Emile Zola
Nana
Emile Zola

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Fünftes Kapitel

Im Varietétheater wurde »Die blonde Venus« zum vierunddreißigsten Male aufgeführt. Der erste Akt war eben vorüber, und im Künstlerfoyer stand Simonne, als Wäscherin angekleidet, vor der von einem Spiegel überragten Konsole, zwischen den beiden Flügeltüren, die sich in einem stumpfen Winkel nach den dunklen Logen hin öffneten. Ganz allein betrachtete sie sich und fuhr mit einem Finger unter die Augen, um die Schminke in Ordnung zu bringen; die Gasarme zu beiden Seiten des Spiegels übergossen sie mit ihrem grellen Licht.

»Ist er angekommen?« fragte Prullière, der in seinem Schweizer Admiralskostüm eintrat, mit einem langen Säbel, hohen Stiefeln und einem gewaltigen Federhut.

»Wer denn?« fragte Simonne, ohne sich stören zu lassen, während sie in den Spiegel lachte, um ihre Lippen zu betrachten.

»Der Prinz.«

»Ich weiß nicht; ich komme von der Bühne ... Ach, er wird schon kommen. Er kommt doch täglich!«

Prullière hatte sich dem Kamin gegenüber der Konsole genähert, in dem ein Koksfeuer brannte; zwei andere Gasflammen verbreiteten hier ein helles Licht. Er sah in die Höhe und betrachtete die Uhr und das Barometer, die, mit vergoldeten Sphinxen im Stil der Kaiserzeit verziert, sich rechts und links befanden. Dann setzte er sich in einen geräumigen Lehnstuhl, dessen grüner Samt, vier Generationen hindurch schon gebraucht, einen bräunlichen Schein zeigte; und hier blieb er unbeweglich sitzen, mit nichtssagendem Blick, in jener nachlässigen und resignierten Stellung, wie man sie bei Schauspielern findet, die gewohnt sind, auf den Ruf des Regisseurs zu warten.

Der alte Bosc war erschienen, schleppenden Ganges und hüstelnd, in einen alten, weiten, gelben Überrock gehüllt, von dem ein Zipfel von der Schulter geglitten war und den golddurchwirkten Rock des Königs Dagobert durchschauen ließ. Nachdem er seine Krone auf das Piano gelegt hatte, stampfte er unmutig mit dem Fuß, seine Hände zitterten von beginnendem Delirium, während ein langer, weißer Bart seinem aufgedunsenen Gesicht einen ehrwürdigen Anblick verlieh. Darauf, während man bei der herrschenden Ruhe hörte, wie ein Platzregen die Scheiben des großen Fensters, das auf den Hof ging, peitschte, sagte er, sich unmutig schüttelnd:

»Ein miserables Wetter!«

Plötzlich vernahm man Stimmen. Es war Fontan, der im Kostüm des zweiten Aktes, als flotter Garçon völlig in Braun gekleidet, daherkam.

»Sagt mal«, rief er mit lebhaften Armbewegungen, »wißt ihr nicht, daß heute mein Namenstag ist?«

»Ah«, versetzte Simonne und näherte sich ihm lächelnd, als ob sie sich durch seine ungeheure Nase und seinen komischen, breiten Mund angezogen fühlte, »du heißt also Achilles?«

»Gewiß! Nach dem zweiten Akt will ich Madame Bron sagen, sie soll Champagner besorgen.«

Seit einem Augenblick hörte man von fern eine Klingel. Der langgezogene Ton wurde schwächer, dann kam er wieder, und als es zu läuten aufgehört hatte, hörte man treppab, treppauf rufen: »Auf die Bühne! Zweiter Akt! ...« Der Ruf kam näher, ein kleiner, blasser Mann ging an den Türen des Foyers vorüber und rief mit seiner schrill schallenden Stimme hinein:

»Auf die Bühne zum zweiten Akt!«

»Zum Teufel! Champagner!« sagte Prullière, »du bist generös.«

»Ich an deiner Stelle würde Kaffee kommen lassen«, versetzte langsam Bosc, der sich auf ein grünes Samtbänkchen gesetzt und den Kopf an die Wand gelehnt hatte.

Aber Simonne erwiderte, man müsse die kleinen Wohltaten von Madame Bron respektieren. Vor Freude klatschte sie in die Hände und verschlang mit ihren Blicken Fontan, dessen ziegenartiges Gesicht sich bei dem fortwährenden Spiel mit Augen, Nase und Mund hin und her schob.

»Oh, dieser Fontan!« murmelte sie. »Er ist einzig, er ist einzig!«

Als die lange Clarisse eilig vorbeikam, rief Simonne sie an; aber sie gab zur Antwort, sie werde sofort wiederkommen. Und in der Tat erschien sie sofort wieder, in der dünnen Tunika und der Irisschürze und zitternd vor Frost.

»Sapperlot«, sagte sie, »es ist gar nicht so warm, und ich habe meinen Pelz in der Loge gelassen!«

Darauf trat sie an den Kamin, wärmte sich die Beine und fuhr fort: »Der Prinz ist angekommen.«

»Ah!« riefen die anderen neugierig.

»Ja, ich rannte deshalb so, ich wollte ihn sehen ... Er befindet sich in der ersten Proszeniumsloge rechts, wie letzten Donnerstag. Nun, es ist schon das drittemal in acht Tagen, daß er kommt. Welch ein Glück diese Nana hat! ... Ich hätte wetten mögen, daß er nicht wieder kommen werde.«

Hierauf erzählte Fontan, wie das Verhältnis zwischen dem Prinzen und Nana seinen Anfang genommen hatte, und lachte laut, als er sich niederbeugte, um einige Einzelheiten zum besten zu geben.

»Es hat angefangen!« rief die langtönende, ohrenzerreißende Stimme des Inspizienten.

Der Ruf hallte einen Augenblick lang, und ein Geräusch eiliger Schritte ließ sich hören. Durch eine plötzlich geöffnete Flurtür drang stoßweise Musik und fernes Geräusch; darauf fiel die Tür wieder zu.

Abermals herrschte träge Ruhe im Schauspielerfoyer, als ob es hundert Wegstunden vom Theatersaal, wo die Menge Beifall klatschte, entfernt wäre. Simonne und Ciarisse sprachen noch immer über Nana. Das sei eine, die sich durchaus nicht übereile, meinten sie, noch am vorigen Abend habe sie zu kommen versäumt. Aber plötzlich schwiegen sie alle, ein langes Mädchen hatte soeben den Kopf zur Tür hereingesteckt und dann, als es sich getäuscht sah, sich in den Hintergrund des Ganges zurückgezogen. Es war Satin in Hut und kleinem Schleier, als ob sie einen Besuch abstatten wollte. »Ein nettes Pflänzchen!« murmelte Prullière, der sie schon ein Jahr lang immer im Varietécafé gesehen hatte. Und Simonne erzählte, daß Nana, seit sie Satin als eine alte Schulfreundin erkannt hatte, sich für sie lebhaft interessiere und Bordenave eifrig bestürme, er möge sie debütieren lassen.

»Ah, guten Abend!« sagte Fontan, indem er Mignon und Fauchery, die eben eintraten, die Hand reichte. Der alte Bosc sogar streckte seine Finger aus, während die beiden Damen Mignon umarmten.

»Ist der Saal gut besetzt heute abend?« fragte Fauchery.

»Oh, prächtig!« antwortete Prullière. »Man muß nur sehen, wie sie den Köder anbeißen!«

»Sagt mal, Kinder«, bemerkte Mignon, »das jetzt muß ja euer Signal sein.«

Und wirklich erschien der Inspizient an der Tür.

»Herr Bosc! Fräulein Simonne!« rief er.

Schnell warf Simonne einen Pelzmantel um und ging. Bosc holte, ohne sich zu beeilen, seine Krone und setzte sie mit gewohnter Geschicklichkeit auf die Stirn; dann ging auch er, seinen Mantel nachschleppend und unsicheren Schrittes, indem er mit der ärgerlichen Gebärde eines plötzlich aus seiner Ruhe gestörten Menschen vor sich hin murmelte.

»In Ihrem letzten Bericht sind Sie sehr liebenswürdig gewesen«, versetzte Fontan, zu Fauchery gewendet. »Warum behaupten Sie beispielsweise, die Schauspieler seien Prahlhänse?«

»Ja, mein Kleiner, warum sagst du das?« rief Mignon und klopfte mit seinen Riesenhänden dem Journalisten auf die dünnen Schultern, so daß dieser fast zusammenknickte.

Prullière und Clarisse konnten sich kaum das Lachen verbeißen. Seit einiger Zeit ergötzte sich das ganze Theater an einer Komödie, die sich hinter den Kulissen abspielte. Mignon nämlich, ärgerlich über die Verliebtheit seiner Frau, zugleich darüber wütend, daß dieser Fauchery seinem Hauswesen nichts einbrachte außer einer Veröffentlichung von zweifelhaftem Werte im Journal, hatte sich an ihm dadurch zu rächen beschlossen, daß er ihn mit Freundschaftsbezeigungen überhäufte; jeden Abend, wenn er ihn auf der Bühne traf, versetzte er ihm freundschaftliche Rippenstöße und stellte sich, als sei er durch ganz besondere Zärtlichkeit dazu hingerissen worden; Fauchery, ein Zwerg diesem Koloß gegenüber, mußte die Schläge mit gezwungenem Lächeln hinnehmen, um sich mit Roses Gemahl nicht zu überwerfen.

»Ah, mein Herrchen, Sie beleidigen Fontan!« rief Mignon wieder. »Achtung! Eins, zwei und klitsch, in die Brust!«

Er hatte weit ausgeholt und dem jungen Mann einen solchen Stoß versetzt, daß dieser einen Augenblick ganz blaß wurde und nicht sprechen konnte. Clarisse zeigte jetzt den anderen mit einem Augenzwinkern Rose Mignon, die auf der Schwelle stand und den Vorgang gesehen hatte. Sie ging direkt auf den Journalisten zu, als bemerke sie ihren Gatten gar nicht, und indem sie sich mit entblößten Armen in ihrem Kinderkostüm emporrichtete, bot sie ihm mit kindlicher Verschmitztheit ihre Stirn zum Kusse dar.

»Guten Abend, mein Kind!« sagte Fauchery und küßte sie vertraulich.

Dies war seine Entschädigung. Mignon schien diesen Kuß nicht einmal zu bemerken; denn jedermann umarmte ja seine Frau im Theater. Aber lachend warf er dem Journalisten einen scharfen Blick zu, andeutend, daß das junge Herrchen ihm Roses Trotz teuer bezahlen werde.

Auf dem Gang ging die Polstertür auf und zu und ließ den Beifallssturm bis ins Foyer tönen. Simonne kehrte nach ihrer Rolle zurück.

»Oh«, rief sie, »Papa Bosc hat Effekt gemacht! Der Prinz wollte sich totlachen und applaudierte mit den anderen, als ob er bezahlt würde ... Sagen Sie mir, kennen Sie den großen Herrn, der in der Proszeniumsloge neben dem Prinzen sitzt? Ein schöner Mann mit würdiger Miene und einem prächtigen Backenbart.«

»Das ist der Graf Muffat«, antwortete Fauchery. »Ich weiß, daß ihn der Prinz vorgestern bei der Kaiserin für heute abend zum Diner geladen hatte. Nun wird er ihn wahrscheinlich verführt haben.«

»Wie, der Graf Muffat? Wir kennen seinen Schwiegervater, nicht wahr, Auguste?« sagte Rose, zu Mignon gewandt. »Du weißt doch, den Marquis de Chouard, zu dem ich singen ging? ... Richtig, er ist auch im Saale. Ich habe ihn im Hintergrund einer Loge bemerkt. Das ist auch ein alter ...«

Prullière, der eben seinen riesigen Federhut wieder aufgesetzt hatte, drehte sich um, sie zu rufen.

»Nun, Rose, wir wollen gehen!«

Eilig folgte sie ihm, ohne ihren Satz zu vollenden. In diesem Augenblick ging Madame Bron, die Hausmeisterin des Theaters, an der Tür vorbei und trug ein gewaltiges Bukett unter dem Arm. Scherzend fragte Simonne, ob dieses für sie sei; doch ohne zu antworten, deutete die Hausmeisterin nach Nanas Garderobe im Hintergrunde des Korridors. Als hierauf Madame Bron zurückkam, übergab sie Clarisse, die einen leisen Fluch nicht unterdrücken konnte, einen Brief. »Immer wieder dieser Plagegeist Faloise! Ein Mensch, der einen durchaus nicht in Ruhe lassen will!« Und als sie erfuhr, der Herr warte bei der Hausmeisterin, rief sie:

»Sagen Sie ihm, ich werde nach diesem Akt kommen ... Ich will ihn schon belehren!«

Fontan rief der Hausmeisterin nach:

»Madame Bron, hören Sie ... Hören Sie, Madame Bron ... Bringen Sie doch im Zwischenakt sechs Flaschen Champagner herauf!«

Allein der Inspizient war schon wieder atemlos erschienen und verkündete mit kreischender Stimme:

»Alles auf die Bühne! Sie, Herr Fontan! Schnell! Schnell!«

»Ja, ja, wir kommen ja schon, Vater Barillot«, rief Fontan bestürzt.

Und hinter Madame Bron hereilend, rief er nochmals:

»He! Verstanden? Sechs Flaschen Champagner im Zwischenakt in das Foyer! Heute ist mein Namenstag, ich bezahle ...«

Unter dem Rauschen ihrer Schleppen waren Simonne und Clarisse gegangen. Alles eilte hinab, und als die Tür des Ganges leise wieder zugefallen war, hörte man den Regenschauer gegen das Fenster schlagen. Barillot, ein kleiner, blasser Greis, schon seit dreißig Jahren Theaterdiener, hatte sich Mignon vertraulich genähert und bot ihm seine Tabaksdose an. Dieser Austausch einer Prise gewährte ihm bei seinem ruhelosen Herumlaufen auf den Treppen und in den Garderobegängen wenigstens einige Augenblicke Ruhe.

Er suchte noch immer Madame Nana, wie er sie nannte; diese aber handelte ganz eigenmächtig und fragte gar nicht nach der Ordnungsstrafe; wenn sie ihren Auftritt versäumen wollte, so versäumte sie ihn eben. Erstaunt blieb er jetzt stehen und murmelte:

»Der Tausend, sie ist ja da und auch schon fertig ... Na, die muß wohl wissen, daß der Prinz gekommen ist.«

Nana erschien auf dem Korridor, als Fischerweib gekleidet. Sie trat nicht herein, sondern grüßte Mignon und Fauchery einfach durch ein Nicken ihres Kopfes.

»Guten Tag! Geht es gut?«

Nur Mignon ergriff ihre durch die Tür gereichte Hand, und Nana setzte darauf stolz ihren Weg fort; dicht hinter ihr folgte die Ankleiderin, die sich von Zeit zu Zeit niederbeugte, um die Falten ihrer Röcke zu ordnen. Hinter der Ankleiderin ging Satin einher, das Ende des Zuges bildend und nach Möglichkeit bestrebt, die Blicke auf sich zu ziehen, obwohl sie sich dabei schrecklich langweilte.

»Und Steiner?« fragte Mignon plötzlich kurz.

»Herr Steiner ist gestern nach Loiret abgereist«, sagte Barillot, der eben im Begriff war, auf die Bühne zurückzugehen. »Ich glaube, er will da unten ein Landgut kaufen ...«

»Ach ja, ich weiß, das Landgut für Nana.«

Mignon war ernst geworden. Dieser Steiner, der einst Rose ein Haus versprochen hatte! Nachdenklich, aber immer noch seiner selbst Herr, ging Mignon zwischen dem Kamin und der Konsole auf und ab. Im Foyer befanden sich nur noch er und Fauchery. Der Journalist hatte sich eben müde in einen großen Lehnstuhl gestreckt und verhielt sich mit halboffenen Augen ganz ruhig, während ihn der andere im Vorbeigehen scharf ins Auge faßte. Da sie allein waren, wollte ihn Mignon nicht mehr mit Schlägen traktieren. Wozu auch, wenn sich niemand an der Szene ergötzte? Er wußte sich anderweitig schadlos zu halten. Fauchery, über diese Ruhepause ganz glücklich, streckte die Beine nachlässig am Feuer aus und betrachtete bald das Barometer, bald die Uhr.

»Ah, ihr Kamele!« rief Bordenave plötzlich mit heiserer Stimme. Er kam eben erst und schrie schon zwei Statistinnen an, die in ihrer Unerfahrenheit vergessen hatten, auf die Bühne zu treten. Als er Mignon und Fauchery bemerkte, rief er sie zu sich, um ihnen etwas zu sagen: der Prinz hatte nämlich soeben verlangt, Nana während des Zwischenaktes in ihrer Garderobe zu begrüßen.

Der Vorhang fiel unter einem endlosen Beifallssturm. Sogleich trat ein wildes Durcheinander auf der halbdunklen, von der Rampe nicht mehr erleuchteten Bühne ein; Schauspieler und Statisten drängten eilig nach ihren Garderoben, während das technische Personal schnell die Dekoration entfernte. Unterdessen waren Simonne und Clarisse im Hintergrund geblieben und unterhielten sich hier leise. Auf der Bühne hatten sie soeben einen Plan geschmiedet. Wohlunterrichtet zog Clarisse es vor, nicht zu Faloise zu gehen, da er sich ja nicht klar war, ob er sie im Stich lassen sollte, um es mit Gaga zu halten. Simonne sollte ihm einfach erklären, daß man sich auf diese Art keine Dame zur Freundin machen könne. Kurz, Simonne sollte den Plan ausführen.

Hierauf stieg Simonne in ihrem Wäscherinnenkostüm, den Pelzmantel über den Schultern, die enge Wendeltreppe mit den schlüpfrigen Stufen und den feuchten Wänden hinab, die nach der Hausmeisterwohnung führte. Mitten in einer wüsten Unordnung saßen hier auf den alten Rohrstühlen mehrere vornehme Herren mit geduldiger und ergebener Miene und drehten sich jedesmal hastig um, wenn Madame Bron mit Antworten aus dem Theater zurückkam. Soeben hatte sie einen Brief an einen der Herren übergeben, der den Umschlag eilig auf dem Hausflur unter der Gasflamme aufriß und leicht erblaßte, als er jene klassische, so oft an diesem Orte schon gelesene Phrase fand: »Heute abend nicht möglich, mein Bester, ich bin in Anspruch genommen.« Auf einem der Stühle saß ganz im Hintergrund, zwischen Tisch und Ofen, Faloise.

»Ah, Sie hier, Fräulein Simonne? Was wünschen Sie denn?« fragte die Hausmeisterin.

Simonne bat sie, Faloise zu ihr hinauszuschicken; allein Madame Bron konnte ihren Wunsch nicht sogleich erfüllen. Sie hatte nämlich unter der Treppe eine Art Trinkstube eingerichtet, wo sich während der Zwischenakte die Statisten zu stärken pflegten; da sie jetzt fünf oder sechs tüchtige Burschen, die ihr Hanswurstkostüm noch nicht abgelegt hatten, bedienen mußte, war sie etwas stark in Anspruch genommen. In dem Ausschank brannte eine Gasflamme, die einen mit einer Zinnplatte bedeckten Tisch sowie einige mit angebrochenen Flaschen besetzte Bretter beleuchtete. Wenn man die Tür zu diesem Loch öffnete, stieg ein starker Alkoholgeruch herauf, der sich mit dem Speisengeruch der Wohnung und dem starken Duft der auf dem Tische stehenden Blumensträuße vermischte.

»Nun also«, fuhr die Hausmeisterin fort, als sie die Statisten bedient hatte, »den kleinen Braunen da unten wünschen Sie?«

»Nicht doch, keine Dummheit!« sagte Simonne. »Den Schmächtigen neben dem Ofen, an dessen Hose Ihre Katze schnüffelt.«

Madame Bron brachte Faloise auf den Hausflur, während die anderen Herren geduldig verharrten und beinahe erstickten, als ob ihnen die Kehle zugeschnürt würde.

Oben auf der Bühne hörte man plötzlich ein allgemeines Gemurmel: »Der Prinz, der Prinz!«, und jedermann wandte die Blicke nach der kleinen Saaltür. Man bemerkte nur den runden Rücken Bordenaves mit seinem dicken Schlächterhals, der sich bei dem Gruß in Falten legte. Dann erschien der Prinz, groß, stark gebaut, mit blondem Bart und rosigem Teint, ganz die Erscheinung eines soliden Mannes, dessen kräftige Glieder man unter dem eleganten Überzieher wahrnahm. Hinter ihm gingen Graf Muffat und der Marquis de Chouard. Man hörte Bordenave fortwährend dienern:

»Wenn Hoheit mir folgen wollen ... Wollen Hoheit geruhen, hier vorbeizugehen ... Seine Hoheit mögen sich in acht nehmen ...«

Bordenave war an Nanas Garderobe angekommen. Er öffnete die Tür und sagte, sich verbeugend:

»Wenn Hoheit vielleicht eintreten wollen ...«

Der Schrei einer überraschten Frau ließ sich hören, und man sah Nana, bis auf den Gürtel entblößt, sich hinter einen Vorhang flüchten, während ihre Ankleiderin, eben im Begriff, sie abzutrocknen, mit der Serviette in der Hand verblüfft dastand.

»Oh, ist das albern, so ohne weiteres hereinzukommen!« rief Nana aus ihrem Versteck. »Bleiben Sie draußen! Sie begreifen doch, daß ich mich so nicht sehen lassen kann!«

Bordenave schien über Nanas Flucht höchst ärgerlich zu sein.

»Bleiben Sie doch, meine Liebe! Was fällt Ihnen ein?« sagte er. »Es ist ja Seine Hoheit. Vorwärts, und seien Sie kein Kind!«

Und da sie zitternd sich immer noch zu erscheinen weigerte, trotzdem aber schon zu lachen begann, fügte er mit der Stimme eines Vaters hinzu:

»Mein Gott, diese Herren wissen schon, wie ein Frauenzimmer aussieht. Sie werden Sie nicht aufessen.«

»Hm, das ist doch nicht so sicher«, sagte der Prinz humorvoll.

Alles brach in ein übertriebenes Gelächter aus, um dem Prinzen zu schmeicheln. »Ein echtes Pariser Bonmot«, wie Bordenave bemerkte. Nana antwortete nicht mehr, der Vorhang bewegte sich, und sie faßte ohne Zweifel einen Entschluß. Darauf blickte auch Graf Muffat mit geröteten Wangen in die Garderobe. Es war ein viereckiges Gemach mit sehr niedriger Decke und überall mit einem hellbraunen Stoff bespannt. Der Vorhang von demselben Stoff, durch eine kupferne Vorhangstange getragen, bildete im Hintergrund eine Art von Kabinett. Zwei große Fenster gingen auf den Theaterhof, der, höchstens drei Meter breit, von einer riesigen Mauer umgeben war, auf welche die Scheiben im Dunkel der Nacht braune Schatten warfen. Ein großer Spiegel hing einem Marmortisch gegenüber, auf dem eine Menge Fläschchen und Glasbüchsen für Öle, Essenzen und Puder standen. Mit gesenkten Blicken war der Graf an den Schminktisch getreten, wo ihn das Becken voll Seifenwasser, die kleinen durcheinanderliegenden Elfenbeingeräte und die feuchten Schwämme in Anspruch zu nehmen schienen. Jenes Schwindelgefühl, das er bei seinem ersten Besuch in Nanas Wohnung empfunden hatte, ergriff ihn wieder. Unter den Füßen spürte er den weichen, dicken Garderobenteppich, und die Gasflammen, die am Schminktisch und am Ankleidespiegel brannten, zischten um seine Schläfen. Einen Augenblick fürchtete er, bei diesem Geruch ohnmächtig zu werden, und setzte sich auf den seidenen Diwan zwischen den Fenstern. Aber sofort stand er wieder auf, kehrte nach dem Tisch zurück und sah mit starren Blicken ins Leere, während er an ein Bukett von Tuberosen dachte, das früher einmal in seinem Schlafzimmer geblüht und ihm beinahe den Tod gebracht hatte.

»Beeile dich doch!« drängte Bordenave, indem er den Kopf hinter den Vorhang steckte.

Der Prinz hörte indes gefällig dem Marquis de Chouard zu, der eine Hasenpfote vom Toilettentisch nahm und erklärte, wie man damit die weiße Schminke auftrage. In einer Ecke, mit dem Rücken gegen die Herren, saß Satin mit ihrem jungfräulichen Gesicht; die Ankleidefrau, Madame Jules, brachte das Trikot und den Venusmantel in Ordnung. Madame Jules war nicht mehr jung, ihr pergamentartiges Gesicht zeigte jene starren, altjüngferlichen Züge, die niemand jung gekannt hatte. Sie war in der heißen Garderobenluft, mitten unter den berühmtesten Tänzerinnen und Sängerinnen von Paris, sozusagen vertrocknet. Stets trug sie ein verblichenes, schwarzes Kleid, und auf der linken Seite ihres mageren Busens glitzerte ein Wald von Stecknadeln.

»Ich bitte um Verzeihung, meine Herren«, sagte Nana, als sie den Vorhang zurückzog, »aber ich war wirklich zu sehr überrascht ...«

Alle wandten sich um. Sie hatte sich durchaus nicht ganz angekleidet, sondern bloß eine kleine Corsage von dünnem Kattun zugeknöpft, die sie bis zur Hälfte des Busens bedeckte. Als die Herren sie in die Flucht gejagt hatten, war sie eben beim Auskleiden gewesen, und hastig hatte sie ihr Fischweibkostüm abgelegt. Mit ihren nackten Armen, den entblößten Schultern, dem erhabenen Busen, ihrer vollen jugendlichen Gestalt, hielt sie den Vorhang noch immer in der Hand, als ob sie ihn bei dem geringsten Schrecken wieder zuziehen wollte.

»Ja, ich war überrascht, und ich würde nie wagen ...« stotterte sie mit erkünstelter Bestürzung, mit geröteten Wangen und verlegenem Lächeln.

»Mach' doch nicht soviel Gerede! Jedermann findet dich so reizend!« rief Bordenave.

Noch einmal suchte sie eine unbefangene, sittsame Miene anzunehmen und bewegte sich hin und her, als ob sie gekitzelt worden wäre; dabei wiederholte sie immerzu:

»Hoheit schenken mir zuviel Ehre ... Ich bitte Hoheit, mich zu entschuldigen, wenn ich Sie derart empfange ...«

»Ich komme ungelegen«, sagte der Prinz; »allein, Madame, ich konnte dem Wunsch nicht widerstehen, Sie zu begrüßen ...«

Darauf begab sie sich in Beinkleidern ruhig an den Toilettentisch, mitten unter die Herren, die ihr Platz machten. Sie hatte sehr starke Hüften, so daß sich das Trikot spannte, als sie, die Brust nach vorn gewendet, mit ihrem feinen Lächeln grüßte. Plötzlich schien sie den Grafen Muffat wiederzuerkennen und streckte ihm freundlich die Hand entgegen. Hierauf schalt sie ihn, daß er nicht zu ihrem Souper gekommen sei. Hoheit geruhten, mit Muffat zu scherzen, der eine Entschuldigung stotterte und erzitterte, weil er die kleine, vom Toilettenwasser feuchte Hand einige Augenblicke in der seinen gefühlt hatte. Der Graf hatte bei dem Prinzen reichlich diniert, da er ein tüchtiger Esser und Trinker war. Beide waren sogar etwas berauscht, hielten sich aber trotzdem wacker. Muffat sprach über die Hitze, lediglich um seine Verwirrung zu verbergen.

»Mein Gott, wie heiß es hier ist«, sagte er. »Madame, wie können Sie bei einer solchen Temperatur existieren?«

Von diesem Punkt aus bewegte sich die Unterhaltung weiter, als an der Logentür laute Stimmen hörbar wurden. Bordenave lüftete eine vergitterte Öffnung in der Tür. Es waren Fontan, Prullière und Bosc mit Flaschen unter dem Arm, die Hände mit Gläsern beladen. Fontan klopfte an und rief: heute sei sein Namenstag, da bezahle er Champagner! Nana hatte den Prinzen mit einem fragenden Blick angesehen. Warum denn nicht? Hoheit wollten niemandem im Wege sein. Hoheit würden sich sehr freuen! Aber ohne die Erlaubnis abzuwarten, trat Fontan ein und wiederholte lallend:

»Ich lasse mich nicht lumpen, ich bezahle Champagner.«

Plötzlich bemerkte er den Prinzen, dessen Anwesenheit ihm nicht bekannt war. Mit drollig-feierlicher Miene blieb er stehen und sagte:

»König Dagobert ist auf dem Korridor und will mit Eurer Hoheit anstoßen.«

Da der Prinz gelächelt hatte, fand man den Witz reizend. Indessen war die Garderobe zu klein für so viele Menschen; man stand dicht gedrängt, Satin und Madame Jules im Hintergrund bei dem Vorhang, die Herren um die halbnackte Nana. Die drei Schauspieler trugen noch die Kostüme des zweiten Aktes. Während Prullière seinen Admiralshut absetzte, dessen ungeheurer Federbusch unter der Decke nicht Raum gefunden hätte, ließ sich Bosc mit seinem Purpurmantel und seiner Blechkrone auf das Knie nieder und begrüßte den Prinzen wie einen Monarchen, der den Sohn eines mächtigen Nachbarn empfängt. Mittlerweile wurden die Gläser gefüllt, und man stieß an.

»Ich trinke auf das Wohl Eurer Hoheit!« sagte würdevoll der alte Bosc.

»Auf die Armee!« fügte Prullière hinzu.

»Auf Venus!« rief Fontan.

Liebenswürdig bewegte der Prinz sein Glas hin und her. Er wartete, grüßte dreimal und murmelte:

»Madame ... Admiral ... Sire ...«

Und er trank auf einen Zug. Graf Muffat und der Marquis de Chouard hatten es ihm nachgetan; man scherzte ja nicht mehr, man war ja bei Hofe. Nana vergaß, daß sie nur mit dem Trikot bekleidet war, und spielte die vornehme Dame, die Königin Venus, die ihre geheimsten Gemächer den Staatsmännern öffnet. Bei jedem Satz erwähnte sie Seine Königliche Hoheit, machte vielsagende Komplimente und behandelte die Strohköpfe Bosc und Prullière wie Souveräne, die von ihren Ministern begleitet sind.

Niemand lächelte über diese sonderbare Mischwelt, über den wirklichen Prinzen und Thronfolger, der hier ganz ungezwungen in diesem Götterkarneval, dieser Königsmaskerade, mitten unter Ankleidefrauen und leichtfertigen Dämchen, Kulissenschiebern und Dämchenfreunden den Champagner eines gewöhnlichen Schauspielers trank. Bordenave freute sich schon auf die glänzende Einnahme, die er machen würde, wenn Seine Hoheit damit einverstanden wäre, ebenso im zweiten Akt der »Blonden Venus« zu erscheinen.

»Wie wäre es«, rief er, vertraulich werdend, »wenn wir meine kleinen Mädel hinuntergehen ließen?«

Nana wollte nicht, dann gab sie nach. Fontan mit seiner grotesken Maske zog sie an. Indem sie sich eng an ihn anschmiegte und ihn mit den Blicken einer Frau ansah, die auf etwas Unreines Appetit hat, duzte sie ihn plötzlich.

»Nun, schenk' doch ein, du Dummkopf!« Fontan füllte die Gläser wieder und trank unter beständig wiederholten Toasten:

»Auf Seine Hoheit!«

»Auf die Armee!«

»Auf Venus!«

Aber Nana machte eine ruhegebietende Bewegung. Sie hob ihr Glas hoch und sagte:

»Nein, nein, auf Fontan! Heute ist Fontans Namenstag! Auf Fontans Wohl! Auf Fontan!«

Hierauf stieß man zum dritten Male an und ließ Fontan hochleben.

Der Prinz hatte bemerkt, wie Nana dem Komiker glühende Blicke zuwarf, und beglückwünschte ihn.

»Herr Fontan«, sagte er mit betonter Höflichkeit, »ich trinke auf Ihren Erfolg!«

Unterdessen wischte der Überrock Seiner Hoheit hinter ihm den Marmortisch ab. Man befand sich wie im Hintergrunde eines Alkovens, wie in einem engen Badezimmer, wo der Dampf aus dem Waschbecken und den Schwämmen, der starke Duft der Essenzen sich mit den berauschenden Champagnerdünsten mischte. Der Prinz und der Graf Muffat, zwischen denen Nana sich befand, mußten, wenn sie die Hände bewegten, diese immer im Bogen führen, um sie nicht bei der geringsten Bewegung zu streifen.

Ohne einen Tropfen Schweiß zu verlieren, wartete indes Madame Jules mit ihrer steifen Miene, während Satin staunte, einen Prinzen und andere Herren im Frack bei einer nackten Frau stehen zu sehen, und sie dachte bei sich, daß die vornehme Herrenwelt doch genauso undelikat sei wie der gemeine Männerplebs, mit dem sie gewöhnlich verkehrte ... Auf dem Gang ertönte jetzt die Glocke des alten Barillot immer näher. Als er an der Garderobentür erschien, war er bestürzt, die drei Schauspieler noch immer im Kostüm des zweiten Aktes zu sehen.

»Oh, meine Herren, meine Herren!« stotterte er. »Eilen Sie ... Im Zuschauerfoyer hat man eben schon geklingelt!«

»Bah«, sagte ruhig Bordenave, »das Publikum mag warten.«

Trotzdem gingen, als die Flaschen geleert waren, die Schauspieler nach abermaligen Begrüßungen fort, um sich anzukleiden. Bosc hatte eben seinen Bart abgenommen, der von Champagner triefte, und unter diesem ehrwürdigen Bart erschien das Gesicht eines Trunkenboldes, verzerrt und blau angehaucht wie das eines alten, dem Wein ergebenen Schauspielers. Man hörte ihn, wie er unten an der Treppe mit seiner Schnapsstimme zu Fontan sagte, indem er vom Prinzen sprach:

»Nun, ich habe ihm doch imponiert, nicht wahr?«

In Nanas Loge blieben nur Seine Hoheit, der Graf und der Marquis. Bordenave hatte sich mit Barillot entfernt und riet ihm, nicht einzutreten, ohne Nana vorher in Kenntnis zu setzen.

»Meine Herren, Sie erlauben doch?« sagte Nana und begann ihre Arme und ihr Gesicht mit Schminke zu bearbeiten, wie es die Rolle im dritten Akt verlangte.

Der Prinz nahm mit dem Marquis de Chouard auf dem Diwan Platz, und nur Graf Muffat blieb stehen. Er hatte kein Wort mehr gesprochen; er dachte an seine Jugend zurück, an seine kalte, freudlose Kinderstube. Wenn er später mit sechzehn Jahren seine Mutter umarmte, nahm er jedesmal diesen kalten Kuß mit hinüber in seinen Schlummer. Eines Tages hatte er durch eine halboffene Tür bemerkt, wie sich ein Dienstmädchen wusch; dies war die einzige Erinnerung, die ihm vor seiner Vermählung Unruhe bereitet hatte. Dann hatte er seine Gemahlin bei den ehelichen Pflichten streng gehorsam gefunden, und er selbst empfand dabei eine Art frommen, innern Widerstreits. Er wurde groß und alt, unbekannt mit dem Sinnengenuß, dafür aber den strengen Religionsübungen ergeben; sein Leben war nach Vorschriften und Gesetzen eingerichtet. Und jetzt brachte man ihn plötzlich in diese Schauspielergarderobe, vor dieses nackte Weibsbild! Er, der nie gesehen hatte, wie die Gräfin Muffat ihre Strumpfbänder anlegte, wohnte allen Einzelheiten einer Damentoilette bei, mitten unter dem Chaos von Büchsen und Becken, von einem aufreizenden, starken Geruch umgeben. Sein ganzes inneres Wesen bäumte sich auf, der leise Zauber, mit dem ihn Nana seit einiger Zeit umgab, erschreckte ihn und erinnerte ihn an seine Jugend. Er glaubte an den Teufel, und Nana mit ihrem Lächeln, ihrer lasterhaften Stimme und ihrem gottlosen Nacken erschien ihm wie der Teufel. Aber er wollte stark sein und sich gegen den Teufel wehren.

»Sie kommen nächstes Jahr nach London«, sagte der Prinz, »und wir wollen Sie dort so gut empfangen, daß Sie nie wieder nach Frankreich Sehnsucht verspüren ... Oh, mein lieber Graf, Sie berücksichtigen Ihre schönen Damen gar nicht genug. Wir werden sie Ihnen alle abnehmen.«

»Das wird ihm ganz gleich sein«, murmelte böswillig der Marquis de Chouard. »Der Graf ist die Tugend selbst!«

Als Nana von seiner Tugend sprechen hörte, betrachtete sie ihn so komisch, daß Muffat sich lebhaft bestürzt fühlte, und über diese Bestürzung ärgerte er sich selbst. Warum genierte ihn der Gedanke, tugendhaft zu sein, vor dieser Dame! Er hätte sie schlagen mögen! Nana, die unterdessen einen Pinsel ergreifen wollte, hatte ihn eben fallen lassen, und als sie sich bückte, bückte auch er sich, ihre Atemzüge begegneten einander, und die aufgelösten Haare der Venus rollten ihm über die Hände. Es war dies ein Genuß, getrübt durch innere Vorwürfe, einer jener Genüsse eines frommen Katholiken, den die Furcht vor der Hölle bei der Sünde peinigt.

In diesem Augenblick ließ sich die Stimme des alten Barillot hinter der Tür vernehmen.

»Madame, darf ich das Anfangszeichen geben? Im Saal fängt man an, unruhig zu werden.«

»Sofort«, antwortete Nana ruhig.

Sie hatte den Pinsel in eine Büchse mit Schwarz getaucht; dann trat sie an den Spiegel, schloß das linke Auge und fuhr leise über die Augenwimpern. Muffat stand hinter ihr und schaute zu. Er sah sie im Spiegel mit ihren vollen, runden Schultern und ihrer rosigen Brust, und trotz aller Gegenwehr konnte er keinen Blick von diesem Gesicht abwenden, das durch das geschlossene Auge einen so herausfordernden Zug erhielt und das mit seinen Grübchen so verlangend dreinschaute. Als sie das rechte Auge schloß und den Pinsel darüber hinwegführte, da begriff er, daß er ihr gehörte mit Leib und Leben.

»Madame«, ertönte schon wieder die atemlose Stimme des Inspizienten, »man trampelt schon mit den Füßen und wird schließlich noch die Sitze zerbrechen ... Darf ich das Zeichen geben?«

»Halt! Pst!« sagte Nana ungeduldig. »Meinetwegen fangen Sie an! Wenn ich noch nicht fertig bin, mögen sie warten.«

Auch Bordenave kam unruhig zurück und sagte, der dritte Akt habe schon begonnen.

»Nun, ich gehe ja schon«, versetzte sie. »Ich muß sonst doch immer auf die anderen warten.«

Die Herren verließen die Garderobe; allein sie verabschiedeten sich nicht, da der Prinz den Wunsch geäußert hatte, dem dritten Akt hinter den Kulissen beizuwohnen.

Als der Prinz die kleine Holztreppe hinaufstieg, ließ sich auf der anderen Seite der Bühne unterdrücktes Fluchen und zorniges Füßestampfen hören: es war wieder eine Geschichte, die die auf ihr Stichwort wartenden Schauspieler fesselte. Seit einiger Zeit nämlich vergnügte sich Mignon wieder damit, Fauchery seine freundlichen Rippenstöße zu versetzen. Er hatte soeben ein neues Manöver erfunden, indem er ihm Nasenstüber applizierte, um, wie er sagte, die Fliegen zu vertreiben. Natürlich amüsierten sich die Schauspieler über diesen Einfall. Aber plötzlich hatte Mignon, durch seine Erfolge hingerissen, dem Journalisten eine Ohrfeige gegeben, eine wirkliche, derbe Ohrfeige. Das war zu stark, und Fauchery konnte vor aller Welt eine derartige Schmeichelei nicht ruhig hinnehmen. So waren denn die beiden Männer, den Scherz beendend, zornrot und mit haßerfüllten Blicken aufeinander losgestürzt. Sie wälzten sich hinter einer Säule auf dem Boden herum und titulierten einander mit »Zuhälter«, »Kuppler« und anderen schönen Worten.

»Herr Bordenave! Herr Bordenave!« rief der atemlose Regisseur. Bordenave entschuldigte sich bei dem Prinzen und folgte ihm. Als er Fauchery und Mignon am Boden erblickte, machte er eine ärgerliche Bewegung. In der Tat, die Herren nahmen ihre Zeit hübsch wahr, wo auf der anderen Seite der Bühne Seine Hoheit stand und der ganze Saal es hören konnte!

Um den Spektakel auf die Spitze zu treiben, kam jetzt Rose Mignon, ganz außer Atem, gerade im Augenblick ihres Auftretens an. Vulkan rief ihr das Stichwort zu; allein Rose hörte nicht, als sie sah, wie sich ihr Gatte und ihr Liebhaber am Boden wälzten, sich würgten, übereinander herfielen und an den Haaren rauften, während ihre Überröcke ganz von Staub bedeckt waren. Sie versperrten ihr den Weg.

»Aber laß dich doch nicht aufhalten!« zischte ihr Bordenave wütend zu. »Geh doch! Geh doch! Das geht doch dich nichts an! Du versäumst ja deinen Auftritt!«

Und von ihm vorwärtsgestoßen, stieg Rose über die beiden Körper hinweg und befand sich so auf der erleuchteten Bühne vor dem Publikum. Sie hatte nicht begriffen, weshalb sich jene prügelten. Zitternd, mit schwindenden Sinnen, ging sie mit dem süßen Lächeln der verliebten Diana nach der Rampe vor und begann ihr Duo mit so feuriger Stimme, daß das Publikum in Beifall ausbrach. Hinter den Kulissen vernahm sie den dumpfen Lärm der beiden sich am Boden Wälzenden. Sie waren bis an den Seitenvorhang gerollt, doch glücklicherweise übertönte die Musik das Getöse.

»Bei Gott«, rief Bordenave ganz außer sich, als es ihm endlich gelungen war, sie zu trennen, »könnt ihr euch nicht zu Hause prügeln? Ihr wißt doch, daß ich so etwas nicht liebe... Du, Mignon, wirst mir den Gefallen tun, hier auf der Hofseite zu bleiben, und Sie, Fauchery, werfe ich zur Theatertür hinaus, wenn Sie die Gartenseite verlassen, oder ich untersage Rose, Sie jemals wieder mitzubringen.«

Als er wieder zum Prinzen kam, erkundigte sich dieser nach dem Vorfall.

»Oh, gar nichts, gar nichts«, murmelte Bordenave mit gleichgültiger Miene.

Nana stand in einen Pelzmantel gehüllt, schwatzte mit den Herren und erwartete ihr Stichwort.

Plötzlich entstand eine Bewegung. Simonne, die eben mit Clarisse sprach, ließ die Worte fallen:

»Da kommt die Tricon!«

Es war wirklich die Tricon mit ihren langen Locken und ihrer gräflichen Haltung. Als sie Nana bemerkte, ging sie sofort auf sie zu.

»Nein«, sagte diese nach einem kurzen Wortwechsel, »jetzt nicht.«

Die alte Dame blieb ernst, und Prullière reichte ihr im Vorbeigehen die Hand. Zwei kleine Statistinnen betrachteten sie erregt, und sie schien einen Augenblick zu zögern. Dann rief sie Simonne durch eine Handbewegung zu sich, und der schnelle Wortwechsel begann wieder.

»Ja«, sagte endlich Simonne. »In einer halben Stunde!«

Als sie aber wieder nach ihrer Garderobe hinaufstieg, überreichte ihr Madame Bron, die abermals mit Briefen umherstrich, ein Schreiben. Bordenave tadelte mit leiser Stimme zornig die Hausmeisterin, daß sie die Tricon habe passieren lassen: solch ein Frauenzimmer! Und gerade heute abend! Dies erbittere ihn, schon wegen Seiner Hoheit. Madame Bron, nun dreißig Jahre am Theater, antwortete verärgert: »Weiß ich denn das? Die Tricon macht mit allen Theaterdamen Geschäfte; zwanzigmal hat sie der Herr Direktor getroffen, ohne etwas zu sagen.« Und während Bordenave noch vor sich hin brummte, betrachtete die Tricon eingehend den Prinzen wie eine Frau, die einen Herrn abschätzen will. Ein Lächeln erhellte ihr braunes Gesicht, und sie ging langsam fort mitten durch die ehrerbietig zur Seite tretenden Dämchen.

»Sogleich, nicht wahr?« sagte sie und wandte sich noch einmal zu Simonne.

Auf der Bühne schlenderte immer noch der Prinz herum und sprach mit Nana, die er nicht verlassen hatte und mit halboffenen Augen verschlang. Nana, ohne ihn anzusehen, sagte lächelnd ja und nickte mit dem Kopf. Aber plötzlich gehorchte Graf Muffat einem inneren Triebe; er verließ Bordenave und kam herbei, die Unterhaltung zu unterbrechen.

Nana blickte auf und lächelte ihm ebenso zu wie Seiner Hoheit, lauschte aber dabei stets auf ihr Stichwort.

»Der dritte Akt ist, wie ich glaube, der kürzeste«, sagte der Prinz, durch des Grafen Gegenwart geniert.

Sie antwortete nicht, sondern achtete jetzt nur auf ihre Rolle. Mit einer schnellen Schulterbewegung ließ sie den Pelzmantel herabgleiten, den Madame Jules, hinter ihr stehend, mit den Armen auffing. Nackt betrat sie die Bühne, nachdem sie nochmals, wie um ihn zu ordnen, an ihren Kopfputz gefühlt hatte.

»Pst! Pst!« flüsterte Bordenave.

Der Graf und der Prinz waren erstaunt. Mitten in dem tiefen Schweigen machte sich ein fernes Getöse in der Menge geltend. Jeden Abend begleitete der gleiche Eindruck den Auftritt der Venus in ihrer göttlichen Nacktheit. Muffat wollte jetzt etwas sehen und schaute durch eine Spalte. Jenseits des blendenden Kreisbogens der Rampe erschien der Saal düster, wie von rötlichem Rauch erfüllt, und vor diesem dunklen Hintergrund zeichnete sich Nana deutlich und großartig ab und verdeckte die Aussicht auf die Logen vom Balkon bis zur Galerie. Er bemerkte ihren Rücken, die festgeschnürte Taille und die bloßen Arme, während auf dem Boden zu ihren Füßen der Kopf des alten Souffleurs wie abgeschnitten sich zeigte, mit seinen kläglichen, ehrbaren Gesichtszügen. Bei bestimmten Stellen ihres ersten Auftritts schienen von ihrem Nacken Wellenbewegungen auszugehen und sich auf den ganzen Körper bis hinab zum Rand ihres schleppenden Mantels zu übertragen.

In diesem Augenblick näherte sich Fauchery dem Grafen und erbot sich, ihm die Garderoben zeigen zu wollen. Muffat, den eine zunehmende Trägheit willenlos machte, folgte dem Journalisten, nachdem er sich nach dem Marquis umgesehen hatte, der aber nicht mehr da war. Er empfand zugleich Trost und Unruhe, als er die Kulissen verließ, wo man Nana noch singen hörte.

Schon ging ihm Fauchery auf der Treppe voran, die im ersten und zweiten Stock durch hölzerne Windfänge verschlossen war. Diese Treppe glich der eines verdächtigen Hauses, wie sie Graf Muffat auf seinen Geschäftsgängen als Mitglied des Wohltätigkeitskomitees schon öfters gesehen hatte, häßlich und baufällig, mit abgenutzten Stufen und einem eisernen Geländer, das durch vielen Gebrauch wie poliert erschien. An jedem Absatz bildete ein in Bodenhöhe angebrachtes Fenster eine Lichtöffnung. Die Gasflammen an den Wänden erleuchteten grell diese traurige Szene und strahlten eine Wärme aus, die sich aufstufte und unter der engen Spirale der Stockwerke ansammelte.

Am Fuß der Treppe angelangt, hatte der Graf abermals einen glühenden Hauch im Nacken gefühlt; es war der Geruch aus den Garderoben, die voll Licht und Geräusch waren, und jetzt, bei jeder neuen Stufe, verwirrten ihn der Puderduft und die scharfen Dünste des Toilettenessigs noch mehr. Im ersten Stock öffneten sich zwei Korridore mit gelb angestrichenen Türen, die große, weiße Nummern trugen wie in einem Hotel; am Boden bildeten die Fliesen Höcker infolge der Senkung des alten Gebäudes. Zufällig warf der Graf einen Blick durch eine halboffene Tür und sah in ein sehr unreinliches Zimmer, das einem Friseur aus der Vorstadt als Geschäftszimmer diente; darin befanden sich zwei Stühle, ein Tisch und eine vom Haarfett der Kämme geschwärzte Tischplatte. Ein Kerl, über und über schwitzend, wechselte die Wäsche darin, während nebenan, in einem ähnlichen Gemach, eine Frau die Handschuhe anzog, um wegzugehen; ihr Haar war unordentlich und aufgelöst, als ob sie eben ein Bad genommen hätte. Allein Fauchery rief den Grafen, und dieser langte im zweiten Stock an, gerade als ein wütendes »Verwünscht!« aus dem Korridor rechts sich vernehmen ließ; Mathilde, ein kleines, dralles Frauenzimmer, hatte eben ihr Waschbecken zerbrochen, und das Seifenwasser floß bis an die Treppe. Eine Garderobentür wurde hastig geschlossen. Zwei Frauen im Korsett eilten schnell vorüber, und eine andere, die sich im tiefsten Negligé befand, flüchtete ebenfalls. Darauf vernahm man Gelächter, Streiten und einen angefangenen, jäh abbrechenden Gesang. Auf dem ganzen Korridor konnte man durch acht Türspalten interessante Bilder beobachten! Zwei sehr ausgelassene Mädchen zeigten einander ihre Muttermale, ein anderes, fast noch ein Kind, hatte die Unterkleider bis über die Knie aufgehoben, um sein Beinkleid wieder zu nähen, während die Ankleidefrauen beim Erscheinen der Herren aus Anstand die Vorhänge zuzogen. Es begann schon jenes hastige Drängen und Treiben wie stets am Ende einer Vorstellung, die große Reinigung von weißer und roter Schminke, das Umziehen für den Heimgang, wobei durch ab und zu geöffnete Türen der erstickende Geruch mit doppelter Heftigkeit hervordrang. Im dritten Stock überließ sich Muffat dem ihn überkommenden Rausche. Hier war die Garderobe der Statistinnen; zwanzig Frauen standen zusammengedrängt in einem Chaos von Seifen und Flaschen mit Lavendelwasser. Im Vorübergehen hörte er hinter einer verschlossenen Tür, wie sich jemand geräuschvoll abwusch und einen wahren Sturm im Waschbecken anrichtete.

Eben wollte er in das oberste Stockwerk steigen, als er noch zufällig durch ein offengelassenes Guckloch spähte; das Zimmer war leer, und nur ein Geschirr stand unter der Gasflamme inmitten eines wüsten Durcheinanders von Unterkleidern.

Dieses Zimmer war der letzte Eindruck, den er mitnahm. Alle Gerüche und heißen Dünste schienen sich hier zu vereinigen; die braune Decke wirkte wie geräuchert, und in einem rötlichen Nebel brannte eine Laterne. Einen Augenblick lang hielt er sich an dem Geländer fest, das sich warm anfühlte; er schloß die Augen, denn fast in einem Atemzuge hatte er das ganze weibliche Geschlecht kennengelernt, das ihm bis jetzt noch ein Buch mit sieben Siegeln gewesen war.

»Kommen Sie doch!« rief Fauchery, der auf einen Augenblick verschwunden war. »Man wünscht Sie zu sprechen!«

Im Hintergrund des Korridors befand sich die Garderobe Clarisses und Simonnes, ein langes, unschönes Zimmer mit zerfetzten Tapeten und Rissen in den Wänden. Zwei nebeneinander befindliche Bretter dienten als Toilettentisch, der mit einer von vergossenem Wasser verfärbten Wachsleinwand bedeckt war; darunter standen zerbrochene Zinkkrüge, mit Spülwasser gefüllte Eimer und große, braune, irdene Gefäße. Man sah hier eine Schaustellung von Bazargegenständen, die durch den Gebrauch beschmutzt waren, zerbrochene Waschbecken, zahnlose Kämme, kurz alles, was die beiden sich auskleidenden Frauen in gedankenloser Eile unordentlich an einem Ort hatten liegen lassen, wo sie sich nur vorübergehend aufhielten und dessen Unsauberkeit ihnen nicht mehr auffiel.

»Kommen Sie doch!« wiederholte Fauchery mit der Vertraulichkeit eines mit Frauen bekannten Menschen. »Clarisse will Ihnen ein Küßchen geben.«

Muffat trat endlich ein. Aber erstaunt blieb er stehen, als er den Marquis de Chouard zwischen den beiden Toilettentischen auf einem Stuhl sitzen sah. Der Marquis hatte sich hierher zurückgezogen. Er spreizte die Beine aus, weil sich aus einem lecken Eimer eine weißliche Flut ergossen und eine Lache gebildet hatte. Man merkte, daß er es sich bequem gemacht hatte, daß er die lauschigen Plätzchen kannte.

»Begleitest du denn den Alten nach Hause?« tuschelte Simonne Clarisse zu.

»Oh, öfter!« antwortete diese ganz laut.

Das auffallend häßliche und dreiste Mädchen, das hier als Ankleiderin fungierte und eben im Begriff war, Simonne beim Anlegen des Mantels behilflich zu sein, brach in lautes Lachen aus. Alle drei stießen jetzt einander an und stotterten unzusammenhängende Worte, die ihre Heiterkeit vermehrten.

»Nun, Clarisse, so umarme doch den Herrn!« rief Fauchery. »Du weißt ja, daß er nicht ohne ist und Geld wie Heu hat.«

Und zu dem Grafen gewandt, sagte er: »Sie werden sehen, mein Herr, sie ist sehr nett! Sie wird Ihnen einen Kuß geben!«

Aber Clarisse wollte von den Männern nichts wissen. Übrigens beeilte sie sich, wieder hinunterzugehen, da man sie für den dritten Akt brauchte. Als ihr Fauchery jetzt die Tür vertrat, drückte sie Muffat zwei Küsse auf den Bart und sagte:

»Das ist nicht etwa für Sie, Alterchen, sondern nur Faucherys wegen, der immer solche dummen Geschichten macht!«

Dann eilte sie fort, und der Graf stand beschämt vor seinem Schwiegervater. Eine tiefe Röte bedeckte sein Gesicht. In Nanas Garderobe hatte er mitten in dem Luxus von Tapeten und Spiegeln eine ähnliche Aufregung wie über diese beiden schamlosen, lockeren Mädchen nicht empfunden. Indessen war der Marquis eben hinter Simonne, die es sehr eilig hatte, fortgegangen und flüsterte ihr etwas ins Ohr, während diese den Kopf schüttelte. Fauchery folgte ihnen lachend. Jetzt sah sich der Graf allein mit der Ankleidefrau, die die Waschbecken ausspülte. Da ging auch er und stieg mit unsicheren Knien die Treppe hinab, wobei er wieder das Frauenzimmer im Unterrock erschreckte und auf seinem Wege die Türen ins Schloß fallen ließ. Aber mitten in diesem durch die vier Stockwerke verstreuten Chaos von Damen bemerkte er deutlich nur eine große, rötliche Katze, die in dieser moschusschwangeren Luft die Stufen entlang schlich und sich mit erhobenem Schwanz den Rücken an den Querstangen des Treppengeländers rieb. »Ach Gott!« rief eine heisere Frauenstimme. »Ich glaubte, sie würden uns heute abend in Ruhe lassen! ... Da haben wir wieder diese Plagegeister mit ihrem Geschrei!«

Das Stück war beendet und der Vorhang eben gefallen. Auf der Treppe war eine wilde Jagd, vermischt mit Beifallsrufen, und eine wirre Hast, schnell sich anzukleiden und fortzugehen, füllte die Gänge. Als Graf Muffat die letzten Stufen hinabstieg, bemerkte er, wie der Prinz langsam mit Nana den Garderobenkorridor entlangging. Nana blieb einen Augenblick stehen, dann sagte sie lächelnd mit leiser Stimme:

»Gewiß, gewiß! Ich bin gleich wieder da.«

Der Prinz kehrte auf die Bühne zurück, wo ihn Bordenave erwartete. Nunmehr mit Nana allein, eilte ihr Muffat, von Zorn und Begierde getrieben, nach und küßte sie, als sie eben in ihre Garderobe trat, ungestüm auf den Nacken, auf die blonden Härchen, die zwischen ihren Schultern sich kräuselten. Dies war gleichsam der Kuß, den er oben erhalten hatte und den er nun zurückgab. Nana erhob schon zornig die Hand; als sie aber den Grafen erblickte, lächelte sie.

»Oh! Sie haben mich erschreckt«, sagte sie kurz.

Ihr Lächeln war entzückend, verwirrt und doch ergeben, als ob sie über diesen Kuß sich geärgert hätte und doch glücklich wäre, ihn erhalten zu haben. Allein sie konnte den Grafen weder diesen Abend noch am nächsten Tage empfangen, und so mußte er warten. Und selbst wenn sie es gekonnt hätte, so hätte sie ihn schmachten lassen; das sagte ihr Blick. Endlich erwiderte sie:

»Sie wissen, ich habe eine Besitzung ... Ja, ich kaufe ein Landhaus nahe bei Orléans, in einer Gegend, die Sie bisweilen, wie ich gehört habe, besuchen. Bébé hat mir dies gesagt, der kleine Georges Hugon, Sie kennen ihn doch? ... Besuchen Sie mich also dort!«

Der Graf, über seine scheue Dreistigkeit erschrocken und beschämt über das, was er getan, grüßte sie höflich und versprach, ihrer Einladung zu folgen. Dann entfernte er sich in träumerischem Sinnen. Er traf den Prinzen, als er durch das Foyer gehend Satin rufen hörte: »Solch ein alter Wicht! Lassen Sie mich in Ruh'!«

Der Marquis de Chouard hielt Satin an der Taille umfaßt, aber diese fühlte sich, wie es schien, zur eleganten Welt wenig hingezogen. Nana hatte sie eben Bordenave vorgestellt; allein es war ihr zu lästig gewesen, dauernd zu schweigen, damit ihr keine Dummheiten entschlüpften. Sie wollte sich aus der ihr fatalen Situation befreien, um so mehr, als sie zwischen den Kulissen auf einen alten Liebhaber gestoßen war, einen Statisten, der die Rolle Plutos spielte, einen Pastetenbäcker, der sie schon eine ganze Woche lang geliebt und geohrfeigt hatte. Sie wartete auf ihn, aufgeregt darüber, daß der Marquis mit ihr wie mit einer Theaterdame umgegangen war.

»Mein Mann wird gleich kommen; warten Sie nur!« Mit dieser energisch betonten Phrase wandte sie ihm den Rücken zu.

Indessen gingen die Schauspieler, in ihre Überröcke gehüllt, mit müden Blicken einer nach dem andern fort; Gruppen von Männern und Frauen stiegen die kleine Wendeltreppe hinab; im Dunkeln setzten sie ihre abgetragenen Hüte auf und legten die zerknitterten Schaltücher um. Auf der Bühne löschte man die Gasflammen aus, während sich der Prinz von Bordenave eine Anekdote erzählen ließ. Er wollte auf Nana warten, und als diese endlich erschien, war die Bühne finster. Bordenave, um Seiner Hoheit den Umweg nach der Passage des Panoramas zu ersparen, hatte eben den Gang geöffnet, der von der Hausmeisterwohnung nach dem Theatervestibül führte. Diesen Korridor entlang jagte eine wilde Schar von Dämchen, die froh waren, den Männern zu entschlüpfen, die sich in der Passage aufgestellt hatten. Besonders vorsichtig war Clarisse, denn sie traute Faloise nicht. In der Tat befand er sich noch in der Hausmeisterloge in der Gesellschaft jener Herren, die hartnäckig bei Madame Bron auf den Stühlen hockenblieben. Alle paßten schnüffelnd auf; sie aber ging steif, hinter einer Freundin verborgen, vorüber.

»Wenn Hoheit hier hindurchgehen wollen!« sagte Bordenave unten an der Treppe und zeigte nach dem Korridor.

Einige Statisten stießen sich hier noch herum. Der Prinz folgte Nana, hinter ihnen kamen Muffat und der Marquis. Im Vestibül verabschiedete man sich, und als Bordenave allein war, fällte er sein Urteil über den Prinzen in einem verächtlichen Achselzucken. »Er ist trotz alledem ein Tölpel«, sagte er, ohne sich weiter gegen Fauchery auszulassen, den Rose Mignon nebst ihrem Mann mit sich nach Hause nahm, um beide wieder zu versöhnen.

Muffat war jetzt allein auf der Straße. Seine Hoheit hatte soeben Nana ruhig in seinen Wagen steigen lassen, während der Marquis aufgeregt hinter Satin und ihrem Statisten hergeschlichen war und sich damit begnügte, dem Paar ohne bestimmte Absicht zu folgen.

Jetzt wollte Muffat, dem der Kopf brannte, zu Fuß zurückgehen. Jeder innere Kampf in ihm hatte aufgehört, und ein neuer Lebensstrom überschwemmte seine Gedanken und Anschauungen, die er vierzig Jahre lang gehegt hatte. Während er über die Boulevards schlenderte, betäubte ihn das Rollen der letzten Wagen, und in dem Schein der Gaslaternen vor sich glaubte er Nanas entblößte Arme und weiße Schultern zu erblicken; er fühlte, daß er ihr gehörte mit Leib und Leben, und er hätte allem entsagt, alles veräußert, wenn er an diesem Abend nur eine Stunde mit ihr hätte verbringen können. Endlich erwachte in ihm die Jugend; das sinnliche Feuer des Jünglings entbrannte plötzlich in seinem kalten Gemüt, in dem ernsten Gedankenkreise des gereiften Mannes.


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