Emile Zola
Nana
Emile Zola

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Sechstes Kapitel

Graf Muffat war in Begleitung seiner Gemahlin und seiner Tochter in Les Fondettes angelangt, wohin Madame Hugon, die sich mit ihrem Sohne Georges allein hier befand, sie auf acht Tage eingeladen hatte. Das Haus, gegen Ende des 17. Jahrhunderts erbaut, erhob sich inmitten eines gewaltigen, schmucklosen Hofes; doch der Garten hatte prächtige schattige Plätze, und eine Reihe von Bassins wurde durch Quellen mit fließendem Wasser gespeist. Längs der Straße von Orléans nach Paris sah man gleichsam eine Flut von üppigem Grün; herrliche Baumgruppen unterbrachen das einförmige Bild dieses flachen Landes, in dem sich die Felder ins Unendliche zu erstrecken schienen.

Als um elf Uhr der zweite Glockenschlag alles zum Frühstück gerufen hatte, drückte Madame Hugon mit ihrem liebevollen Lächeln zwei Küsse auf Sabines Wangen und sagte:

»Du weißt, auf dem Lande ist das meine Gewohnheit ... Es macht mich stets zwanzig Jahre jünger, wenn ich dich sehe ...«

Man hatte in dem riesigen Speisesaal Platz genommen, dessen Fenster auf den Park hinausgingen. Allein man nahm nur einen kleinen Teil der Tafel ein und hatte sich eng aneinander gesetzt, um dichter beisammen zu sein.

»Es ist nicht hübsch«, fuhr Madame Hugon fort. »Ich erwarte Sie bereits seit Juli, und jetzt haben wir Mitte September ... Sie müssen doch zugeben, daß das nicht recht ist!«

Mit einer Handbewegung zeigte sie nach den Bäumen, die schon anfingen, gelb zu werden. Das Wetter war trübe, und ein dünner bläulicher Nebel lagerte mit melancholischer Ruhe am Horizont.

»Ich erwarte noch mehr Gäste«, fuhr sie fort; »es wird recht lustig werden ... Erstens zwei Herren, die Georges eingeladen hat, Herrn Fauchery und Herrn Daguenet; Sie kennen sie, nicht wahr? Dann Herrn von Vandeuvres, der es mir schon seit acht Jahren versprochen hat. Dieses Jahr wird er wohl kommen.«

»Ja«, sagte die Gräfin lachend, »Herrn von Vandeuvres kann man nie bestimmt erwarten. Er ist zu sehr beschäftigt.«

»Und Philippe?« fragte Muffat.

»Philippe hat Urlaub beantragt«, versetzte die alte Dame, »aber sicherlich werden Sie bei seiner Ankunft nicht mehr in Les Fondettes sein.«

Man servierte den Kaffee; man kam auf Paris zu sprechen, und der Name Steiner wurde genannt. Dieser Name entlockte Madame Hugon einen leisen Ausruf.

»Apropos«, sagte sie, »Herr Steiner ist wohl jener dicke Herr, den ich eines Abends bei Ihnen traf? Ein Bankier, nicht wahr? Ist das ein häßlicher Mensch! Hat er nicht eine Meile von hier, da unten hinter der Choue neben Cumières, für eine Schauspielerin ein Grundstück gekauft? Die ganze Umgegend ist darüber aufgebracht! Wußten Sie es schon, mein Freund?«

»Keine Silbe«, antwortete Muffat. »Ah, Steiner hat hier in der Umgegend ein Landhaus gekauft?«

Als Georges seine Mutter über dieses Thema sprechen hörte, hatte er sich über seine Tasse gebeugt; allein jetzt blickte er auf und sah den Grafen an, über dessen Antwort er staunte. Warum log er so plump? Der Graf seinerseits hatte die Bewegung des jungen Mannes bemerkt und warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Madame Hugon fuhr in ihren Auseinandersetzungen fort. Das Landgut heiße La Mignotte; man müsse die Choue bis nach Cumières hinaufgehen und dann eine Brücke überschreiten, wodurch der Weg zwei gute Kilometer länger werde; wenn man anders gehen wolle, bekomme man nasse Füße und riskiere, ins Wasser zu stürzen.

»Und wie heißt die Schauspielerin?« fragte die Gräfin.

»Ach, man hat es mir gesagt«, murmelte die alte Frau. »Georges, du warst heute früh dabei, als der Gärtner mit uns darüber sprach ...«

Georges tat, als könne er nicht auf den Namen kommen. Muffat wartete und bewegte einen kleinen Löffel zwischen den Fingern. Jetzt wandte sich die Gräfin an ihn:

»Verkehrt Herr Steiner nicht mit jener Sängerin vom Varietétheater, jener ... Nana?«

»Jawohl, Nana, ganz recht! ... Es ist schrecklich!« rief Madame Hugon außer sich. »Man erwartet sie in La Mignotte. Ich weiß alles durch meinen Gärtner ... Nicht wahr, Georges, der Gärtner sagte, man erwarte sie heute abend!«

Der Graf zuckte leise vor Überraschung zusammen. Georges indes gab lebhaft zur Antwort: »Oh, Mama, der Gärtner wußte es nicht genau ... Soeben sagte der Kutscher das Gegenteil: man erwarte vor übermorgen niemanden in La Mignotte.«

Er suchte eine unbefangene Miene anzunehmen, während er verstohlen die Wirkung seiner Worte auf den Grafen beobachtete. Die Gräfin saß in den Anblick des dunklen Hintergrundes des Parks versunken und schien für die Unterhaltung nicht mehr vorhanden zu sein; denn sie ging mit dem Schimmer eines Lächelns einem heimlichen Gedanken nach, der plötzlich in ihr erwacht war, während Estelle, nachlässig auf ihrem Stuhl sitzend, das über Steiner Erzählte angehört hatte, ohne daß ihr blasses, jungfräuliches Gesicht eine Bewegung gezeigt hätte.

»Mein Gott«, murmelte nach einigem Schweigen Madame Hugon, die ihre gute Laune wiedergefunden hatte, »ich habe eigentlich wohl unrecht, böse zu sein! Jedermann muß leben ... Wenn wir jene Person auf der Straße treffen, so grüßt man sie einfach nicht.«

Und als man von der Tafel aufstand, machte sie der Gräfin Sabine nochmals Vorwürfe, weil sie sich so lange nicht habe bei ihr sehen lassen. Die Gräfin entschuldigte sich und schob die Verzögerung auf ihren Gatten; zweimal habe er am Abend vor der Abreise, als schon die Koffer gepackt gewesen, seine Gegenbefehle gegeben und dringende Geschäfte vorgeschützt; jetzt, wo man nicht mehr an die Reise dachte, habe er sich plötzlich entschlossen herzureisen. Darauf erzählte die alte Dame, daß auch Georges ihr zweimal seine Ankunft angezeigt habe, ohne zu erscheinen, und daß er am Abend vorher, als sie gar nicht mehr mit ihm rechnete, plötzlich nach Les Fondettes gekommen sei... Man war eben im Garten angelangt, die beiden Herren, rechts und links von den Damen, hörten schweigend zu.

»Tut nichts!« sagte Madame Hugon und küßte das blonde Haar ihres Sohnes. »Zizi ist sehr liebenswürdig, daß er endlich zu seiner Mutter aufs Land gekommen ist... Dieser gute Zizi, er vergißt mich doch nicht!«

Am Nachmittag empfand sie eine gewisse Unruhe. Georges, der gleich nach Tisch sich über eine Schwere im Kopf beklagt hatte, schien von heftiger Migräne erfaßt zu werden. Gegen vier Uhr wollte er sich zu Bett legen, da dies das einzige Heilmittel sei; wenn er bis zum nächsten Morgen geschlafen habe, werde er sich wieder wohlfühlen. Seine Mutter ließ es sich nicht nehmen, ihn selbst zu Bett zu bringen. Als sie jedoch hinausging, sprang er auf und drehte den Schlüssel unter dem Vorwand herum, er wolle sich einschließen, damit man ihn nicht störe; er rief mit zärtlicher Stimme: »Gute Nacht, Mütterchen, morgen auf Wiedersehen!« und versprach, gut zu schlafen. Er legte sich aber nicht nieder, da ihm nicht das mindeste fehlte, sondern zog sich an und wartete unbeweglich auf einem Stuhl. Als man zum Diner läutete, paßte er dem Grafen Muffat auf, der sich nach dem Salon begab. Zehn Minuten später schlich er, sicher, nicht mehr bemerkt zu werden, ans Fenster und ließ sich an einem Riemen hinab; sein Zimmer lag nämlich im ersten Stock und ging nach der Rückseite des Hauses. Er warf sich in ein dichtes Gebüsch, verließ den Park und eilte mit leerem Magen, während ihm das Herz vor Erregung klopfte, querfeldein auf die Choue los. Die Nacht brach an, und ein feiner Regen begann herabzurieseln.

Es war gerade an dem Abend, an dem Nana in La Mignotte ankommen sollte. Nachdem ihr Steiner im Mai dieses Landhaus gekauft hatte, wurde sie von Zeit zu Zeit von solcher Sehnsucht danach ergriffen, daß sie weinte; aber jedesmal verwehrte ihr Bordenave auch den geringsten Urlaub und vertröstete sie auf den September: er könne sie nicht ersetzen und brauche sie jeden Abend, zumal während der Ausstellung. Gegen Ende August sprach er von Oktober; aber Nana erklärte zornig, sie werde bestimmt am 15. September nach La Mignotte gehen. Um Bordenave zu trotzen, lud sie sogar in seiner Gegenwart eine Menge Leute ein. Als eines Nachmittags Muffat, dem sie sich in schlauer Weise immer noch versagte, sie in ihrer Wohnung um Erhörung bat, versprach sie ihm endlich, entgegenkommender zu sein, aber nur auf dem Lande, und auch ihm gab sie den 15. September als den Tag ihrer Abreise an. Schon am 12. fühlte sie indes das Bedürfnis, mit Zoé allein und sogleich abzureisen, denn womöglich fände Bordenave, davon benachrichtigt, nochmals ein Mittel, sie zurückzuhalten. Sie machte sich den Spaß, ihn im Stich zu lassen, indem sie ihm ein ärztliches Zeugnis schickte. Als der Gedanke in ihr gereift war, zuerst in La Mignotte anzukommen und dort, ohne daß es jemand wußte, zwei Tage allein zu leben, zankte sie mit Zoé wegen der Koffer und schob sie in einen Fiaker, wo sie sie gerührt um Verzeihung bat und umarmte. Erst auf dem Bahnhof dachte sie daran, Steiner durch einen Brief zu benachrichtigen. Sie bat ihn, mit seinem Besuch bis übermorgen zu warten, wenn er sie vollkommen erholt antreffen wolle. Plötzlich aber faßte sie einen neuen Entschluß, schrieb einen zweiten Brief an ihre Tante und bat sie, den kleinen Louis ungesäumt zu ihr zu bringen, die Landluft werde dem Kinde sehr wohltun. Auf der Fahrt von Paris nach Orléans sprach sie in einer plötzlichen Anwandlung von Mutterliebe nur von Blumen, Vögeln und ihrem Kinde.

La Mignotte war höchstens drei Wegstunden entfernt. Nana brauchte allein eine Stunde, einen Wagen zu mieten, und fand endlich eine ungeheure alte Kalesche, die knarrend langsam dahinrollte. Sie unterhielt sich sogleich mit dem Kutscher, einem kleinen, schweigsamen Alten, und bestürmte ihn mit Fragen. »Sind Sie schon oft an La Mignotte vorbeigefahren? Ist es hier hinter diesem Hügel? Es scheint viel Bäume dort zu geben, nicht wahr? Sieht man das Haus aus der Ferne?« Der kleine Alte antwortete nur brummend. Im Wagen hüpfte Nana vor Freude hin und her, während Zoé ärgerlich war, daß sie Paris so schnell hatte verlassen müssen, und sich deshalb steif und unfreundlich zeigte. Auf einmal war das Pferd stehengeblieben, und das junge Weib glaubte sich am Ziele; sie schaute zur Tür hinaus und fragte:

»Nun, sind wir schon da?«

Statt aller Antwort hieb der Kutscher auf das Pferd ein, das mühsam wieder anzog. Entzückt betrachtete Nana die weite Ebene unter dem grauen Himmel, an dem sich dichte Wolken zusammenballten.

»Oh, sieh doch, Zoé, dieses Gras! Ist das alles Getreide? Mein Gott, wie hübsch das ist!«

»Man sieht, daß Madame nicht vom Lande ist«, sagte endlich Zoé geringschätzig. »Ich habe das Landleben nur zu gut kennengelernt, als ich bei meinem Zahnarzt war, der in Bougival ein Haus besaß. Übrigens, heute abend wird es kalt; hier ist es feucht.«

Man kam an Bäumen vorüber; Nana schnupperte den Blütenduft ein wie ein Hündchen. Plötzlich an einer Wegbiegung bemerkte sie durch die Zweige den Teil eines Hauses. Vielleicht war es hier? Und sie sprach mit dem Kutscher, der immer nur kopfschüttelnd verneinte. Als man hierauf bergab fuhr, streckte er einfach seine Peitsche aus und murmelte:

»Sehen Sie, dort unten ist's!«

Sie erhob sich und beugte sich weit zur Tür hinaus.

»Wo denn, wo denn?« rief sie erregt und konnte immer noch nichts erblicken.

Endlich unterschied sie eine Mauerecke und bekundete durch leise Ausrufe und unruhige Bewegungen ihre lebhafte Aufregung.

»Zoé, ich sehe es, ich sehe es! Setz' dich auf die andere Seite... Oh, auf dem Dache ist eine Backsteinterrasse, und unten ist ein Gewächshaus! Ach, wie groß... Oh, wie zufrieden ich bin! Sieh doch, Zoé, sieh doch!« Der Wagen hatte vor dem Gittertor gehalten. Eine kleine Tür öffnete sich, und der große, hagere Gärtner erschien, ehrerbietig das Mützchen in der Hand. Nana versuchte, wieder eine hoheitsvolle Miene aufzusetzen, denn der Kutscher mit seinen festgeschlossenen Lippen schien schon innerlich über sie zu lachen. Sie blieb stehen und hörte dem Gärtner zu, der Madame wegen der herrschenden Unordnung um Entschuldigung bat; sicher wäre alles beseitigt, wenn er wenigstens am Morgen noch den Brief von Madame erhalten hätte. Allein sie war weitergegangen, so schnell, daß ihr Zoé gar nicht folgen konnte. Erst am Ende der Allee blieb sie stehen und betrachtete entzückt das Haus. Es war ein großer Pavillon im italienischen Stil, an dessen Seite noch ein kleines Gebäude stand; ein reicher Engländer hatte beides nach einem zweijährigen Aufenthalt in Neapel erbauen lassen, war seiner aber sofort wieder überdrüssig geworden.

»Ich will Madame herumführen«, sagte der Gärtner.

Aber wieder war sie ihm enteilt und rief ihm zu, sich nicht stören zu lassen, da sie am liebsten allein herumgehe. Und ohne den Hut abzulegen, eilte sie in die Zimmer und rief Zoé ihre Ansicht von dem einen Ende des Korridors aus zu, so daß ihr Schreien und Lachen das ruhige Innere dieses seit Monaten schon unbewohnten Hauses erfüllte. Zuerst das Vorzimmer: es sei ein wenig feucht, allein das tue nichts, man schlafe ja nicht hier. Sehr nett war der Salon mit seinen auf einen Rasenplatz gehenden Fenstern, nur die roten Möbel seien abscheulich, das müsse geändert werden. Was den Speisesaal anbetraf, so verdiente er alles Lob; welche glänzenden Feste könnte man in Paris geben, wenn man einen so herrlichen Speisesaal hätte! Als sie nach dem ersten Stock hinaufstieg, besann sie sich, daß sie die Küche noch nicht gesehen hatte. Daher ging sie wieder hinab und rief Zoé herbei, die den schönen Gußstein und den großen Herd bewundern mußte, auf dem man einen ganzen Hammel braten konnte. Als sie wieder hinaufgestiegen war, fand sie besonders an ihrem Zimmer Gefallen, das ein Tapezierer aus Orléans geschmückt hatte. Ach, hier mußte es sich schön schlafen! Endlich kamen vier oder fünf Gastzimmer und prächtige Kammern, in denen die Koffer einen famosen Platz finden würden. Zoé dagegen warf mit verdrießlicher Miene einen oberflächlichen Blick in jedes Zimmer und ging langsam hinter Madame her. Sie sah, wie diese die steilen Stufen nach der Speisekammer hinaufgehastet und oben verschwunden war. Danke! Sie hatte keine Lust, sich die Beine zu brechen. Da tönte ihr eine Stimme von fern her entgegen, als ob sie just aus dem Kamin käme:

»Zoé, Zoé, wo bist du? Komm doch herauf! Oh, du hast keine Ahnung... Es ist zauberhaft!«

Zoé stieg unwillig hinauf und fand Madame auf dem Dache, sich an der Backsteinrampe anhaltend und in Betrachtung des sich weithin erstreckenden Tales versunken. Man hatte eine weite Aussicht, aber der Horizont war in graue Nebel gehüllt, und ein heftiger Wind trieb feine Regentropfen dahin. Nana mußte ihren Hut mit beiden Händen halten, damit er nicht fortgeweht wurde, und ihre Kleider flatterten wie eine Fahne hin und her.

»Ach nein, danke bestens!« sagte Zoé und trat zurück. »Madame wird noch fortgeblasen werden... Welch ein elendes Wetter!«

Madame aber hörte nicht, sondern betrachtete vornübergebeugt die unter ihr ausgebreitete Besitzung, die sechs oder sieben Morgen, mit Mauern umfriedet, umfaßte. Sodann beschäftigte sie völlig der Anblick des Gemüsegartens. Sie rannte hinab und stieß die Zofe vor sich her, indem sie vor freudiger Erregung stotterte:

»Er ist ganz voll Kohl! Oh, so große Kohlköpfe!... Salat, Petersilie, Zwiebeln, alles! Komm schnell!«

Der Regen wurde heftiger, sie spannte ihren weißseidenen Sonnenschirm auf und lief in den Alleen herum.

»Madame wird sich eine Erkältung zuziehen!« rief Zoé, die ruhig unter der Markise auf der Freitreppe geblieben war. Aber Madame wollte sich umschauen, und bei jeder neuen Entdeckung jubelte sie laut:

»Zoé, Spinat! Komm doch!... Oh, Artischocken! Sind die herrlich! Die blühen also auch, die Artischocken?... Sieh, was ist das? Ich kenne es nicht... Komm doch, Zoé, du weißt es vielleicht.«

Die Zofe aber rührte sich nicht; sie müsse wohl närrisch sein, ihre Madame! Jetzt regnete es in Strömen, der kleine, weißseidene Sonnenschirm war schon ganz naß geworden; und da er Madame nicht ganz bedeckte, lief das Wasser an ihrem Kleid herab. Das störte sie aber gar nicht. Mitten in dem Regenguß ging sie nach dem Gemüsegarten, dem Obstgarten, wo sie bei jedem Baum stehenblieb und sich über jedes Gemüsebeet beugte. Jetzt warf sie einen Blick in den Brunnen, dann wieder hob sie ein Mistbeetfenster empor, um zu sehen, was sich darunter befinde, und blieb schließlich ganz in den Anblick eines gewaltigen Kürbisses vertieft. Ihr Wunsch war, sämtliche Alleen zu durchwandern und so auf einmal von allen den Dingen Besitz zu nehmen, von denen sie einst oft geträumt hatte, als sie noch als Arbeiterin in ihren Holzschuhen über das Pariser Straßenpflaster geschlurft war. Der Regen fiel immer heftiger, sie aber fühlte es nicht und bedauerte nur, daß die Dunkelheit schon hereinbrach. Plötzlich entdeckte sie beim Schein der Dämmerung Erdbeeren und jubelte mit kindlicher Freude:

»Erdbeeren! Erdbeeren! Es sind Erdbeeren, ich rieche sie! Zoé, einen Teller, wir wollen sie pflücken!«

Und Nana hockte sich in den Schmutz und ließ ihren Sonnenschirm fallen, so daß der Regen voll auf sie herabströmte. Mit den Händen zwischen den Blättern wühlend, pflückte sie Erdbeeren; aber Zoé brachte keinen Teller. Als das junge, schöne Weib wieder aufstand, erschrak es heftig, denn es war ihm vorgekommen, als ob ein Schatten vorbeihuschte. »Hu, ein Tier!« kreischte sie.

Aber bestürzt blieb sie mitten in der Allee stehen, denn es war ein Mensch, und sie hatte ihn auch schon erkannt.

»Wie! Bébé ist's! Was suchst du denn hier, Bébé?«

»Nun«, erwiderte Georges, »ich bin eben zu dir gekommen!«

Sie war maßlos erstaunt.

»Du hast also meine Ankunft vom Gärtner erfahren? ... Oh, das arme Kind, er ist ganz durchnäßt!«

»Ach, ich will es dir sagen. Der Regen überraschte mich unterwegs, und da ich nicht bis nach Cumières zurückgehen wollte, überschritt ich die Choue, wobei ich in solch ein verwünschtes Wasserloch fiel.«

Da vergaß Nana plötzlich die Erdbeeren und zitterte vor Mitleid. Der arme Zizi, in ein Wasserloch gefallen! Sie zog ihn mit sich fort nach dem Hause und versprach, ein tüchtiges Feuer anzuzünden.

»Weißt du«, flüsterte er ihr verstohlen zu, sie im Schatten zurückhaltend, »ich verbarg mich, weil ich fürchtete, gescholten zu werden wie in Paris, wenn du mich unerwartet kommen sähest.«

Ohne zu antworten, küßte sie ihn lachend auf die Stirn. Bis heute hatte sie ihn als einen unverständigen Knaben behandelt, seine Liebeserklärungen nicht ernstgenommen und ihn lediglich zum besten gehabt. Das heutige Ereignis änderte aber ihre Gesinnung. Sie verlangte nun ausdrücklich, daß ihr Zimmer geheizt werde; man könne sich dort bequemer aufhalten, meinte sie. Das Erscheinen Georges' hatte Zoé nicht überrascht, da sie an derartige Vorkommnisse gewöhnt war. Der Gärtner indessen, der Brennholz hinauftrug, blieb verdutzt stehen, als er den von Wasser triefenden jungen Herrn bemerkte, dem er, wie er sicher wußte, das Tor nicht geöffnet hatte. Man schickte ihn aber fort, da man seiner nicht mehr bedurfte. Eine Lampe erleuchtete das Gemach, und das Feuer verbreitete einen hellen Schein.

»Der arme Zizi wird gar nicht trocken; er wird sich am Ende noch einen Schnupfen zuziehen«, sagte Nana, als sie Georges frösteln sah. Und nicht eine einzige Männerhose war im Hause! Schon wollte sie den Gärtner zurückrufen, als ihr ein Gedanke kam. Zoé, die im Toilettenzimmer die Koffer auspackte, brachte für Madame frische Wäsche.

»Das ist vortrefflich!« rief die junge Frau. »Das alles kann Zizi anlegen! Sobald deine Kleider trocken sind, ziehst du sie wieder an und gehst schnell nach Hause, damit dich deine Mama nicht ausschilt... Beeile dich, ich werde mich unterdessen auch umkleiden.«

Als sie nach zehn Minuten im Hausanzug wieder zurückkam, klatschte sie vor Freude in die Hände.

»Oh, der liebe Bursche! Wie nett er als Mädchen aussieht!«

Er hatte ein weißes Nachthemd, ein gesticktes Beinkleid und den langen, mit Spitzen garnierten Frisiermantel angelegt. Darin sah er aus wie ein Mädchen mit seinen nackten jugendlichen Armen, während seine noch feuchten Haare ihm in den Nacken fielen.

»Er ist ebenso schlank wie ich!« sagte Nana, ihn an der Taille fassend. »Zoé, sieh einmal, wie ihm das steht! Es ist wie für ihn gemacht.«

Alle drei waren belustigt. Nana hatte angefangen, den Frisiermantel von unten nach oben zuzuknöpfen, damit es anständig aussehe, wie sie meinte. Sie drehte ihn wie eine Puppe und versetzte ihm ein paar zärtliche Püffe. Sie fragte ihn unaufhörlich, ob er sich wohlfühle, ob es ihm nun warm sei, was er behaglich schmunzelnd bejahte.

Indessen hatte Zoé eben die nassen Kleider hinunter in die Küche getragen, um sie dort möglichst schnell an einem Holzfeuer zu trocknen. Hierauf wagte Georges, in einem Lehnstuhl ausgestreckt, ein Geständnis zu machen. »Sag einmal«, begann er, »ißt du denn heute abend nicht? Ich sterbe fast vor Hunger, da ich noch nicht einmal zu Mittag gegessen habe.«

Nana ärgerte sich über seine Dummheit, mit leerem Magen von dem mütterlichen Hause fortzulaufen, um in ein Wasserloch zu fallen. Allein auch ihr knurrte der Magen, und sicherlich mußte man etwas genießen! So wurde denn ein Tischchen in die Nähe des Ofens geschoben und darauf ein sonderbares Abendessen hergerichtet. Zoé eilte nämlich zum Gärtner, der für den Fall, daß Madame vor ihrer Ankunft in Orléans nicht zu Mittag gegessen haben sollte, eine Kohlsuppe gekocht hatte; Madame hatte in ihrem Briefe zu bemerken vergessen, was er vorbereiten solle. Glücklicherweise war der Weinkeller gut versorgt. Man erhielt also eine Kohlsuppe mit einem Stück Speck. Darauf holte Nana aus ihrer Tasche noch verschiedene Dinge, die sie aus Vorsicht eingesteckt hatte: eine kleine Leberpastete, eine Tüte voll Bonbons und einige Apfelsinen. Beide aßen wie die Wölfe, mit unendlichem Appetit und wie Kameraden, die sich voreinander nicht genieren. Zum Dessert leerten sie, um Zoé nicht zu stören, mit ein und demselben Löffel abwechselnd einen Topf voll Eingemachtes, den sie oben auf einem Schrank gefunden hatten.

»Ach, mein Lieber«, sagte Nana und schob den Tisch zurück, »seit zehn Jahren habe ich nicht so gut gegessen!«

Inzwischen war es spät geworden, und sie wollte den Kleinen nach Hause schicken, um ihm keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er aber wiederholte, er habe Zeit. Übrigens trockneten die Kleider schwer, und Zoé meinte, es sei dazu wenigstens noch eine Stunde erforderlich. Da sie, von der Reise ermüdet, fast im Stehen einschlief, schickte man sie zu Bett, und die beiden blieben in dem stillen Hause allein. Der Abend war sehr mild. Das Feuer erstarb allmählich, und in dem blauen Zimmer, wo Zoé, bevor sie hinaufgegangen war, das Bett bereitet hatte, herrschte eine starke Hitze. Nana, dadurch belästigt, stand auf, um einen Augenblick das Fenster zu öffnen; allein sie stieß jetzt einen leisen Schrei aus.

»Mein Gott, wie schön das ist! ... Sieh doch, mein Lieber!«

Georges war herbeigekommen, und gerade als ob ihm die Fensterbank zu schmal wäre, faßte er Nana um die Taille und preßte seinen Kopf gegen ihre Schulter. Das Wetter hatte sich rasch geändert, der Himmel war rein, während der Vollmond die Landschaft gleichsam in einen goldenen Schleier hüllte. Es herrschte eine feierliche Stille; das breite Tal dehnte sich weit auf der ungeheuren Ebene, und die Bäume erschienen wie schattige Inselchen in dem Lichtmeer ... Nana wurde weich gestimmt und dachte an ihre Jugend. Sicherlich hatte sie in einer längst entschwundenen Epoche ihres Lebens von ähnlichen Nächten geträumt. Alles, was sich ihr seit dem Verlassen des Wagens bot, diese großartige Landschaft, die duftenden Kräuter, das Haus mit seinem Gemüsegarten, alles dies berückte sie so, daß sie Paris schon zwanzig Jahre verlassen zu haben glaubte. Ihr gestriges Leben lag wie weit hinter ihr, und unbegreifliche Gefühle überkamen sie. Währenddessen bedeckte Georges ihren Hals mit schmeichelnden Küssen, was ihre Verwirrung noch vermehrte. Mit zögernder Hand schob sie ihn zurück, wie ein Kind, das der Zärtlichkeiten müde ist, und erinnerte ihn, daß er nun gehen müsse. Er aber sagte nicht nein, sondern meinte, er werde sogleich gehen, sogleich ...

In einem Fliederstrauch unter dem Fenster sang ein Rotkehlchen; jetzt schwieg es.

»Halt«, murmelte Georges, »das Licht scheint das Tierchen zu stören, ich will es auslöschen.«

Und indem er Nana wieder um die Taille faßte, fügte er hinzu:

»Wir können es ja bald wieder anzünden.«

Während sie jetzt dem Rotkehlchen lauschte und der Kleine sich eng an sie schmiegte, erinnerte sich Nana, daß sie dies alles in alten Liedern habe singen hören. Vor Zeiten hätte sie ihr Herzblut geopfert, wenn sie solchen Mondschein, solchen Vogelsang und einen kleinen Liebhaber besessen hätte. Mein Gott! Die Tränen kamen ihr in die Augen, so schön und reizend erschien ihr dies alles! Sicherlich war sie dazu geboren, keusch zu leben! Georges war unterdessen keck geworden, deshalb schob sie ihn zurück.

»Nein, laß mich in Ruhe, ich will das nicht haben ... Hörst du, ich will deine Mama bleiben!«

Eine verschämte Röte stieg bei ihr auf; doch konnte es niemand sehen, da im Zimmer tiefe Finsternis, auf der umgebenden Landschaft aber die Grabesruhe der Einsamkeit herrschte. Noch nie hatte sie sich so sehr geschämt, und allmählich überkam sie, trotz ihres Sträubens, eine unendliche Schwäche. Nur Georges' Verkleidung, das Frauenhemd und der Frisiermantel brachten sie noch zum Lachen; es war, als ob sie von einer ihrer Freundinnen geneckt würde.

»Oh, das ist schlecht, das ist schlecht ...« stammelte sie noch in einer letzten Auflehnung. Und sie fiel wie eine Jungfrau in die Arme dieses Kindes. Die Nacht war hell. Das Haus schlief ...

Als am nächsten Morgen in Les Fondettes das Glockenzeichen zum Frühstück rief, war die Tafel im Speisesaal nicht mehr zu groß. Zuerst hatte ein Wagen Fauchery und Daguenet herbeigeführt, und hinter ihnen war bald auch der Graf Vandeuvres angekommen. Georges kam zuletzt, etwas bleich und mit niedergeschlagenen Blicken. Er erwiderte, es sei ihm bedeutend besser, allein wegen der Heftigkeit des Anfalls sei er noch etwas benommen. Madame Hugon blickte ihm mit besorgtem Lächeln in die Augen und strich über sein heute morgen schlecht gekämmtes Haar, während er zurückwich, als ob ihm diese Zärtlichkeit nicht lieb sei. Bei Tisch scherzte sie besonders mit Vandeuvres und sagte ihm, daß sie ihn schon seit acht Jahren erwartet habe.

»Endlich sind Sie da! ... Wie ist es Ihnen gegangen?«

Vandeuvres erzählte scherzend, daß er am Abend vorher im Klub rasende Verluste gehabt habe. Darauf sei er abgereist mit dem Gedanken, in der Provinz vernünftig zu werden.

»Meiner Treu, ja, wenn Sie mir eine reiche Erbin verschaffen könnten ... Es soll hier reizende Frauen geben.«

Die alte Dame bedankte sich hierauf bei Daguenet und Fauchery, daß sie die Einladung ihres Sohnes angenommen hatten, als sie freudig erstaunt den Marquis de Chouard eintreten sah, der in einem dritten Wagen gekommen war.

»Ei, ei«, rief sie, »das scheint ja heute früh ein Sammelplatz zu werden. Sie haben einander bestellt? ... Wie kommt das? Schon seit Jahren habe ich Sie nicht zusammen bei mir gesehen, und jetzt kommen Sie alle zugleich ... Oh, ich bin nicht böse darüber!«

Es wurde noch ein Kuvert aufgelegt. Fauchery befand sich in der Nähe der Gräfin Sabine, die ihn durch ihre lebhafte Heiterkeit in Erstaunen versetzte, da er sie in dem steifen Salon der Rue Miromesnil immer so schwermütig gesehen hatte. Daguenet saß links von Estelle und schien von der Nachbarschaft dieses langen, wortkargen Mädchens unangenehm berührt, dessen spitze Ellenbogen ihm unsympathisch waren. Muffat und Chouard hatten einen heimlichen Blick gewechselt, während Vandeuvres über seine bevorstehende Heirat weiter scherzte.

»Was die Damen betrifft«, sagte ihm endlich Madame Hugon, »so habe ich jetzt eine neue Nachbarin, die Sie ja kennen müssen.«

Sie sprach von Nana, und Vandeuvres stellte sich äußerst erstaunt.

»Wie? Nanas Besitzung in der Nähe?«

Auch Fauchery und Daguenet taten verwundert. Der Marquis de Chouard aß eine Geflügelbrust und schien nichts zu hören. Kein einziger der Herren hatte gelächelt.

»Ohne Zweifel«, erwiderte die alte Dame, »und jene Person ist sogar schon gestern abend in La Mignotte angekommen, wie ich gesagt hatte. Ich habe es heute früh vom Gärtner erfahren.«

Jetzt konnten die Herren ihr wirkliches Erstaunen nicht verbergen. Alle hoben die Köpfe. Nana war angekommen! Aber sie erwarteten sie doch erst am nächsten Tage und glaubten, ihr zuvorgekommen zu sein! Nur Georges schaute mit gesenktem Blick und matten Zügen auf sein Glas. Seit Beginn des Frühstücks schien er mit offenen Augen zu schlafen, während er stumpf vor sich hin lächelte.

»Bist du immer noch leidend, Zizi?« fragte ihn seine Mutter, deren Blicke besorgt auf ihm ruhten.

Er erschrak und antwortete errötend, es gehe ihm jetzt ganz gut.

»Was hast du denn da am Halse?« versetzte Madame Hugon erschreckt. »Das ist ja ganz rot.«

Georges, verwirrt, begann zu stottern. Er wisse von nichts und habe auch nichts am Halse. Plötzlich schob er den Hemdkragen hoch und sagte: »Ach ja, mich hat da was gestochen.« Der Marquis de Chouard betrachtete von der Seite die Rötung, und auch Muffats Blicke verweilten einen Augenblick auf Georges.

Das Frühstück war zu Ende; man machte Pläne für einen Ausflug. Fauchery war durch das Lachen der Gräfin Sabine immer nachdenklicher geworden. Als sie ihm eine Fruchtschüssel reichte, berührten sich beider Hände, und sie betrachtete ihn mit einem so scharfen Blick, daß er an die vertrauliche Mitteilung dachte, die er damals eines Abends erhalten hatte. Seit einiger Zeit war sie nicht mehr dieselbe, ein innerer Kummer schien sie zu bewegen; ihr graues Seidenkleid, das sich sanft an ihre Schultern schmiegte, zeigte eine Vernachlässigung ihrer sonst feinen und peinlichen Eleganz.

Beim Verlassen der Tafel blieb Daguenet mit Fauchery zurück, um sich über Estelle lustig zu machen. »Ein netter Besenstiel«, meinte er. Trotzdem wurde er ernst, als Fauchery ihm die Mitgiftsumme von vierhunderttausend Franken nannte.

»Und die Mutter?« fragte Fauchery. »Hm! Wäre nicht übel!«

»Oh, die Mutter könnte reizend sein! Aber schon der Gedanke ist unmöglich, mein Guter!«

»Bah, wer weiß ...«

An diesem Tage konnte man nicht ausgehen, da es noch immer in Strömen regnete. Georges war eiligst verschwunden und hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen. Die Herren vermieden es, sich gegenseitig zu erklären, um sich nicht durch die Beweggründe, die sie hergeführt hatten, eine Blöße zu geben. Vandeuvres, im Spiel hart mitgenommen, hatte wirklich die Absicht gehabt, eine Lokalveränderung vorzunehmen, er rechnete auf die Nachbarschaft einer Freundin, die ihm die übermäßige Langeweile vertreiben sollte. Fauchery benutzte den Urlaub, den Rose ihm gab, die gerade sehr in Anspruch genommen war, und nahm sich vor, mit Nana über einen zweiten Theaterbericht zu verhandeln. Daguenet, der seit Steiners Erfolgen mit ihr schmollte, gedachte, wenn sich Gelegenheit böte, ein wenig wieder mit ihr anzubinden. Was den Marquis de Chouard betraf, so lauerte er nur auf seine Stunde. Aber unter all den Herren, die dieser Venus folgten, war Muffat der feurigste, ihn regten die neuen Gefühle von Begierde, Furcht und Zorn, die in seinem Innern kämpften, am meisten auf. Er hatte von Nana das Versprechen erhalten, daß sie ihn erwarten wolle. Warum war sie dann zwei Tage früher abgereist? Er beschloß, noch am gleichen Abend nach La Mignotte zu gehen.

Als der Graf am Abend den Park verließ, eilte Georges hinter ihm vorbei. Er ließ ihn die Straße nach Cumières verfolgen, watete durch die Choue und langte atemlos, zornig und mit tränenfeuchten Augen bei Nana an. Ah, er wußte wohl, daß dieser Alte wegen eines Rendezvous unterwegs war! Nana, über diese Eifersuchtsszene bestürzt und über die unbeabsichtigte Wendung der Dinge zugleich gerührt, schloß ihn in ihre Arme und tröstete ihn nach Kräften. Nicht doch, meinte sie, er täusche sich, sie erwarte niemanden; wenn der Herr komme, so sei es nicht ihre Schuld! Wie töricht doch dieser Zizi sei, sich ohne Grund zu grämen! Neben ihrem Kinde liebe sie nur ihren Georges. Sie küßte ihn und trocknete seine Tränen.

»Höre, du wirst sehen, daß alles nur dir gehört!« erwiderte sie, als er sich wieder beruhigt hatte. »Steiner ist angekommen, er ist oben ... Du weißt, mein Lieber, daß ich dem Mann nicht die Tür weisen kann.«

»Ja, das weiß ich, von ihm spreche ich auch nicht«, murmelte der Kleine.

»Nun, ich habe ihn in das hintere Zimmer gesteckt und habe ihm gesagt, ich sei krank. Er packt seinen Koffer aus ...«

Georges fiel ihr um den Hals. Es war doch wahr, daß sie ihn ein wenig liebte! Vielleicht würden sie wieder, wie gestern, zusammen schwärmen? Als sich jetzt ein Glockenton vernehmen ließ, entschlüpfte er schnell. Oben im Zimmer legte er schleunigst seine Schuhe ab, um kein Geräusch zu verursachen; sodann verbarg er sich auf dem Boden hinter einem Vorhang und wartete.

Nana, noch aufgeregt und beklommen, empfing den Grafen Muffat. Sie hatte ihm das Versprechen gegeben und hätte sogar ihr Wort gern gehalten, weil ihr dieser Mann so ernst erschien. Aber wer hätte die Vorgänge des vergangenen Tages geahnt? Jene Reise, jenes ihr völlig fremde Haus, der Kleine, wie er wassertriefend zu ihr kam – wie gut war ihr dies alles erschienen, und wie schön wäre es, wenn es so fortginge! Das war freilich für den Grafen unangenehm! Bereits drei Monate ließ sie ihn vergebens schmachten, während sie die ehrbare Frau spielte, um ihn dadurch noch mehr anzufeuern. Nun wohl! Er mochte noch länger warten; wenn es ihm nicht gefiel, konnte er ja gehen. Sie hätte lieber alles im Stich gelassen, nur ihren Zizi konnte sie nicht enttäuschen.

Wie ein Nachbar, der einen Besuch macht, hatte der Graf unter Verbeugungen Platz genommen. Seine Hände zitterten. Dieser so ernste Mann, der als Kammerherr mit würdigen Schritten die Säle der Tuilerien durchmaß, hatte oft leidenschaftliche Anfälle, während ihm immer dasselbe sinnberauschende Bild vorschwebte. Aber diesmal wollte er dem gräßlichen Zustand ein Ende machen. Auf dem ganzen Wege hierher, mitten in der erhabenen Ruhe der Dämmerung, hatten ihn sinnliche Gedanken bewegt. Sofort nach den ersten Worten wollte er Nana mit beiden Händen erfassen.

»Nicht doch, nehmen Sie sich zusammen!« sagte sie lächelnd, ohne eine Spur von Erregung.

Mit fest zusammengebissenen Lippen ergriff er sie wieder; als sie sich wieder loswand, wurde er unwillig und erinnerte sie an ihr Versprechen. Obgleich sie noch immer lächelte, war ihr doch nicht mehr ganz wohl zumute; sie hielt ihm die Hände fest und duzte ihn, um ihre Weigerung zu beschönigen.

»Aber, mein Lieber, sei doch ruhig ... Ich kann wirklich nicht ... Steiner ist oben.«

Aber er war wie toll, noch nie hatte sie einen Menschen in einem solchen Zustand gesehen. Sie begann sich zu fürchten; sie legte ihm die Hand auf den Mund, um die Schreie zu unterdrücken, die er ausstieß, und mit leiser Stimme bat sie ihn flehentlich, zu schweigen und sie in Ruhe zu lassen ... Steiner kam herab. Das war störend.

Als er eintrat, hörte er, wie Nana, nachlässig in ihren Lehnstuhl gestreckt, sagte:

»Oh, ich liebe das Landleben ...«

Sie unterbrach sich und drehte sich um.

»Ah, mein Lieber, hier ist Herr Graf Muffat, der auf einem Spaziergange hier Licht bemerkt hat und heraufgekommen ist, uns zu bewillkommnen.«

Die beiden Herren drückten einander die Hand; Muffat schwieg einen Augenblick und barg sein Gesicht im Schatten. Steiner schien verdrießlich zu sein. Man sprach davon, daß in Paris die Geschäfte nicht gingen und daß an der Börse greuliche Wirtschaft geherrscht habe. Nach einer Viertelstunde verabschiedete sich Muffat. Und als ihn das junge Weib begleitete, bat er für den nächsten Abend um ein Rendezvous, ohne es jedoch zu erhalten. Steiner begab sich fast um dieselbe Zeit zu Bett und schimpfte über die ewigen kleinen Übel der Frauen. Als Nana wieder zu Georges kam, fand sie ihn immer noch hinter seinem Vorhang sitzen... Fern von ihnen ging Graf Muffat auf der Straße nach Cumières langsam davon; er trug seinen Hut in der Hand und badete seine brennende Stirn in der Kühle der schweigsamen Nacht...

An den darauffolgenden Tagen führte Nana ein herrliches Leben und fühlte sich in den Armen des Kleinen wieder wie ein Mädchen von fünfzehn Jahren. Unter dieser Zärtlichkeit erschloß sich ihr eine neu sprossende Liebesblüte. Es überkam sie eine plötzliche Glut, ein Bedürfnis, bald zu lachen, bald zu weinen; kurz, die ganze Unruhe einer jung Verliebten machte sich bei ihr fühlbar, das Landleben machte sie gefühlvoll. Sie hatte diese weite Besitzung, die ihr ein überströmendes Gefühl von Glückseligkeit verursachte; ihre ehrgeizigen Wünsche und Pläne waren überboten.

Dieses schöne Leben dauerte nahezu eine Woche. Jeden Abend kam Graf Muffat und kehrte mit rotem Gesicht und brennenden Händen zurück. Eines Abends wurde er sogar nicht vorgelassen, da Steiner eine Reise nach Paris hatte machen müssen. Man sagte ihm, Madame sei unwohl. Jeden Tag widerstrebte es Nana mehr, wenn sie daran dachte, Georges hintergehen zu müssen. Ein so kleiner, unschuldiger Bursche! Zoé, die stumm und verächtlich diesem Abenteuer zusah, hielt ihre Herrin entschieden für verrückt.

Am sechsten Tage wurde diese Idylle plötzlich durch eine Menge Besucher gestört. Nana hatte, in dem Glauben, man werde doch nicht kommen, viele Leute eingeladen. Jetzt aber, als sie am Nachmittag einen vollbesetzten Omnibus vor dem Tor von La Mignotte halten sah, war sie bestürzt und unangenehm berührt.

»Wir sind es!« rief Mignon, der zuerst aus dem Wagen stieg und noch seine Söhne Henri und Charles heraushob.

Sodann erschien Labordette und mit ihm eine unendliche Reihe von Damen: Lucy Stewart, Caroline Héquet, Tatan Néné, Marie Blond. Nana hoffte, es würden ihrer nun schon genug sein, als Faloise herabsprang, um Gaga und deren Tochter Amélie herauszuheben. Es waren also elf Personen, deren Unterbringung etwas schwierig war. In La Mignotte gab es nur fünf Fremdenzimmer, von denen eines schon von Madame Lerat und dem kleinen Louis besetzt war. Das größte erhielten Gaga und Faloise, während Amélie daneben im Toilettenzimmer auf einem Gurtbett schlafen sollte; Mignon und seinen beiden Söhnen gab man das dritte, Labordette das vierte Zimmer. Es blieb nur noch ein Gemach übrig, und dies wurde zu einem Schlafsaal für Lucy, Caroline, Tatan und Marie umgestaltet. Steiner mußte im Salon auf dem Diwan sein Nachtlager aufschlagen. Nana, die zuerst ärgerlich gewesen war, freute sich jetzt, die Schloßherrin spielen zu können. Alle Damen beglückwünschten sie in La Mignotte zu ihrer erstaunlichen Besitzung. Sodann brachten sie eine Flut Pariser Neuigkeiten mit sich, ein endloses Geklatsch über die letzte Woche, und alle schwatzten unter Lachen, Ausrufen und Händeklatschen wild auf sie los. Apropos, was hatte Bordenave zu ihrer Flucht gesagt? Nicht viel! Nachdem er geflucht und gebrüllt hatte, er werde sie durch Gendarmen zurückbringen lassen, war er sich bald über einen Ersatz für den Abend klar geworden; die betreffende Dame, nämlich die kleine Violaine, hatte sogar als blonde Venus einen hübschen Erfolg gehabt! Diese Nachricht machte Nana nachdenklich ...

Es war erst vier Uhr, und man wollte einen Spaziergang unternehmen.

»Das glaubt ihr sicher nicht«, sagte Nana; »ich wollte eben Kartoffeln vom Felde holen, als ihr ankamt.«

Jetzt hegten alle den gleichen Wunsch und wollten gar nicht erst die Kleider wechseln ... Es war eine göttliche Partie. Der Gärtner befand sich bereits mit seinen beiden Gehilfen auf dem Felde, das im hinteren Teil des Grundstückes lag. Die Damen knieten nieder, durchwühlten mit ihren feinen, beringten Fingern die Erde und schrien laut auf, wenn sie eine besonders große Kartoffel fanden. Es schien ihnen außerordentlichen Spaß zu machen. Besonders Tatan Néné triumphierte; sie hatte sich derart in ihre alte Jugendbeschäftigung vertieft, daß sie sich vergaß und den anderen als Erfahrenste über das Kartoffelausmachen gute Ratschläge erteilte. Die Herren hatten eine bequemere Beschäftigung ergriffen. Mignon spielte den Biedermann und benutzte den Landaufenthalt, um die Erziehung seiner Söhne zu vervollständigen.

Das Diner am Abend war von überschäumender, toller Laune, man aß mit wahrem Heißhunger. Nana faßte in ihrer Aufregung ihren Hausmeister, einen jungen Mann, der in Orléans am bischöflichen Hofe gedient hatte, beim Kragen. Zum Kaffee rauchten die Damen Zigaretten. Ein Lärmen, als ob Hochzeit gefeiert würde, hallte durch die Fenster und erstarb erst in weiter Ferne, während die Bauern auf den Wegen stehenblieben, sich umdrehten und das hellerleuchtete Haus betrachteten.

»Ach, es ist schade, daß Sie übermorgen schon wieder abreisen«, sagte Nana. »So wollen wir wenigstens die Zeit nützen!«

Man entschied, am nächsten Tag, einem Sonntag, die sieben Kilometer entfernten Ruinen der alten Abtei von Chamont zu besuchen. Fünf Wagen sollten von Orléans kommen, um nach dem Frühstück die Gesellschaft abzuholen und sie gegen sieben Uhr abends zum Diner nach La Mignotte zurückzufahren. Es würde reizend werden.

Wie gewöhnlich kam auch an diesem Abend Graf Muffat, um am Tor zu klingeln, aber die hell erleuchteten Fenster und das laute Gelächter setzten ihn in Erstaunen. Als er Mignons Stimme vernahm, wußte er genug und entfernte sich voll Wut über dieses neue Hindernis; er war zum Äußersten getrieben und zu irgendeiner Gewalttat entschlossen. Mittlerweile kam Georges, huschte durch eine kleine Tür, zu der er einen Schlüssel besaß, und schlich die Wände entlang bis in Nanas Zimmer. Er mußte bis nach Mitternacht auf sie warten; endlich erschien sie, ziemlich berauscht und noch mütterlich zärtlicher als in früheren Nächten; denn wenn sie Wein trank, war sie stets außerordentlich liebenswürdig. So wünschte sie jetzt durchaus, er solle sie nach der Abtei von Chamont begleiten. Er wollte nicht, da er gesehen zu werden fürchtete; wenn man ihn mit ihr im Wagen sah, meinte er, würde es einen schrecklichen Skandal geben. Da brach sie, von lauter Verzweiflung ergriffen, in Tränen aus, so daß er, um sie nur zu trösten, vorläufig zusagte.

»Also du liebst mich?« stammelte sie. »Wiederhole, daß du mich sehr liebst ... Sage mir, Bébé: wenn ich stürbe, wärest du dann sehr traurig?« –

In Les Fondettes war durch Nanas Nachbarschaft alles auf den Kopf gestellt. Jeden Morgen kam die gute Madame Hugon während des Frühstücks unwillkürlich auf jenes Weib zu sprechen und erzählte die Berichte des Gärtners, wobei sie jenes bange Gefühl empfand, das schöne Mädchen in ehrwürdigen Bürgersfrauen erwecken. Sie, die so duldsam war, wurde ganz aus der Fassung gebracht und ahnte jeden Abend irgendein schreckliches Unheil, als ob sich in der Umgegend eine aus der Menagerie entschlüpfte Bestie aufhielte. Auch stritt sie mit ihren Gästen, von denen sie behauptete, daß sie immer nach La Mignotte hinüberliefen. Man habe gesehen, behauptete sie, wie Graf Vandeuvres auf offener Landstraße mit einer feingeputzten Dame ohne Hut gescherzt habe. Vandeuvres aber verteidigte sich und bestritt, daß es Nana gewesen sei; und in der Tat hatte ihn nicht Nana, sondern Lucy begleitet, die ihm hatte erzählen wollen, wie sie eben auch ihren dritten Prinzen zur Tür hinausbefördert habe ... Auch der Marquis de Chouard machte täglich Ausflüge und sagte, er müsse dies auf Anordnung seines Arztes tun.

Gegen Daguenet und Fauchery war Madame Hugon ungerecht. Der erste zumal verließ Les Fondettes gar nicht, da er auf den Plan, sein Verhältnis mit Nana zu erneuern, verzichtete und weit lieber Estelle mit aufmerksamer Verehrung behandelte. Ebenso blieb Fauchery bei den Damen Muffat. Ein einziges Mal hatte er Mignon auf einem Feldrain getroffen, als dieser blumenbeladen mit seinen Söhnen eine botanische Exkursion unternahm. Die beiden Herren hatten einander freundlich gegrüßt und Nachrichten über Rose ausgetauscht, die sich sehr wohl befand und Fauchery am Morgen einen Brief geschickt hatte, sie wolle einige Zeit lang die Landluft genießen. Unter allen ihren Gästen verschonte die alte Dame nur den Grafen Muffat und Georges mit ihren Vorwürfen; der Graf, der in Orléans wichtige Geschäfte zu haben vorgab, konnte doch einer solchen Gans nicht nachlaufen, und der arme Georges machte ihr ernste Sorge, da er jeden Abend von heftigen Kopfschmerzen befallen wurde und infolgedessen den Tag über im Bett zubringen mußte.

Mittlerweile war Fauchery der regelmäßige Kavalier der Gräfin Sabine geworden, während sich der Graf jeden Nachmittag entfernte. Wenn man im Park spazierenging, trug er ihr den Feldstuhl und den Sonnenschirm. Übrigens ergötzte er sie durch seine wunderlichen Schnurren und Zeitungsanekdoten und geriet mit ihr in jene plötzliche Vertrautheit, die das Landleben mit sich bringt. Es schien, als ob sie, zu einer neuen Jugend erwacht, sich der Gesellschaft dieses Herrn, dessen lauter Scherz sie nicht kompromittieren konnte, willig hingebe. Und wirklich, wenn sie sich einen Augenblick hinter einem Gebüsch allein befanden, suchten sich ihre Blicke; mitten im Gelächter stockten sie plötzlich und blickten einander ernst an, als ob sie sich durchschaut und verstanden hätten.

Am Freitag mußte man beim Frühstück ein neues Kuvert auf- tragen, denn Herr Théophile Venot, den Madame Hugon, wie sie sich noch erinnerte, letzten Winter bei Muffat eingeladen hatte, war soeben angekommen. Mit der erleuchteten Miene eines gutmütigen, unbedeutenden Menschen machte er sich wichtig. Er schien die verlegene Ehrerbietung, die man ihm zollte, nicht zu bemerken. Als es ihm endlich gelungen war, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft von sich abzulenken, beobachtete er, während er zum Dessert an kleinen Zuckerstückchen herumkaute, Daguenet, der eben Erdbeeren Estelle zureichte, und hörte zu, wie Fauchery die Gräfin mit einer Anekdote ergötzte. Sobald man ihn ansah, lächelte er mit der ruhigsten Miene von der Welt. Beim Verlassen der Tafel er- griff er den Grafen beim Arm und führte ihn in den Park. Es war bekannt, daß er seit dem Tode der alten Gräfin auf diesen einen gewaltigen Einfluß ausübte. Man erzählte sich sonderbare Geschichten darüber, wie der alte Frömmler in dem gräflichen Hause die Herrschaft führe. Fauchery, dem sein Erscheinen sichtlich nicht lieb war, setzte Daguenet und Georges auseinander, daß Venot durch einen Prozeß zu seinem Vermögen gekommen sei und daß nach seiner Meinung dieser Herr mit dem sanften, dicken Gesicht in allen Ränken des Pfaffengelichters bewandert sei. Die beiden jungen Männer machten sich allmählich darüber lustig, denn sie entdeckten an dem kleinen Alten doch einen gar zu dummen Gesichtsausdruck. Der Gedanke an einen unbekannten, großartig schrecklichen Venot, ein passendes Werkzeug der lieben Geistlichkeit, schien ihnen ein absonderliches Phantasiegebilde zu sein. Aber sie schwiegen, als am Arm jenes liebenswürdigen Alten der Graf Muffat wiederkam, ganz bleich und mit geröteten Augen, als ob er geweint hätte.

»Sie werden gewiß über die Hölle gesprochen haben«, mur- melte Fauchery spöttisch.

Die Gräfin Sabine, die diese Äußerung gehört hatte, drehte sich langsam um und schaute ihn mit jenen langandauernden Blicken an, mit denen sie ihn erst vorsichtig zu prüfen pflegte, ehe sie sich ihm anvertraute ...

Wie gewöhnlich begab man sich nach dem Frühstück auf eine am Ende des Gartens befindliche Terrasse, die die ganze Ebene beherrschte. Der Sonntagnachmittag war außerordentlich mild; gegen zehn Uhr hatte es zu regnen gedroht, allein der Himmel war, ohne sich zu entwölken, gleichsam in einen milchfarbenen Nebel, in eine vom Sonnenlicht erhellte Staubwolke gehüllt. Da machte Madame Hugon den Vorschlag, die Terrassentreppe hinabzusteigen und in der Richtung nach Cumières bis an die Choue einen Spaziergang zu unternehmen; sie ging sehr gern zu Fuß und war für ihre sechzig Jahre noch außerordentlich behend. So kam man denn in etwas buntem Durcheinander an die über den Fluß führende Holzbrücke. Fauchery und Daguenet spazierten mit den beiden Damen Muffat vorweg, ihnen folgten der Graf und der Marquis mit Madame Hugon in ihrer Mitte, während Vandeuvres, der sich auf dieser breiten Landstraße langweilte, eine Zigarre rauchend in lässiger Haltung den Zug beschloß. Herr Venot ging, seine Schritte bald verzögernd, bald beschleunigend, lächelnd von einer Gruppe zur anderen, als ob er alles hören wollte. »Und der arme Georges ist in Orléans!« klagte Madame Hugon.

»Er wollte den alten Doktor Tavernier, der seine Patienten nicht mehr besuchen kann, wegen der Kopfschmerzen um Rat fragen ... Ja, Sie waren noch nicht aufgestanden; er ist schon vor sieben Uhr fortgegangen. Es wird ihn immerhin aufheitern.«

Allein sie unterbrach sich und sagte: »Aber weshalb bleiben die Damen auf der Brücke stehen?«

Wirklich standen Daguenet und Fauchery mit ihren Damen an der Brücke und zögerten, als ob sie durch irgendein Hindernis aufgehalten würden. Trotzdem war der Weg frei.

»Vorwärts!« rief der Graf.

Sie rührten sich nicht und schauten nach einem herankommenden Gegenstand, den die übrigen noch nicht sehen konnten. Die Straße machte eine Biegung, und der freie Ausblick war durch eine dichte Reihe von Pappeln behindert. Indessen hörte man von fern her Wagengerassel, lautes Gelächter und Peitschenknallen sich nähern, und plötzlich erschienen fünf Wagen hintereinander, dicht vollgepfropft, die durch ein Gemisch von hellfarbigen, blauen und roten Toiletten ein munteres Bild gewährten.

»Was ist denn das?« fragte Madame Hugon erstaunt.

Bald aber erriet sie es und war ungehalten über diese Störung ihres Spazierganges.

»Oh, dieses Weib!« murmelte sie. »Gehen Sie, gehen Sie doch! Tun Sie nicht, als ob ...«

Aber es war keine Zeit mehr. Die fünf Wagen, die Nana und ihre Gesellschaft nach den Ruinen Chamont führten, drängten sie auf die kleine Holzbrücke. Fauchery, Daguenet und die Damen Muffat mußten zurückweichen, während Madame Hugon und die anderen gleichfalls in der Nähe am Wegrande sich aufstellen mußten. Es war ein prächtiges Defilee. Das Gelächter in den Wagen hatte aufgehört, und verschiedene Gestalten drehten sich neugierig um. Stillschweigend blickte man sich scharf an, und nur der gleichmäßige Tritt der Pferde war zu hören. Im ersten Wagen saßen Marie Blond und Tatan Néné mit aufgebauschten Schleppen wie zwei Gräfinnen und blickten verächtlich auf die ehrsamen, zu Fuß gehenden Damen herab. Dann kam Gaga, die eine ganze Sitzreihe ausfüllte und den neben ihr befindlichen Faloise fast erstickte, so daß nur dessen Nase zu sehen war. Hierauf folgten Caroline Héquet mit Labordette, Lucy Stewart mit Mignon und dessen Söhnen und ganz zuletzt, in Gesellschaft Steiners, eine Viktoriachaise einnehmend, Nana, die vor sich auf dem Klappsitz den armen kleinen Zizi hatte und ihre Knie zwischen die seinen schob.

»Die letzte ist es, nicht wahr?« fragte die Gräfin ruhig Fauchery und stellte sich, als ob sie Nana gar nicht kenne.

Das Rad der Chaise streifte sie fast, ohne daß sie einen Schritt zurücktrat. Die beiden Frauen hatten einen tiefen, abschätzenden Blick gewechselt. Die Herren hatten sich benommen, wie es sich gehört: Fauchery und Daguenet taten völlig uninteressiert und kannten keinen Menschen, der Marquis fürchtete, von Seiten jener Damen eine Bemerkung zu hören, und hatte deshalb einen Grashalm gepflückt, den er zwischen den Fingern hin und her drehte. Nur Graf Vandeuvres, der etwas entfernt stand, grüßte Lucy durch ein Augenblinzeln, und diese lächelte ihm flüchtig zu.

»Hüten Sie sich!« hatte Venot dem Grafen Muffat zugeraunt, hinter dem er stand.

Verwirrt blickte dieser der Erscheinung Nanas nach, während sich seine Gemahlin langsam umdrehte und ihn prüfend beobachtete. Jetzt blickte er zu Boden, als wolle er die davoneilenden Rosse nicht mehr sehen, die ihm gleichsam die Seele aus dem Leibe rissen. Er hätte vor Schmerz laut aufschreien mögen, als er Georges halb in Nanas Kleidern verborgen sah. Ein Kind! Dies brach ihm das Herz, daß sie ein Kind ihm vorgezogen hatte! Steiner war ihm gleichgültig, aber dieses Kind!

Indessen hatte Madame Hugon Georges zuerst nicht erkannt; dieser aber wäre beim Überfahren der Brücke vor Schreck beinahe in den Fluß gesprungen, wenn Nanas Knie ihn nicht zurückgehalten hätten. Jetzt saß er starr und leichenblaß da und sah ins Leere vor sich hin. Vielleicht, dachte er, werde man ihn nicht bemerken.

»Ach, allmächtiger Gott!« rief plötzlich die alte Dame aus. »Da ist ja mein Georges bei ihr!«

Die Wagen waren vorübergefahren, und man hatte jenes unbehagliche Gefühl, von Leuten nicht gegrüßt worden zu sein, die einen wohl kennen, aber nicht zu grüßen wagen. Dieses peinliche, unvermutete Zusammentreffen schien sich allen tief eingeprägt zu haben.

Und jetzt trugen die flüchtigen Räder die Dämchen durch die frischwehende Luft in die herrliche Landschaft hinaus; die Kleider flatterten, das Gelächter begann wieder, man scherzte und blickte nach jenen ehrbaren Leuten zurück, die noch bestürzt am Wege standen. Nana konnte, als sie sich umdrehte, sehen, wie die Spaziergänger zögernd zurückkehrten, ohne die Brücke zu überschreiten. Madame Hugon stützte sich auf den Arm des Grafen Muffat und war so traurig und stumm, daß niemand sie zu trösten wagte.

»Sagen Sie«, rief Nana Lucy zu, die im benachbarten Wagen sich vorbeugte, »haben Sie Fauchery gesehen, meine Liebe? Er machte ein so dummdreistes Gesicht! Er soll mir dafür büßen ... Und Paul, gegen den ich so gut gewesen bin! Nicht ein Zeichen! ... Wirklich, sie sind sehr höflich!«

Als Steiner das Benehmen der Herren ganz in Ordnung fand, kam er bei ihr schön an. Also, meinte sie, sie verdiene nicht einmal, gegrüßt zu werden? Der erste beste Grobian dürfe sie beleidigen? Danke schön! Er scheine auch so einer zu sein; da höre doch alles auf; Damen müsse man stets grüßen.

»Wer war die Lange?« fragte Lucy mitten in dem Wagengerassel.

»Es ist die Gräfin Muffat«, antwortete Steiner.

»Ah, dachte ich es mir doch«, erwiderte Nana. »Nun, mein Lieber, sie mag immerhin Gräfin sein, das ist nichts Besonderes ... Sie wissen, ich habe Augen! Jetzt kenne ich sie, als ob sie mein Kind wäre, diese Gräfin ... Wollen Sie wetten, daß sie sich abends von jenem Schurken Fauchery besuchen läßt? Ich behaupte es. Man fühlt das als Frau sofort heraus!«

Steiner zuckte mit den Achseln. Seit dem vorigen Abend war seine üble Laune vermehrt; er hatte Briefe erhalten und mußte am nächsten Morgen abreisen; dann gefiel es ihm durchaus nicht, daß er, kaum auf sein Landgut gekommen, auf dem Diwan im Salon hatte schlafen müssen.

»Und das arme Kind!« fuhr Nana plötzlich mit besonderer Zärtlichkeit fort, als sie die Blässe Georges' bemerkte, der immer noch mit stockendem Atem starr dasaß.

»Glauben Sie, daß mich Mama erkannt hat?« stammelte er endlich.

»Oh, gewiß! Sie schrie ja auf ... Auch daran bin ich schuld! Er wollte sich gar nicht am Ausflug beteiligen. Ich habe ihn dazu gezwungen ... Höre, Zizi, soll ich deiner Mama schreiben? Sie sieht so ehrwürdig aus. Ich werde ihr mitteilen, daß ich dich vorher nie gesehen habe und daß Steiner dich heute zum ersten Male zu mir geführt hat.«

»Nein, nein, schreibe nicht!« sagte Georges ängstlich. »Ich werde die Sache selbst in Ordnung bringen ... Und wenn man mich dann ärgert, so gehe ich einfach nicht wieder nach Hause.«

Von jetzt an war er ganz in sich vertieft und dachte über Notlügen für den Abend nach. Die Wagen rollten in der Ebene auf einer unendlich langen, schnurgeraden Straße dahin, die mit schönen Bäumen umsäumt war. Die Landschaft schwamm in silberweißer Luft. Die Damen riefen einander unaufhörlich Bemerkungen zu, während die Kutscher über dieses drollige Völkchen lachten; dann und wann stand eine von ihnen auf, um sich umzuschauen, und stützte sich behaglich auf die Schultern eines Nachbarn, bis ein Stoß sie auf ihren Sitz zurückwarf. Caroline Héquet war in ein lebhaftes Gespräch mit Labordette vertieft, beide waren der Meinung, es könne kaum noch drei Monate dauern, bis Nana ihr Landgut verkaufen werde. Faloise, der vor ihnen saß, war äußerst liebenswürdig, und da er Gagas kurzen Nacken nicht erreichen konnte, küßte er sie auf den Rücken, so daß das steife Kleid knitterte, während Amélie, die auf dem Rücksitz sich ärgerte, steif dasitzen und zusehen zu müssen, wie man ihre Mutter umarmte, bat, sie möchten sich doch hier ruhig verhalten. Im anderen Wagen ließ Mignon, um Lucy in Erstaunen zu versetzen, seine Söhne eine Fabel von Lafontaine aufsagen; Henri besonders war hierin groß und erzählte, ohne zu stocken. Marie Blond war endlich ärgerlich geworden und müde, diesen Klotz Tatan Néné zur Gefährtin zu haben, die ihr unter anderem vorredete, die Milchfrauen in Paris fabrizierten Eier aus Leim und Safran ... Es dauerte zu lange; kam man denn noch nicht bald an?

Diese Frage ging von Wagen zu Wagen, so daß auch Nana sie hörte. Sie fragte ihren Kutscher; dann stand sie auf und rief:

»Noch eine kleine Viertelstunde ... Da unten hinter den Bäumen sehen Sie die Kirche ...« Dann fuhr sie fort:

»Sie wissen wohl gar nicht, daß die Besitzerin des Schlosses von Chamont eine alte Dame aus den Zeiten Napoleons ist! ›Oh, eine galante Dame, so wie es keine zweite gibt‹, sagte mir Joseph, der es von dem Diener des bischöflichen Hofes weiß. Jetzt ist sie eine Betschwester geworden.«

»Wie heißt sie?« fragte Lucy.

»Madame d'Anglars.«

»Irma d'Anglars? Oh, die habe ich gekannt!« rief Gaga.

Durch die ganze Wagenreihe hörte man trotz des lebhaften Pferdegetrappels laute Rufe. Man streckte die Köpfe in die Höhe, um Gaga zu sehen; Marie Blond und Tatan Néné drehten sich, auf ihren Sitzen kniend, um; Fragen kreuzten sich mit boshaften Äußerungen; auch eine gewisse stumme Bewunderung wurde ihr zuteil. Gaga hatte sie also gekannt: das erfüllte alle mit Respekt vor dieser fernen Vergangenheit.

»Danke bestens! Ich war noch jung«, erwiderte Gaga. »Tut nichts,ich erinnere mich, daß ich sie vorbeigehen sah. Man behauptete, in ihrem häuslichen Leben sei sie unausstehlich; aber in ihrem Wagen sah sie prächtig aus. Und Geschichten erzählte man von ihr, daß einem ganz übel wurde ... Darüber bin ich gar nicht erstaunt, daß sie jetzt ein Schloß hat ... Also, Irma d'Anglars lebt noch! Nun, meine Lieben, sie wird jetzt wohl ihre neunzig Jahre auf dem Rücken haben.«

Nun wurden die Damen plötzlich ernst. Neunzig Jahre! Nicht eine einzige von ihnen werde so lange leben, rief Lucy aus. Übrigens, meinte Nana, wolle sie gar nicht in das alte Register kommen, das wäre zu garstig.

Die Wagen waren plötzlich stehengeblieben, und erstaunt stieg die Gesellschaft an einem höchst öden Ort am Fuße eines Hügels aus. Ein Kutscher mußte ihnen mit seiner Peitsche die zwischen Bäumen versteckten Ruinen der alten Abtei von Chamont zeigen. Sie waren sehr enttäuscht, und die Damen fanden den Ort abscheulich: ein wüstes, dornenumranktes Trümmerfeld mit einem halb verfallenen Turm bot sich ihren Blicken. Das war wirklich keine Fahrt von zwei Stunden wert! Der Kutscher zeigte ihnen das Schloß, dessen Park in der Nähe der Abtei begann, und riet ihnen, einem Fußweg entlang der Mauer zu folgen; sie könnten, meinte er, diesen Spaziergang machen, während die Wagen auf dem Dorfplatz warteten; es sei ein reizender Weg. Die Gesellschaft nahm den Vorschlag an.

»Es ist wirklich schrecklich weit!« murmelte Caroline Héquet zwischen den Zähnen.

Nana zuckte mit den Achseln; sie war seit einigen Augenblicken blaß und ernst geworden und sprach kein Wort. Plötzlich, als man sich an der letzten Krümmung des Weges dem Dorfplatz näherte, hörte die Mauer auf, und mitten in einem großen Hof sah man das Schloß.

Alle blieben stehen und staunten über die großartigen breiten Terrassen, die zwanzig Fenster der Vorderfront, die weite Ausdehnung der drei Seitenflügel, deren Ziegelwerk mit Steinreihen eingefaßt war. Heinrich IV. schon hatte dieses historisch berühmte Schloß bewohnt, und man zeigte noch jetzt seine Zimmer mit dem großen, samtüberzogenen Bett. Nana war so wehmütig gestimmt, daß sie wie ein Kind seufzte.

»Alle Wetter!« murmelte sie vor sich hin.

In der Gesellschaft entstand jetzt eine heftige Bewegung. Gaga behauptete nämlich, Irma sofort wiederzuerkennen: trotz ihrem Alter immer noch das stramme, forsche Weib. Man kam gerade aus der Vesper, und Madame blieb einen Augenblick in der Kirchenvorhalle stehen. Sie war einfach in graue Seide gekleidet und hatte die ehrwürdige Haltung einer alten Marquise, die sich vor den Schrecken der Revolution zurückgezogen hat. In ihrer rechten Hand trug sie ein goldfunkelndes, dickes Gebetbuch. Langsam überschritt sie den Platz, während ihr in einer Entfernung von fünfzehn Schritt ein Lakai folgte. Sämtliche Bewohner von Chamont, die mit ihr die Kirche verließen, grüßten sie ehrerbietig; ein Greis küßte ihr sogar die Hand, und ein Weib wollte vor ihr die Knie beugen. Kurz, sie erschien wie eine stolze Königin, reich an Jahren und Ehren. So stieg sie die Freitreppe hinauf und verschwand.

»So weit kommt man, wenn man zu leben versteht!« sagte Mignon mit gewichtiger Miene und sah seine Söhne an, als ob er ihnen hiermit eine moralische Lehre geben wollte.

Nunmehr äußerte jeder seine Meinung. Labordette fand sie prächtig konserviert. Marie Blond sagte irgend etwas Unpassendes, worüber Lucy sich ärgerte und laut erklärte, man müsse das Alter ehren. Alle aber stimmten darin überein, daß solch eine Erscheinung ungewöhnlich sei. Man bestieg jetzt wieder die Wagen, und auf der ganzen Fahrt von Chamont nach La Mignotte blieb Nana schweigsam. Zweimal hatte sie sich wieder umgedreht und einen Blick auf das Schloß geworfen. Durch das Geräusch der Räder eingeschläfert, fühlte sie gar nicht mehr, daß Steiner neben ihr saß, und sah nur noch Georges vor sich. In der herrschenden Dämmerung stieg ihr eine Vision auf: sie sah jene Frau immer noch vorübergehen, mit der Würde einer mächtigen Königin, reich an Jahren und Ehren.

Noch am selben Abend kehrte Georges zum Diner nach Les Fondettes zurück. Nana, deren Wesen immer zerstreuter und sonderbarer wurde, hatte ihn nach Hause geschickt, wo er seine Mama um Verzeihung bitten sollte. Es gehöre sich dies, sagte sie streng, von einer plötzlichen Achtung vor dem Familienleben erfüllt. Sogar die feierliche Versicherung nahm sie ihm ab, heute abend nicht wieder zu ihr zu kommen; sie sei zu müde und er erfülle nur seine Pflicht, wenn er Gehorsam beweise. Georges, den diese Moralpredigt außerordentlich gelangweilt hatte, erschien vor seiner Mutter mit mutigen Vorsätzen, aber gesenkten Hauptes. Glücklicherweise war sein Bruder Philippe angekommen, eine große, lustige Soldatennatur, und dadurch wurde die Szene, die er befürchtete, verhindert. Madame Hugon begnügte sich damit, ihn mit tränenfeuchten Augen anzublicken, während Philippe, der die Geschichte erfahren hatte, meinte, er werde ihn bei den Ohren nach Hause holen, wenn er noch einmal zu jenem Weibe gehe. Georges war froh und überlegte schon insgeheim, wie er am nächsten Tage um zwei Uhr am besten entschlüpfen konnte, um sich über ein neues Rendezvous mit Nana zu besprechen.

Indessen erschienen die Gäste in Les Fondettes beim Diner sämtlich verlegen. Vandeuvres hatte seine Abreise angekündigt; er wollte Lucy nach Paris mitnehmen, da er es drollig fand, dieses Mädchen, das er ohne irgendein Begehren schon zehn Jahre kannte, zu entführen. Der Marquis de Chouard beugte sich tief über seinen Teller und dachte an die Tochter der Gaga; er erinnerte sich, daß er einst Lili auf seinem Schoß geherzt hatte. Wie doch die Kinder groß wurden! Und diese Kleine war sogar sehr dick geworden. Aber besonders schweigsam war Graf Muffat, der mit gerötetem Gesicht, in stilles Hinbrüten versunken, dasaß. Er hatte Georges lange angesehen.

Nach der Tafel ging er, gefolgt von Herrn Venot, auf sein Zimmer und legte sich nieder, indem er ein leichtes Fieber vorschützte. Plötzlich aber sprang er in die Höhe und stammelte:

»Ich gehe hin ... Ich kann's nicht mehr ertragen ...«

»Gut«, sagte der Alte, »ich werde Sie begleiten.«

Als sie hinaustraten, verloren sich gerade zwei schattenhafte Gestalten in einer Allee. Alle Abende nämlich überließen Fauchery und die Gräfin Sabine das Zubereiten des Tees Madame Hugon und Estelle... Auf der Landstraße ging der Graf so schnell, daß sein Begleiter eilen mußte, um ihm nur folgen zu können. Ganz außer Atem, hörte dieser dennoch nicht auf, ihm die besten Beweise gegen die Versuchung des Fleisches vorzuführen. Der Graf aber eilte, ohne ein Wort zu erwidern, weiter fort in die Nacht hinein. Vor La Mignotte angekommen, sagte er kurz: »Ich kann nicht mehr .. . Gehen Sie weg!« »Nun, Gottes Wille geschehe!« murmelte Venot. « Er versucht alle Mittel, um seinen Triumph zu sichern . . . Ihre Sünde wird eine seiner Waffen sein.«

In La Mignotte stritt man sich während des Abendessens. Nana hatte nämlich einen Brief von Bordenave vorgefunden, worin er ihr riet, nur ruhig die Landluft zu genießen; es schien, als ob er sich gar nicht mehr um sie kümmere: die kleine Violaine werde jeden Abend herausgerufen. Da nun Mignon immer noch in Nana drang, am nächsten Tage mit ihnen abzureisen, erklärte sie aufgebracht, es sei nicht ihre Gewohnheit, Ratschläge zu empfangen. Überhaupt hatte sie sich während der ganzen Tafel bürgerlich steif gezeigt. Als Madame Lerat zufällig eine unschöne Äußerung getan hatte, rief sie laut, sie werde, bei Gott, niemandem, nicht einmal ihrer Tante, erlauben, sich in ihrer Gegenwart undelikat auszudrücken. Dann wieder überflutete sie alles mit ihrer Gefühlsschwärmerei, einer Art bornierter Ehrbarkeit, mit Plänen für eine religiöse Erziehung des kleinen Louis und dem Projekt eines ehrbaren Lebens für sich selbst. Als man darüber lachte, äußerte sie sich in dunklen Worten und schüttelte mit dem Kopf, wobei sie hauptsächlich betonte, daß nur die Ordnung zum Reichtum führe und daß sie nicht einst im Elend sterben wolle. Die Damen, hierdurch gereizt, riefen laut aus: das könne unmöglich die alte Nana sein! Sie aber ließ sich nicht beirren und verfiel wieder in ihre Träumereien, die ihr das Bild einer sehr reichen und hochgeehrten Nana vorzauberten.

Man wollte eben zur Ruhe gehen, als Muffat ankam. Labordette bemerkte ihn im Garten, entfernte Steiner und führte ihn den dunklen Korridor entlang bis an Nanas Zimmer. Labordette verstand derartige Geschäfte ausgezeichnet einzufädeln und war darin sehr geschickt. Er tat, als ob er sich über anderer Leute Glück freute. Nana zeigte sich dadurch nicht überrascht und wurde nur durch Muffats leidenschaftliches Wesen irritiert. Man müsse im Leben ernst sein, meinte sie; das Lieben sei eine alberne Sache, es führe zu nichts. Dann machte sie sich Vorwürfe wegen Zizis Jugend; sie habe sich hierbei durchaus nicht tugendhaft betragen! Jetzt aber schien sie wirklich auf dem Wege der Besserung zu sein, denn sie nahm statt des Knaben einen Alten.

»Zoé», sagte sie zur Zofe, die über die Abreise vom Lande ganz entzückt war, »packe morgen frühzeitig die Koffer, wir fahren nach Paris zurück!«

Und so blieb sie mit Muffat allein, aber ohne an seiner Gegenwart Gefallen zu finden.


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