Emile Zola
Nana
Emile Zola

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Viertes Kapitel

Seit dem frühen Morgen hatte Zoé die Wohnung einem Hotelwirt überlassen, der mit einem Kellnerpersonal von Brébant geschickt worden war. Brébant mußte alles liefern: Souper, Geschirr, Gläser, Tischzeug, Blumen, sogar Stühle und Sessel. Nana hätte auch nicht ein Dutzend Servietten in ihren Schränken gefunden, und da sie noch nicht Zeit gehabt hatte, sich in ihrer neuen Sphäre zu zeigen, zugleich aber auch verschmähte, ins Gasthaus zu gehen, so hatte sie lieber ein Gasthaus in ihrer Wohnung aufgemacht. Dies erschien ihr passender. Ihren großen Erfolg als Schauspielerin wollte sie durch ein Souper feiern, von dem man rühmend sprechen sollte. Da das Speisezimmer zu klein war, hatte der Hotelwirt im Salon den Tisch gedeckt, und auf diesem fanden, allerdings etwas gedrängt, fünfundzwanzig Kuverts Platz.

»Alles fertig?« fragte Nana, als sie um Mitternacht wieder hereintrat.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Zoé barsch und schien außer sich zu sein. »Gott sei Dank, ich kümmere mich um nichts! In der Küche, überhaupt in der ganzen Wohnung haben diese Menschen eine heillose Unordnung angerichtet! Und überdies habe ich Zank und Streit in Menge gehabt ... Die andern beiden sind auch noch gekommen; ich habe sie aber, meiner Treu, zur Tür hinausbefördert.«

Sie sprach von den beiden früheren Verehrern von Madame, dem Großhändler und dem Walachen, denen Nana den Abschied zu geben beschlossen hatte, da sie, über ihre Zukunft beruhigt, Abwechslung wünschte.

»Man kann sich vor ihnen nicht retten!« murmelte Nana.

»Wenn sie wiederkommen, so drohe ihnen damit, daß du die Polizei zu Hilfe rufen wirst.«

Sodann rief sie Daguenet und Georges herbei, die im Vorzimmer geblieben waren. Beide hatten sich am Künstlerausgang getroffen und waren von Nana in einem Fiaker hierhergeführt worden. Da noch niemand zugegen war, rief sie ihnen zu, in das Ankleidezimmer einzutreten, während Zoé ihr bei der Toilette helfen sollte. Nana war schon fertig, als ihr Unterkleid an einem Lehnsessel hängenblieb und zerriß. Da fluchte sie wütend, etwas Derartiges könne nur ihr widerfahren. Zornerfüllt zog sie das Kleid aus, ein sehr feines, weißes Seidenkleid von solcher Schmiegsamkeit und Zartheit, daß es wie ein langes Untergewand eng anlag. Allein sofort legte sie es wieder an, weil sie kein anderes fand, das ihrem Geschmack entsprach, und tränenden Auges erklärte sie, sie sehe aus wie ein Lumpenweib. Daguenet und Georges mußten den Riß mit Stecknadeln zustecken, während Zoé ihre Toilette wieder ordnete. Alle drei waren emsig um sie beschäftigt, und wahrlich, es war höchste Zeit, denn es kamen schon einige der geladenen Gäste.

Eiligst entfernte sie sich, während Georges immer noch in seiner knienden Stellung mit dem Zipfel seines Fracks den Boden fegte. Als er gewahrte, wie Daguenet ihn betrachtete, errötete er. Indes wurden beide ganz vertraut miteinander, ordneten die Knoten ihrer Krawatten vor dem großen Ankleidespiegel und reinigten einander mit einer Bürste, da ihre Röcke, die an Nana gestreift hatten, ganz weiß geworden waren.

»Man könnte meinen, wir hätten uns mit Zucker bestreut«, meinte Georges mit dem Lächeln eines naschhaften Kindes.

Ein für diesen Abend gemieteter Lakai führte die Geladenen in den kleinen Salon, ein enges Zimmer, in dem sich für den Empfang so vieler Leute nur vier Stühle befanden. Aus dem großen benachbarten Salon drang das Geräusch von klapperndem Geschirr und Silberzeug, während unter der Tür hervor ein heller Lichtstreifen leuchtete. Bei ihrem Eintreten fand Nana schon Clarisse Besnus, die Faloise mitgebracht hatte, in einem Lehnstuhl sitzen.

»Wie? Du bist die erste!« sagte Nana, die sich seit ihrem Erfolg auf einen ganz vertraulichen Fuß mit ihr stellte.

»Ach, daran ist mein Begleiter schuld«, erwiderte Clarisse. »Er fürchtet immer, zu spät zu kommen. Wenn ich ihm Glauben geschenkt hätte, so hätte ich nicht einmal Zeit gehabt, mein Rouge abzuwischen.«

Der junge Mann, der Nana zum erstenmal sah, machte viele Komplimente, sprach von seinem Cousin und verbarg seine Aufregung unter übertriebenen Höflichkeitsbezeigungen. Nana drückte ihm die Hand und ging dann schnell auf Rose Mignon zu. Sie nahm plötzlich eine sehr vornehme Miene an.

»Ach, meine Werte, welch eine Aufmerksamkeit ... Ich hatte mich so sehr auf Ihre Gegenwart gefreut!«

»Oh, ich bin meinerseits entzückt, versichere ich Ihnen«, erwiderte Rose mit gleicher Liebenswürdigkeit.

»Nehmen Sie doch Platz ... Haben Sie irgendwelchen Wunsch?«

»Nein, ich danke Ihnen ... Ach doch! Ich habe meinen Fächer im Pelzmantel gelassen. Herr Steiner, bitte, in der rechten Tasche.«

Steiner und Mignon waren hinter Rose hereingekommen. Der Bankier ging zurück und kehrte mit dem Fächer wieder, während Mignon Nana wie eine Schwester umarmte und Rose ebenfalls zu einer Umarmung nötigte. War man am Theater denn nicht wie eine große Familie? Darauf winkte er mit den Augen, um gleichsam Steiner zu ermutigen; dieser jedoch, durch Roses Anblick verlegen geworden, begnügte sich damit, Nana die Hand zu küssen.

In diesem Augenblick erschien der Graf Vandeuvres mit Blanche de Sivry und wurde äußerst zuvorkommend empfangen. Nana führte Blanche mit betonter Höflichkeit zu einem Lehnstuhl. Inzwischen erzählte Vandeuvres lachend, daß Fauchery sich unten vor der Tür herumstreite, weil der Hausmeister den Wagen von Lucy Stewart nicht hatte einlassen wollen. Als aber der Lakai die Tür geöffnet hatte, trat Lucy mit graziösem Lächeln ein, nannte selbst ihren Namen, begrüßte Nana mit der größten Freundlichkeit und sagte ihr, sie habe sie sofort liebgewonnen und in ihr ein großes Talent erblickt. Nana, durch ihre neue Rolle als Herrin des Hauses stolz gemacht, dankte ihr mit sichtbarer Verwirrung. Dennoch schien sie seit der Ankunft Faucherys etwas Besonderes zu beschäftigen. Sobald sie sich ihm nähern konnte, fragte sie ganz leise:

»Wird er kommen?«

»Nein, er hat nicht gewollt«, erwiderte der Journalist kurz, da ihm die Frage unerwartet kam, obwohl er eine Geschichte ersonnen hatte, um die Weigerung des Grafen Muffat zu erklären. Er merkte auch sofort, daß er eine große Ungeschicklichkeit begangen hatte, denn er sah, wie Nana darüber erbleichte; er suchte daher seine Rede fortzusetzen:

»Er hat nicht gekonnt, da er heute abend die Gräfin zum Ball beim Minister des Innern begleitet.«

»Gut«, murmelte Nana, die ihn als böswillig verdächtigte.

»Du wirst mir dafür büßen, mein Lieber!«

»Ach«, erwiderte er, durch diese Drohung verletzt, »ich liebe derartige Aufträge nicht! Wende dich das nächste Mal an Labordette!«

Erbost kehrten sie einander den Rücken. Eben jetzt brachte Mignon Herrn Steiner in Nanas Nähe. Als diese allein war, sagte er leise, mit der gemütlichen Unverfrorenheit eines Spießgesellen, der seinem Freunde ein Vergnügen verschaffen will:

»Glauben Sie mir, er grämt sich noch zu Tode ... Er fürchtet nur meine Frau. Wollen Sie ihn nicht in Schutz nehmen?«

Nana schien ihn nicht zu verstehen. Lächelnd schaute sie nach Rose, ihrem Gatten und dem Bankier:

»Herr Steiner, Sie werden gütigst an meiner Seite Platz nehmen.«

Aus dem Vorzimmer drang jetzt lautes Gelächter, ein Gewirr von fröhlichen und geschwätzigen Stimmen. Labordette erschien mit fünf Damen, seinem »Pensionat«, wie die böse Lucy Stewart sagte. Darunter befanden sich Gaga, majestätisch in einer engen Samtrobe, Caroline Héquet, stets in schwarzer, mit einem Spitzenschleier garnierter Seide, alsdann Léa de Horn, nach ihrer Art wunderlich gekleidet, die wohlgenährte Tatan Néné, ein schönes, blondes Kind mit einem stark entwickelten Busen, über den man sich lustig machte, und schließlich die kleine Marie Blond, ein siebzehnjähriges Mädchen, das am Folies-Theater debütierte. Labordette hatte sämtliche Damen in einem einzigen Wagen hergebracht, und sie lachten immer noch darüber, wie gedrängt sie gesessen hatten, Marie Blond auf dem Schoß der anderen. Allein jetzt wurden sie gesetzter und machten ihre Begrüßungen in damenhafter Weise. Gaga stellte sich wie ein Kind an und lispelte aus übertriebener Vornehmtuerei.

Nur Tatan Néné, der man unterwegs erzählt hatte, daß sechs völlig nackte Neger das Souper bei Nana servieren würden, war unruhig und wollte die versprochenen Neger sehen. Labordette sagte, sie sei ein Gänschen, und bat sie, zu schweigen.

»Und Bordenave?« fragte Fauchery.

»Oh, stellen Sie sich vor! Ich bin außer mir!« rief Nana aus.

»Er wird nicht kommen können!«

»Ja«, sagte Rose Mignon, »er hat sich den Fuß verletzt. Sie sollten ihn nur fluchen hören, während sein Bein eingeschnürt auf einem Stuhl ruht!«

Allgemein ward Bordenave bedauert, denn ohne ihn sei kein schönes Souper möglich. Doch man mußte sehen, auch ohne ihn auszukommen, und schon sprach man über andere Dinge, als sich eine mächtige Stimme hören ließ:

»Was denn! Was denn! So will man mich abspeisen?«

Ein Ausruf des Staunens durchlief die Gesellschaft, und jedermann wandte sich um. Der dicke Bordenave mit seinem steifen Bein stand auf der Schwelle, sein Gesicht war rot, er stützte sich auf die Schulter von Simonne Cabiroche. Gegenwärtig pflegte er nämlich Simonne seine Abendbesuche abzustatten. Diese Kleine, die eine gute Erziehung genossen hatte, Klavier spielte und Englisch sprach, war ein allerliebstes blondes Kind, so zart, daß sie unter Bordenaves wuchtiger Last fast umsank, dabei aber doch lächelte und unterwürfig aussah. Er blieb einige Augenblicke stehen, da er sah, daß sie beide eine interessante Gruppe bildeten.

»Ha, ich sollte meinen, daß ihr nicht über mich zu klagen habt! Ich bin euch, denke ich, ein guter Vater ... Hab' freilich gefürchtet, mich arg zuzurichten, hab' mich aber doch schließlich herbemüht!«

Allein er unterbrach sich, um einen Fluch auszustoßen. »Himmeldonnerwetter!«

Simonne hatte einen zu schnellen Schritt getan, und sein Fuß hatte soeben geschmerzt. Er versetzte ihr einen Stoß; sie aber, immer noch freundlich, senkte ihr so liebliches Antlitz wie ein Tier, das geschlagen zu werden fürchtet, und stützte ihn mit allen ihren Kräften. Übrigens machte man sich mit vielem Geräusch eiligst um ihn zu schaffen. Nana und Rose Mignon rollten einen Lehnstuhl herbei, auf dem sich Bordenave niederließ, während die anderen Damen ihm einen zweiten Stuhl unter das verletzte Bein schoben. Alle Schauspielerinnen, die zugegen waren, umarmten ihn, während er leise seufzte:

»Himmeldonnerwetter, mein Fuß ... Gott sei Dank! Mein Magen ist wenigstens stets in Ordnung, wie Sie gleich sehen sollen.«

Unterdessen waren noch mehr Tischgäste gekommen, so daß man sich im Zimmer kaum noch bewegen konnte. Das Geklirr des Tischgeschirrs und des Silberzeugs hatte aufgehört, doch wurde vom großen Salon her ein heftiger Wortwechsel vernehmbar, wobei man besonders die wütende Stimme des Hotelwirts unterschied. Nana wurde unruhig, da sie keine Eingeladenen mehr erwartete und über die Verzögerung des Soupers erstaunt war. Sie hatte Georges hinübergeschickt, der sich erkundigen sollte, als sie zu ihrer großen Überraschung noch verschiedene Herren und Damen kommen sah, die sie absolut nicht kannte. Deshalb fragte sie Bordenave, Mignon und Labordette darüber, allein diesen waren die Herrschaften ebenfalls unbekannt. Als sie sich an den Grafen Vandeuvres wandte, erinnerte sich dieser, daß es jene jungen Leute seien, die er beim Grafen Muffat für das Souper gewonnen hatte.

Nana dankte ihm. Sehr gut, sehr gut! Es würde nur etwas eng zugehen; und sie bat Labordette, doch noch sieben Kuverts zu bestellen. Kaum war er fort, als der Bediente abermals drei Personen hereinführte. Jetzt wurde die Sache allerdings lächerlich, denn sicher mußte es nunmehr an Plätzen fehlen. Nana, der der Ärger allmählich die Röte aus den Wangen trieb, meinte, dergleichen schicke sich doch durchaus nicht. Als sie jedoch noch zwei Gäste kommen sah, mußte sie lachen, denn nun fand sie die Sache spaßhaft. Jedermann stand am Tisch, nur Gaga und Rose Mignon saßen, während Bordenave für sich allein zwei Stühle beanspruchte. Die Stimmen schwirrten durcheinander, man sprach leise und unterdrückte hier und da ein leichtes Gähnen.

»Sage mir doch, mein liebes Kind«, fragte Bordenave jetzt Nana, »wie wäre es denn, wenn man sich nun zu Tisch setzte? Wir sind doch vollzählig, nicht wahr?«

»Ach ja, wir sind wahrhaftig vollzählig«, erwiderte sie lachend.

Sie ließ ihre Blicke umherschweifen, doch bald ward sie ernst, als wunderte sie sich, jemanden nicht zu finden. Ohne Zweifel fehlte ein Tischgenosse, von dem sie gar nicht sprach. Vielleicht kam er noch. Einige Minuten später bemerkten die Eingeladenen in ihrer Mitte einen großen Herrn von edler Gestalt, den ein schöner weißer Bart zierte. Das überraschendste war, daß ihn niemand hatte hereinkommen sehen; er mußte sich durch eine halboffene Tür des Schlafzimmers in den kleinen Salon geschlichen haben. Es herrschte allgemeines Schweigen, nur ein Zischeln lief von Mund zu Mund. Graf Vandeuvres aber kannte den Herrn genau, denn beide hatten insgeheim einen Händedruck gewechselt; allein er beantwortete die Fragen der Damen nur durch ein Lächeln. Caroline Héquet hielt ihn für einen englischen Lord, der den nächsten Tag sich in London verheiraten werde; sie kannte ihn gut, denn er hatte sie schon besucht. Diese Geschichte machte nun die Runde unter den Damen; nur Marie Blond ihrerseits behauptete, in ihm einen deutschen Gesandten wiederzuerkennen, der eine ihrer Freundinnen des Abends oft besuchte. Unter den Herren beurteilte man ihn rasch: ein gewichtiger Mann, der vielleicht das Souper bezahlen werde. Richtig, es hatte ganz danach den Anschein. Bah, aber man mußte doch immer erst noch zusehen, ob das Souper gut war! Kurz, man blieb im Zweifel, und schon fing man an, den weißbärtigen Herrn zu vergessen, als der Hotelwirt die Tür zum großen Salon mit der Meldung öffnete, daß angerichtet sei.

Nana hatte Steiners Arm genommen, ohne, wie es schien, eine Bewegung des alten Herrn zu bemerken, der ganz allein hinter ihr her ging. Übrigens konnte keine geordnete Reihe zustande kommen, vielmehr traten die Herren und Damen ohne jede Ordnung ein, mit bürgerlicher Unbefangenheit über diesen Mangel an Etikette scherzend. Eine lange Tafel dehnte sich von dem einen Ende dieses großen Zimmers zum andern, und dennoch erwies sie sich als noch zu klein, so daß die Teller einander beinahe berührten. Vier zehnarmige Kandelaber erleuchteten den neusilbernen Tafelaufsatz, der rechts und links reich mit Blumen geziert war. Der ganze Luxus entsprach der Aufmachung eines Gasthauses: ungezeichnetes Porzellan mit vergoldeten Kanten, abgenutztes und durch das fortwährende Abwaschen unscheinbar gewordenes Silberzeug, Gläser, wie man sie zu Dutzenden in jedem Magazin haben konnte. Alles erinnerte an einen verfrühten Einzugsschmaus, an ein urplötzlich gekommenes Glück, wo noch nichts an seinem geeigneten Platze war. Ein Kronleuchter fehlte; in den Kandelabern steckten zu hohe Kerzen, die einen blaßgelben Schein über die Kompottschüsseln, aufgetürmten Teller und Schalen verbreiteten, in denen Früchte, kleines Gebäck, Konfitüren symmetrisch aufgestellt waren.

»Ich bitte«, sagte Nana, »setze sich ein jeder nach Belieben ... Das ist amüsanter.«

Sie blieb mitten vor der Tafel stehen. Der alte Herr, den niemand kannte, hatte an ihrer rechten, Steiner an ihrer linken Seite Platz genommen. Verschiedene Tischgäste hatten sich schon gesetzt, als man aus dem kleinen Salon heftiges Fluchen vernahm. Bordenave, den man völlig vergessen hatte und der nun bemüht war, sich von seinen beiden Stühlen aufzurichten, heulte dort Zetermordio und schimpfte auf Simonne, die ihn im Stich gelassen hatte. Die Damen eilten mitleidsvoll herbei, und Bordenave erschien, halb getragen von Caroline, Clarisse, Tatan Néné und Marie Blond, im Eßzimmer.

»Mitten an die Tafel! Nana gegenüber!« rief alles. »Bordenave in die Mitte! Bordenave soll den Vorsitz führen!«

Die Damen leisteten bereitwillig Folge. Aber Bordenave brauchte einen zweiten Stuhl für sein krankes Bein, das zwei Damen aufhoben und behutsam streckten. In dieser Stellung genierte ihn sein Bein nicht weiter; er speiste nun einfach auf der Seite liegend. »Potztausend!« brummte er. »Wie unbeholfen man doch ist! Ach, meine kleinen Miezchen, der Papa empfiehlt sich eurer Fürsorge!«

Rose Mignon saß zu seiner Rechten und Lucy Stewart zu seiner Linken. Sie versprachen, für ihn Sorge zu tragen. Jedermann nahm jetzt Platz: der Graf von Vandeuvres zwischen Lucy und Clarisse, Fauchery zwischen Rose Mignon und Caroline Héquet. Auf der anderen Seite hatte sich Hector de la Faloise eiligst neben Gaga gesetzt, trotz der Zurufe Clarisses ihm gegenüber, während Mignon, der sich nicht von Steiner entfernen wollte, von diesem nur durch Blanche getrennt war; zu ihrer Linken saß Tatan Néné, dann kam Labordette. An den beiden Enden der Tafel saßen die jungen Herren und Damen, Simonne, Léa de Hörn, Marie Blond, bunt durcheinander. Dort saßen auch Daguenet und Georges, die sich immer mehr zueinander hingezogen fühlten.

Als indessen zwei Personen keinen Platz fanden, gab dies Anlaß zu Scherzen, und die Herren boten ihnen ihre Knie an. Clarisse, die sich kaum rühren konnte, sagte zu Vandeuvres, sie werde beim Verteilen der Speisen auf ihn rechnen. Daß auch dieser Bordenave mit seinem lahmen Bein so viel Platz brauchte! Eine letzte Anstrengung wurde gemacht, und nun fand jedermann sein Plätzchen.

Bordenave pries eben laut die Suppe an, als auf einmal protestierende Stimmen sich erhoben. Die Tür hatte sich soeben wieder geöffnet und drei Nachzügler, eine Dame und zwei Herren, waren eingetreten. Nana, ohne ihren Stuhl zu verlassen, kniff die Augen halb zu und versuchte sie zu erkennen. Die Dame war Louise Violaine; die Herren jedoch waren ihr nicht bekannt.

»Meine Liebe«, sagte Vandeuvres, »jener Herr ist mein Freund, ein Marineoffizier, Herr de Foucarmont, den ich eingeladen habe.«

Foucarmont grüßte leicht und fügte hinzu:

»Ich habe mir noch erlaubt, einen meiner Freunde mitzubringen.«

»Ach, vortrefflich!« sagte Nana. »Bitte, setzen Sie sich! ... Clarisse, rücke noch ein wenig zu! Dort unten haben sich die Herrschaften etwas sehr ausgebreitet ... Dorthin, ich bitte ...«

Man rückte noch enger zusammen, Foucarmont und Louise fanden an einer schmalen Tischecke Platz; sein Freund jedoch mußte sich in einiger Entfernung von seinem Kuvert placieren; er speiste, indem er die Arme zwischen den Schultern seiner Nachbarn hindurch ausstreckte. Bordenave regte die gesamte Tischgesellschaft auf, denn er erzählte, er habe noch beabsichtigt, Prullière, Fontan und den alten Bosc herzubringen. Mit trockener Ruhe erwiderte Nana, sie würde diese Leute einfach abgewiesen haben; wenn sie ihre Kollegen heute abend bei sich zu sehen gewünscht hätte, wären sie schon von ihr selbst eingeladen worden. Nein, nein, keine Schauspieler! Der alte Bosc sei immer betrunken, Prullière zu sehr für sich eingenommen, und Fontan mache sich durch sein Schreien und seine Dummheiten in jeder Gesellschaft unerträglich; Komödianten fühlten sich übrigens in feiner Herrengesellschaft stets ungemütlich. »Ja, ja, das ist wahr!« erklärte Mignon.

Alle Herren um den Tisch herum sahen höchst nobel in ihrem Gesellschaftsanzug aus, ihre bleichen Gesichter verliehen ihnen ein vornehmes Gepräge, das durch einen Zug von blasierter Ermüdung noch verfeinert wurde. Die Bewegungen des alten Herrn waren gemessen, und ein feines Lächeln umspielte seinen Mund, gerade als ob er den Vorsitz in einer Diplomatenversammlung geführt hätte. Vandeuvres schien sich bei der Gräfin Muffat zu befinden, so ausgesucht höflich verkehrte er mit seinen Nachbarinnen. Noch am Morgen hatte Nana zu ihrer Tante gesagt, die Herren könnte man gar nicht besser finden; alle vornehm oder reich, kurz: lauter Kavaliere! Auch die Damen benahmen sich vortrefflich. Einige, wie Blanche, Léa und Louise, waren in ausgeschnittenen Kleidern erschienen, nur bei Gaga konnte man etwas zu tief schauen; gerade sie hätte in ihrem Alter besser getan, ihre vermeintlichen Reize nicht zu stark zur Schau zu tragen. Als man sich jetzt endlich niedergelassen hatte, wurde gelacht und gescherzt. Georges meinte freilich, daß er bei Bürgerfamilien in Orléans weit lustigere Diners erlebt habe. Hier sprach man ja kaum; die Herren, die einander nicht kannten, sahen sich an, die Damen blieben ruhig, was Georges' Erstaunen besonders erregte. Er fand sie prüde, denn er hatte geglaubt, man werde sofort mit Umarmungen und Küssen beginnen. Da rief Blanche ganz laut:

»Meine liebe Lucy, vorigen Sonntag habe ich Ihren Olivier getroffen. Ist der aber groß geworden!«

»Nun ja, er ist achtzehn Jahre alt«, entgegnete Lucy; »das macht mich freilich nicht wieder jung ... Gestern ist er wieder nach seiner Schule abgereist.«

Olivier, von dem Lucy stets mit Stolz sprach, war Zögling der Marineschule. Hierauf sprachen alle Damen mit Rührung über die Kinder. Nana erzählte mit großer Freude, ihr Söhnchen, der kleine Louis, sei jetzt bei ihrer Tante, die ihn jeden Morgen gegen elf Uhr zu ihr bringe; dann nehme sie ihn zu sich ins Bett, und er spiele dort mit ihrem Schoßhündchen Lulu. Man könne sich totlachen, die beiden Kleinen zu sehen, wie sie sich unter dem Deckbett versteckten. Man habe keine Vorstellung, wie gerieben der kleine Louis schon sei.

»Oh, gestern habe ich einen schönen Tag verlebt!« erzählte nun Rose Mignon. »Denken Sie, ich holte Charles und Henri aus ihrem Pensionat und mußte sie am Abend unbedingt ins Theater führen ... Sie sprangen umher, klatschten in die Händchen und riefen immer wieder: ,Wir werden Mama spielen sehen!' Oh, das war ein Leben, ein Lärm!« Mignon lächelte wohlgefällig; seine Augen waren feucht vor väterlicher Zärtlichkeit.

»Und bei der Aufführung«, setzte er die Erzählung seiner Frau fort, »waren sie so drollig, benahmen sich fast so ernst wie alte Leute und verschlangen Rose mit ihren Blicken, während sie mich fragten, warum denn Mama hier mit nackten Beinen umherlaufe ...«

Der ganze Tisch fing an zu lachen. Mignon triumphierte und sah sich in seinem Vaterstolz geschmeichelt. Er vergötterte die Kleinen und betrachtete es als seine Hauptaufgabe, ihr Vermögen dadurch zu vermehren, daß er das Geld, das Rose im Theater oder auf andere Weise verdiente, sorgfältig verwaltete. Als er sie geheiratet hatte, war er Orchesterchef in dem Konzertcafé, in dem sie sang; sie liebten einander leidenschaftlich, und noch heute fühlten sie zärtliche Freundschaft. Sie hatten folgendes Abkommen getroffen: sie arbeitete nach Kräften mit ihrem Talent und ihrer Schönheit; er hatte seine musikalische Laufbahn verlassen, um ihre Erfolge als Künstlerin und als Frau richtig verwerten zu können. Man hätte keine bessere Familie, keine ruhigere Ehe finden können.

»Wie alt ist Ihr Ältester?« fragte Vandeuvres.

»Henri ist neun Jahre alt«, antwortete Mignon. »Oh, aber ein lebhaftes Bürschchen!«

Hierauf machte er sich über Steiner lustig, der Kinder nicht gern hatte, und sagte ihm mit kühner Miene: wenn er selbst Familienvater wäre, würde er sein Vermögen weniger unnütz anwenden. Während er dies sagte, beobachtete Mignon den Bankier über Blanches Schultern hinweg, um zu sehen, ob sich dieser an Nana heranmache. Aber schon seit einigen Minuten ärgerte er sich über Rose, die mit Fauchery ganz in seiner Nähe zusammen kicherte. Er liebte es nicht, daß seine Frau ihre Zeit mit solchen Torheiten totschlug, und pflegte in derartigen Fällen rasch einzugreifen.

Inzwischen aß er mit seinen schönen Händen, die ein Diamant zierte, ein Stück Rehkeule auf.

Im übrigen drehte sich die Unterhaltung immer noch um die Kinder. Faloise, den Gagas Nähe etwas erregte, bat um Auskunft über ihre Tochter, die er im Varietétheater gesehen hatte. Lili befinde sich wohl, erzählte Gaga – sie sei noch zu backfischartig. Zu seinem Erstaunen erfuhr er, daß sie schon fast neunzehn Jahre alt war. Gaga gewann in seinen Augen immer größere Achtung, und da er gern wissen wollte, weshalb sie Lili nicht mitgebracht hatte, fragte er danach.

»O nein, nein, niemals führe ich sie in Gesellschaft!« sagte Gaga zimperlich. »Noch vor nicht ganz drei Monaten wollte sie durchaus das Pensionat verlassen ... Ich hatte schon die Absicht, sie sofort zu verheiraten. Aber sie liebt mich so sehr, und ach, ganz gegen meinen Willen habe ich sie bei mir behalten müssen.«

Ihre schwarzgefärbten Wimpern zuckten, während sie von der Heirat ihrer Tochter sprach. Eine günstige Verheiratung sei doch einmal das beste für ein Mädchen; denn obwohl sie noch immer sehr junge Verehrer besitze, deren Großmutter sie fast sein könnte, so wäre eine günstige Heirat doch wahrlich besser gewesen, denn sie habe sich trotz andauernder Arbeit nichts für ihr Alter ersparen können. Sie neigte sich jetzt zu Faloise hin, der unter der ihn fast erdrückenden massigen, entblößten und geschminkten Schulter errötete.

»Wissen Sie«, lispelte sie, »wenn sie dazu übergeht, so wird es nicht meine Schuld sein ... Aber man ist ja in der Jugend so komisch!«

An der Tafel herrschte ein lebhaftes Getriebe. Die Kellner eilten ab und zu. Bei dem leisen Geräusch des Servicewechsels fragte Georges, immer mehr erstaunt, seinen Freund Daguenet, ob auch alle jene Damen Kinder hätten, und dieser, den eine solche Frage belustigte, erzählte ihm verschiedene Einzelheiten. Lucy Stewart war die Tochter eines Wagenschmierers, der bei der Nordbahn angestellt war, sie war neunundvierzig Jahre alt, ein Trotzkopf, aber dennoch bewundernswert, schwindsüchtig und doch von zäher Lebenskraft. Die niedliche Caroline Héquet, in Bordeaux geboren, war die Tochter eines vor Gram gestorbenen kleinen Beamten, besaß aber glücklicherweise eine kluge Mutter, die sich nach einem Jahr mit ihr zurückgezogen hatte, um für sie wenigstens etwas Vermögen zu retten; die Tochter, fünfundzwanzig Jahre alt und äußerst kühl, galt für eines der schönsten Frauenzimmer, die man für einen bestimmten, freilich hohen Preis haben konnte; ihre ordnungsliebende Mutter führte über Einnahme und Ausgabe genau Buch, auch leitete sie den gesamten Haushalt in der engen Wohnung, die sie zwei Stockwerke höher innehatte, wo sie mehrere Näherinnen für Kleider und Wäsche beschäftigte. Blanche de Sivry, mit ihrem eigentlichen Namen Jacqueline Baudu, war aus einem Dorf in der Nähe von Amiens gebürtig; eine prächtige Erscheinung, nur etwas beschränkt und lügenhaft, behauptete sie, die Enkelin eines Generals zu sein, und wollte noch nicht dreißig Jahre zählen; wegen ihrer Wohlbeleibtheit gefiel sie besonders den Russen. Darauf fügte Daguenet schnell noch einige Bemerkungen über die anderen hinzu: Clarisse Besnus war als Dienstmädchen einer Dame von Saint-Aubin-sur-Mer hierhergekommen und dann von dem Gatten der Dame verführt worden. Simonne Cabiroche hatte als Tochter eines Möbelhändlers der Vorstadt Saint-Antoine ihre Erziehung in einem großen Pensionat erhalten, um Lehrerin zu werden; Marie Blond, Louise Violaine und Léa de Horn stammten sämtlich aus dem Proletariat der Stadt Paris, ohne Tatan Nénés zu gedenken, die bis zum Alter von zwanzig Jahren in der Champagne Kühe gehütet hatte.

Georges hörte, während er die Damen betrachtete, bestürzt und aufgeregt die nichts weniger als delikate Auseinandersetzung an, die ihm so unverhohlen mitgeteilt wurde.

Von den Kandelabern, den aufgetragenen Speisen, überhaupt von dem ganzen Tisch, an dem fünfunddreißig Personen dichtgedrängt saßen, strömte eine gewaltige Hitze aus; die Kellner liefen unachtsam über den Teppich, der mit Fettflecken besudelt wurde. Dennoch nahm das Souper seinen ungestörten Fortgang.

Der unverwüstliche Bordenave hatte die Beine behaglich ausgestreckt und ließ sich wie ein Pascha von seinen Nachbarinnen Lucy und Rose bedienen. Sie waren einzig und allein mit ihm beschäftigt und achteten mit zärtlicher Sorgfalt auf sein Glas und seinen Teller, was ihn aber keineswegs abhielt, sich zu beschweren. »Wer wird mir denn eigentlich mein Fleisch schneiden? Ich selber kann es nicht; der Tisch ist ja eine Meile von mir entfernt.« Alle Augenblicke stand Simonne auf und nahm hinter ihm Platz, um ihm Fleisch und Brot zu schneiden. Alle Damen nahmen Interesse daran, was er speiste. Man rief die Kellner und fütterte ihn, als ob man ihn ersticken wollte. Simonne hatte ihm den Mund abgewischt, während Rose und Lucy ein anderes Kuvert auftrugen.

Bordenave fand dies sehr zuvorkommend und geruhte endlich, sich zufrieden zu zeigen.

»Sieh, du hast recht, mein Mädel«, sagte er, zu Simonne gewandt, »ein Frauenzimmer ist eben doch zu nichts anderem da, als es uns Männern bequem zu machen.«

Nana, die sich über die mangelnde Heiterkeit ihrer Gäste ärgerte, hatte angefangen, sehr laut zu sprechen.

»Sie wissen wohl, daß der Prinz von Schottland schon eine Proszeniumsloge bestellt hat, um während seines Besuches der Ausstellung ›Die blonde Venus‹ zu sehen?«

»Hoffentlich werden alle Fürsten uns beehren«, versetzte Bordenave mit vollem Munde.

»Nächsten Sonntag erwartet man den Schah von Persien«, sagte Lucy Stewart.

Hierauf sprach Rose Mignon über die Diamanten des Schahs. Er trage, meinte sie, einen völlig mit Edelsteinen bedeckten Mantel, ein wahres Wunderwerk, einen strahlenden Stern, der Millionen repräsentiere. Und jene blassen Damen, deren Augen lüstern glänzten, sprachen von den anderen Königen und Kaisern, die man erwartete. Alle träumten von irgendeiner königlichen Laune, von einer Nacht, die mit einem Vermögen bezahlt werden würde.

Auch Gaga sprach von der Ausstellung; sie freute sich gleich allen anderen Damen ungeheuer darauf und bereitete sich vor in der Hoffnung, eine schöne Jahreszeit werde die Herrenwelt aus der Provinz und die Fremden in Scharen nach Paris locken. Kurz, wenn die Geschäfte gut gingen, so konnte sie sich vielleicht doch noch nach Juvisy zurückziehen, in eine kleine Villa, die sie schon längst im Auge hatte.

»Was wollen Sie?« sagte sie zu Faloise. »Man kommt eben zu nichts ... Ja, wenn man noch geliebt würde!«

Gaga wurde jetzt zärtlich, da sie gefühlt hatte, wie sich das Knie des jungen Mannes dem ihren genähert hatte. Sie schaute prüfend zu ihm auf. Faloise errötete lebhaft. Er war ein kleiner, schmächtiger Herr; aber sie war nicht wählerisch – und ohne Zögern drückte sie ihm ihre Karte in die Hand.

»Schauen Sie einmal«, flüsterte Vandeuvres Clarisse zu, »ich glaube gar, Gaga macht Ihnen Ihren Hector untreu.«

»Was frage ich danach!« versetzte die Schauspielerin. »Er ist ein schrecklicher Pinsel. Ich habe ihn schon dreimal zur Tür hinausgeworfen ... Es ist mir widerlich, wenn sich ein solch grüner Junge an ein altes Frauenzimmer heranmacht.«

Sie unterbrach sich, um mit einem flüchtigen Zeichen auf Blanche zu deuten, die schon seit Beginn der Tafel in einer höchst unbequemen gebeugten Stellung verharrte, um ihre Schultern dem alten vornehmen Herrn zu zeigen, der drei Plätze weit von ihr saß.

»Ei, ei, mir scheint, Sie kriegen auch den Laufpaß!« neckte sie ihren Nachbarn.

Vandeuvres lächelte und machte eine wegwerfende Handbewegung; ihm werde es sicherlich nicht einfallen, die arme Blanche an einem Erfolg zu hindern. Ihn interessierte weit mehr der Anblick, den Steiner dem ganzen Tische bot. Der Bankier war als schmachtender Liebhaber bekannt; alle Welt kannte diesen schrecklichen deutschen Juden, diesen Geschäftemacher, dessen Hände mit Millionen arbeiteten, der aber, sobald er es auf ein Frauenzimmer abgesehen hatte, sich als der größte Esel erwies. Trotzdem wünschte er jedes Frauenzimmer zu besitzen, und keine konnte er im Theater sehen, ohne daß er sie, und wenn sie noch so teuer war, erstand.

»Kinder«, rief Bordenave, »ihr wißt, daß wir morgen spielen! Traut euch nicht zu viel zu, vor allem nicht zuviel Champagner!«

»Ich«, sagte Foucarmont, »habe von allen Weinen getrunken, die es auf Gottes Erde gibt ... Oh, ganz außergewöhnliche Getränke! Von einem Alkoholgehalt, der den stärksten Mann umbringen könnte! Aber es hat mir nie etwas geschadet, und nie in meinem Leben bin ich berauscht gewesen. Ich habe es hier und da versucht, doch bin ich nicht soweit gekommen.«

Bleich gegen den Rücken seines Stuhles gelehnt, trank er unaufhörlich.

»Tut nichts«, murmelte Louise Violaine, »hör' auf, du hast genug... Es würde komisch aussehen, wenn ich dich für den Rest der Nacht hüten müßte.«

Ein leichter Rausch verursachte auf Lucy Stewarts Wangen eine hektische Röte, während Rose Mignons Augen in sentimentaler Zärtlichkeit erglühten. Tatan Néné lachte grundlos über ihre eigene Dummheit. Die übrigen, Blanche, Caroline, Simonne und Marie, sprachen miteinander, erzählten ihre kleinen Affären, die eine einen Streit mit ihrem Kutscher, die andere eine lustig verlaufene Landpartie; allerhand verzwickte Geschichten von geraubten und wiedererlangten Liebhabern kamen dabei zutage. Als indes ein junger Mann in Georges' Nähe Léa de Horn umarmen wollte, erhielt er einen derben Backenstreich mit der schnippischen Bemerkung: »Was wollen Sie denn von mir? Lassen Sie mich doch in Ruhe!« Georges, der schwer berauscht und durch Nanas Anblick äußerst erregt war, stand noch zögernd vor einem Gedanken, den er reiflich erwog: nämlich auf allen vieren unter den Tisch zu schleichen und sich wie ein kleiner Hund zu Nanas Füßen zu kauern. Niemand hätte ihn dort gesehen, und er wollte sich an diesem stillen Plätzchen ganz artig und ruhig verhalten.

Als hierauf Daguenet auf Léas Bitten den jungen Mann gebeten hatte, sich ruhig zu verhalten, fühlte sich Georges dadurch überaus gekränkt, gerade als ob man ihn selbst ausgescholten hätte. Daguenet jedoch belustigte sich an seiner Empfindlichkeit, zwang ihm ein großes Glas Wasser auf und fragte ihn, was er wohl anfangen würde, wenn er sich allein mit einer Dame befände, da ihn ja schon drei Gläser Champagner zu Boden warfen.

»Sehen Sie«, versetzte Foucarmont, »in der Habana bereitet man aus einer wilden Beere Branntwein; wenn man den Saft an die Lippen führt, so meint man, Feuer zu verschlingen. Nun, an einem Abend habe ich mehr als einen Liter davon getrunken, und es hat mir nichts geschadet ... An einem anderen Tage brauten uns die Wilden an der Coromandelküste noch ein viel stärkeres Gemisch von Pfeffer und Vitriol; auch dies hat mir nichts getan .... Ich kann nun einmal nicht betrunken werden.«

Seit kurzer Zeit erregte das Gesicht Faloises ihm gegenüber sein Mißfallen, und hohnlachend stieß er einige unliebsame Worte aus. Faloise, dem der Kopf schwindelte, bewegte sich unruhig hin und her und schloß sich fest an Gaga an. Jedoch etwas anderes hatte ihn völlig aufgeregt; man hatte ihm nämlich soeben sein Taschentuch weggenommen, und mit dem Starrsinn eines Trunkenen verlangte er es zurück, indem er seine Nachbarn fragte und sich bückte, um unter den Stühlen und den Füßen der Umstehenden Umschau zu halten. Als ihn Gaga zu beruhigen suchte, knurrte er:

»Das ist Unsinn; es trägt in der einen Ecke meinen Namenszug und meine Krone. Das kann mich kompromittieren.«

»Sagen Sie mir, Herr Falamoise, Lamafoise, Malafoise! ...« rief Foucarmont, der es sehr geistreich fand, auf diese Weise den Namen des jungen Mannes bis ins Unendliche zu entstellen.

Aber Faloise wurde zornig. Er sprach stotternd von seinen Vorfahren und drohte, Foucarmont eine Wasserflasche an den Kopf zu werfen. Der Graf Vandeuvres mußte sich ins Mittel legen und ihm versichern, Foucarmont sei ein unschuldiger Spaßvogel. In der Tat lachte jedermann über sein Benehmen. Dies brachte den verwirrten jungen Mann, der sich jetzt gern wieder ducken wollte, ganz aus der Fassung, und als ihm sein Vetter laut befahl zu essen, aß er mit kindlichem Gehorsam. Gaga hatte ihn wieder zu sich gerufen, und nur von Zeit zu Zeit warf er mißtrauische Blicke auf die Gesellschaft, als suche er noch immer nach seinem Taschentuch.

Nun griff Foucarmont, einer plötzlichen Laune folgend, Labordette an, obwohl dieser ihm gegenüber am anderen Ende der Tafel saß. Louise Violaine suchte ihn zum Schweigen zu bringen, weil es für sie stets verhängnisvoll endete, wenn er sich so mit anderen stritt. Er fand jetzt ein Vergnügen daran, Labordette mit »Madame« anzureden; und dieser Einfall schien ihm außerordentlich zu behagen, so daß er ihn wiederholt anbrachte, während Labordette ruhig mit den Achseln zuckte und sagte:

»Halten Sie doch Ihre Zunge im Zaum, mein lieber Foucarmont! Was Sie da schwatzen, ist wirklich zu dumm!«

Da aber Foucarmont fortfuhr und sich sogar zu Beleidigungen verstieg, antwortete er ihm nicht mehr, sondern wendete sich an den Grafen Vandeuvres:

»Mein Herr, bitte, bringen Sie Ihren Freund zum Schweigen ... Ich will mich nicht aufregen.«

Schon zweimal hatte Labordette sich geschlagen. Man respektierte ihn und ließ ihn überall in Ruhe. Jedermann lehnte sich jetzt auf gegen Foucarmonts Benehmen. Man fand ihn wohl heiter und geistreich; allein das war noch kein Grund, sich von ihm die Nacht verderben zu lassen. Vandeuvres, dessen feines Gesicht sich kupferrot färbte, verlangte von Foucarmont, er solle Labordette sein Geschlecht zurückgeben. Die anderen Herren, Mignon, Steiner, Bordenave, legten sich ins Mittel und übertönten nach Möglichkeit seine Stimme. Nur der alte Herr bei Nana, den man ganz vergessen hatte, bewahrte seine vornehme Haltung, sein mattes, stummes Lächeln, während er mit seinen blassen Augen der allgemeinen Verwirrung, die beim Nachtisch herrschte, folgte.

»Mein Schätzchen, wie wäre es, wenn wir unseren Kaffee hier einnähmen?« fragte Bordenave.

Nana antwortete nicht sogleich, sie schien überhaupt seit Beginn des Soupers wie abwesend. Ihre Gäste waren in unverhofft großer Zahl erschienen und hatten sie durch das laute Rufen nach den Kellnern, durch ihre geräuschvolle Unterhaltung sowie dadurch, daß sie sich's wie in einem Gasthause bequem machten, förmlich erbittert.

»Mein Schätzchen«, begann Bordenave wieder, »laß doch den Kaffee hier servieren. Dies ist mir lieber wegen meines Beines.« Aber Nana erhob sich rasch und sagte Steiner und dem alten Herrn zu deren großer Bestürzung ins Ohr:

»Na, mir soll's noch einmal einfallen, eine solche Gesellschaft einzuladen.«

Darauf deutete sie nach der Tür des Speisezimmers und fügte laut hinzu:

»Wenn Sie Kaffee wünschen, so finden Sie ihn dort.«

Alles verließ die Tafel und drängte nach dem Speisesaal, ohne Nanas Zorn zu bemerken. Und bald blieb niemand mehr im Saal übrig als Bordenave, der, sich an den Wänden stützend, sich vorsichtig bewegte und auf die verwünschten Weiber fluchte, die jetzt nicht mehr nach ihrem Papa fragten. Hinter ihnen deckten unter den lauten Anweisungen des Hotelwirts die Kellner schon die Tafel ab. In eiligem Drängen ließen sie den Tisch gleichsam verschwinden wie eine Feeriedekoration auf das Signal des Maschinenmeisters. Die Damen und Herren sollten nach eingenommenem Kaffee wieder in den Salon zurückkehren.

»Sapperment, hier ist es lange nicht so warm«, sagte Gaga unter leichtem Frösteln, als sie den Speisesaal betrat.

Das Fenster in diesem Zimmer war aufgeblieben. Zwei Lampen erleuchteten den Tisch, auf dem der Kaffee nebst Biskuit serviert war. Stühle waren nicht vorhanden, daher trank man den Kaffee stehend, während das Geräusch der Kellner im Nebenzimmer noch stärker vernehmbar wurde. Nana war verschwunden, doch beunruhigte sich niemand über ihre Abwesenheit. Man konnte sie auch entbehren, da jeder sich selbst bediente und in den Schubkästen im Büfett herumwühlte, um die fehlenden Teelöffel zu suchen. Es hatten sich verschiedene Gruppen gebildet; Personen, die während des Soupers getrennt gesessen hatten, gingen zueinander, und unter vielsagendem Lächeln wurden Blicke gewechselt und kurze Worte ausgetauscht, die das allgemeine Urteil über das Souper genugsam aussprachen.

»Nicht wahr, Auguste«, sagte Rose Mignon, »Herr Fauchery soll doch nächstens einmal zu uns zum Frühstück kommen?«

Mignon, der gerade mit seiner Uhrkette spielte, betrachtete den Journalisten einen Augenblick mit strengen Augen. Rose war töricht; als guter Hausverwalter mußte er Ordnung in diese Verschwendung bringen. Wegen eines Artikels etwa, gut; aber dann nichts mehr. Da er jedoch seine Frau kannte und gewohnt war, ihr väterlich eine kleine Torheit zu erlauben, antwortete er liebenswürdig:

»Gewiß, ich werde mich sehr glücklich schätzen ... Kommen Sie doch morgen, Fauchery!«

Lucy Stewart, die noch mit Steiner und Blanche sprach, hörte diese Einladung. Mit halblauter Stimme sagte sie zu dem Bankier:

»Sie sind alle wie närrisch auf mich! Eins von den Frauenzimmern hat mir alles gestohlen, sogar meinen Hund ... Ei, mein Lieber, ist es denn meine Schuld, wenn Sie Rose im Stich lassen?«

Rose wandte sich um. Langsam schlürfte sie ihren Kaffee und sah Steiner fest an; der ganze Zorn über ihre Verlassenheit flammte in ihren Augen auf. Sie blickte tiefer als Mignon; es war töricht, eine ähnliche Affäre wie mit Jonquier wieder in Szene setzen zu wollen; etwas Derartiges glückte nicht zweimal. Um so schlimmer! So wollte sie wenigstens Fauchery haben, der schon seit dem Souper ihren Geist beschäftigte, und wenn Mignon damit nicht zufrieden war, so würde es ihm mindestens eine heilsame Lehre sein!

»Sie werden sich doch nicht etwa mit Rose in die Haare geraten?« fragte Vandeuvres jetzt Lucy Stewart.

»Nein, fürchten Sie das nicht! Nur wenn sie sich nicht mucksstill verhalten sollte, könnte ich ihr zeigen, was es heißt, mir ins Gehege zu kommen!«

Und indem sie Fauchery mit einer gebietenden Bewegung zu sich winkte, rief sie:

»Kerlchen, ich habe deine Pantoffeln noch bei mir, soll ich sie morgen zu deinem Hausmeister schicken?«

Er wollte sich einen Scherz erlauben, jedoch sie entfernte sich mit stolzer Miene. Clarisse, die sich mit dem Rücken an die Wand gelehnt hatte, um in Ruhe ihr Glas Kirschlikör zu trinken, zuckte mit den Achseln. So viel Gerede wegen eines Mannsbildes! Von dem Augenblick an, wo zwei Frauensleute sich mit ihren Liebhabern zusammenfanden, war es doch immer der erste Gedanke, sie sich streitig zu machen! Wenn sie auch so sein wollte, so hätte sie Gagas wegen Hector längst die Augen auskratzen müssen. Aber wozu? Sie fragte den Geier nach den Mannsleuten! Als darauf Faloise bei ihr vorüberging, sagte sie ihm nur: »Höre einmal, hast du denn wirklich alte Äpfel so gern? Für dich müssen sie, scheint mir, nicht bloß reif, nein, schon angefault sein.«

Faloise schien betroffen und blieb unruhig stehen. Als er sah, wie Clarisse sich über ihn lustig machte, faßte er Argwohn.

»Nur keine Dummheiten!« murmelte er. »Kein anderer als du hat mir mein Taschentuch genommen; gib mir mein Taschentuch zurück!«

»Wie der uns mit seinem Taschentuch langweilt!« rief sie. »Höre, du Dummkopf, warum soll ich es dir denn genommen haben?«

»Hm«, sagte er mißtrauisch, »um es meiner Familie zu schicken und mich damit zu kompromittieren.«

Indessen hielt sich Foucarmont wacker an die Liköre. Er setzte sein höhnisches Grinsen fort, wenn er Labordette ansah, der mitten unter den Dämchen seinen Kaffee trank. Zugleich ließ er verschiedene anzügliche Bemerkungen fallen und sprach von ihm als dem Sohn eines Pferdehändlers; manche Leute meinten zwar, er sei der Bastard einer Gräfin; indes habe er keine Revenüen und dennoch immer fünfundzwanzig Louisdor in der Tasche, ein Weiberknecht, ein Bruder Lustig, der niemals in seinem Bette schlafe.

»Niemals! Niemals!« wiederholte er zornig. »Nein, ich kann mir nicht helfen! Ich muß ihn züchtigen.«

Er leerte ein Gläschen Chartreuse. »Nicht so viel«, sagte er und knipste mit dem Daumennagel an der oberen Zahnreihe. Aber plötzlich, in dem Augenblick, wo er auf Labordette zuging, wurde er bleich und sank wie eine unbeholfene Masse vor dem Büffet nieder. Er war sinnlos betrunken. Louise Violaine war außer sich. Sie hatte es ja gesagt, daß es übel enden werde, denn nun hatte sie für den Rest der Nacht über ihn zu wachen. Gaga beruhigte sie, indem sie den Offizier mit dem Blick einer erfahrenen Frau untersuchte und erklärte, es sei nichts zu befürchten, der Herr werde in diesem Zustande ungefähr zwölf bis achtzehn Stunden schlafen. Daraufhin trug man Foucarmont hinaus.

»Ei, wo ist denn Nana hingekommen?« fragte Vandeuvres.

Ja, sie war in der Tat verschwunden, seitdem sie von der Tafel aufgestanden war. Jetzt erst erinnerte man sich ihrer, und nun fragte jedermann nach ihr. Steiner, der seit kurzer Zeit verdrossen war, befragte Vandeuvres über den alten Herrn, der ebenfalls verschwunden war. Allein der Graf tröstete ihn, da er den Alten soeben nach Hause geführt habe; eine fremde Persönlichkeit, deren Namen zu nennen unnötig sei, ein sehr reicher Mann, der schon zufrieden sei, wenn er die Soupers bezahlen dürfe. Nachdem man jetzt Nana wieder vergessen hatte, bemerkte Vandeuvres, wie Daguenet den Kopf durch eine Tür steckte und ihn durch ein Zeichen zu sich rief. In dem Schlafzimmer fand er nun die Herrin des Hauses starr, mit blassen Lippen sitzen, während Daguenet und Georges sie bestürzt betrachteten.

»Was ist Ihnen denn?« fragte er erstaunt.

Sie antwortete nicht, wandte nicht einmal den Kopf nach ihm. »Ich will nicht«, rief sie endlich, »daß man mich zum Narren hält!«

Hierauf ließ sie ihren Worten freien Lauf. Ja, ja, meinte sie, sie sei nicht dumm, sie merke wohl die Absicht! Während des Soupers habe man nicht nach ihr gefragt, habe allerlei schändliche Dinge erzählt, um der Verachtung gegen sie Ausdruck zu geben. Eine Menge unordentlicher Weibsbilder, die ihr nicht das Wasser reichten, seien zugegen. Sie wolle sich darüber nicht länger Kopfzerbrechen bereiten und wisse nicht, was sie hindere, die ganze schmutzige Gesellschaft zur Tür hinauszuwerfen. Und vor Wut fast erstickend, brach sie in Tränen aus.

»Aber sieh doch, mein Kind, du bist ja berauscht«, sagte Vandeuvres, der sie zu duzen anfing. »Du mußt Vernunft annehmen.«

Sie wollte aber kein Wort hören; sie bilde sich nichts ein, sondern wisse recht gut, was die Dirnen wollten.

»Mag ja sein, daß ich berauscht bin!« schrie sie. »Aber trotzdem erhebe ich Anspruch darauf, als Herrin des Hauses respektiert zu werden!«

Schon seit einer Viertelstunde baten Daguenet und Georges sie vergebens, doch wieder in den Speisesaal zu kommen. Sie aber meinte trotzig, ihre Gäste könnten ja tun, was sie wollten; sie verachte sie zu sehr, um wieder zu ihnen zurückzukehren. Niemals, niemals! Man habe sie derart behandelt, daß sie jetzt in ihrem Zimmer bleiben wolle.

»Ich hätte es voraussehen sollen«, fuhr sie fort. »Einzig und allein jene verwünschte Rose hat das Komplott geschmiedet. So wird sie auch sicherlich die einzige anständige Dame, die ich heute abend erwartete, davon abgehalten haben, zu kommen.«

Sie sprach von Madame Robert. Vandeuvres versicherte auf Ehrenwort, daß Madame Robert die Einladung selbst abgeschlagen habe. Da er an derartige Auftritte gewöhnt war und wußte, wie man Damen in diesem Zustand zu behandeln hatte, hörte er gelassen zu und erörterte die Sache. Allein sobald er ihre Hände zu fassen suchte, um sie vom Stuhle aufzuheben und mit sich fortzuziehen, riß sie sich doppelt zornig los. Bestimmt, man werde ihr nie einreden, daß Fauchery an dem Nichterscheinen des Grafen Muffat keine Schuld trage. Eine wahre Schlange, dieser Fauchery; ein neidischer Mensch, fähig, in seinem Zorn gegen eine Frau deren Glück zu zerstören! Denn nun wisse sie es, daß der Graf in sie verliebt sei und daß sie ihn hätte haben können.

»Ihn, meine Liebe, nie!« rief Vandeuvres lachend, indem er sich vergaß.

»Warum denn nicht?« fragte sie aufhorchend und etwas nüchtern geworden.

»Weil er der Kirche ergeben ist, weil er, wenn er Sie nur mit einem Finger anrührte, am nächsten Tage beichten würde. Hören Sie einen guten Rat! Lassen Sie den anderen nicht entschlüpfen!«

Einen Augenblick verharrte sie in nachdenklichem Schweigen. Dann stand sie auf und wusch sich die Augen. Und dennoch, als man sie in den Speisesaal führen wollte, sträubte sie sich immer noch heftig. Vandeuvres verließ lächelnd das Zimmer, ohne weiter in sie zu dringen. Sobald er fort war, trat bei ihr ein Zustand der Rührung ein, und sie sank Daguenet in die Arme; sie stammelte:

»Ach, mein Mimi, du bist mein alles ... Ich liebe dich, komm, ich liebe dich sehr! ... Es wäre doch zu schön, wenn wir immer zusammen sein könnten! Mein Gott, wie unglücklich doch wir Frauen sind!«

Als sie hierauf bemerkte, wie Georges bei dieser Umarmungsszene errötete, umarmte sie ihn ebenfalls. Auf ein Kind konnte Mimi doch nicht eifersüchtig sein! Sie wünschte, Paul und Georges möchten stets einig sein, weil es so nett sei, wenn sie alle drei in dieser Weise in gemeinsamer Liebe beisammen bleiben könnten. Aus diesen süßen Betrachtungen störte sie ein sonderbares Geräusch: es schnarchte jemand im Zimmer. Als sie suchten, entdeckten sie Bordenave, der nach dem Kaffee es sich hier bequem gemacht zu haben schien. Er schlief lang ausgestreckt auf zwei Stühlen, während sein ehrsames Haupt auf dem Rande des Bettes ruhte. Nana fand ihn, wie er mit offenem Munde dalag, während die Nase bei jedem schnarchenden Atemzuge hin und herwackelte, so ergötzlich, daß sie in ein tolles Lachen ausbrach. Von Daguenet und Georges gefolgt, verließ sie das Zimmer, ging durch den Speisesaal in den Salon und lachte dort noch viel stärker.

»Oh, meine Teure«, sagte sie, auf Rose zueilend und sie umarmend, »Sie haben gewiß keine Ahnung, was es dort drinnen zu sehen gibt; kommen Sie mit mir, kommen Sie!«

Alle Damen mußten sie begleiten; sie drückte Rose zärtlich die Hand und führte sie in so ungezwungener Heiterkeit mit sich, daß alle schon jetzt lachen mußten. Die Gesellschaft verschwand und kehrte, nachdem sie eine Minute lang den gleich einem Bürgermeister auf seinen Sesseln ruhenden Bordenave mit angehaltenem Atem umstanden hatten, zurück. Jetzt brach ein Sturm des Gelächters los. Als auf den Wink einer Dame auf einen Augenblick Stille eintrat, hörte man von ferne das Schnarchen Bordenaves. Es war nahezu vier Uhr. Im Speisezimmer war eben ein Spieltisch arrangiert worden, an dem Vandeuvres, Steiner, Mignon und Labordette Platz genommen hatten. Hinter ihnen standen Lucy und Caroline und wetteten, während Blanche schläfrig und mißvergnügt über diese Nacht alle fünf Minuten Vandeuvres fragte, ob sie nicht bald gingen. Im Salon versuchte man ein Tänzchen. Daguenet saß am Piano, »an der Kommode«, wie Nana sagte, und spielte Walzer und Polka, soviel man wünschte. Allein der Tanz stockte, und die Damen unterhielten sich schlaftrunken auf den Sofas. Auf einmal entstand ein Lärm; elf junge Leute, die plötzlich zusammen ankamen, lachten sehr laut im Vorzimmer und drängten einander an die Salontür; sie kamen vom Ball beim Minister des Innern zurück, in Frack und weißer Krawatte. Nana, ärgerlich über dieses lärmende Verhalten, befahl den in der Küche gebliebenen Kellnern, diesen Herren die Tür zu weisen, indem sie beteuerte, sie niemals gesehen zu haben. Fauchery, Labordette, Daguenet und die anderen geladenen Herren schickten sich ebenfalls an, der Dame des Hauses Respekt zu verschaffen. Heftige Worte wurden gewechselt, und schon erhoben sich verschiedene Arme, so daß man jeden Augenblick Tätlichkeiten befürchten konnte. Indessen sagte jetzt ein kleiner, blonder Herr mit kränklichem Gesichtsausdruck, indem er die einzelnen Worte nachdrücklich betonte:

»Aber Nana, neulich abends waren wir doch zusammen bei Peters im großen, roten Saal ... Erinnern Sie sich doch! Dort haben Sie uns eingeladen.«

»Neulich abends bei Peters?« Sie erinnerte sich durchaus nicht. »An welchem Abend denn?« Und als der kleine Blonde ihr den Tag als Mittwoch bezeichnet hatte, erinnerte sie sich wohl, eines Mittwochs bei Peters soupiert zu haben; allein sie hatte niemanden eingeladen, dessen war sie ziemlich sicher.

»Ja, mein Kind, wenn du sie eingeladen hast ...« murmelte Labordette, der die Glaubwürdigkeit von Nanas Äußerung zu bezweifeln anfing. »Du warst vielleicht recht gut gelaunt.«

Da begann Nana zu lachen, es konnte ja sein, aber sie wußte es nicht mehr. Kurz, da die Herren nun da waren, mochten sie eintreten. Jedermann richtete sich ein, mehrere der Neuangekommenen fanden Freunde im Salon, und so endete der ärgerliche Auftritt mit herzlichem Händedrücken. Der kleine Blonde mit dem kränklichen Gesicht trug einen hohen Namen Frankreichs. Übrigens kündigten sie an, es würden ihnen noch andere folgen, und in der Tat öffnete sich die Tür jeden Augenblick und Herren in weißen Handschuhen und mit strammer Haltung stellten sich vor. Auch sie kamen noch vom Ministerball. Fauchery fragte scherzend, ob der Herr Minister nicht auch kommen werde; Nana jedoch antwortete pikiert, der Minister verkehre mit Personen, die lange nicht so viel wert seien wie sie. Was sie indessen nicht aussprach, war eine leise Hoffnung, die sie nährte: unter diesem neuen Zuge von Gästen den Grafen Muffat zu erblicken, der sich möglicherweise eines Besseren besonnen hatte. Während sie sich mit Rose unterhielt, ließ sie die Tür nicht aus den Augen.

Man kam fast um vor Langeweile und wußte nicht mehr, was man vornehmen sollte, um Heiterkeit in die Gesellschaft zu bringen und den Abend in toller Laune zu beendigen. Labordette dachte einen Augenblick daran, dem noch immer sein Taschentuch suchenden Faloise sämtliche Frauenspersonen auf den Hals zu hetzen. Aber da noch Champagner auf dem Büfett stehen geblieben war, hatten die jungen Herren wieder angefangen zu trinken. Sie forderten einander durch laute Zurufe dazu auf; aber nur eine dumpfe, geistlose Trunkenheit griff im Saal Platz. Da nahm der kleine Blonde mit dem hohen Namen, aus Verzweiflung darüber, daß er nichts Gescheites vorbringen konnte, seine Flasche Champagner und goß ihren Inhalt ins Piano, worüber sich die anderen Herren halb totlachten.

»Ei seht doch!« rief erstaunt Tatan Néné, die ihm zugesehen hatte. »Warum gießt er denn Champagner ins Piano?«

»Aber, mein Schätzchen, das weißt du noch nicht?« erwiderte Labordette ernst. »Nichts ist für die Pianos so gut wie Champagner; Champagner gibt ihnen einen guten Ton.«

»Ah!« murmelte Néné, von der Wahrheit dieser Worte überzeugt. Und weil man darüber lachte, wurde sie böse. Sie wußte doch nichts von solchen Sachen. Man foppte sie doch stets!

Entschieden war jetzt die Laune verdorben, und die Nacht drohte ganz unbehaglich zu werden. In einer Ecke hatte Marie Blond Léa de Horn beim Kragen, der sie vorwarf, sie lasse sich nur von unbemittelten Herren besuchen; sie wurden sogar sehr grob und sagten sich Sottisen über das Aussehen ihres Gesichts. Die häßliche Lucy brachte sie zum Schweigen; das Gesicht sei nicht maßgebend; man müsse nur schön gebaut sein. Ein wenig entfernt von ihnen hatte ein Gesandtschaftsattaché Simonne mit einem Arm umfaßt und suchte sie zu küssen; Simonne jedoch, die müde und verdrießlich war, stieß ihn jedesmal mit den Worten zurück: »Du bist unausstehlich!«, wobei sie ihn zugleich mit dem Fächer ins Gesicht schlug. Übrigens wollte keine der Damen sich anrühren lassen; hielt man sie etwa für Dirnen? Gaga indes hatte Faloise wieder erwischt und hielt ihn fast auf ihrem Schoß, während Clarisse zwischen zwei Herren beinahe verschwand und von einem fieberhaften Lachen geschüttelt wurde. Am Piano nahm das tolle, einfältige Spiel seinen Fortgang; man stieß sich hin und her, da jeder jetzt seine Champagnerneige in das Piano schütten wollte. Das war einfach und nobel. »Da, Alterchen, trink' einen Schluck ... Sapperment, hat der Klimperkasten einen Durst! ... Achtung, hier ist noch eine Portion! Es darf nichts verlorengehen.«

Nana kehrte ihnen den Rücken zu und sah nichts von dem Unfug. Sie beschäftigte sich ganz mit dem dicken Steiner, der bei ihr saß. Schlimm genug! Und daran war lediglich Muffat schuld, der nicht gewollt hatte. Ihr dünnes, enganliegendes Seidenkleid war jetzt ganz zerknüllt; angetrunken, gab sie sich nun, wie sie war. Ihr Gesicht bedeckte fahle Blässe; ihre Augenlider sanken schlaff hernieder; die Rosen in ihrem Haar und an ihrem Mieder waren entblättert, und nur die Stiele waren noch übrig. Steiner zog hastig die Hand von ihrem Unterkleid zurück, wo er soeben mit den von Georges befestigten Stecknadeln in Kollision geraten war. Es zeigten sich einige Blutstropfen an seinen Fingern, und einer davon fiel auf Nanas Kleid und befleckte es.

»So, jetzt ist es besiegelt«, meinte Nana ernst.

Der Tag schritt vor, und eine trübe Helligkeit schimmerte durch die Fenster. Jetzt rüstete man zum Aufbruch ... ein wildes Durcheinander, Unbehagen und Ernüchterung, das war der vorherrschende Eindruck. Caroline Héquet, ärgerlich über eine verlorene Nacht, meinte, es sei Zeit, fortzugehen, wenn man nicht unschöne Szenen erleben wolle. Rose zog ein schiefes Gesicht wie eine im Stich gelassene Frau; es war dies ja immer so mit diesen Mädchen! Sie wußten sich nicht zu benehmen und zeigten sich stets abgeschmackt und albern in ihrem Auftreten. Mignon ging ebenfalls, nachdem er Vandeuvres vollends gerupft hatte, ohne sich weiter um Steiner zu kümmern und nachdem er Fauchery nochmals für den nächsten Tag eingeladen hatte. Lucy weigerte sich, die Begleitung des Journalisten anzunehmen, und wies ihn ganz laut an seine Schauspielerin. Rose, die sich umgedreht hatte, antwortete ihr mit einem zwischen den Zähnen gebrummten »dumme Gans«. Allein schon hatte Mignon, der sich in Weiberstreitigkeiten als erfahrener und überlegener Vater zeigte, sie vor sich hinausgedrängt und bat sie, Schluß zu machen. Hinter ihnen stieg Lucy ganz allein stolz die Treppe hinab. Hierauf kam Gaga, die Herrn Faloise führen mußte, dem es so übel war, daß er wie ein Kind weinte und nach Clarisse rief, die jedoch schon längst mit ihren beiden Herren verschwunden war. Auch Simonne war nicht mehr zu sehen, und es blieben nur Tatan, Léa und Marie übrig, die der gefällige Labordette begleiten wollte.

»Ich fühle durchaus kein Bedürfnis zu schlafen!« wiederholte Nana. »Man sollte eigentlich noch irgend etwas beginnen.«

Durch das Fenster schaute sie nach dem bleifarbenen Himmel, an dem düstere Wolken hinzogen. Es war sechs Uhr, und gegenüber, auf der anderen Seite des Boulevard Haussmann, ragten die feuchten Dächer der noch schlafumfangenen Häuser im undeutlichen Tageslicht empor. Auf der einsamen Straße zog ein Trupp Straßenkehrer geräuschvoll in Holzschuhen vorüber. Und vor diesem düsteren Bilde des erwachenden Paris fühlte sie sich gerührt wie ein junges Mädchen und sehnte sich nach einem lieblichen, idyllischen Landleben.

»Oh, wissen Sie, was wir tun wollen?« sagte sie, als sie zu Steiner zurückkehrte. »Sie führen mich nach dem Bois de Boulogne, wo wir zusammen Milch trinken wollen.«

Mit kindlicher Freude klatschte sie in die Hände, und ohne die Antwort des Bankiers abzuwarten, der natürlich einwilligte, wiewohl er sich im Grunde genommen darüber ärgerte, weil er an andere Dinge dachte, warf sie eilig einen Pelzmantel um die Schultern. Im Salon befand sich außer Steiner nur noch die Gesellschaft der jungen Herren; allein auch diese, nachdem sie allen Champagner in das Piano geschüttet hatten, sprachen vom Fortgehen, als einer von ihnen mit triumphierender Miene herbeieilte und noch eine Flasche in der Hand hielt, die er aus der Speisekammer brachte.

»Halt, halt!« rief er. »Eine Flasche Chartreuse! Ha, Chartreuse fehlte dem Kasten noch! Das wird ihn wieder in Ordnung bringen ... Und nun, Kinder, wollen wir gehen! Wir sind doch wirklich rechte Dummköpfe.«

Im Ankleidezimmer mußte Nana Zoé wecken, die auf einem Stuhl eingeschlafen war. Die Gasflammen brannten noch, und frostzitternd war Zoé ihrer Herrin beim Hutaufsetzen und Anziehen des Pelzmantels behilflich.

»Endlich ist es soweit, ich habe getan, was du wolltest«, sagte Nana in plötzlicher Vertraulichkeit aus Freude über den gefaßten Entschluß. »Du hattest recht, der Bankier ist ebenso gut wie ein anderer.«

Die gute Zoé war noch übelgelaunt und murmelte, Madame hätte sich schon am ersten Abend entscheiden sollen. Als sie ihr darauf in das Zimmer folgte, fragte sie, was sie mit jenen beiden machen sollte. Bordenave schnarchte noch immer, und Georges, der sein Haupt in ein Kopfkissen versenkt hatte, war endlich auch eingeschlafen wie ein unschuldiges Kind. Nana erwiderte, man solle sie schlafen lassen. Dann wurde sie wieder von Rührung übermannt, als sie Daguenet, der in der Küche auf sie gewartet hatte, mit traurigen Blicken hereinkommen sah.

»Nun, mein Mimi, sei vernünftig!« sagte sie, schloß ihn in ihre Arme und küßte ihn schmeichelnd. »Es hat sich nichts geändert; du weißt, daß ich stets nur meinen Mimi verehre, nicht wahr? Das andere mußte ja sein ... Ich schwöre dir, es wird dann noch viel schöner sein. Komm morgen, dann werden wir uns über die Stunden besprechen, in denen wir uns sehen können. Schnell, umarme mich, wenn du mich liebst ... Oh, stärker, ich bitte dich, stärker!«

Sie eilte darauf voller Freude über ihren Gedanken an das Milchtrinken hinaus zu Steiner. In der nunmehr leeren Wohnung verblieben nur der Graf Vandeuvres und ein dekorierter dicker Herr; beide saßen wie angeschmiedet am Spieltisch und wußten nicht mehr, wo sie waren, da sie das Tageslicht nicht sahen, während Blanche auf einem Sofa zu schlafen suchte.

»Ah, Blanche, noch da?« rief Nana. »Wir gehen Milch trinken, Mädchen! Kommen Sie doch, Sie werden bei Ihrer Rückkehr Vandeuvres noch hier finden!«

Träge erhob sich Blanche.

Diesmal erblaßte das rote Gesicht des Bankiers vor Erbitterung bei dem Gedanken, dieses dicke Mädchen mitnehmen zu sollen, das ihm unbequem sein würde. Allein schon hielten ihn die beiden Damen fest und wiederholten:

»Kommen Sie, Bankier, die Kuh muß vor unseren Augen gemolken werden!«


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