er wolle pünktlich sein und wolle sich im Notfall selbst bezahlt machen, gleichviel auf welche Art und Weise.

Aus Ärger über diese Szene hatte Nana gar keinen Appetit zum Frühstück; jedenfalls mußte sie sich dieses Menschen entledigen. Schon zehnmal hatte sie sein Geld beiseitegelegt; allein immer wieder war dieses Geld verwendet worden, den einen Tag für Blumen, den anderen für eine Subskription zugunsten eines alten Gendarmen. Übrigens rechnete sie auf Philippe und war sogar erstaunt darüber, ihn nicht mit seinen zweihundert Franken kommen zu sehen. Das war wirklich Pech; noch am vergangenen Tage hatte sie Satin völlig neu ausstaffiert und ihr fast für eintausendzweihundert Franken Kleider und Wäsche geschenkt, während ihr selbst nicht ein einziger Louisdor geblieben war.

Gegen zwei Uhr, als Nana schon allmählich besorgt wurde, erschien Labordette. Er brachte die Zeichnungen zu dem Bett, worüber sie so entzückt war, daß sie alles andere vergaß. Sie klatschte in die Hände und tanzte im Zimmer umher, dann beugte sie sich neugierig über den Salontisch und musterte die Zeichnungen, die Labordette erklärte.

»Du siehst, dies hier sind die Bettwände; in der Mitte ein Strauß aufgeblühter Rosen, dann eine Girlande von Blütenknospen; das Blattwerk wird aus grünem und die Rosen werden aus rotem Gold gefertigt... Und hier das große Kopfstück, eine Amorettengruppe auf einem silbernen Gitter.«

Aber Nana, von Entzücken hingerissen, unterbrach ihn jetzt:

»Oh, wie nett der Kleine da in der Ecke ist, der uns gerade den Hintern zukehrt. Ah, dieses boshafte Lachen! Weißt du, mein Lieber, angesichts dieses kleinen Patrons würde ich nie wagen, eine Unanständigkeit zu begehen!«

Ihr Stolz war außerordentlich befriedigt, zumal die Goldarbeiter gesagt hatten, keine Königin schlafe in einem so prächtigen Bett. Labordette wies ihr zwei Zeichnungen: die eine reproduzierte ein gewöhnliches Motiv der Bettwände, die andere stellte die verschleierte Göttin der Nacht dar, der ein Faun die schützende Hülle raubt. Labordette fügte hinzu, wenn sie diese wähle, beabsichtigten die Goldarbeiter, der Figur der Nacht Ähnlichkeit mit ihr zu geben. Bei diesem Gedanken erbleichte sie vor Entzücken. Sie sah sich im Geiste als Silberstatuette, als Symbol der Nacht mit ihren feuchten Schwingen der Wollust.

»Natürlich müßtest du für den Kopf und die Schultern Modell stehen«, bemerkte Labordette.

Sie schaute ihn ruhig an und entgegnete:

»Warum nicht? Sobald es sich um ein Kunstwerk handelt, schere ich mich den Teufel um den Bildhauer, der mich abnimmt!«

Selbstverständlich wählte sie die letzte Zeichnung. Er aber hielt sie zurück.

»Warte«, entgegnete er, »das kostet fünftausend Franken mehr.«

»Das ist mir ganz gleichgültig!« rief sie lachend. »Mein kleiner Esel hat ja den Geldsack!« So nannte sie jetzt nämlich im Kreise ihrer Vertrauten den Grafen Muffat, und die Herren fragten nun nur noch: »Hast du gestern abend deinen kleinen Esel gesehen – Sieh, ich glaubte, deinen kleinen Esel hier zu finden.« Es war dies eine familiäre Zärtlichkeit, die sie sich aber trotzdem nie in seiner Gegenwart erlaubte.

Labordette rollte die Zeichnungen zusammen und bemerkte noch, daß die Goldarbeiter sich verpflichteten, das Bett innerhalb dreier Monate zu liefern, und von nächster Woche an werde ein Bildhauer kommen, um die ersten Skizzen für die Nachtstatuette aufzunehmen. Als Nana ihn hinausbegleitete, erinnerte sie sich plötzlich des Bäckers und fragte ihn: »Apropos, hast du nicht zufällig zehn Louis bei dir?«

Nun aber hatte Labordette es sich zum Prinzip gemacht, den Frauen niemals Geld zu leihen: ein Prinzip, bei dem er sich sehr wohlbefand. Er gab immer dieselbe Antwort: »Nein, mein Kind, ich sitze selbst auf dem trocknen... Aber soll ich vielleicht zu deinem kleinen Esel gehen?«

Das wollte sie nicht haben, da sie das für zwecklos hielt; erst vor zwei Tagen hatte sie den Grafen um fünftausend Franken erleichtert. Aber sie bat um Diskretion... Obwohl es kaum halb drei Uhr war, kam hinter Labordette schon der Bäcker wieder und setzte sich laut fluchend auf eine Bank im Vestibül.

Das junge Weib hörte ihn schon vom ersten Stock aus. Sie erbleichte und litt besonders darunter, daß das Gelächter der Dienstboten bis zu ihr heraufdrang. Sie war so erregt, daß sie in ihr Zimmer zurückkehrte und laut mit sich selbst sprach:

»Geh, meine Tochter, rechne nur auf dich selbst... Es ist besser, aus sich selbst heraus etwas zu verdienen, als eine Beleidigung hinzunehmen.«

Und ohne erst Zoé zu rufen, kleidete sie sich hastig an, um zur Tricon zu eilen. Dies war ihre letzte Hilfsquelle in Zeiten großer Verlegenheit. Die alte Dame lag ihr immer in den Ohren, und je nach Bedürfnis weigerte sich Nana oder gewährte ihre Wünsche; wenn nun von Tag zu Tag sich immer mehr Lücken in ihrer Wirtschaft zeigten, war sie sicher, dort ihre fünfundzwanzig Louisdor zu erhalten. So begab sie sich zur Tricon, zumindest mit dem weniger beschämenden Gefühl, das durch die Gewohnheit gemildert ist, wie etwa die armen Leute nach dem Leihhause gehen. Als sie jedoch ihr Zimmer verließ, stieß sie auf Georges, der mitten im Salon stand. Sie bemerkte weder seine Blässe noch das düstere Feuer seiner Augen und seufzte erleichtert:

»Ah, du kommst gewiß von deinem Bruder!«

»Nein«, sagte der Kleine und erbleichte noch mehr.

Da machte sie eine verärgerte Bewegung. »Was wollte er denn? Warum versperrte er ihr den Weg? Ich habe es eilig!« rief sie. Darauf kam sie wieder zurück und sagte:

»Hast du kein Geld?«

»Nein.«

»Lieber Himmel, ich bin recht dumm! Nie Geld, nicht einmal sechs Sou für den Omnibus... Mama will nicht... Das sind mir schöne Männer!«

So rannte sie fort; er hielt sie aber zurück und wollte mit ihr sprechen. Sie wiederholte ärgerlich, sie habe keine Zeit, als er sie plötzlich durch eine Bemerkung zum Stehen brachte.

»Höre, ich weiß, daß du meinen Bruder heiraten willst.«

Das war ihr denn doch zu komisch, und lachend fiel sie auf einen Stuhl nieder.

»Jawohl«, fuhr der Kleine fort. »Aber ich will's nicht haben... Mich sollst du heiraten... Deshalb komme ich.«

»He, wie? Auch dich!« rief sie. »Das ist wohl eine Familienkrankheit bei euch? ... Niemals! Das wär' ein schöner Geschmack! Weder dich noch den anderen, niemals!«

Georges' Blicke hellten sich auf. Wenn er sich zufällig getäuscht hätte? ...

»Nun, so schwöre mir, daß du meinem Bruder einen Korb geben willst.«

»Ach geh! Du langweilst mich allmählich!« versetzte Nana und war ungeduldig aufgestanden. »Das hört sich wohl einige Zeit drollig an... Aber wenn ich dir wiederhole, daß ich Eile habe! ... Ich nehme deinen Bruder, wenn es mir Spaß macht...«

Er hatte ihren Arm erfaßt, drückte ihn, als wollte er ihn zerbrechen, und stammelte: »Sage das nicht... Sage das nicht...«

Sie versetzte ihm einen Schlag und entwand sich seiner Umklammerung.

»Nun sieh mir einer dieses Bürschchen an! Jetzt schlägt er mich sogar! ... Mein Kleiner, du wirst jetzt sofort zur Tür hinausgehen... Bisher behielt ich dich aus Höflichkeit. Glaub es mir! Sperre nur deine Augen recht weit auf! Du glaubtest doch nicht etwa, mich bis zum Tode als Mama zu besitzen? Ich habe mehr zu tun, als solche Kinder zu erziehen.«

In starrer Angst hörte er zu, und jedes Wort war ein vernichtender Keulenschlag für sein Herz. Sie bemerkte seinen Schmerz gar nicht, und glücklich darüber, an ihm ihre Morgenverdrießlichkeiten auslassen zu können, fuhr sie fort:

»Dein Bruder ist auch so ein nettes Bürschchen! Er hat mir zweihundert Franken versprochen. Ah, da kann ich warten... Um sein Geld ist's mir gar nicht zu tun! Ich könnte noch nicht einmal meine Schminke davon kaufen. Aber er läßt mich in einer Verlegenheit sitzen! ... Ich brauche notwendig fünfundzwanzig Louisdor.«

Diese Worte raubten ihm alle Fassung, und er vertrat ihr die Tür; er weinte, bat sie flehentlich, faltete die Hände und stammelte:

»O nein, o nein! Geh nicht dorthin!«

»Ich möchte schon bleiben«, sagte sie. »Hast du das Geld bei dir?«

Er hatte es nicht, aber er hätte sein Leben dafür geopfert. Noch niemals hatte er sich so elend, so unnütz und kindlich gefühlt. Sein ganzes klägliches Wesen wurde von Schluchzen erschüttert und drückte einen so bitteren Schmerz aus, daß sie endlich gerührt wurde und ihn sanft beiseite schob.

»Ach, mein Mäuschen, laß mich doch vorbei, ich habe es eilig... Sei vernünftig! Du bist ja doch nur ein Kind, aber heute muß ich an meine Geschäfte denken. Überlege es dir nur... Dein Bruder ist wenigstens schon groß. Ach, tu mir den einzigen Gefallen und erzähle ihm nichts davon. Er braucht nicht zu wissen, wohin ich gehe. Denn sobald ich zornig bin, spreche ich mehr, als ich sollte.«

Lachend umschlang sie ihn und küßte ihm die Stirn.

»Leb wohl, mein Kleiner, es ist aus, vollständig aus! Verstehst du! ... Ich gehe meiner Wege.«

Mit diesen Worten verließ sie ihn, während er immer noch mitten im Salon stand. Die letzten Äußerungen tönten wie Grabesgeläute an seine Ohren: es war aus, vollständig aus, und er glaubte, die Erde spalte sich vor seinen Füßen. In seinen wüsten Phantasien war der Mensch verschwunden, der Nana erwartete; nur Philippe sah er beständig, umschlungen von den Armen dieses jungen Weibes. Sie leugnete es ja nicht, daß sie ihn liebte, weil sie ihm den Kummer einer Untreue ersparen wollte. Es war vorbei! Seine Brust wogte auf und nieder; er blickte beklommen im Zimmer umher, als laste ein zermalmendes Gewicht auf ihm. Eine Erinnerung nach der anderen stieg in ihm auf, die frohen Nächte in La Mignotte, die zärtlichen Stunden, in denen er glaubte, ihr Kind zu sein, endlich all die Szenen in diesem Zimmer. Und niemals, niemals mehr! Er war also zu klein, er war nicht schnell genug gewachsen; Philippe ersetzte ihn, weil er einen Bart hatte. Nun war das Ende gekommen, er konnte nicht länger leben. Seine Leidenschaft war von einer unendlichen Zärtlichkeit durchdrungen, von einer sinnlichen Verehrung, in der sein ganzes Wesen aufging. Wie sollte er dies alles vergessen, wenn sein Bruder dablieb? Sein Bruder, ein Stück von seinem eigenen Blut, sein zweites Ich, dessen Vergnügen ihn zur Eifersucht stachelte... Es war zu Ende, er wollte sterben.

Alle Türen standen offen; die Diener hatten gesehen, wie Madame zu Fuß fortging, und lärmten in wüster Ausgelassenheit. Unten auf der Bank des Vestibüls scherzte der Bäcker mit Charles und François. Als Zoé eilig durch den Salon schritt, war sie über Georges' Anblick erstaunt und fragte ihn, ob er Madame erwarte. Ja, er erwarte sie, erwiderte er, er habe vergessen, ihr eine Antwort mitzuteilen. Als er dann allein war, begann er zu suchen. Da er nichts weiter fand, ergriff er im Ankleidezimmer eine spitze Schere, mit der Nana sich die Nägel zu schneiden pflegte. Eine ganze Stunde lang wartete er geduldig, die Finger krampfhaft um die Schere geschlossen und die Hand in der Tasche.

»Hier kommt Madame«, sagte Zoé; sie hatte vom Fenster ihres Zimmers aus auf ihre Rückkehr achtgeben müssen.

Man hörte ein Laufen im Hause; das Gelächter verstummte, Türen wurden geschlossen. Georges hörte, wie Nana barsch mit dem Bäcker sprach und ihn bezahlte. Dann stieg sie hinauf.

»Wie, du bist noch hier?« rief sie aus, als sie ihn bemerkte.

»Mein Lieber, du fängst an, mich zu erzürnen!«

Er folgte ihr, während sie nach ihrem Zimmer schritt.

»Nana, willst du mich heiraten?« fragte er.

Aber sie zuckte nur mit den Achseln. Diese Frage war ihr zu albern, und so gab sie gar keine Antwort.

»Nana, willst du mich heiraten?« wiederholte er.

Sie warf die Tür zu. Mit der einen Hand öffnete er sie wieder, während er mit der anderen die Schere aus der Tasche zog und sie sich mit aller Gewalt in die Brust stieß.

Nana ahnte schon irgendein Unglück; sie hatte sich umgedreht. Als sie ihn zustoßen sah, wurde sie unwillig.

»Oh, wie dumm! Oh, wie dumm! Und noch dazu mit einer Schere! Du willst wohl sterben, alberner Bengel? ... O mein Gott, mein Gott!«

Sie war erschrocken. Der Kleine war in die Knie gesunken und hatte sich soeben einen zweiten Stoß versetzt, der ihn seiner ganzen Länge nach auf den Teppich hinstreckte. Sein Körper versperrte den Eingang. Da kam sie völlig von Sinnen, schrie aus Leibeskräften, wagte aber nicht, über seinen Körper hinwegzusteigen, der sie vor die Schwelle bannte und hinderte, Hilfe herbeizuschaffen.

»Zoé! Zoé! Komm doch... Halte ihn... Es ist ja zu albern, ein solches Kind! Da tötet er sich jetzt, und noch dazu bei mir! Hat man jemals so etwas gesehen!«

Sie erschrak über ihn; er war ganz bleich und hatte die Augen geschlossen. Keine Ader schien getroffen, nur ein wenig Blut rieselte hervor und verlor sich unter der Weste. Schon war sie entschlossen, über ihn hinwegzusteigen, als sie vor einer Erscheinung zurückprallte. Durch die weit geöffnete Salontür kam eine alte Dame auf sie zu. Sie erkannte in ihr Madame Hugon, und Schrecken ergriff sie, da sie sich ihre Gegenwart nicht erklären konnte. Sie wich immer mehr zurück, und ihre Angst wurde so groß, daß sie sich mit stammelnder Stimme verteidigte:

»Oh, Madame, nicht ich war es, ich schwöre es Ihnen... Er wollte mich heiraten! Ich sagte nein, und da tötete er sich.«

Langsam kam Madame Hugon heran. Sie trug Trauerkleider, ihr Gesicht war blaß und ihr Haar erbleicht. In dem Wagen hatte sie nicht mehr an Georges gedacht, sie hatte nur Gedanken für Philippes Vergehen. Vielleicht konnte dieses Weib den Richtern gegenüber Aussagen machen, die ihn entlasten würden; deshalb dachte sie von vornherein daran, sie inständig zu bitten, daß sie zugunsten ihres Sohnes zeuge. Unten wurden die Türen geöffnet; sie zögerte auf der Treppe schon, weil ihr das Steigen sauer wurde, als plötzlich markerschütternde Rufe ihr die Richtung anzeigten. Oben angekommen, sah sie am Boden einen Menschen liegen, dessen Hemd mit Blut besudelt war. Es war Georges, ihr zweites Kind. Nana wiederholte jetzt mit schwacher Stimme:

»Er wollte mich heiraten, ich aber sagte nein, und da tötete er sich!«

Kein Laut kam über die Lippen der alten Frau; sie beugte sich zu dem Dahingestreckten hinab. Ja, es war ihr zweiter Sohn, es war Georges! Der eine entehrt, der andere ermordet; jetzt überraschte sie nichts mehr, sie, unter deren Füßen alles zusammenbrach. Auf dem Teppich kniend, unbekannt mit dem Ort, an dem sie sich befand, bemerkte sie niemanden, sondern starrte unverwandt auf Georges' Antlitz und horchte erwartungsvoll, die Hand auf seinem Herzen. Dann stieß sie einen schwachen Seufzer aus: sie hatte gefühlt, daß sein Herz noch schlug. Und jetzt erhob sie das Haupt, betrachtete prüfend das Zimmer und dieses Weib und schien sich wieder zu besinnen. Ein Feuer brannte in ihren Blicken, sie erschien so groß und ihr Schweigen so schrecklich, daß Nana zitterte und über den regungslosen Körper hinweg fortfuhr, sich zu verteidigen.

»Ich schwöre Ihnen, Madame... Wäre sein Bruder da, er könnte Ihnen erklären...«

»Sein Bruder hat gestohlen, er ist im Gefängnis«, antwortete die Mutter finster.

Nana war starr vor Schreck. Was brach denn alles über sie herein? Der andere Bruder hatte gestohlen! Also waren in dieser Familie wohl alle verrückt! Sie sprach nichts mehr zu ihrer Verteidigung. Sie hatte allen Halt verloren und ließ Madame Hugon Befehle erteilen. Bediente waren herbeigekommen, und die alte Dame verlangte, daß der ohnmächtige Georges hinab in ihren Wagen getragen werde. Nana folgte mit starren Blicken den Dienern, die den armen Zizi an Schultern und Beinen gefaßt hatten. Hinterher ging die Mutter, die, völlig erschöpft, sich auf die einzelnen Möbel stützte. Sie war gleichsam von allem, was ihr teuer war, losgerissen und in das Nichts geschleudert worden. Auf dem Treppenabsatz schluchzte sie laut und sagte, sich umdrehend:

»Oh, durch Sie ist viel Unglück über uns gekommen! Sie haben uns sehr unglücklich gemacht!«

Das war alles. Nana war in ihrer Betäubung niedergesunken, und im Hause herrschte bald eine dumpfe, bange Stille. Der Wagen war davongerollt, allein noch immer blieb sie unbeweglich, ihr Denken war geschwunden, und ihr Hirn wirbelte von den Geschehnissen. Eine Viertelstunde später fand Graf Muffat sie noch an derselben Stelle. Jetzt aber erleichterte sie ihr Herz, indem sie ihm durch eine Flut von Worten das Unglück erzählte, zwanzigmal auf dieselben Einzelheiten zurückkam und die blutige Schere an sich riß, um ihm zu zeigen, wie jener den Stoß geführt hatte. Es war ihr besonders daran gelegen, ihre Unschuld darzutun.

»Nein, mein Lieber, du sollst urteilen, ob ich schuld bin. Könntest du mich verdammen, wenn du der Richter wärst? ... Glaube mir, ich habe Philippe nicht aufgefordert, mit der Kasse durchzubrennen, und ebensowenig habe ich den armen Jungen in den Tod getrieben. Von allen bin ich noch die Unglücklichste! Man kommt zu mir, um sich albern zu gebärden, man verletzt mich und behandelt mich wie eine Dirne...«

Sie fing an zu weinen. Ihre Nerven waren abgespannt; sie wurde bleich und traurig.

»Auch du bist nicht zufrieden, ich sehe es dir an... Frage Zoé, ob nur die geringste Schuld... Zoé, sprich doch, sage es dem Herrn...«

Die Zofe, hatte eben eine Serviette und ein Waschbecken geholt und rieb den Teppich ab, um die noch frischen Blutflecken zu entfernen.

»Oh, mein Herr«, erklärte sie, »Madame ist trostlos genug!«

Muffat war ergriffen, regungslos; er weilte mit seinen Gedanken nur bei der unglücklichen Mutter, die um ihre Söhne weinte. Er kannte ihr edles Herz und sah, wie sie sich in ihren Witwenkleidern in Les Fondettes zu Tode weinte. Aber Nana geriet noch mehr in Verzweiflung. Jetzt brachte sie das Bild Zizis, wie er mit blutbeflecktem Hemd auf dem Boden lag, ganz außer sich.

»Er war so hübsch, so sanft, so liebenswürdig... Ach, du weißt, mein Mäuschen – schlimm genug, wenn es dich ärgert –, daß ich ihn liebte, den guten Jungen. Ich kann mich nicht mehr halten. Das geht über meine Kräfte... Oh, du hast nun erreicht, was du wolltest! Er ist tot, und du bist jetzt sicher, daß du uns nicht mehr überraschen wirst...«

Dieser Gedanke versetzte sie dermaßen in Kummer, daß Muffat sie trösten mußte.

»Laß«, rief er, »du mußt dich stark zeigen, denn du hast recht, es war nicht deine Schuld!«

Sie unterbrach ihn und sagte:

»Höre, Mäuschen, geh sofort, Erkundigungen über ihn einzuziehen... Sofort! Ich will es!«

Er nahm seinen Hut und ging, ihren Wunsch zu erfüllen. Als er nach Verlauf von dreiviertel Stunden zurückkehrte, sah er Nana sich kummervoll zum Fenster hinausneigen; er rief ihr von der Straße aus zu, daß der junge Mann nicht tot sei und man sogar hoffen dürfe, ihn zu retten. Dies versetzte sie sogleich in übermäßige Freude. Sie sang, tanzte und fand das Leben wieder schön. Zoé aber war nicht zufrieden mit dem Erfolg ihres Scheuerns; sie betrachtete immer den Fleck und sagte jedesmal im Vorbeigehen:

»Madame, es ist nicht herauszubekommen!«

In der Tat erschien der Fleck, wenn auch nur blaßrot, auf einer weißen Rose des Teppichs wieder. Es zeigte sich sogar eine geringe Blutspur auf der Türschwelle.

»Bah«, rief Nana aus, »das wird mit der Zeit schon weggehen.«

Bereits am folgenden Tage hatten Graf Muffat wie auch sie das Abenteuer vergessen. Im Fiaker, der ihn nach der Rue Richelieu brachte, hatte er geschworen, nie wieder zu diesem Weibe zurückzukehren. Er glaubte, das Geschehene als eine Warnung des Himmels ansehen zu müssen, und betrachtete das Unglück Philippes und Georges' als Vorboten des eigenen Verderbens. Aber weder die Tränen der Madame Hugon noch der Anblick des seelenkranken Knaben hatten Kraft genug, ihn seinem Eide treuzuhalten, und von dem kurzen Schauer, den das Erlebte ihm einflößte, blieb bald nur noch die geheime Freude übrig, einen Nebenbuhler los zu sein. Er liebte Nana mit dem Bedürfnis, sie allein sich zugetan zu wissen, sie allein zu hören, allein zu berühren, allein den süßen Hauch ihres Mundes zu fühlen. Es war eine übersinnliche Zärtlichkeit, eine ruhelose Liebe, die eifersüchtig war auf die Vergangenheit und zuweilen von Erlösung durch empfangene Absolution träumte. Beide lagen zu Füßen des allmächtigen Vaters, und jeden Tag ergriff ihn das religiöse Gefühl mehr und mehr. Wieder und immer wieder war er frommen Handlungen zugetan; er beichtete und kommunizierte. Eine beständige Niedergeschlagenheit bemächtigte sich seiner dabei. Alles dies verstärkte nicht nur seine Lust an der Buße, sondern auch an der Sünde. Als nun sein Beichtvater diese Leidenschaft duldete, wurde es ihm zur Gewohnheit, täglich sich zu verdammen und seine Wiedererlösung durch Proben von festem Glauben und christlicher Demut zu erreichen. Kindlich-fromm bot er dem Himmel wie ein Sühneopfer die schreckliche Pein an, die er litt und die sich von Tag zu Tag mehrte. Ernst und die ganze Tiefe seiner Schuld erkennend, büßte er wie ein Gläubiger, den ein Weib in einen rauschenden Sinnentaumel gezaubert hat. Und was ihn am meisten folterte, das war die beständige Untreue dieses Weibes; die steten Launen ihrer Schwäche blieben ihm unverständlich. Er begehrte jene ewige, unveränderliche Liebe, die sie ihm geschworen hatte und für die er bezahlte...

Als er eines Tages Foucarmont von ihr weggehen sah, erfolgte ein Auftritt zwischen ihm und ihr. Plötzlich seiner Eifersucht überdrüssig, wurde sie zornig, wie es schon mehrmals vorgekommen war, so an dem Abend, wo er sie mit Georges überrascht hatte, doch hatte sie damals den ersten Schritt zur Versöhnung getan und ihn mit Liebkosungen überhäuft. Aber schließlich brachte er sie auf mit seinem Eigensinn, Treue von ihr zu verlangen, und sie wurde brutal:

»Nun gut, ja, ich habe mit Foucarmont ein Verhältnis! Was ist dabei? ... Ei, du wirst ja ganz verblüfft, mein kleiner Esel!«

Es war das erstemal, daß sie ihn in seiner Gegenwart so nannte. Er hätte ersticken mögen, einen solchen Eindruck machte ihr Geständnis auf ihn; unwillkürlich ballte er die Faust, sie aber ging trotzig auf ihn zu und sah ihm fest ins Gesicht.

»Nun, ist dir das genug? Wenn es dir nicht paßt, so kannst du mir den Gefallen tun, dich zu entfernen... Ich will nicht, daß du bei mir tobst und schreist. Ich bitte dich, daran zu denken, daß ich frei sein will. Du kannst jetzt wählen, was du willst. Bleib oder geh!«

Sie hatte die Tür geöffnet, er ging aber nicht. Es war das ihre Art und Weise, ihn noch fester an sich zu ketten. Bei dem geringsten Streit, den oft eine Kleinigkeit veranlaßte, gebrauchte sie dieses Mittel, um ihn zu besänftigen. Sie erklärte ihm dann, stets bessere Männer finden zu können als ihn, nur die Wahl fiele ihr schwer. Sie könne Männer haben, soviel sie wolle, Männer, die weniger tölpelhaft seien, Männer, die noch Feuer im Blut hätten. Er senkte das Haupt und wartete auf ruhigere Stunden, wenn sie Geld brauchte, denn dann zeigte sie sich wieder liebenswürdig, und er vergaß alles. Das Leben, das seine Frau führte, hatte ihm sein Haus unerträglich gemacht. Die Gräfin, von Fauchery verlassen, der in Roses Netze zurückfiel, stürzte sich in andere Liebschaften. Sie erfüllte jetzt das Haus mit Sinnentaumel und verbitterte ihm das Leben.

Estelle hatte seit ihrer Verheiratung ihren Vater nicht wiedergesehen. Aus diesem hageren, unbedeutenden Mädchen war eine Frau von eisernem Willen geworden; sie waltete so unumschränkt im Hause, daß Daguenet vor ihr zitterte. Jetzt begleitete er sie in die Messe, aber veränderten Sinnes und wütend über seinen Schwiegervater. Herr Venot allein bewahrte sein Wohlwollen für den Grafen und wartete ruhig auf seine Stunde. Er war sogar so weit gegangen, sich bei Nana einzuführen; häufig besuchte er die beiden Häuser, wo man hinter Türen seinem Lächeln begegnete. Muffat, aus seinem eigenen Hause durch Ärger und Schande vertrieben, zog es vor, sich in die Avenue de Villiers zu flüchten.

Bald gab es nur noch ein einziges Thema zwischen dem Grafen und Nana: das Geld. Eines Tages wagte er, nachdem er ausdrücklich zehntausend Franken versprochen hatte, ihr dennoch mit leeren Händen unter die Augen zu treten. Nun verschwendete sie schon zwei Tage ihre Liebkosungen an ihn, und darum brachte ein solcher Wortbruch, so viel vergeudete Liebe sie in eine furchtbare Wut... Sie wurde ganz blaß.

»Wie, du hast kein Geld? Dann, mein kleiner Esel, gehe wieder, woher du gekommen bist, so schnell als möglich! Seht mir nur das Kamel an! Er wollte mich gar noch umarmen! ... Kein Geld – keine Liebe! Hörst du?«

Er wollte sich entschuldigen; übermorgen sollte sie die Summe haben. Allein sie unterbrach ihn heftig:

»Und meine Wechsel? Man wird mich einsperren, und du wirst ins Gerede der Leute kommen... Ha, bedenke doch! Wie, bildest du dir ein, daß ich dich wegen deiner Gestalt liebe? Wenn man ein Maul hat wie du, bezahlt man die Frauen, die das dulden sollen... Bei Gott, wenn du mir die zehntausend Franken heute abend nicht bringst, lasse ich dich nicht die Spitze meines kleinen Fingers mehr küssen... Wahrhaftig, ich schicke dich zu deiner Frau zurück!«

Wirklich brachte er am Abend die zehntausend Franken. Nana bot ihm dafür ihren Mund, und er drückte einen langen Kuß auf ihre Lippen, der ihn für alle Angst entschädigte, die er an diesem Tage gelitten hatte.

Besonders ärgerte es Nana, daß er immer wiederkam und bei ihr blieb. Sie beklagte sich darüber bei Herrn Venot und bat ihn inständig, Muffat wieder der Gräfin zuzuführen. Ihre Wiederversöhnung hatte also nichts genützt? Oh, sie bedauerte, sich damit beschäftigt zu haben, da er ihr trotzdem auf dem Halse liege. An Tagen, da sie im Zorn ihr Interesse vergaß, schwur sie, ihm einen solchen Schimpf zu bereiten, daß er ihr Haus nicht wieder betreten werde. Aber sobald sie ihn rief, hätte sie ihm ruhig ins Gesicht spucken können, er wäre doch geblieben und hätte sich dafür noch höflich bedankt. Da fingen wieder die Auftritte wegen des Geldes an, sie benahm sich bei ihren Forderungen äußerst roh und beschimpfte ihn wegen geringer Summen. Mit ihrer elenden Habsucht quälte sie ihn jede Minute und war grausam genug, ihm so oft als möglich zu wiederholen, daß sie nur seines Geldes wegen mit ihm schlafe und aus keinem anderen Grunde; sie liebe einen anderen und fühle sich sehr unglücklich, einen Dummkopf seiner Art dulden zu müssen...

Von dieser Zeit an genierte sie sich gar nicht mehr. Jeden Tag unternahm sie ihre Spazierfahrt um den Teich im Boulogner Gehölz. Bekanntschaften wurden hier angeknüpft, die später anderswo ihre Lösung fanden. Es war dies der große Versammlungsort, das große Rendezvous unter freiem Himmel, wo die feinen Dirnen ihr Wesen trieben. Zuweilen hielt ihr Landauer beim Vorüberfahren eine Reihe prachtvoller Kutschen an; Bankiers, die Europa mit ihrer Kasse beherrschten, Minister, deren lange Finger Frankreich an der Gurgel hielten, kamen vorbei. Zu dieser vornehmen Welt gehörte Nana jetzt und nahm überdies selbst hier noch eine ganz beträchtliche Stellung ein. Bekannt in allen Hauptstädten, begehrt von allen Fremden, vereinigte sie mit dem Glanz dieser Menge die ganze Größe ihrer Ausschweifung.

Seltsame Ereignisse richteten den Grafen Muffat wieder auf. Er, der Satin schon monatelang duldete und endlich sogar eine Menge unbekannter Menschen, konnte den Gedanken nicht ertragen, durch irgendeinen aus seinem Stande, vielleicht gar aus seiner Bekanntschaft, hintergangen zu werden. Als Nana ihm ihre Beziehungen zu Foucarmont gestand, verursachte ihm dies solchen Schmerz, daß er ihn fordern wollte, um sich mit ihm zu schlagen. Da er nicht wußte, wo er die zu einer solchen Angelegenheit nötigen Zeugen hernehmen sollte, wandte er sich an Labordette. Dieser aber, wiewohl anfangs verblüfft über eine solche Absicht, konnte sich schließlich kaum des Lachens erwehren.

»Ein Duell wegen Nana – aber mein lieber Herr, ganz Paris würde sich ja über Sie lustig machen! Wegen Nana schlägt man sich nicht, das ist lächerlich!«

Der Graf erbleichte und entgegnete heftig:

»Dann werde ich ihn auf offener Straße ohrfeigen.«

Eine ganze Stunde lang mühte Labordette sich ab, ihn zur Vernunft zu bringen. Er kam dabei immer wieder zu dem Schluß:

»Unmöglich, das ist lächerlich.«

Jedesmal ging Muffat diese Bemerkung wie ein Stich durchs Herz. Er konnte sich nicht einmal wegen der Frau schlagen, die er liebte; man hätte ihn ausgelacht. Niemals hatte er das Jämmerliche seiner Liebe schmerzlicher empfunden, das Versunkensein seines ernsten Gemütes in diesen Sinnentaumel. Das war seine letzte Aufregung; er ließ sich überreden, und von nun an weilte Foucarmont mitten unter Nanas zahlreichen Hausfreunden.

In wenigen Monaten verschlang Nana das Vermögen aller mit unersättlicher Gier. Ihre wachsenden Luxusbedürfnisse erregten ihre Geldgier in erschreckender Weise. Zuerst plünderte sie Foucarmont, der es aber nicht vierzehn Tage aushielt. Er ging mit dem Gedanken um, die Marine zu verlassen; während einer zehnjährigen Reisezeit hatte er dreißigtausend Franken erübrigt, die er in den Vereinigten Staaten anlegen wollte; allein seine Vorsicht, ja man möchte sagen: sein Geiz schwand dahin, er gab alles, sogar Unterschriften auf Wechsel, die ihn für seine Zukunft verpflichteten. Als Nana ihn hinausstieß, war er von allem entblößt. Übrigens zeigte sie sich noch sehr großmütig und riet ihm, auf sein Schiff zurückzukehren. Wozu sollte er sich unnötiges Kopfzerbrechen machen? Da er kein Geld mehr habe, sei es unmöglich, daß er länger mit ihr verkehre. Er werde das doch zweifellos einsehen und sich vernünftig zeigen. Ein ruinierter Mann fiel aus ihren Händen wie eine überreife Frucht, um dann auf dem Boden von selbst zu verfaulen. Darauf stürzte sich Nana auf Steiner, ohne Abscheu zwar, aber auch ohne Neigung. Sie behandelte ihn als schmierigen Juden und schien einen alten Haß an ihm auszulassen, über den sie sich nicht völlig Rechenschaft geben konnte. Er war fett, dumm wie die Sünde; sie stieß ihn hin und her, nahm ihn gründlich aus, um recht schnell mit diesem »Preußen« fertig zu werden. Er hatte Simonne sitzen lassen, und seine Bosporusunternehmung begann zu schwanken. Nana beschleunigte seinen Sturz durch die unsinnigsten Forderungen. Noch einen Monat wußte er sich mit wunderbarer Geschicklichkeit über Wasser zu halten; dann hatte man sein Fallissement erklärt, und schon das Wort Geld erschreckte ihn und brachte ihn in kindische Verwirrung, ihn, der mit Millionen zu rechnen gewohnt gewesen war. Eines Abends begann er bei Nana zu weinen und bat sie um ein Darlehen von hundert Franken, um sein Dienstmädchen bezahlen zu können. Und Nana, zugleich gerührt und erfreut über dieses Ende des schrecklichen Biedermannes, der seit zwanzig Jahren in Paris die erste Rolle spielte, brachte ihm die Summe mit den Worten: »Weißt du, ich gebe es dir, weil die Sache zu komisch ist... Aber höre, mein Kleiner, du stehst nicht mehr in dem Alter, daß ich dich erhalten könnte. Ich muß mir jetzt eine andere Beschäftigung suchen.«

Nach ihm machte sich Nana sofort an Faloise. Seit langer Zeit schon forderte er von ihr die Ehre, zugrunde gerichtet zu werden, um hierdurch den letzten Grad weltmännischen Schliffs zu erhalten. Dieser fehlte ihm noch, und er brauchte eine Frau, die ihm dazu verhelfen konnte. In zwei Monaten, meinte er, werde er in Paris bekannt sein und man werde seinen Namen in den Zeitungen lesen. Allein schon sechs Wochen genügten. Sein Erbe bestand in Landgütern, Wiesen, Wäldern und Meiereien, und Schlag auf Schlag mußte er eines nach dem anderen verkaufen. Bei jedem Bissen verschlang Nana gleichsam einen Morgen Land. Die Baumkulturen, die riesigen Getreidefelder, die üppigen Weinberge und saftige Wiesen, wo die Kühe bis über den Leib im Gras einsanken: alles verschwand wie in einem gähnenden Abgrund. Gleich einem Plünderungszug, gleich einem Heuschreckenschwarm, dessen rapides Fortschreiten Provinzen verheert, wütete Nana. Wohin sie ihren kleinen Fuß setzte, verbrannte sie den Boden. So vernichtete sie spielend sein Erbteil, ohne daß sie es selbst merkte. Eines Abends war nur noch eine kleine Waldung übrig; auch diese verschlang sie mit verächtlicher Miene, denn so etwas war ja kaum der Mühe wert, den Mund zu öffnen. Faloise lachte in der gewöhnlichen albernen Weise und leckte an dem Knopf seines Spazierstockes. Die Schulden erdrückten ihn fast, er besaß kaum noch hundert Franken Rente und sah sich gezwungen, aufs Land zu einem halbverrückten Onkel zurückzukehren; aber das tat nichts, es war doch famos, der »Figaro« hatte zweimal seinen Namen gedruckt. Und mit seinem dürren Halse zwischen den zurückgeschlagenen Ecken seines Stehkragens und der Taille, die unter dem kurzen Rock wie gebrochen erschien, ging er aufgeblasen umher, stieß papageienartige Laute hervor und benahm sich wie ein Hampelmann. Nana ärgerte sich endlich so darüber, daß sie ihm eine Tracht Prügel verabreichte.

Indessen war Fauchery durch seinen Cousin wieder bei ihr eingeführt worden. Dieser arme Fauchery war jetzt von allen Sorgen gequält. Nachdem er mit der Gräfin gebrochen hatte, befand er sich völlig in Roses Händen, die ihn wie einen wirklichen Gatten hielt. Mignon blieb einfach der Hausmeister von Madame. Als Herr im Hause belog der Journalist Rose und griff zu allen Vorsichtsmaßnahmen, wenn er sie täuschen wollte. Nanas Triumph war jetzt, ihn zu besitzen und die Einkünfte seines Journals zu verzehren, das er eben erst mit dem Gelde eines Freundes gegründet hatte; sie gab sich nicht öffentlich mit ihm ab, machte sich vielmehr ein Vergnügen daraus, ihn als einen Herrn zu behandeln, der sich verbergen müsse; Rose nannte sie nie anders als »die arme Rose«. Zwei Monate hatte ihr das Journal reichliche Ernte eingebracht, bis sie ihm durch die närrische Laune, einen Wintergarten in ihrem Hause anzulegen, die letzten Mittel raubte. Als Mignon, erfreut über das Abenteuer, herbeieilte, um zu sehen, ob er ihr Fauchery nicht völlig auf den Hals schieben könne, fragte sie, ob er sich wohl über sie lustig machen wolle: einen Spaßvogel ohne einen Sou Vermögen, der nur von seinen Artikeln und Theaterstücken lebe, dafür müsse sie danken. Nein, eine solche Dummheit sei gut für eine talentvolle Frau wie die arme Rose. Da sie ihn nicht mehr brauchte und von Mignon irgendeinen schlechten Streich fürchtete, gab sie Fauchery den Laufpaß.

Allein sie behielt ihn in gutem Andenken, denn beide hatten sich herzlich über jenen Dummkopf Faloise amüsiert. Sie hätten vielleicht niemals mehr an ein Wiedersehen gedacht, wenn das Vergnügen, einen so blödsinnigen Menschen zum besten zu haben, sie nicht angeregt hätte. Es erschien ihnen spaßhaft, sich vor seinen Augen zu umarmen, sie lebten vergnügt auf seine Kosten und schickten ihn zum Wettrennen, um allein zu sein; wenn er dann zurückkehrte, fielen Spöttereien und Anspielungen, die er nicht begreifen konnte. Eines Abends wettete sie auf Anregung des Journalisten, daß sie Faloise eine Ohrfeige geben werde, und noch am selben Abend führte sie es aus und prügelte ihn gleich weiter, da sie das drollig fand und sich über die Feigheit der Männer freute. Sie nannte ihn ihren »Watschenmann«, ließ ihn zum Ohrfeigen »antreten« und haute zu, daß ihr die Hand weh tat. Faloise lachte in seiner geckenhaften Weise, obwohl ihm die Tränen in den Augen standen. Diese Vertraulichkeit entzückte ihn, und er fand sie »furchtbar schick«.

»Weißt du«, sagte er eines Abends, nachdem er wieder seine Ohrfeigen erhalten hatte, »du solltest mich heiraten... Was, wir wären ein lustiges Pärchen!«

Das war nicht bloß eine Redensart. Er hatte insgeheim diese Heirat geplant, um Paris in Erstaunen zu setzen. Der Gatte Nanas? Famos! Aber Nana stopfte ihm den Mund in der richtigen Weise. »Ich dich heiraten! Als ob mich Heiratsgedanken plagten; ich hätte schon längst einen Mann finden können! Und einen Mann, der zwanzigmal mehr wert ist als du, mein Kleiner... Eine Unmasse von Anträgen sind schon an mich ergangen. Schau, zähle einmal mit: Philippe, Georges, Foucarmont, Steiner; das sind schon vier, ohne die anderen, die du gar nicht kennst... Es ist, als ob sie alle denselben Refrain leierten. Ich darf nur ein bißchen freundlich mit ihnen tun, und gleich fangen sie an zu flöten: Willst du mich heiraten, willst du mein Weib werden?« Darauf fuhr sie unwillig fort: »Nein, ich will nicht! Bin ich denn für so etwas geschaffen? Sieh mich einmal an, ich wäre nicht mehr Nana, wenn ich mich an einen Mann hängte...«

Eines Abends war Faloise verschwunden. Acht Tage später erfuhr man, daß er sich auf dem Lande bei einem Onkel befinde, der leidenschaftlich gern botanisiere; diesem klebte er die Pflanzen auf und sah zugleich die Möglichkeit vor sich, eine sehr häßliche und sehr fromme Cousine zu heiraten. Nana beklagte ihn gar nicht und bemerkte einfach zum Grafen:

»Nicht wahr, mein Eselchen, wieder ein Rivale weniger! Heute kannst du jubeln – Aber die Sache begann wirklich ernst zu werden! Er wollte mich heiraten.«

Da er erbleichte, beugte sie sich lachend zu ihm nieder, und unter den größten Schmeicheleien verwundete sie sein Herz mit allen möglichen Grausamkeiten.

»Nicht wahr, es beunruhigt dich, daß du Nana nicht mehr heiraten kannst... Während sie alle mich mit ihren Heiratsanträgen plagen, wütest du in deiner Ecke... Nicht möglich! Du mußt warten, bis deine Frau weg ist... Ah, wenn deine Frau weg wäre, wie schnell würdest du kommen, wie würdest du dich zu Füßen werfen und mir Anträge stellen unter Seufzern, Tränen und Schwüren! Nicht wahr? Ei, ei, mein Liebster, das wäre so schön!«

Sie hatte eine milde Stimme angenommen und betörte ihn mit raffinierter Schmeichelei. Er war sehr bewegt und küßte sie errötend. Da rief sie:

»Bei Gott, ich habe es also doch erraten! Er hat daran gedacht und wartet nur, bis seine Frau abfährt. Oh, da hört ja alles auf, er ist noch viel närrischer als die anderen!«

Graf Muffat setzte seine letzte Autorität darein, dem Dienerpersonal und den vertrauten Gästen des Hauses gegenüber »Herr« zu bleiben, und diese Passion steigerte sich von Tag zu Tag. Er hielt sich dadurch, daß er bezahlte und alles, auch jedes Lächeln, sehr teuer erkaufte, für den Hausherrn in Nanas Hotel; allein als ob ein Wurm an ihm nagte, litt er trotz alledem beständig. Wenn er in Nanas Zimmer trat, begnügte er sich damit, einen Augenblick das Fenster zu öffnen, um den Geruch der anderen zu verscheuchen und den Zigarrenrauch zu vertreiben, dessen Schärfe ihn fast erstickte.

Ein Schwindel überkam ihn in diesem Zimmer, er vergaß alles, die bunte Schar von Herren, die ein und aus gingen, die Düsterkeit, die auf der Schwelle ruhte. Draußen in der freien Luft, auf der Straße weinte er vor Scham und Zorn und schwur, diesen Ort nie wieder zu betreten. Aber sobald er die Portiere zurückschlug, war er wieder gefangen, er fühlte sich gefesselt von der einschläfernden Wärme des Gemachs, von der parfümdurchdrungenen Luft, und ein wollüstiges Gefühl bemächtigte sich seiner. Da er als guter Katholik an die überschwengliche Pracht in Kapellen gewöhnt war, stiegen hier seine gläubigen Gefühle wieder auf, wie wenn er kniend von rauschendem Orgelton und Weihrauchdüften umweht würde. Dieses Weib hatte sein ganzes Wesen in Besitz genommen, bald schreckte es ihn, bald gewährte es ihm Augenblicke des Entzückens für Stunden schrecklicher Qualen, für Phantasiegebilde der Hölle und ewiger Strafen. Es waren dieselben Gebete, es war dieselbe Verzweiflung, dieselben Demütigungen eines verdammten Geschöpfes, das vom Schmutz seines Ursprungs befleckt wird. Seine leiblichen Wünsche mischten sich mit seinen seelischen Bedürfnissen. Er überließ sich der Macht der Liebe und der des Glaubens, diesem doppelten Gebet, das die ganze Welt aufrechthält. Und trotz des Widerstreites seiner Vernunft erfüllte ihn dieses Zimmer Nanas mit Sinneslust; zitternd versank er in der Allmacht des Geschlechtes, wie er vor dem unbekannten, weiten Himmel ohnmächtig dastand.

Indessen hatten die Goldarbeiter nicht Wort gehalten, und das Bett wurde erst gegen Mitte Januar abgeliefert. Muffat befand sich gerade in der Normandie, um dort sein letztes Grundstück zu verkaufen; Nana verlangte sofort viertausend Franken. Er sollte erst übermorgen wiederkommen; da er aber sein Geschäft beendet hatte, beschleunigte er seine Rückkehr, und ohne erst die Rue Miromesnil zu passieren, begab er sich nach der Avenue de Villiers. Es schlug zehn Uhr. Da er einen Schlüssel zu einer auf die Rue Cardinet mündenden Tür besaß, gelangte er unbehindert ins Haus. Oben im Salon wischte Zoé gerade die Bronzegegenstände ab; sie erschrak, und weil sie nicht wußte, auf welche Weise sie ihn zurückhalten sollte, erzählte sie ihm lang und breit, daß Herr Venot mit bestürzter Miene ihn seit dem vergangenen Tage suche, daß er bereits zweimal gekommen sei und sie inständig gebeten habe, den Herrn zu ihm zu schicken, wenn der Herr zuerst bei Madame absteigen sollte. Muffat hörte sie an und begriff diese Geschichte nicht; wohl aber bemerkte er ihre Bestürzung. Eine plötzliche, eifersüchtige Wut, deren er sich gar nicht mehr für fähig hielt, ergriff ihn, und er stürzte nach der Tür des Schlafzimmers, wo er Gelächter hörte. Die Tür wich seinen Anstrengungen, sie sprang auf, während Zoé achselzuckend stehenblieb. Um so schlimmer, dachte sie; wenn Madame es so toll trieb, mochte sie allein zurechtzukommen suchen.

Muffat stand auf der Schwelle; ein Schrei entrang sich seiner Brust bei dem Anblick, der sich ihm bot:

»Mein Gott!... Mein Gott!«

Das neue Zimmer strotzte von einem königlichen Luxus. Silberflöckchen verbreiteten sich wie Sterne über den rosafarbenen Samttapeten, jenem Fleischrot, das an schönen Abenden den Himmel überzieht, wenn Venus am Horizont auf dem lichten Hintergrund des ersterbenden Tages erglänzt; aus den Ecken strahlten die Goldverzierungen, Goldspitzen umrahmten die Füllungen und erglänzten wie linde Flammen. Sie erfüllten das Zimmer und erhöhten den wollüstigen Reiz. Und gerade vor ihm strahlte das Bett aus Gold und Silber mit seinen Verzierungen, ein Thron, der groß genug war, daß Nana darauf ihre königlichen Glieder ausstrecken konnte, ein Altar von byzantinischem Prunk, der Allgewalt ihres Geschlechtes errichtet, die sie gerade jetzt schamlos übte... Und neben ihr, unter dem schneeigen Widerschein ihrer Brüste, mitten in ihrem Göttertriumph, wälzte sich eine schmachvolle, abgelebte Gestalt, eine komische und klägliche Ruine – der Marquis de Chouard. Der Graf hatte die Hände gefaltet und wiederholte bebend:

»Mein Gott!... Mein Gott!«

Für den Marquis de Chouard also blühten die Goldrosen des Bettes in ihrem goldenen Blattwerk, für ihn neigte sich auf dem Silbergitter jene Amorettengruppe mit ihrem schalkhaften Liebesgelächter, für ihn entblößte zu seinen Füßen der wollüstige Faun die schlummernde Nymphe, diese nach Nana kopierte Gestalt der Nachtgöttin, kopiert bis auf die kleinsten Züge!

Nana sprang auf, um die Tür wieder zu schließen. Sie hatte entschieden kein Glück mit ihrem kleinen Esel; er kam stets zur ungelegenen Zeit. Warum holte er aber auch Geld aus der Normandie? Der Alte hatte ihr viertausend Franken gebracht, und dafür war sie erkenntlich. Sie stieß die Türflügel wieder zu und rief:

»Tut mir leid, aber es ist deine eigene Schuld! Tritt man so in ein Zimmer? Das hast du davon! Glückliche Reise, mein kleiner Esel!«

Starr blieb Muffat vor der geschlossenen Tür stehen, niedergeschmettert durch jenen Anblick. Sein Zittern nahm zu und verbreitete sich über den ganzen Körper. Wie ein vom Sturm gepeitschter Baum wankte er und sank auf die Knie, während alle seine Glieder krachten. Verzweiflungsvoll rang er die Hände und stammelte:

»Das ist zuviel, mein Gott! Das ist zuviel!«

Er hatte alles geduldet; aber jetzt war es mit seiner Kraft zu Ende, er fühlte die Umnachtung nahen, wo der Mensch in seiner Vernunft Schiffbruch leidet. Mit wildem Ungestüm, mit erhobenen Händen suchte er den Himmel und rief zu Gott:

»O nein, ich will nicht! O hilf mir, mein Gott! Laß mich lieber sterben! ... O nein, nicht diesen Menschen, mein Gott! Es ist zu Ende, ergreife mich, nimm mich weg, daß ich nichts mehr sehe, nichts mehr fühle... Oh, ich gehöre dir, mein Gott! ...«

Im Eifer seines Glaubens fuhr er fort, und ein heißes Gebet kam über seine Lippen. Da berührte ihn jemand an der Schulter. Er sah auf und erblickte Venot, der erstaunt war, ihn vor dieser Tür betend zu finden. Und als ob Gott auf seine Bitten geantwortet hätte, warf er sich dem kleinen Alten an die Brust. Endlich konnte er weinen und wiederholte schluchzend immerfort:

»Mein Bruder... mein Bruder!«

Sein ganzes irdisches Leid, sein Bewußtsein, ein schwacher Mensch zu sein, klang aus diesen Worten heraus. Mit seinen Tränen überströmte er Venots Gesicht, er küßte ihn und stammelte immer wieder:

»O mein Bruder, wie sehr leide ich! ... Du allein bleibst mir, Bruder! Führe mich auf immer hinweg! Oh, ich bitte dich, führe mich weg...«

Da umarmte ihn Venot und nannte ihn ebenfalls Bruder. Aber er hatte ihm eine neue Schreckensbotschaft zu berichten; schon seit dem vergangenen Tag suchte er ihn, um ihm mitzuteilen, daß die Gräfin Sabine soeben mit dem Abteilungschef eines großen Modewarenmagazins durchgegangen sei: ein unglaublicher Skandal, von dem schon ganz Paris sprach. Da er den Grafen jetzt unter dem Einfluß einer solchen religiösen Gefühlswallung sah, hielt er den Augenblick für günstig und erzählte ihm unverzüglich das Abenteuer, dieses fade, tragische Ende, das auf sein Haus einen häßlichen Schatten warf. Der Graf wurde davon nicht getroffen; seine Frau sei abgereist, meinte er, das beweise ihm noch nichts, man werde später sehen. Seine Angst ergriff ihn wieder, als er die Tür, die Wände, die Decke betrachtete, und mit dem Ausdruck des Entsetzens flehte er unaufhörlich:

»Führe mich fort... Ich kann nicht mehr, führe mich fort!«

Und Venot führte ihn weg wie ein Kind. Jetzt gehörte er ihm ganz und gar. Muffat widmete sich wieder den strengen Pflichten der Religion, denn sein Leben war vernichtet. Um in den Tuilerien sich nicht kompromittiert zu sehen, hatte er um seine Entlassung aus dem Kammerherrenamt gebeten. Seine Tochter Estelle strengte gegen ihn wegen einer Summe von sechzigtausend Franken einen Prozeß an, die das Erbteil einer Tante waren und die sie bei ihrer Vermählung hätte erhalten sollen. Fast ganz ruiniert, lebte er sehr eingeschränkt vom Rest seines großen Vermögens und ließ sich nun allmählich von der Gräfin ausbeuten, die jetzt noch das verschleuderte, was Nana verächtlich übriggelassen hatte. Sabine, durch die Gemeinschaft ihres Mannes mit jenem Weibe verdorben und zu allen Schlechtigkeiten verleitet, wurde die letzte Ursache seines Ruins. Nach verschiedenen Abenteuern war sie zurückgekehrt, und er hatte sie mit der Resignation christlicher Vergebung wieder aufgenommen. Sie begleitete ihn, man konnte es sagen, als seine lebende Schande. Allein er war endlich stumpf geworden, so weit, daß ihn solche Unannehmlichkeiten gar nicht mehr rührten. Der Himmel enthob ihn den Händen des Weibes, um ihm in Gottes Armen selbst Frieden zu geben. Es war dies gleichsam eine moralische Fortsetzung des Sinnengenusses bei Nana, mit dem Stammeln, den Gebeten und verzweifelten Bitten, den Demütigungen eines verdammten Geschöpfes. In den Kirchen erstarrten seine Knie fast auf dem kalten Steingetäfel, und hier fand er den Genuß von ehedem, nur in anderer, edlerer Form, wieder: die krampfhafte Spannung seiner Muskeln und die verzückten, verworrenen Phantasien seines Geistes brachten ihm eine ähnliche Befriedigung der geheimnisvollen Triebe seines Wesens.

An dem Abend, an dem Muffat mit Nana gebrochen hatte, erschien Mignon in der Avenue de Villiers. Er hatte sich an Faucherys Besuche gewöhnt, fand schließlich tausend Vorteile darin, daß ein Ersatz bei seiner Frau war, überließ ihm die kleineren Sorgen des Haushalts, während er, Mignon, das Ganze überwachte, und verwendete für die kleinen Bedürfnisse des Haushalts die Gelder der dramatischen Erfolge Faucherys. Und da auch dieser sich vernünftig und frei von jeder lächerlichen Eifersucht und ebenso rücksichtsvoll wie Mignon selbst bei den von Rose gefundenen Gelegenheiten zeigte, lernten sich die beiden Männer immer besser verstehen und waren entzückt über ihre segensreiche Verbindung, bei der ein jeder sein Glück in einem Haushalt fand, in dem sich keiner von beiden zu genieren brauchte. Alles war in Ordnung, man kam trefflich vorwärts, und beide wetteiferten miteinander in der Förderung des gemeinsamen Glückes. So kam denn jetzt Mignon auf den Rat Faucherys zu Nana, um zu sehen, ob er nicht deren Zofe gewinnen könnte, deren ungewöhnliche Klugheit der Journalist schätzen gelernt hatte. Rose war ganz untröstlich; sie quälte sich seit einem Monat mit unerfahrenen Geschöpfen ab, die ihr beständig Unannehmlichkeiten bereiteten. Als Zoé Mignon öffnete, drängte dieser sie sogleich in den Speisesaal. Als er mit seinem Antrag herausrückte, bemerkte sie lächelnd, es sei unmöglich, da sie Madame nur verließe, um sich auf eigene Rechnung zu etablieren, und mit einer Miene verstohlener Eitelkeit fügte sie hinzu, daß ihr jeden Tag Vorschläge gemacht würden, daß die Damen sich um sie stritten; Madame Blanche habe ihr goldene Berge versprochen, um sie wiederzubekommen. Zoé wollte das Geschäft der Tricon übernehmen: es war dies ein längst gehegter Lieblingsplan, bei dem sie ihre Ersparnisse anzulegen und zu vergrößern vorhatte; sie schmiedete ehrgeizige Pläne, gedachte das Geschäft in größerem Maßstab zu betreiben, ein Hotel zu mieten und darin alle Annehmlichkeiten zu vereinigen; zu diesem Zweck hatte sie sogar Satin anzuwerben gesucht, jenes dicke, dumme Ding, das jetzt im Hospital im Sterben lag; das war der Lohn ihrer Sünden.

Mignon war bei seinem Vorschlag verblieben und sprach von dem Risiko, das man gewöhnlich bei Geschäften laufe; aber Zoé, ohne sich weiter über die Art ihres Unternehmens auszulassen, sagte nur mit einem feinen Lächeln, als verzehrte sie irgendeinen Leckerbissen:

»Oh, Luxusartikel gehen immer... Sehen Sie, ich bin nun lange genug bei fremden Leuten gewesen und wünsche jetzt, daß die anderen einmal bei mir sind.«

Eine wilde Lust zuckte um ihre Lippen: sie würde dann endlich einmal »Madame« sein und für einige Louisdor jene Weiber zu ihren Füßen sehen, deren Waschbecken sie seit nunmehr fünfzehn Jahren reinigte.

Mignon wünschte angemeldet zu werden, und Zoé ließ ihn einen Augenblick warten, nachdem sie ihm gesagt hatte, Madame habe einen sehr schlechten Tag verlebt.

Nana wurde allmählich von einer heftigen Sorge gequält. Zuerst hatte das Zusammentreffen des Marquis mit dem Grafen sie in eine fieberhafte Angst versetzt. Der Gedanke an ihren Alten, der halbtot in einem Fiaker davonfuhr, und an ihren kleinen Esel, den sie gewiß nicht wiedersehen würde, nachdem sie ihn um den Verstand gebracht hatte, machte sie allmählich ganz melancholisch. Dann war sie ärgerlich geworden, als sie erfuhr, daß Satin krank geworden sei, die seit vierzehn Tagen verschwunden war und nun in der Charité mit dem Tode rang. Eben als Nana den Wagen bestellte, um dieses kleine, dumme Ding noch einmal zu sehen, kam Zoé und kündigte ihr mit der größten Ruhe den Dienst. Da geriet sie in Verzweiflung; es kam ihr vor, als solle sie ein Familienmitglied verlieren. Mein Gott, was sollte sie denn allein anfangen? Flehentlich bat sie Zoé, die, von der Verzweiflung ihrer Herrin sehr geschmeichelt, sie schließlich umarmte, um zu zeigen, daß sie nicht böse auseinandergehen wollten; es mußte sein, und bei Geschäften hört ja bekanntlich die Gemütlichkeit auf. Dieser Tag war ein wahrer Tag des Ärgernisses. Nana dachte nicht mehr ans Ausgehen und zog sich in ihren kleinen Salon zurück, als Labordette, der zu ihr gekommen war, um über eine günstige Kaufgelegenheit von Spitzen zu berichten, unter anderem bemerkte, daß Georges gestorben sei. Sie blieb wie vom Donner gerührt stehen.

»Zizi tot!« rief sie.

Ihr Blick schweifte unwillkürlich nach jenem roten Fleck auf dem Teppich; doch er war endlich durch das Darüberschreiten so vieler Personen verwischt worden. Labordette erzählte verschiedene Einzelheiten über den Vorfall; man wisse nichts Genaues darüber, meinte er, die einen sprächen von einer wiedergeöffneten Wunde, die anderen erzählten, der Kleine habe sich in selbstmörderischer Absicht in ein Wasserbassin in Les Fondettes gestürzt. Nana wiederholte: »Tot! Tot!«

Dann suchte sie ihren Schmerz durch Tränen zu lindern und fühlte sich von einer unendlich tiefen Traurigkeit überwältigt. Labordette wollte sie trösten, sie aber legte ihm die Hand auf den Mund und stotterte:

»Nicht er allein, mich verläßt alles, alles... Ich bin sehr unglücklich... Oh, geh! Ich begreife nun, man wird überall sagen, ich sei eine Dirne... Jene arme Mutter, die dort vor Kummer vergeht, dieser arme Mensch, der vor meiner Tür wimmerte, und alle die anderen, die zur Stunde ruiniert sind, nachdem sie ihr letztes Geld mit mir verzehrt haben... So ist es recht, zeigt mit Fingern auf Nana, schlagt dieses unmenschliche Wesen! Oh, ich habe einen breiten Rücken, ich höre sie, als ob ich dabei wäre! Dieses elende Frauenzimmer, das die einen ausplündert, die anderen in den Tod jagt, das unzähligen Menschen Kummer macht...«

Sie mußte sich unterbrechen, Tränen erstickten ihre Stimme; von Schmerz überwältigt, war sie auf einen Diwan gesunken und hatte das Gesicht in ein Kissen vergraben. Das Unglück, das sie um sich herum fühlte, das Elend, an dem sie schuld war, drang auf sie ein und versetzte sie in eine rührselige Stimmung, sie wimmerte wie ein Kind, das noch nicht ordentlich sprechen kann.

»Oh, mir wird übel! Oh, mir wird schlimm! Ich kann nicht, das erstickt mich... Es ist zu hart, nicht verstanden zu werden, zu sehen, wie die Männer gegen unsereinen wüten, weil sie stärker sind... Jedoch wenn man sein gutes Gewissen in sich trägt... Nun wohl,nein ...«

Zorn und Trauer stritten in ihr. Sie stand auf, trocknete ihre Tränen und ging erregt auf und nieder.

»Nun wohl, nein, sie mögen sagen, was sie wollen, meine Schuld ist es nicht! Bin ich etwa bösartig? Ich gebe alles hin, was ich habe; ich würde keiner Fliege etwas zuleide tun – Sie sind schuld daran, nur sie... Niemals habe ich ihnen weh tun wollen. Sie hingen an mir wie Kletten, und heute jammern sie und stellen sich verzweifelt an.«

Erregt klopfte sie Labordette auf die Schultern.

»Nun, du warst dabei, sage die Wahrheit: bin ich ihnen nachgelaufen? Wetteiferten sie nicht immer zu Dutzenden in der größten Gemeinheit? Sie waren mir zuwider! Ich klammerte mich an, um ihnen nicht zu folgen, ich fürchtete... Sieh, nur ein Beispiel: alle wollten mich heiraten. Nicht wahr, eine nette Idee! Ja, mein Lieber, zwanzigmal hätte ich Gräfin oder Baronin sein können, wenn ich eingewilligt hätte. Aber ich habe mich geweigert, weil ich vernünftig war... Ach, ich bin ihnen aus dem Wege gegangen, ihren Zoten und Verbrechen! Sie hätten gestohlen, gemordet, Vater und Mutter erschlagen. Nur ein Wort brauchte ich zu sagen, und ich habe es nicht getan... Heute siehst du meinen Lohn... Jenen Daguenet habe ich verheiratet; ihn habe ich vom Hungertod errettet, nachdem ich ihn wochenlang umsonst beherbergt hatte. Gestern treffe ich ihn, und er dreht sich weg. Nun, hol dich der Teufel, du Lump, ich bin nicht so schmutzig wie du!«

Sie blieb stehen und schlug wütend mit der Faust auf einen Nipptisch.

»Bei Gott, das ist recht! Die ganze Gesellschaft ist versunken. Man schimpft auf die Frauen, während doch die Männer sie zu dem machen, was sie sind... Nun, ich kann es dir jetzt gestehen: es hat mir keinen Spaß gemacht, durchaus nicht! Gleichviel, mit wem ich umging! Ein jeder war mir zuwider, auf Ehre... Nun frage ich dich, ob ich dann an irgend etwas schuld bin! Ach ja, sie haben mich verdorben! Ohne sie, mein Lieber, ohne das, was sie aus mir gemacht haben, wäre ich jetzt in einem Kloster und betete zu Gott, denn ich war von jeher religiös gestimmt... Und wenn sie jetzt auch ihr Geld und ihre Haut zu Markt getragen haben, so ist das ihre Schuld! Ich habe damit nichts zu tun!«

»Versteht sich«, versetzte Labordette im Tone der Überzeugung.

Jetzt führte Zoé Mignon herein, und Nana empfing ihn lächelnd; sie hatte wohl geweint, doch das war nun vorbei. Er beglückwünschte sie zu ihrer Einrichtung, aber sie ließ merken, daß sie ihres Hauses überdrüssig sei; jetzt denke sie an andere Dinge und werde eines Tages alles verkaufen. Als er ihr dann zum Vorwand seines Besuches von einer Benefizvorstellung des alten Bosc erzählte, der jetzt gelähmt zu Hause sitze, bestellte sie für sich mitleidig zwei Logen. Unterdessen hatte Zoé angekündigt, daß der Wagen auf Madame warte; sie verlangte ihren Hut, und während sie ihn aufsetzte, erzählte sie das Abenteuer der armen Satin, indem sie hinzufügte:

»Ich fahre jetzt ins Hospital... Niemand hat mich so sehr geliebt. Ach, man hat wohl recht, die Männer der Herzlosigkeit zu beschuldigen!... Wer weiß, vielleicht ist sie schon tot. Einerlei, ich will sie noch einmal sehen. Ich will sie umarmen.«

Labordette und Mignon lächelten. Nana war nicht mehr betrübt und lächelte ebenfalls. Schweigend bewunderten sie sie beide, während sie ihre Handschuhe zuknöpfte. Sie stand aufrecht mitten in den aufgehäuften Reichtümern ihres Hauses, wo ein Volk von Männern ihr zu Füßen lag. Wie jene Ungeheuer des Altertums, deren schreckliche Behausung mit Knochen bedeckt war, setzte sie ihren Fuß auf Schädel; Katastrophen umgaben sie: der entsetzliche Feuertod Vandeuvres', die Melancholie Foucarmonts, der auf fernen Meeren herumirrte, das Unglück Steiners, der jetzt bescheiden als ehrlicher Mann leben mußte, der befriedigte Wahnwitz Faloises, der tragische Sturz Muffats, der aufgebahrte Leichnam Georges', den Philippe, der am Tage vorher aus dem Gefängnis entlassen worden war, bewachte! Ihr Werk der Zerstörung und des Todes war vollendet: die Fliege, die, im Kot der Vorstädte geboren, mit ihrem Gift gärende Fäulnis in der menschlichen Gesellschaft verbreitete, hatte jenen Männern schon durch ihre bloße Berührung den Todeskeim eingeflößt. So war es recht! So hatte sie Rache geübt für ihren Stand, für die Armen, die Enterbten und Verlassenen! Und während ihr Geschlecht sich strahlend über diese dahingestreckten Opfer erhob wie die aufgehende Sonne, die ein blutgetränktes Schlachtfeld überstrahlt, war ihr Geist sich nicht der eigenen Macht bewußt; sie blieb ein prächtiges Tier, das nicht weiß, was es tut. Sie blieb stark und fett, bei guter Gesundheit und heiterer Laune. Alles war ihr gleichgültig, sie dachte nicht mehr daran; ihr Haus schien jetzt abgeschmackt, zu eng, zu voll von Möbeln, die ihr im Wege standen. Sie führe etwas Besseres im Schilde. Sie fuhr in prächtiger Toilette davon, um Satin zum letztenmal zu umarmen. Ihr Aussehen war von einer Frische, als gäbe es in ihrer Nähe nur Glück und Frieden.


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