Emile Zola
Nana
Emile Zola

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Achtes Kaptiel

Auf dem Montmartre, Rue Véron, in einer kleinen Wohnung des vierten Stockes, wohnten Nana und Fontan. Heute hatten sie mehrere Freunde zum Dreikönigskuchen eingeladen. Sie hielten ihren Einzugsschmaus, da sie die Wohnung erst seit drei Tagen innehatten.

Es war schnell gegangen, ohne bestimmten, vorher gefaßten Plan; nun befanden sie sich im ersten Feuer der Flitterwochen. Am Tage nach ihrem dummen Streich, als sie den Grafen und den Bankier zur Tür hinausgeworfen hatte, sah Nana all ihren Glanz zusammenbrechen. Mit einem Blick überschaute sie die Situation: die Gläubiger drängten sich in ihr Wohnzimmer, mischten sich in ihre intimsten Angelegenheiten und sprachen davon, alles zu verkaufen, wenn Nana der Vernunft kein Gehör schenke; um allem Streit und Zank über ihre paar Möbel die Spitze abzubrechen, zog sie es vor, alles im Stich zu lassen. Ihre Wohnung am Boulevard Haussmann gefiel ihr überhaupt nicht mehr wegen der hohen, vergoldeten Zimmer. In ihrer plötzlichen Liebe zu Fontan träumte sie von einem kleinen, hellen Stübchen; sie kam wieder auf ihr altes Ideal zurück, das ihr als Blumenbinderin vorgeschwebt hatte: sich im Besitz eines Spiegelschranks aus Palisanderholz und eines mit blauem Rips überzogenen Bettes zu sehen. In zwei Tagen verkaufte sie unter der Hand so viel Nippsachen und Schmuckgegenstände wie nur möglich und verschwand spurlos mit ungefähr zehntausend Franken, ohne der Hausmeisterin auch nur ein Wort zu sagen. Auf diese Weise würden die Männer sie nicht verfolgen können! Fontan war sehr artig; er ließ sie nach Belieben gewähren. Er handelte sogar wie ein guter Kollege. Seinerseits besaß er gegen siebentausend Franken, die er ihren zehntausend beifügen wollte, wiewohl er als Geizhals verschrien war. Diese Summe erschien ihm genügend zur Gründung eines soliden Hausstandes. So gingen sie von dort weg, beladen mit ihren gemeinsamen Schätzen, mieteten und möblierten die beiden Zimmer in der Rue Véron und teilten wie alte Freunde.

In der ersten Zeit ging alles prächtig.

Am Dreikönigsabend stellte sich als erster Gast Madame Lerat mit dem kleinen Louis ein. Da Fontan noch nicht zu Hause war, wagte sie es, Befürchtungen für die Zukunft ihrer Nichte auszusprechen, denn sie zitterte bei dem Gedanken, daß Nana ihrem Glück entsagen wollte.

»Oh, Tante, ich liebe ihn so sehr!« rief Nana und preßte beide Hände an die Brust.

Diese Worte wirkten außerordentlich auf Madame Lerat, so daß ihr die Augen übergingen.

»Es ist wahr«, sagte sie in überzeugungsvollem Tone, »die Liebe geht über alles!«

Dann freute sie sich über die Sauberkeit der Zimmer. Nana zeigte ihr das Wohnzimmer, das Eßzimmer, sogar die Küche. Die Wohnung war freilich nicht groß, aber recht freundlich; sie hatten sie neu tapezieren und malen lassen, und die Sonne schien hell zu den Fenstern herein.

Madame Lerat hielt die junge Frau im Wohnzimmer zurück, während Louis in der Küche blieb, um ein Hühnchen braten zu sehen. Wenn sie sich Bemerkungen erlaube, meinte sie, so betreffe dies besonders die Abwesenheit Zoés. Zoé halte mit Ergebenheit gegen ihre Herrin wacker in der mißlichen Lage aus. Madame, denke sie, werde schon später einmal bezahlen, sie sei gar nicht besorgt darum. Bei der allgemeinen Verwirrung in der Wohnung im Boulevard Haussmann hatte sie den Gläubigern die Spitze geboten und für einen ehrenvollen Rückzug gesorgt, indem sie bei guter Zeit verschiedene Dinge auf die Seite brachte und vorgab, Madame wolle verreisen, ohne aber jemals ihre Adresse zu sagen. Aus Furcht, verfolgt zu werden, beraube sie sich sogar des Vergnügens, ihre Herrin zu besuchen. An diesem Morgen indes war sie zu Madame Lerat geeilt, weil sich etwas Neues ereignet hatte. Am Abend vorher waren nämlich die Gläubiger, der Tapezierer, der Kohlenhändler und die Wäscherin, gekommen und hatten sich zu einem Aufschubtermin erboten, ja sie wollten sogar Madame eine beträchtliche Summe vorschießen, wenn sie in ihre Wohnung zurückkehrte und sich vernünftig aufführte. Die Tante wiederholte ihr jetzt diesen Bericht Zoés. Ohne Zweifel steckte ein Herr dahinter.

»Niemals!« erklärte Nana aufgebracht. »Ah, ich finde sie außerordentlich nett, diese Lieferanten! Sie denken wohl, daß sie mich verkaufen können, um zu ihrem Gelde zu kommen!... Siehst du, ich will aber lieber Hungers sterben als meinen Fontan verlassen.«

»Das habe ich auch zur Antwort gegeben«, sagte Madame Lerat; »meine Nichte hat ein zu gefühlvolles Herz.«

Eben trat Madame Maloir ein, und man feierte frohes Wiedersehen. Madame Maloir erklärte, in großen Wohnungen fühle sie sich nicht wohl; jetzt aber werde sie bisweilen ihre Besuche wiederholen.

Plötzlich hörte man Stimmen. Es war Fontan mit Bosc und Prullière. Man konnte sich zu Tisch setzen, da die Suppe bereits aufgetragen war, als Nana nunmehr zum drittenmal den neuen Gästen die Wohnung zeigte.

»Ach, Fontan, ihr wohnt wirklich nett hier!« versetzte Bosc, nur um damit seinen Kameraden, die das Diner bezahlten, einen Gefallen zu tun; denn im Grunde genommen interessierte ihn »das Nest«, wie er sich ausdrückte, gar nicht.

Im Schlafzimmer machte er dieselbe Bemerkung. Gewöhnlich behandelte er die Frauen als Kamele, und der Gedanke, daß sich ein Mann wegen eines dieser elenden Wesen Mühe geben könne, erweckte in ihm das einzige Gefühl von Verachtung, dessen er überhaupt fähig war.

»Ah, diese pfiffigen Leutchen! Sie haben alles heimlich abgemacht«, rief er und zwinkerte mit den Augen. »Ihr habt recht daran getan. Es wird hier herrlich werden, und wir wollen euch, bei Gott, bald wieder besuchen!«

Als aber jetzt Louis, auf einem Besenstiel als Steckenpferd reitend, hereinkam, sagte Prullière mit boshaftem Lächeln:

»Ei, ei, ist das schon euer Kleiner?«

Dies kam allen sehr drollig vor. Madame Lerat und Madame Maloir wollten bersten vor Lachen. Nana war durchaus nicht böse, sie lächelte zärtlich und verneinte es; sie hätte es freilich gewünscht, in ihrem und des Kindes Interesse; aber was nicht sei, könne ja noch werden. Fontan spielte den Gutmütigen, nahm Louis auf den Arm und scherzte mit ihm.

»Das hindert ihn nicht«, sagte er, »mich als sein Väterchen zu lieben... Nenne mich Papa, kleiner Schelm!«

»Papa... Papa...« stotterte das Kind.

Alle überschütteten den Kleinen mit Zärtlichkeiten. Bosc meinte, das sei fauler Zauber; essen sollte man lieber, das sei das einzige Gescheite im Leben. Nana bat um die Erlaubnis, Louis neben sich setzen zu dürfen... Das Diner verlief sehr heiter. Bosc hatte indes unter der Nachbarschaft des Kleinen viel zu leiden, da er beständig seine Serviette gegen ihn verteidigen mußte. Außerdem war ihm auch Madame Lerat unbequem, die ihm zärtlich und leise geheimnisvolle Dinge erzählte, Geschichten von wohlsituierten Herren, die sie noch immer verfolgten, und zweimal mußte er ihr mit den Knien ausweichen, während sie ihn mit gierigen Blicken anschaute. Prullière betrug sich Madame Maloir gegenüber sehr unaufmerksam, indem er sie nicht ein einziges Mal bediente. Seine Aufmerksamkeit war ganz auf Nana gerichtet, deren Verhältnis zu Fontan ihm ein Rätsel war. Übrigens wurde ihre Liebelei endlich langweilig.

»Was Teufel, eßt doch jetzt! Ihr habt nachher noch viel Zeit!« rief Bosc mit vollem Munde. »Wartet doch, bis wir nicht mehr da sind.«

Aber Nana konnte sich nicht halten. Sie war ganz liebestrunken, rot wie ein junges Mädchen, während sie fröhlich lachte und zärtliche Blicke um sich warf. Auf Fontan schauend, überschüttete sie ihn mit Schmeichelnamen, und wenn er ihr Wasser oder Salz reichte, beugte sie sich vor und küßte ihm aufs Geratewohl die Lippen, die Augen, die Nase oder ein Ohr; wenn man sich darüber aufhielt, so ließ sie mit der Geschmeidigkeit und Demut einer gezüchtigten Katze nach und ergriff verstohlen seine Hand, um sie in der ihrigen zu halten und zu küssen. Fontan machte sich wichtig und ließ sich herablassend verehren. Seine große Nase wackelte vor sinnlichem Ergötzen hin und her. Sein ziegenartiges Gesicht, seine lächerliche Häßlichkeit trat so recht hervor bei der verehrenden Hingebung dieses prächtigen, blassen und üppigen Mädchens.

Der Abend verlief heiter. Das Gespräch war natürlich auch auf das Varietétheater gekommen. Werde dieser elende Bordenave denn nicht bald abfahren, meinte man. Seine galanten Krankheiten brachten ihn so weit, daß man ihn am liebsten nur mit der Zange hätte anfassen mögen. Am vorigen Abend habe er während der Probe die ganze Zeit über auf Simonne geschimpft. Ihm würden die Schauspieler keine Träne nachweinen. Nana sagte, wenn er sie etwa wieder für eine Rolle engagieren wolle, so werde sie ihn gehörig abweisen; übrigens sprach sie davon, sie wolle gar nicht mehr spielen, denn das Theater könne ihr das häusliche Glück nicht ersetzen. Fontan, der weder in dem neuen noch in dem nächsten Stück auftrat, rühmte ebenfalls das Glück seiner jetzigen Freiheit und Ungebundenheit; es war so schön, daß er die Abende mit seinem Weibchen am häuslichen Herde zubringen konnte. Alle anderen priesen sie als Glückskinder und stellten sich, als ob sie sie um ihr Glück beneideten.

Man hatte jetzt den Dreikönigskuchen zerteilt. Die Bohne war Madame Lerat zugefallen, die sie in Boscs Glas warf. Alle jubelten: »Der König trinkt, der König trinkt!« Nana benutzte diese plötzliche Heiterkeit, um Fontan wieder zu umarmen, zu küssen und ihm ins Ohr zu flüstern. Aber Prullière rief ihr halb ärgerlich zu, dies gehöre nicht zum Spiele. Louis schlief unterdessen schon auf zwei Stühlen... Endlich, gegen ein Uhr, trennte sich die Gesellschaft.

Drei Wochen lang war das Leben der beiden Liebenden wirklich reizend. Nana glaubte sich in die Zeit versetzt, wo sie zum erstenmal den Tanzboden betrat und wo ihr das erste Seidenkleid so großes Vergnügen bereitet hatte. Sie ging nur selten aus; als sie eines Morgens zeitig nach dem Markte La Rochefoucauld ging, um Fische einzukaufen, war sie erstaunt, ihren früheren Friseur Francis zu treffen. Er trug wie stets nette Kleidung, feine Wäsche und einen tadellosen Überrock, während sie im einfachen Hausrock, mit zerzaustem Haar und plumpen Holzschuhen beschämt vor ihm auf der Straße stand. Allein er besaß Takt genug, trotzdem höflich zu sein. Er erlaubte sich keine Frage und stellte sich, als glaube er, Madame habe sich auf Reisen begeben. Ja, Madame habe sehr viele Menschen unglücklich gemacht dadurch, daß sie sich zu einer Reise entschlossen habe! Es sei ein Verlust für jedermann, fügte er hinzu. Die junge Frau vergaß aus Neugierde ihre erste Bestürzung und bestürmte ihn zuletzt mit Fragen. Da hier die vorüberströmende Menge ständig stieß und drängte, zog sie ihn in einen Toreingang, wo sie mit ihrem Körbchen in der Hand vor ihm stehenblieb. Was sagte man zu ihrer Flucht? Mein Gott, die Damen, die er besuchte, sagten bald dies, bald jenes; im ganzen sei eine ungeheure Aufregung entstanden. Und Steiner? Herr Steiner sei sehr herabgekommen; mit ihm werde es schlimm enden, wenn ihm nicht irgendeine Spekulation gelinge. Und Daguenet? Oh, diesem gehe es ausgezeichnet, er sei ordentlich geworden. Nana, durch diese Mitteilungen aufgeregt, wollte ihn noch weiter fragen; allein sie genierte sich, den Namen Muffats auszusprechen. Da begann Francis selbst von ihm zu erzählen. Der Graf sei wirklich zu bedauern, so sehr habe er seit der Abreise von Madame gelitten; man erblicke ihn überall da, wo Madame sich möglicherweise aufhalten könnte. Schließlich habe ihn Herr Mignon getroffen und in sein Haus eingeführt. Über diese Nachricht brach Nana in lautes Lachen aus, doch merkte man wohl, daß dieses Lachen nur gezwungen war.

»Ah, er ist also jetzt bei Rose«, sagte sie. »Nun, Sie wissen doch, Francis, mir ist das ganz gleich!... Sehen Sie, solch ein Heuchler! Er, der mir schwor, außer mir mit keinem Weibe mehr zu verkehren!«

Im Grunde genommen war sie wütend darüber.

»Oh, die Schlange«, fuhr sie fort, »sie versteht's, sich Ersatz zu schaffen! Oh, ich begreife, Rose hat sich dafür rächen wollen, daß ich ihr jenen elenden Steiner weggekapert habe... Wie gemein ist es doch, einen Menschen an sich zu locken, den ich zur Tür hinausgeworfen habe!«

»Herr Mignon erzählt die Sache anders«, sagte der Friseur. »Nach seiner Meinung hat der Herr Graf Sie hinausgeworfen... Ja, und noch dazu auf eine höchst unliebsame Weise, indem er Ihnen einen Fußtritt versetzte.«

Da wurde Nana auf einmal ganz blaß.

»Ha! Was?« rief sie. »Mir einen Fußtritt... Das ist zu stark! Nein, glaube mir, mein Kleiner, ich habe ihn zur Treppe hinuntergeworfen, den Herrn Grafen, mußt du wissen! Ja, ja, so ist's, seine Gräfin hält's mit jedem anderen, nur nicht mit ihm, sogar mit jenem Schurken Fauchery... Und dieser Mignon, der den ganzen Tag in Paris herumläuft, lediglich für seine nichtsnutzige Frau, die gar niemand mag, so dürr ist sie!... Welch eine schmutzige Sippschaft!«

Sie schien fast zu ersticken vor Zorn und mußte wieder Atem schöpfen.

»Ah«, fuhr sie fort, »das also sagen sie... Nun, mein kleiner Francis, ich werde sie schon finden... Wollen wir gleich zusammen hingehen? Ja, ich will hingehen, und wir werden sehen, ob sie dann auch noch die Frechheit besitzen werden, von Fußtritt zu sprechen ... Fußtritte! Nie in meinem Leben habe ich die erhalten. Und auch fernerhin soll sich kein Mensch unterstehen, mich zu schlagen, weil ich den zerfleischen würde, der mich anrührte.«

Sie beruhigte sich wieder. Übrigens, erklärte sie geringschätzig, sie mochten sagen, was sie wollten, sie könne sie nicht für besser halten als den Schmutz an ihren Schuhen. Nur dadurch sei sie selbst besudelt worden, daß sie sich mit jenem Menschen abgegeben habe. Sie habe ihr gutes Gewissen für sich. Francis, der ganz vertraulich geworden war, da er sie in ihrem einfachen Hausaufzug so reden hörte, erlaubte sich, ihr gute Ratschläge zu geben, als er sie verließ. Sie tue unrecht, alles einer momentanen Laune zu opfern; diese Launen seien ihr Unglück. Mit gesenkten Blicken hörte sie ihm zu, während er mit trauriger Miene wie ein Kenner sprach, den es schmerzt, ein so schönes Weib in sein eigenes Unglück rennen zu sehen.

»Das geht nur mich etwas an«, sagte sie endlich. »Trotzdem danke ich Ihnen, mein Lieber.«

Sie drückte ihm die Hand, die stets ein wenig fettig war trotz seiner sonstigen Eleganz, und ging weiter, um ihre Fische zu kaufen. Den ganzen Tag kam ihr die Geschichte von dem Fußtritt nicht aus dem Sinn. Sogar mit Fontan sprach sie darüber und stellte sich wieder wie ein starkes Weib, das keine Beleidigung dulden werde. Fontan erklärte mit überlegener Miene, daß überhaupt alle vornehmen Männer Tölpel seien, die keine Achtung verdienten. Von jetzt ab wurde Nana mit einem wahren Abscheu gegen noble Herren erfüllt.

An demselben Abend gingen beide nach dem Bouffestheater, um dem ersten Auftreten eines jungen Mädchens in einer unbedeutenden Rolle, das Fontan kannte, beizuwohnen. Es war beinahe ein Uhr, als sie zu Fuß wieder auf die Anhöhe von Montmartre zurückkamen. In der Rue de la Chaussée d'Antin hatten sie sich etwas kleines Gebäck gekauft, das sie erst im Bett verzehrten. Hier saßen sie nebeneinander, die Kopfkissen als Rückenlehne benutzend, verzehrten ihren Kuchen und schwatzten über jenes Mädchen. Nana fand sie häßlich und ungeschickt, so daß beide zuletzt in Streit gerieten.

»Oh, das muß man sagen!« rief Nana. »Sie hat ein Paar Augen im Kopfe wie zwei Kanonenlöcher, und ihr Haar sieht aus wie ein Flachsbündel.«

»Schweig doch!« versetzte Fontan. »Ein prächtiges Haar, feurige Blicke... Es ist zu sonderbar, daß ihr Frauen einander immer gleich auffressen möchtet!«

Er war ärgerlich geworden, und als sie nicht nachgab, sagte er endlich grob:

»Nein, das ist zu stark! Du weißt, ich lasse mir nicht gern widersprechen... Laß uns schlafen, sonst könnte es noch übel ablaufen.«

Er löschte das Licht aus; Nana aber fuhr wütend fort, sie lasse nicht in einem solchen Tone mit sich reden, sie sei gewohnt, 193 respektiert zu werden. Da er aber nicht antwortete, mußte auch sie schweigen, doch konnte sie nicht einschlafen und drehte sich bald auf diese, bald auf jene Seite.

»Schwerenot, hast du dich nun endlich genug herumgewälzt?« rief er plötzlich laut und barsch.

»Ich kann nichts dafür, wenn hier Brotkrümchen liegen«, sagte sie trocken.

In der Tat war dies der Fall, und sie fühlte sich am ganzen Körper davon belästigt. Fontan hatte mit verhaltener Wut eine Kerze angezündet. Beide standen auf, deckten das Bett auf und fegten mit den Händen die Krümchen auf den Boden. Ihn fröstelte, er legte sich rasch wieder ins Bett, indem er sie zum Teufel wünschte, weil sie ihm riet, sich ja die Füße erst abzuwischen. Endlich nahm auch sie ihren Platz wieder ein; allein kaum hatte sie sich ausgestreckt, als sie wieder unruhig wurde; es waren noch mehr Brotkrumen im Bett.

»Nun ja, ich dachte es mir gleich«, sagte sie. »Du hast sie mit deinen Füßen hereingeschleppt... Ich kann so nicht schlafen! Ich sage dir, ich kann nicht!«

Und schon machte sie Miene, über ihn hinwegzusteigen und hinauszuspringen. Jetzt war Fontan, der gern schlafen wollte, aufs äußerste gereizt, und er versetzte ihr eine so starke Ohrfeige, daß Nana betäubt auf den Kissen lag. Sie war halbtot vor Schreck.

»Oh!« rief sie nur und seufzte wie ein Kind.

Eine Zeitlang drohte er ihr mit einer zweiten Ohrfeige, wobei er sie fragte, ob sie sich noch einmal rühren wolle. Darauf blies er das Licht aus, legte sich auf den Rücken und schnarchte, während sie, das Gesicht in das Kopfkissen verborgen, leise weinte. Es war feige, seine Kraft so zu mißbrauchen. Aber sie fürchtete sich: ein so schreckliches Aussehen hatte die Fratze Fontans angenommen. Ihr Zorn schwand, als ob die Ohrfeige sie beruhigt hätte. Nana hatte Respekt vor ihm; sie drückte sich eng an die Wand an, um ihm nur möglichst viel Raum zu lassen. Endlich schlief sie ein, mit brennender Wange, tränenfeuchten Augen, niedergeschlagen und unterwürfig, so daß sie auf die Brotkrümchen gar nicht mehr achtete. Als sie am Morgen erwachte, hielt sie Fontan in ihren Armen fest an ihren Busen gedrückt. Nicht wahr, er werde sie nie wieder schlagen? Sie liebte ihn ja zu sehr; von ihm geohrfeigt zu werden, war sogar noch eine Wonne.

Nun war ein ganz neues Leben eingekehrt. Für ein verkehrtes Ja oder Nein empfing Nana von Fontan Schläge. Sie gewöhnte sich bald daran und steckte alles ruhig ein. Zuweilen schrie sie auf und bedrohte ihn; er drückte sie dann an die Wand, als ob er sie erwürgen wollte; das war ein vortreffliches Beruhigungsmittel. Sehr oft sank sie auf einen Stuhl und weinte minutenlang. Dann vergaß sie alles wieder, sang, lachte und sprang im Zimmer umher. Das schlimmste an der Sache war jetzt, daß Fontan sich den ganzen Tag nicht sehen ließ und nie vor Mitternacht nach Hause kam; er besuchte die Kaffeehäuser, in denen er mit seinen Kollegen zu kneipen pflegte. Nana duldete zitternd und zärtlich alles; sie fürchtete bloß, ihn eines schönen Tages gar nicht wiederzusehen, wenn sie ihm Vorwürfe machte. An manchen Tagen jedoch, wo sie weder Madame Maloir noch ihre Tante mit Louis bei sich sah, langweilte sie sich zum Sterben. Als sie eines Sonntags auf dem Markt war, um ein Paar Tauben einzuhandeln, freute sie sich außerordentlich, Satin zu treffen, die gerade ein Bündel Radieschen kaufte. Seit jenem Abend, als der Prinz von Fontans Champagner getrunken hatte, waren die beiden nicht wieder zusammengekommen.

»Wie! Du, du wohnst im Arbeiterviertel?« rief Satin, verwundert darüber, sie zu dieser Stunde in Pantoffeln auf der Straße zu sehen. »Sag mal, du bist wohl in der Klemme?«

Nana hatte endlich ihre Tauben gekauft, obwohl sie an deren Frische etwas zweifelte. Hierauf wollte ihr Satin ihre Wohnung zeigen; sie wohnte gar nicht weit, in der Rue La Rochefoucauld. Sobald beide allein waren, schilderte Nana ihre leidenschaftliche Liebe zu Fontan. Vor ihrer Tür angelangt, war Satin mit ihren Radieschen unter dem Arm stehengeblieben und hörte sich neugierig das Abenteuer an, das ihr Nana erzählte; Nana log ihr vor, sie habe den Grafen Muffat mit Fußtritten hinausgeworfen.

»Oh, herrlich«, versetzte Satin, »herrlich, mit Fußtritten! Und er hat nichts gesagt, nicht wahr? So feige! Ich hätte dabeisein und ihn sehen mögen... Nana, Nana! Du hast recht! Wenn ich in einen verschossen bin, so wär' ich imstande, für ihn alles zu tun... Nicht wahr? Du besuchst mich bald, versprich es mir! Die Tür links. Klopfe dreimal an, weil ich sonst nicht aufmache.«

Von nun an ging Nana, sobald sie sich langweilte, zu Satin. Sie traf sie immer zu Hause an, da Satin niemals vor sechs Uhr abends ausging. Satin bewohnte zwei Zimmer, die ihr ein Apotheker ausmöbliert hatte, um sie vor den Händen der Sittenpolizei zu retten; aber in nicht ganz dreizehn Monaten hatte sie schon die Möbel ruiniert, die Stühle zerrissen, die Vorhänge beschmutzt, so daß das ganze Logis aussah, als ob eine Horde toller Katzen darin hauste.

Nana fand Satin fast immer im Bett. Selbst an den Tagen, an denen sie auszugehen pflegte, um für ihren Haushalt einzukaufen, war sie beim Aufstehen so matt, daß sie auf den Bettrand niedersank und wieder einschlief. Den Tag über schleppte sie sich nur so hin, sie schlief auf den Stühlen ein und erwachte erst gegen Abend, sobald die Laternen angezündet wurden. Nana fühlte sich bei ihr außerordentlich wohl; sie saß auf dem ungemachten Bett, während auf dem Boden verschiedene Waschbecken umherstanden. Die ganze Unterhaltung drehte sich um die Gemeinheit der Männer. Nana war völlig mit Fontan beschäftigt; sie konnte kaum zehn Worte sagen, ohne wieder in langer Rede auf ihn zurückzukommen, auf das, was er sagte und tat. Satin hörte geduldig diese ewigen Geschichten an: von dem Warten am Fenster, von dem Streiten wegen eines verbrannten Ragouts, von dem Versöhnen im Bett nach stundenlangem Schmollen. Auch zählte ihr Nana alle die Ohrfeigen auf, die sie empfangen hatte.

Wiewohl sie unzertrennliche Freundinnen wurden, kam Satin doch niemals zu Nana, weil Fontan erklärte, er liebe das Weibergelaufe in seiner Häuslichkeit nicht. Aber sie gingen oft zusammen aus, und so führte Satin eines Tages ihre Freundin zu Madame Robert, für die Nana einen gewissen Respekt fühlte, seitdem sie sich geweigert hatte, bei ihrem Souper zu erscheinen. Madame Robert wohnte in der Rue Mosnier, einer neuen und ruhigen Straße des Quartier de l'Europe, wo in den kleinen, engen Wohnungen zahlreiche Dämchen hausten. Es war fünf Uhr. Vor den hohen, weißgetünchten Gebäuden mit ihrer aristokratischen Ruhe standen die Kutschen von Börsenleuten und Großhändlern, während einzelne Herren schnell vorübergingen und nach den Fenstern hinaufschauten, an denen Frauen im Hauskleid zu warten schienen. Nana wollte zuerst nicht mit hinaufgehen, weil sie meinte, sie kenne ja diese Dame nicht; aber Satin bestand darauf, sie könne stets eine Freundin mitbringen. Sie wolle nur einen Anstandsbesuch machen; Madame Robert, die sie am Abend vorher in einem Restaurant getroffen habe, sei sehr zuvorkommend gewesen und habe ihr das Versprechen abgenommen, ihr einen Besuch abzustatten. Nana fügte sich endlich. Oben sagte ihnen ein kleines Dienstmädchen, Madame sei noch nicht zurück. Sie führte beide in einen Salon und ließ sie allein.

»Der Tausend, hier ist es nett!« murmelte Nana.

Es war ein gutbürgerlich eingerichtetes Zimmer mit dunklen Möbeln, das die solide Eleganz eines Pariser Kaufmanns zeigte, der sich ein Vermögen erworben und sich dann zur Ruhe gesetzt hat. Nana machte scherzend ihre Bemerkungen über die Dame, aber Satin ärgerte sich darüber und verbürgte sich für die Tugendhaftigkeit der Madame Robert. Man treffe sie immer nur in Gesellschaft von gesetzten Herren. Gegenwärtig verkehre sie mit einem alten Schokoladenhändler. Sobald dieser zu ihr komme, sei er über die Sauberkeit der Wohnung entzückt, lasse sich anmelden und nenne sie nur »meine liebe Tochter«.

»Sieh, da ist sie«, versetzte Satin und deutete auf eine vor der Stutzuhr aufgestellte Photographie.

Nana musterte das Porträt einen Augenblick. Es stellte eine Frau von dunklem Teint dar, mit langem, schmalem Gesicht und dünnen, zu einem verstohlenen Lächeln verzogenen Lippen.

»Sonderbar«, murmelte sie endlich, »sicherlich muß ich diesen Kopf schon irgendwo gesehen haben; wo, weiß ich nicht mehr. Aber es kann an keinem soliden Orte gewesen sein... Oh, ich weiß es bestimmt, es ist kein solider Ort gewesen.«

Sich zu ihrer Freundin wendend, fügte sie hinzu:

»Also sie hat dir das Versprechen abgenommen, daß du sie besuchen sollst? Was will sie denn von dir?«

»Was sie von mir will? Nun, ohne Zweifel sich ein wenig mit mir unterhalten... Es ist nur Höflichkeit.«

Nana blickte Satin fest an; dann schnalzte sie leicht mit der Zunge. Schließlich konnte es ihr gleichgültig sein! Aber da jene Dame sie lange vergebens warten ließ, erklärte sie, nicht mehr dableiben zu wollen, und so gingen beide wieder fort.

Am folgenden Morgen hatte Fontan Nana mitgeteilt, daß er zu Tisch nicht nach Hause kommen werde; daher ging sie sehr zeitig zu Satin, um diese mit sich in ein Restaurant zu nehmen. Die Wahl war schwer. Satin schlug mehrere Brauereien vor, die Nana sämtlich für zu schlecht hielt. Endlich beschlossen sie, bei »Laura« zu speisen. Es war dies ein Gasthaus in der Rue des Martyrs, wo das Diner drei Franken kostete.

Gelangweilt erwarteten sie die Mittagsstunde, und da sie nicht wußten, was sie noch länger auf der Straße anfangen sollten, gingen sie zwanzig Minuten früher zu Laura. Die drei Salons waren noch leer, und sie nahmen an einem Tisch Platz, in dem gleichen Salon, in dem Laura Piédefer auf dem erhöhten Sitz des Büfetts thronte. Laura war eine wohlbeleibte Dame von fünfzig Jahren, die ihre überquellenden Formen in Gürtel und Korsett einzuzwängen versuchte. Bald kamen verschiedene Damen und küßten Laura mit zärtlicher Vertraulichkeit, während dieses Monstrum sich mit feuchten Augen zu einer jeden hinneigte, um nur keine Eifersucht zu erregen.

Das Mädchen, das bediente, war groß und hager; seine dunklen Augen leuchteten von einem unheimlichen Feuer.

»Nicht wahr«, fragte Satin, »das Essen ist hier recht gut?«

Nana nickte befriedigt. Man speiste hier so gut wie in einem Gasthause in der Provinz: Blätterteigpastete, Huhn mit Reis, Bohnen in Sauce und Vanille-Eis. Die Damen hielten sich besonders an das »Huhn mit Reis« und wischten sich langsam den Mund ab. Nana hatte befürchtet, alte Freundinnen hier zu treffen, die ihr womöglich dumme Fragen stellen würden; allein sie beruhigte sich, da sie kein bekanntes Gesicht unter diesem sehr gemischten Publikum bemerkte, wo sich schäbige Kleider und jammervolle Hüte neben prunkvollen Toiletten zeigten. Einige Zeit interessierte sie ein junger Mann mit kurzem, lockigem Haar und frechem Gesicht, der einen ganzen Tisch dicker Weiber mit seinen Witzen unterhielt.

»Ei, das ist ja ein Mädchen!« sagte Nana und stieß einen leisen Schrei aus.

Satin, die mit ihrem Huhn beschäftigt war, sah auf und sagte:

»Ach ja, die kenne ich... Macht sich gut, oh, die ist sehr gesucht!«

Nana machte eine Gebärde des Ekels. Sie konnte das nicht begreifen! Dennoch meinte sie friedlich, man dürfe über Geschmack und Farben nicht streiten, denn man wisse nie, was einem selbst einst passieren könne. Während sie mit philosophischer Ruhe ihre Creme aß, bemerkte sie, daß Satin durch ihre großen, blauen Augen die Nachbarschaft in arge Erregung brachte. Besonders auffällig benahm sich in ihrer Nähe eine dicke, blonde, äußerst liebenswürdige Dame: sie wurde purpurrot und so unruhig, daß Nana sich beinahe ins Mittel gelegt hätte.

In diesem Augenblick wurde sie durch den Eintritt einer Dame überrascht. Sie hatte Madame Robert erkannt. Diese nickte der großen, hageren Kellnerin vertraulich zu und begab sich dann ans Büfett zu Laura. Beide küßten sich lange. Nana fand diese Zärtlichkeit seitens einer distinguierten Dame höchst sonderbar, um so mehr, als Madame Robert keineswegs ein zurückhaltendes Benehmen zeigte. Während sie mit der Wirtin leise sprach, blickte sie im Salon umher. Laura hatte eben ihren Platz wieder eingenommen und bot wieder das Bild eines alten Lastergötzen dar mit ihrem pergamentartigen, abgenutzten Gesicht; über die vollen Teller hinweg herrschte sie über ihre fette Kundschaft, immer noch die dickste der Dicken.

Aber jetzt hatte Madame Robert Satin bemerkt. Sie verließ Laura, eilte herbei und bedauerte mit der größten Liebenswürdigkeit, am vorigen Abend nicht zu Hause gewesen zu sein; und als Satin ihr durchaus Platz machen wollte, versicherte sie, schon gegessen zu haben. Sie sei nur einmal hergekommen, um sich umzusehen. Während sie sprach, stand sie hinter ihrer neuen Freundin, stützte sich mit einschmeichelndem Lächeln auf ihre Schultern und wiederholte:

»Nun, wann werde ich Sie sehen? Wenn Sie frei wären...«

Leider konnte Nana das Gespräch der beiden Weiber nicht weiter hören. Ein lebhafter Zorn ergriff sie, und sie brannte darauf, dieser so »ehrbaren« Dame gehörig die Wahrheit zu sagen. Allein eine neue Gesellschaft nahm ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Es waren elegante Weiber, fein gekleidet und mit Diamanten übersät. Infolge einer sonderbaren Geschmacksverirrung kamen sie alle trotz ihrer Brillanten zu Laura, um einmal inmitten der eifersüchtig erstaunten Mädchen für drei Franken zu dinieren. Als sie unter lautem Gespräch und Lachen eingetreten waren, hatte sich Nana schnell umgedreht, und es war ihr gar nicht recht, unter ihnen Lucy Stewart und Marie Blond zu erblicken. Fast fünf Minuten lang, so lange nämlich, wie jene Damen mit Laura sprachen, ehe sie sich in den Nebensalon begaben, beugte sie sich tief auf den Tisch herab und beschäftigte sich eifrig mit den über das Tischtuch verstreuten Brotkrümchen. Als sie sich endlich wieder umdrehen konnte, war sie bestürzt: der Stuhl neben ihr war leer und Satin verschwunden.

»Nanu, wo ist sie denn?« entfuhr es laut ihrem Munde. Die dicke, blonde Person, die Satin so aufmerksam beobachtet hatte, lächelte trotz ihrer schlechten Laune, und als Nana sie drohend ansah, sagte sie mit gedehnter Stimme: »Ich bin's nicht gewesen; die andere hat Ihnen den Streich gespielt.«

Nana merkte, daß man sich über sie lustig machte, und sagte nichts. Sie blieb sogar noch einige Zeit sitzen, um ihren Zorn nicht merken zu lassen. Was sie jetzt vor allem aufbrachte, war, daß sie Satins Diner bezahlen mußte. Solch ein gemeines Frauenzimmer, das sich erst ruhig bewirten ließ und dann durchbrannte, ohne sich auch nur zu bedanken! Es waren allerdings nur drei Franken, aber trotzdem kam es ihr viel vor; ein solches Benehmen war zu schändlich. Sie warf Laura die sechs Franken hin.

In der Rue des Martyrs steigerte sich Nanas Groll noch mehr. Ihr sollte es gerade einfallen, Satin nachzulaufen! Das hieße ja, die Nase in den ärgsten Quark stecken!... Aber der Abend war ihr verdorben, und langsam ging sie dem Montmartre zu; besonders wütend aber war sie auf Madame Robert. Diese besaß wahrlich eine nette Portion Frechheit, die distinguierte Dame zu spielen! Jetzt war sie überzeugt, jene Dame im »Schmetterling« gesehen zu haben, einem gewöhnlichen Tanzlokal der Rue des Poissonniers, wo es ziemlich bunt herging. Und dieses Weib wußte anständige Bürochefs für sich zu gewinnen, solch ein Weib schlug Soupers aus, zu denen sie einzuladen man ihr die Ehre schenkte, bloß um die Tugendhafte zu spielen! Das hieß also tugendhaft sein! Immer waren es solche Zierpuppen, die sich aufblähten und trotzdem in zweifelhaften Kneipen ihren Stammsitz hatten.

Nana war vor ihrer Wohnung angelangt und war ganz erstaunt, die Fenster erleuchtet zu sehen. Fontan, der gleichfalls von seinem Freund im Stich gelassen worden war, hatte sich ärgerlich nach Hause begeben. Teilnahmslos hörte er ihre Auseinandersetzungen an. Sie fürchtete seinen Zorn und war bestürzt über seine Anwesenheit, da sie ihn vor ein Uhr morgens nicht erwartet hatte; deshalb suchte sie nach einer Notlüge und gestand, sechs Franken ausgegeben zu haben, aber mit Madame Maloir. Darauf reichte er ihr mit übertrieben würdevoller Miene einen Brief, den er erbrochen hatte. Er war von Georges, der sich immer noch in Les Fondettes befand und jede Woche seinen Trost in glühenden Liebesbriefen suchte. Nana fand nämlich großen Gefallen daran, daß man ihr schrieb, besonders genoß sie die langen, von Liebesschwüren wimmelnden Briefe und las sie jedermann vor. Fontan kannte den Stil Georges' und schätzte ihn. Aber an diesem Abend fürchtete sie eine unliebsame Szene und stellte sich gleichgültig; mit ärgerlicher Miene durchflog sie den Brief und warf ihn dann sofort beiseite. Fontan trommelte unterdessen an einer Fensterscheibe, da er so zeitig noch nicht zu Bett gehen wollte, aber auch nicht wußte, womit er sich den ganzen Abend die Zeit vertreiben sollte. Plötzlich drehte er sich um und sagte:

»Man könnte eigentlich diesem Burschen sofort antworten.«

Gewöhnlich schrieb er nämlich selbst die Antwort, er war stolz auf seinen Stil. Dann war er glücklich, wenn Nana, von der Lektüre seines Briefes begeistert, ihn umarmte und ausrief, nur er könne so schöne Sachen erfinden. Somit endete eine derartige Szene gewöhnlich mit beiderseitiger Aufregung und einer glückseligen Liebesstunde.

»Wie du willst«, versetzte sie. »Ich will unterdessen den Tee bereiten, dann wollen wir zu Bett gehen.«

Darauf setzte sich Fontan an den Tisch, breitete ein ganzes Magazin von Federn, Tinte und Papier vor sich aus, spitzte das Kinn und begann zu schreiben, indem er die einzelnen Worte laut vor sich hinsagte: »Mein Herz ...«

Über eine Stunde lang arbeitete er mit Eifer, indem er bisweilen über einen Satz nachdachte, den Kopf in die Hände gestützt, den Satz verbesserte, dann wieder einmal vor sich hinlachte, wenn er eine besonders zärtliche Wendung gefunden hatte. Währenddessen hatte Nana schweigend bereits zwei Tassen Tee getrunken. Jetzt las er ihr den Brief mit theatralischem Pathos vor. Er sprach darin auf fünf Seiten von »reizenden, in La Mignotte verlebten Stunden, die für das Gedächtnis wie Parfüm« seien, er schwur eine »ewige Treue diesem Liebesfrühling« und schloß mit der Erklärung, daß ihr einziger Wunsch sei, dieses Glück nochmals zu genießen, »wenn man das nämliche Glück überhaupt zweimal genießen kann«.

»Du weißt«, erklärte er, »ich schreibe dies alles nur aus Höflichkeit! Im Grunde freilich ist es lächerlich... Ah, ich glaube gar, du bist gerührt!«

Er triumphierte. Aber Nana, die dem Frieden noch nicht traute, beging den Fehler, ihn nicht zu umarmen. Sie fand den Brief gut, nichts mehr. Darüber wurde er aufgebracht. Wenn sein Brief ihr nicht gefalle, rief er, so möge sie einen anderen schreiben; und anstatt sich wie gewöhnlich zu küssen, nachdem sie sich an den Liebesphrasen erquickt hatten, blieben sie kühl einander gegenüber am Tisch sitzen.

Unglücklicherweise zuckte Nana die Achseln. Er wurde wütend.

»Ah, das wird nett heute abend!« schrie er.

Und der Zank begann. Die Uhr zeigte erst auf zehn, und nun hatte man ja eine Gelegenheit gefunden, die Zeit totzuschlagen. Wütend, unter einer Flut von Flüchen, warf er Nana alle möglichen Beschuldigungen ins Gesicht, ohne ihr Zeit zu lassen, sich zu rechtfertigen. Sie war jetzt ein schmutziges, dummes Weib, das schon alle Schulen durchgemacht habe. Dann kam er auf die Geldfrage. Gebe er denn sechs Franken aus, meinte er, wenn er in der Stadt speise? Wenn für ihn nicht ein Diner bezahlt werde, so esse er stets zu Hause. Und noch dazu für diese alte Kupplerin Maloir, die er nächstens zur Tür hinauswerfen werde! Ja, sie würden weit kommen, wenn er und sie täglich so sechs Franken auf die Straße werfen wollten.

»Zuerst will ich Rechenschaft!« rief er. »Vorwärts, gib das Geld her, wie weit sind wir?«

Alle Seiten seiner schmutzigen Habsucht kamen jetzt zum Vorschein. Zitternd holte Nana, die nicht wußte, wie ihr war, ihr übriges Geld aus dem Sekretär und legte es vor ihn hin. Bis jetzt war die gemeinsame Kasse noch nicht verschlossen gewesen, und beide benutzten sie nach Belieben.

»Wie«, sagte er, nachdem er alles gezählt hatte, »es sind kaum noch siebentausend Franken von siebzehntausend da, und wir leben erst drei Monate zusammen? ... Das ist nicht möglich.«

Er stürzte nach dem Sekretär, zog den Schubkasten auf und durchwühlte ihn beim Schein der Lampe. Es waren nur noch sechstausendachthundert und einige Franken. Da brach das Unwetter los.

»Zehntausend Franken in drei Monaten!« heulte er. »Verdammt! Was hast du damit gemacht? He? Antworte! ... Alles ist deiner elenden Tante zugeflossen, he? Oder wem sonst? ... Rede! ... Na, willst du antworten?«

»Aber sei doch nicht so aufgebracht!« sagte Nana. »Die Rechnung ist sehr leicht gemacht. Du rechnest die Möbel nicht mit; sodann habe ich auch Wäsche kaufen müssen. Wenn man sich neu einrichtet, wird viel Geld gebraucht.«

Allein welche Entschuldigungen sie auch vorbringen mochte, er wollte nichts hören.

»Es geht zu schnell mit unserem Geld«, erwiderte er ruhiger; »und siehst du, mein Schätzchen, ich habe genug... Du weißt, daß siebentausend Franken mir gehören. Nun, da ich sie habe, so behalte ich sie... Verdammt, wenn du eine Verschwenderin bist, so will ich nicht mit zugrunde gehen. Jedem das Seine.«

Und mit kalter Miene steckte er das Geld in die Tasche. Nana betrachtete ihn erstarrt; er aber fuhr ruhig fort:

»Du verstehst mich doch? Ich bin nicht so dumm, Tanten und Kinder zu erhalten, die nicht mir gehören... Hat es dir gefallen, dein Geld zu verschleudern, so ist es deine Schuld; dies meinige wird heilig bewahrt! ... Wenn du eine Hammelkeule braten willst, so werde ich die Hälfte bezahlen. Abends werden wir dann Abrechnung halten!«

Da konnte sich Nana nicht mehr halten und rief:

»Höre mal, du hast doch von meinen zehntausend Franken hübsch mitgelebt... Das ist gemein!«

Ohne weitere Auseinandersetzung verabreichte er ihr über den Tisch hinweg eine Ohrfeige mit den Worten: »So, nun sag' das noch einmal!«

Trotzdem sagte sie es noch einmal; da fiel er über sie her und bearbeitete sie mit Füßen und Fäusten. Bald hatte er sie so weit gebracht, daß sie sich, wie gewöhnlich, auskleidete und weinend zu Bett ging. Schon wollte er sich auch niederlegen, als er auf dem Tisch den Brief an Georges bemerkte. Nach dem Bett zu gewandt, faltete er ihn sorgfältig zusammen und sagte drohend: »Er ist sehr schön, ich werde ihn selbst nach der Post tragen, weil ich die dummen Launen nicht liebe... Jetzt heule nicht mehr, das ärgert mich.«

Nana wimmerte leise und unterdrückte ihr Schluchzen. Als er im Bett war, warf sie sich weinend an seine Brust; sie zitterte davor, ihn zu verlieren, und hatte das feige Bedürfnis, zu wissen, daß er ihr gehörte, trotz alledem. Zweimal stieß er sie barsch zurück. Aber die sanfte Umarmung dieses flehenden Weibes mit seinen großen, tränenfeuchten Augen erweichte ihn. Und er wurde wieder gut, ohne sich jedoch zu einem Zugeständnis herabzulassen; er ließ sich schmeicheln und sich gewaltsam erobern wie ein Mensch, dessen Verzeihung wert ist, gewonnen zu werden. Dann wieder erfaßte ihn Besorgnis; er fürchtete, Nana spiele bloß Komödie, um den Kassenschlüssel wiederzuerlangen... Das Licht war bereits ausgelöscht, als er das Bedürfnis empfand, nochmals seinem Willen Ausdruck zu geben.

»Verstehst du, mein Kind? Es ist mein voller Ernst! Ich behalte das Geld!«

Nana, die an seinen Hals geschmiegt schlummerte, sagte beruhigend:

»Ja, hab' keine Angst... Ich will arbeiten.«

Aber von diesem Abend an wurde ihr Zusammenleben immer unerfreulicher. Die ganze Woche hindurch hörte man Ohrfeigen fallen wie das Ticktack einer Uhr. Sobald Nana geschlagen wurde, bewies sie eine ganz außerordentliche Fügsamkeit; dabei nahm ihre Haut eine so reizende rote und weiße Farbe an, ihr Auge glänzte, daß sie noch viel schöner aussah. Auch Prullière war ganz begeistert; er kam, sobald Fontan nicht zu Hause war, und stieß sie aus einer Ecke in die andere, um sie zu umarmen. Aber unwillig und voll Schamröte sträubte sie sich; sie fand es schändlich, daß er einen Freund hintergehen wollte. Da fing Prullière in gemeiner Weise an zu spötteln: Bei Gott, sie werde alle Tage dümmer! Wie könne sie sich nur für einen solchen Affen begeistern? Denn im Grunde genommen sei Fontan ein wahrer Affe mit seiner großen, beständig wackelnden Nase. Ein elender Kerl, der sie noch dazu gehörig durchwamse!

»Kann sein, ich liebe ihn nun einmal«, erwiderte sie eines Tages mit der Ruhe einer Frau, die eingesteht, einen schlechten Geschmack zu haben.

Bosc begnügte sich damit, so oft wie möglich bei Nana zu speisen. Er zuckte die Achseln über Prullière; ein netter Bursche, meinte er, aber ohne jeden Ernst; er selbst hatte schon verschiedenen Szenen im Hause beigewohnt. Beim Dessert, wenn Fontan Nana ohrfeigte, fuhr er mit ernster Miene fort zu kauen und fand dies ganz natürlich. Wenn er ein Mittagbrot verdienen konnte, so malte er in enthusiastischen Farben ihr eheliches Glück.

Eines Abends fand er Nana in Tränen aufgelöst. Sie öffnete ihre Corsage, um ihm ihren von Schlägen blauen Rücken und Arm zu zeigen. Er betrachtete sie ruhig, ohne daran zu denken, die Situation zu mißbrauchen, wie es jener Dummkopf Prullière getan hätte. Dann sprach er salbungsvoll:

»Mein Kind, wo es Weiber gibt, gibt es auch Schläge! Ich glaube, das Wort rührt von Napoleon her... Wasche dich mit Salzwasser; das ist ein vortreffliches Mittel für solche kleinen Schrammen. Na, du wirst noch mehr bekommen, und beklage dich nicht, solange dir kein Glied zerbrochen wird... Du weißt, ich komme, um Hammelkeule bei euch zu essen.«

Madame Lerat hingegen huldigte nicht dieser Philosophie. Jedesmal, wenn ihr Nana einen neuen blauen Fleck zeigte, schrie sie laut auf. Man schlage ihre Nichte tot, jammerte sie, das könne nicht mehr so fortgehen. Übrigens hatte Fontan Madame Lerat zur Tür hinausgeworfen und geäußert, er wolle sie nicht wieder in seiner Wohnung sehen. Wenn sie einmal da war und er gerade nach Hause kam, mußte sie durch die Küche den Rückzug antreten, was sie für eine schreckliche Erniedrigung hielt. Sie wurde nicht müde, über ihn herzuziehen. Besonders machte sie ihm seine schlechten Manieren zum Vorwurf mit der Miene einer Frau, über deren gute Kinderstube niemand ein Wort verlieren könnte.

»Oh, man sieht es sofort«, sagte sie zu Nana, »er hat nicht den geringsten Anstand! Seine Mutter scheint ganz ungebildet gewesen zu sein; sage nicht nein, so etwas fühlt man sofort heraus. Ich spreche nicht meinetwegen, obwohl eine Person in meinem Alter Anspruch auf Rücksicht hat... Aber du, armes Kind! Wie kannst du nur sein schlechtes Benehmen ertragen! Denn, ohne mir eine Schmeichelei zu sagen, ich habe dir immer gute Lebensregeln gegeben, und zu Hause hast du die besten Ratschläge erhalten. Nicht wahr, wir alle in der Familie sind gut erzogen worden?«

Nana gab dies zu und hörte sie gesenkten Hauptes an.

»Sodann«, fuhr die Tante fort, »hast du früher nur mit distinguierten Persönlichkeiten Umgang gepflogen... Wir sprachen erst gestern in meiner Wohnung mit Zoé darüber. Sie begreift dich auch nicht. ›Wie‹, sagte sie, ›Madame, die mit dem Grafen verkehrte, einem so gediegenen Mann‹ ›denn unter uns gesagt, es scheint, daß du ihn ganz närrisch gemacht hast‹, ›wie, Madame könnte sich von diesem Hanswurst malträtieren lassen?‹ Ich habe hinzugefügt, daß die Schläge sich noch am Ende ertragen ließen, aber nie hätte ich den Mangel an Rücksicht erduldet... Kurz, gar nichts ist mit ihm los! Ich würde nicht einmal sein Bild in meinem Zimmer dulden, so häßlich ist er. Und du willst dich für einen solchen losen Vogel, für solch einen häßlichen Kerl opfern? Jawohl, du ruinierst dich, meine Liebe, und greifst nicht zu, wo du dein Glück machen könntest... Genug, ich sollte dir das eigentlich nicht sagen; aber bei der ersten Flegelei würde ich ihm heimleuchten, in dem stolzen Ton, der dir eigen ist: ›Herr, für wen halten Sie mich?‹«

»Oh, Tante, ich liebe ihn!«

In Wahrheit fühlte sich Madame Lerat nur deshalb beunruhigt, weil sie sah, wie ihre Nichte nur mit schwerem Herzen dann und wann ein Zwanzigsoustück gab, um damit die Pension des kleinen Louis zu bezahlen. Sie wollte sich ja gern aufopfern, für das Kind sorgen, bessere Zeiten abwarten. Aber der Gedanke, daß Fontan sie alle hinderte, sie, das Kind und dessen Mutter, im Golde zu schwimmen, erregte ihre Wut, so daß sie die Macht der Liebe leugnete, der sie sonst gern das Wort redete.

»Höre, wenn er dich einst wird im Unglück haben sitzen lassen, wirst du noch an meine Tür klopfen, und ich werde dir öffnen!«

Bald wurde das Geld Nanas hauptsächlichster Kummer. Fontan hatte die siebentausend Franken ohne Zweifel in Sicherheit gebracht, und nie hätte sie gewagt, ihn danach zu fragen; denn sie schämte sich vor diesem »losen Vogel«, wie ihn Madame Lerat nannte. Sie zitterte davor, daß er sie für fähig halten könnte, bloß wegen des erbärmlichen Geldes an ihm zu hängen. Er hatte zwar versprochen, für die häuslichen Bedürfnisse zu sorgen. In den ersten Tagen gab er auch jeden Morgen drei Franken her. Aber dafür verlangte er auch alles mögliche: Butter, Fleisch und Gemüse, und wenn sie sich Bemerkungen erlaubte, wenn sie sagte, für drei Franken könne sie auf dem Markt nichts Ordentliches bekommen, wurde er zornig, bezeichnete sie als untaugliche Hausfrau, als Verschwenderin, als dummes Weib und war stets mit der Drohung bei der Hand, daß er anderswo speisen werde. Nach einem Monat schon hatte er an verschiedenen Morgen vergessen, die drei Franken auf die Kommode zu legen. Schüchtern hatte sie sich erlaubt, danach zu fragen, und jedesmal war es zu neuen Zänkereien gekommen; unter dem geringsten Vorwand machte er ihr das Leben so schwer, daß sie lieber nichts mehr verlangte. Im Gegenteil, wenn er ihr die drei Zwanzigsoustücke nicht gegeben hatte und trotzdem das Mittagessen vorfand, freute er sich wie ein Schneekönig, war galant, küßte Nana und tanzte um die Stühle herum. Und sie war glücklich, so daß sie lieber nichts auf der Kommode zu finden wünschte, wiewohl es ihr die größte Mühe machte, auszukommen. Eines Tages gab sie ihm sogar seine drei Franken zurück und erzählte ihm, sie habe noch Geld vom vorhergehenden Tage. Da er jedoch wußte, daß er ihr am Tage zuvor nichts gegeben hatte, stutzte er einen Augenblick. Aber sie schaute ihn mit ihren liebevollen Augen an, küßte ihn, und er steckte das Geld wieder ein mit jenem krampfhaften Zittern eines Geizigen, der einer verloren geglaubten Summe wieder habhaft wird. Von jetzt an machte er sich keine Sorgen mehr, fragte nicht, woher fernerhin das Geld kam. Nana hatte also ein Mittel gefunden, allem zu genügen. An manchen Tagen war der Haushalt sogar überreichlich versehen. Zweimal wöchentlich litt Bosc an Verdaunngsbeschwerden. Als eines Abends Madame Lerat fortging, wütend darüber, auf dem Herd eine reichliche Mahlzeit zu sehen, von der sie nichts bekam, konnte sie sich nicht enthalten, boshaft zu fragen, wer denn dies alles bezahle. Nana begann zu weinen.

»Nun, das ist nett!« sagte die Tante, die verstanden hatte.

Nana hatte sich ruhig in ihr Schicksal ergeben, um nur Frieden im Hause zu haben; übrigens war die Tricon daran schuld, die Nana eines Tages, als Fontan, über eine Portion Schellfisch wütend, fortgegangen war, in der Rue de Laval getroffen hatte. Da hatte sie der Tricon, die gerade jemanden brauchte, ihre Zusicherung gegeben. Weil Fontan nie vor sechs Uhr nach Hause kam, benutzte sie den Nachmittag und brachte bald vierzig, bald sechzig Franken ein, oft auch noch mehr. Sie hätte zehn, ja fünfzehn Louisdor verdienen können, wenn ihr mehr Zeit geblieben wäre; aber sie war schon zufrieden, so viel zu bekommen, daß sie zu Hause den Fleischtopf füllen konnte. Wenn am Abend Bosc sich gehörig vollgegessen hatte und Fontan sich stolz die Augen küssen ließ, mit der Miene eines Mannes, der um seiner selbst willen geliebt zu werden verdient, vergaß sie alles.

Jetzt war Nana, obwohl sie ihren schönen Fontan immer noch leidenschaftlich liebte, erneut in den Sumpf geraten. Sie lief wieder in ihren Holzschuhen in den Straßen umher, wie in ihren Anfangstagen, um ein Hundertsoustück zu verdienen. Eines Sonntags hatte sie sich auf dem Markt La Rochefoucauld wieder mit Satin ausgesöhnt, nachdem sie ihr wegen Madame Robert wütende Vorwürfe gemacht hatte. Aber Satin erwiderte ruhig, wenn man eine Sache nicht gern habe, so brauche man sie deshalb den anderen noch nicht zu verleiden... Und Nana hatte ihr großmütig verziehen. Mit Satin strich sie jetzt oft in den Straßen umher und huldigte dem gemeinen Laster, das in dem düsteren Schein der Laternen durch die schmutzigen, engen Gassen schleicht. Sie verkehrte wieder in den ordinären Tanzlokalen der Vorstädte, wo sie früher in schmutzigen Kleidern der Unzucht gefrönt hatte; sie sah die dunklen Ecken der Vorstädte wieder, die Ecksteine, auf denen sie als fünfzehnjähriges Mädchen in den Armen der Männer gelegen hatte, während ihr Vater sie suchte, um ihr eine heilsame Lektion zu erteilen.

Der Sommer mit seinen Gewittern und seinen glühend heißen Nächten ging zu Ende. Gegen neun Uhr, nach dem Diner, gingen sie zusammen aus. Auf den Trottoirs der Rue Notre-Dame sah man zwei Frauenreihen mit aufgeschürzten Kleidern und gesenkten Blicken nach den Boulevards an den Läden vorbeieilen, ohne einen Blick nach den Schaufenstern zu werfen; das war die hungrige Meute des Breda-Viertels, die gleich bei Einbruch der Dämmerung auszog. Nana und Satin eilten die Kirche entlang nach der Rue Le Peletier. Als sie hundert Schritte vor dem »Café Riche« auf ihrem Manöverplatz ankamen, brachten sie ihre Kleider in Ordnung und machten von jetzt an, mit ihren Schleppen den Staub aufwirbelnd, kleine Schritte; sie gingen noch langsamer, sobald sie in den grellen Lichtschein eines großen Kaffeehauses gelangten. Laut lachend blickten sie nach den auf sie schauenden Herren zurück. Ihre geschminkten Gesichter erhielten im Dunkel den Reiz orientalischer Huris. Bis gegen elf Uhr gingen sie scherzend unter der Menge auf und ab, riefen einem Ungeschickten, der ihnen aufs Kleid trat, »dummer Tölpel!« zu, wechselten vertrauliche Grüße mit den Cafékellnern, blieben bald an dem, bald an jenem Tisch stehen, um ein Gespräch anzuknüpfen, nahmen Erfrischungen an und schätzten sich glücklich, sich setzen zu dürfen, um den Ausgang der Theatervorstellungen abzuwarten. Je weiter die Nacht vorschritt, desto mehr nahm ihr Benehmen den Charakter gemeiner Dirnen an, und ihre Jagd nach Geld ward immer gieriger. Am Fuße der Bäume, längs den fast menschenleeren Boulevards sah man sie bald ihre Tätigkeit entfalten, während anständige Familien, Vater, Mutter und Töchter, an solche Szenen schon gewöhnt, ruhig vorübergingen. Als nun Nana und Satin wohl zehnmal zwischen dem Opernhause und dem Gymnase-Theater auf und ab flaniert waren, die Herren nicht auf sie hörten und in der zunehmenden Dunkelheit rasch vorübergingen, hielten sie sich mehr auf den Gehwegen der Rue Faubourg-Montmartre auf.

Hier waren bis zwei Uhr die Cafés, die Kneipen und Wurstläden geöffnet, und ein dichtes Gewühl von Dämchen drängte sich hinein und heraus; es war dies der letzte erleuchtete und belebte Winkel im schlummernden Paris, der geeignete Markt für die Geschäfte der Nacht, wo man frank und frei um den Preis handelte wie auf den Korridoren eines öffentlichen Hauses. Und an den Abenden, an denen sie ohne Beute heimgingen, zankten sie miteinander. Die Rue Notre-Dame lag finster und verlassen da, und man sah nur weibliche Schatten vorbeihuschen; es kehrten jetzt die letzten Gäste des Viertels heim, jene armen Mädchen, die über die verlorene Nacht zürnten und verzweifelt nun noch irgendeinen verirrten Trunkenbold anzulocken suchten.

Als Nana eines Abends Satin abholen wollte, sah sie den Marquis de Chouard mit schlotternden Knien und bleichem Gesicht die Treppe herabkommen. Sie zog ihr Taschentuch hervor und stellte sich, als ob sie sich schneuzte. Als sie dann oben in das schmutzstarrende Zimmer trat, gab sie ihrem Erstaunen über Satins Bekanntschaft mit dem Marquis Ausdruck. Ah, meinte diese, gewiß kenne sie ihn; er sei schon so verrückt nach ihr gewesen, als sie noch mit ihrem Pastetenbäcker zusammenlebte; jetzt statte er ihr nur zuweilen einen Besuch ab.

Was Nana vor allem verdutzt machte, war die Offenheit, mit der Satin das Laster betrieb. Dann flößte ihr jene auch eine schreckliche Angst vor der Polizei ein. Satin wußte davon allerhand zu erzählen. Früher hatte sie es mit einem Sittenpolizisten gehalten, damit sie von dieser Seite Ruhe behielt; zweimal hatte er sie vor der Kontrolle gerettet; jetzt zitterte sie, denn sobald sie noch einmal erwischt wurde, war sie verloren. Nana hatte stets vor dem Gesetz gebangt, jener unheimlichen Macht, jener Rächerin der Männer, die sie vernichten konnte, ohne daß ein Hahn nach ihnen krähte. Das St.-Lazare-Gefängnis erschien Nana wie ein Grab, wie ein düsteres Loch, in dem man die Frauen lebendig begrub, nachdem man ihnen die Haare abgeschnitten hatte. Sie sagte sich freilich, daß sie, um einen Beschützer zu finden, bloß von Fontan zu lassen brauche. Satin mochte ihr noch soviel von Listen erzählen, in denen manche Dämchen nebst Photographie eingetragen seien, und ihr beteuern, daß die Polizei diese nicht anrühren dürfe - Nana konnte ihre Furcht nicht meistern; sie zitterte beständig davor, einmal aufgegriffen und zur Visite geführt zu werden. Als sie gegen Ende September mit Satin über den Boulevard des Poissonniers schlenderte, begann diese plötzlich aus Leibeskräften zu laufen, und als jene fragte, was ihr sei, rief sie angsterfüllt:

»Die Polizei! Vorwärts! Geschwind!«

Mitten in dem Menschengewühl begann jetzt eine tolle Jagd. Es gab Stöße, man hörte Angstschreie, ein Weib kam zu Fall, während das Publikum lachend das schonungslose Vorgehen der Polizisten betrachtete, deren Kreis immer enger wurde. Mittlerweile hatte Nana Satin aus den Augen verloren. Erstarrt blieb sie stehen und wäre sicherlich arretiert worden, wenn nicht ein Mann sie am Arm ergriffen und vor den Augen der eifrigen Gesetzeswächter weggeführt hätte. Es war Prullière, der Nana noch eben im kritischen Augenblick erkannt hatte. Ohne ein Wort zu sprechen, bog er mit ihr in die Rue Rougemont ein, wo sie endlich wieder aufatmen konnte, aber so schwach war, daß er sie stützen mußte. Sie dankte ihm nicht einmal.

»Na«, sagte er endlich, »du mußt dich beruhigen... Komm mit zu mir!«

Er wohnte in der Rue Bergère. Sie aber richtete sich stolz auf und sagte entschieden:

»Nein, ich will nicht.«

Da entgegnete er grob:

»Warum willst du denn mit mir nicht gehen, da du es doch sonst niemandem abschlägst?«

»Ich mag eben nicht!«

Er hatte begriffen. Sie liebte Fontan zu sehr, um an ihm mit einem seiner Freunde zur Verräterin zu werden. Gegenüber diesem Trotz zeigte Prullière, der sich in seiner Eigenliebe gekränkt sah, die hämische Seite seines Charakters.

»Nun, ganz wie du willst«, erklärte er. »Nur danke ich dann schön dafür, an deiner Seite zu gehen, meine Liebe... Sieh selbst zu, wie du aus der Klemme kommst.«

Und er verließ sie. Ihre Angst erfaßte sie wieder, und sie machte einen weiten Umweg, um nach dem Montmartre zu kommen, indem sie dicht an den Läden hinschlich und jedesmal vor Schreck zusammenfuhr, sobald sich ein männliches Wesen näherte.

Als Nana am nächsten Tage, noch von Furcht befangen vor den Schrecknissen des vergangenen Abends, zu ihrer Tante ging, sah sie sich in der kleinen, einsamen Rue des Batignolles plötzlich Labordette gegenüber.

Zuerst schienen sie sich voreinander zu genieren; Labordette, wie immer gefällig, hatte geheime Geschäfte zu besorgen. Dennoch faßte er sich zuerst und war außerordentlich erfreut über das herrliche Zusammentreffen. Jedermann sei noch ganz bestürzt über Nanas völliges Verschwinden, versicherte er. Man wünsche sie zurück, und ihre Freunde brannten vor Begier, sie wiederzusehen. Und so hielt er ihr eine väterliche Strafpredigt.

»Unter uns gesagt, meine Liebe, die Geschichte mit dir wird allmählich lächerlich... Man begreift wohl eine momentane Laune; aber so weit herunterzukommen und nur Ohrfeigen einzuheimsen! Du willst wohl gar den Tugendpreis ernten?«

Verwirrt hörte sie seine Worte an. Als er aber von Rose sprach, wie sie mit der Eroberung des Grafen Muffat triumphierte, leuchtete es in ihren Augen auf wie ein Blitz. Sie murmelte:

»Oh, wenn ich wollte ...«

Als aufmerksamer Freund schlug er sofort seine Vermittlung vor. Aber sie weigerte sich. Er teilte ihr ferner mit, daß Bordenave jetzt ein Stück von Fauchery vorbereite, in dem eine herrliche Rolle für sie vorkomme.

»Wie, ein Stück, das eine Rolle für mich hat?« rief sie bestürzt aus. »Und er hat mir nichts gesagt?«

Sie meinte Fontan, nannte ihn aber nicht. Übrigens beruhigte sie sich gleich wieder. Niemals, entgegnete sie, werde sie wieder zur Bühne zurückkehren... Ohne Zweifel war Labordette von ihren Worten noch nicht fest überzeugt, denn er lächelte und drang noch weiter in sie.

»Du weißt, daß man bei mir nichts zu fürchten hat! Ich bereite deinen Muffat vor, du kommst wieder in das Theater, und ich führe ihn dir demütig zu.«

»Nein!« sagte sie energisch.

Und sie verließ ihn; ihr Heldenmut setzte sie selbst in Erstaunen; einem Manne sogar hätte es zur Ehre gereichen können, sich so zu opfern, ohne es auszuposaunen. Dennoch war ihr ein Umstand aufgefallen: Labordette hatte ihr soeben genau dieselben Ratschläge gegeben wie Francis. Als Fontan am Abend nach Hause kam, fragte sie ihn über das Stück Faucherys, da Fontan seit zwei Monaten wieder im Theater beschäftigt war. Warum hatte er ihr von der Rolle nichts gesagt?

»Welche Rolle?« fragte er schroff. »Du meinst doch nicht etwa die Rolle der großen Dame?... Ah! Fühlst du etwa Talent in dir? Die Rolle, mein Kind, würde dich ruinieren... Du bist komisch, Nana!«

Als Nana eines Abends gegen elf Uhr nach Hause kam, fand sie die Tür verschlossen. Sie klopfte: keine Antwort; sie klopfte nochmals: wieder keine Antwort. Dennoch sah sie Licht hinter der Tür, und Fontan, denn dieser war drinnen, ging ungeniert im Zimmer umher. Geduldig klopfte sie ein drittes Mal und rief ärgerlich nach Einlaß. Endlich ließ sich Fontans Stimme hören; langsam sagte er nur:

»Ja, Dreck!«

Sie pochte mit den Fäusten.

»Ja, Dreck!«

Sie donnerte so stark, daß es schien, als wollte sie die Tür sprengen.

»Ja, Dreck!«

So mußte sie eine Viertelstunde lang immer nur dieses eine Wort hören, das wie ein spottendes Echo auf jeden der Schläge ertönte, mit denen sie die Tür erschütterte. Als Fontan endlich sah, daß sie nicht nachließ, öffnete er rasch, postierte sich mit verschränkten Armen auf der Schwelle und sagte mit derselben Gefühllosigkeit:

»Verflucht! Sind Sie nun endlich fertig? Was wollen Sie denn hier?... Lassen Sie mich in Ruhe schlafen! Sie sehen doch, daß ich nicht allein bin.«

Er war in der Tat nicht allein. Nana bemerkte die kleine Schauspielerin aus dem Bouffestheater bei ihm, die mit ihren Flachshaaren und ihren großen Augen, schon halb entkleidet, inmitten der Möbel stand, die Nana gekauft hatte. Aber Fontan trat einen Schritt auf den Korridor hinaus, spreizte seine dicken Finger wie Zangen aus und schrie:

»Mach', daß du von hier wegkommst, oder ich erwürge dich!«

Da brach Nana in Schluchzen aus und zog sich furchtsam zurück. Diesmal ward sie zur Tür hinausgeworfen! Auf der Straße angekommen, war ihr erster Gedanke, bei Satin ein Unterkommen zu suchen, falls diese keinen Besuch hatte. Sie traf aber Satin schon vor dem Hause; auch sie war hinausgeworfen worden, und zwar von ihrer Wirtin, die soeben gegen alles Recht ein Vorlegeschloß an ihrer Tür befestigt hatte; denn sie wohnte ja nicht bei ihr zur Miete, sondern besaß ihre eigenen Möbel. Satin fluchte und wollte die Sache der Polizei übergeben. Als beide bis Mitternacht gewartet hatten, sahen sie sich genötigt, ein Unterkommen zu suchen. Da nun Satin die Polizei doch lieber nicht in ihr Geheimnis ziehen wollte, führte sie Nana nach der Rue de Laval zu einer Dame, die ein kleines Hôtel garni besaß. Hier wurde ihnen im ersten Stock ein enges Zimmer angewiesen, dessen Fenster nach dem Hof hinausging. Satin meinte:

»Ich wäre gern zu Madame Robert gegangen; dort ist für mich immer ein Plätzchen... Aber mit dir ist das unmöglich. Sie wird vor Eifersucht närrisch; neulich hat sie mich sogar geschlagen.«

Als sie ihr Zimmer zugeschlossen hatte, brach Nana, die noch immer trostlos war, in Tränen aus und erzählte wohl zwanzigmal die gemeine Handlungsweise Fontans. Satin hörte gutmütig zu und tröstete sie.

»Oh, diese Hunde! Oh, diese Hunde!« rief sie aus. »Siehst du, nimm auf solche Banditen nur ja keine Rücksicht mehr!«

Dann war sie Nana beim Auskleiden behilflich, beflissen wie eine zuvorkommende Dienerin. Schmeichelnd sagte sie:

»Wir wollen nun schnell zu Bett gehen, mein Miezchen, das wird das beste sein... Ach, wie dumm bist du, dich darüber zu ärgern! Ich sage dir, es sind elende Kerle! Denke gar nicht an sie... Ich bin dir sehr zugetan. Weine nicht, mir zuliebe!«

Im Bett umarmte und herzte sie Nana, um sie zu beruhigen. Sie wollte den Namen Fontan nicht mehr hören; jedesmal, wenn ihre Freundin ihn aussprechen wollte, erstickte sie ihn durch einen Kuß. So stillte Nana allmählich ihre Tränen. Sie war gerührt und zeigte sich ebenfalls zärtlich gegen Satin. Als es zwei Uhr schlug, brannte die Nachtkerze immer noch, und man hörte das leise Geflüster der beiden Frauenzimmer. Aber plötzlich entstand im Hotel ein Geräusch, das näher und näher zu kommen schien. Satin sprang halbnackt, wie sie war, auf und lauschte.

»Hu, die Polizei!« rief sie und erbleichte. »Ach, verdammt! Kein Ausweg!... Wir sind verloren!«

Schon zwanzigmal hatte sie in Hotels derartige Szenen erlebt; aber gerade an diesem Abend, als sie ihre Zuflucht nach der Rue de Laval nahmen, hatte keine von beiden Argwohn gehegt. Bei dem Wort »Polizei« hatte Nana völlig den Kopf verloren. Sie sprang aus dem Bett, eilte durch das Zimmer und öffnete mit der verstörten Miene einer Rasenden, die sich hinabstürzen will, das Fenster. Glücklicherweise war der kleine Hof mit einem Glasdach versehen, und an dem ersten Stockwerk befand sich ein Drahtgitter. So zögerte sie denn nicht, stieg zum Fenster hinaus und verschwand mit flatterndem Hemde im nächtlichen Dunkel.

»Bleib doch hier!« rief Satin erschrocken. »Du wirst dir den Tod holen!«

Als gleich darauf an die Tür gedonnert wurde, schloß sie gutmütig das Fenster und verbarg die Kleider ihrer Freundin in einem Schrank. Sie hatte sich in ihr Schicksal ergeben. Sie sagte sich, daß sie, wenn man sie auch unter Kontrolle brachte, doch wenigstens die elende Furcht nicht mehr zu hegen brauchte. Sie stellte sich jetzt, als habe man sie aus dem Schlaf geweckt, und öffnete schließlich gähnend, nachdem sie eine Weile unterhandelt hatte, einem langen Kerl mit schmierigem Bart, der sie anherrschte:

»Zeigen Sie Ihre Hände... Sie haben keine zerstochenen Finger, also arbeiten Sie nicht! Vorwärts, kleiden Sie sich an!«

»Aber ich bin doch nicht Näherin, ich bin Poliererin«, gab Satin frech zur Antwort.

Sie kleidete sich gehorsam an, da sie wußte, daß Entschuldigungen nichts nützten. Ein allgemeines Geschrei erhob sich im Hotel: ein Mädchen klammerte sich an die Tür und wollte nicht gehen; eine andere, die mit ihrem Verehrer zusammen war, der für sie antwortete, spielte die entrüstete, ehrbare Frau und wollte gegen den Polizeipräfekten einen Prozeß anstrengen. Fast eine Stunde lang ertönte das Haus von Tritten, von zugeworfenen Türen, von Zänkereien, die allmählich in Seufzer übergingen, von dem Schleifen der Kleider an den Wänden; es entrollte sich das Bild eines Mädchentrosses, der schonungslos von drei Polizisten unter der Führung eines kleinen, blonden, sehr höflichen Kommissars zusammengetrieben wurde. Hierauf trat wieder tiefes Schweigen im Hotel ein.

Niemand hatte Nana verraten, sie war gerettet. Im Finstern tappend, kehrte sie zitternd und vor Frost halbtot in ihr Zimmer zurück. Ihre nackten Füße bluteten. Lange blieb sie auf dem Bettrand sitzen und lauschte noch immer. Gegen Morgen schlief sie ein, aber als sie um acht Uhr erwachte, floh sie aus dem Hotel zu ihrer Tante. Als Madame Lerat, die mit Zoé gerade Kaffee trank, sie zu dieser Stunde und in diesem verwahrlosten Zustand erblickte, begriff sie sofort alles.

»Nun? So weit ist es also!« rief sie. »Ich hatte es dir gleich gesagt, daß er dir noch das Fell über die Ohren ziehen würde... Schnell, schnell, komm herein, ich, meine Liebe, werde dich stets gut aufnehmen.«

Zoé war aufgestanden und murmelte mit achtungsvoller Vertraulichkeit:

»Endlich ist Madame wieder zurück... Ich habe auf Madame gewartet.«

Aber Madame Lerat wünschte, Nana sollte sofort den kleinen Louis umarmen, weil, so sagte sie, dieses Kind ihr Glück sei. Louis schlief noch; sein Aussehen war kränklich und sein Puls schwach. Und als Nana sich über sein bleiches, skrofulöses Gesicht beugte, kamen ihr alle Erinnerungen wieder ins Gedächtnis.

»Oh, mein armes Kind, mein armes, armes Kind!« stammelte sie und erstickte fast unter Schluchzen.


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