Emile Zola
Nana
Emile Zola

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Neuntes Kapitel

Im Varietétheater probte man »Die kleine Herzogin«. Der erste Akt war vorüber, und man begann eben den zweiten. Im Proszenium saßen mit kritischen Mienen Fauchery und Bordenave, während der Souffleur, der alte Cossard, ein kleiner, buckliger Mann, einen Bleistift zwischen den Lippen hielt und im Manuskript blätterte.

»Nun, worauf wartet man denn noch?« rief plötzlich Bordenave und stieß wütend mit seinem dicken Stock auf den Boden.

»Barillot, warum beginnt man noch nicht?«

»Herr Bosc ist nicht zu finden«, antwortete Barillot, der die Rolle des zweiten Regisseurs versah.

Da gab's eine allgemeine Entrüstung, alles rief nach Bosc, und Bordenave fluchte.

»Verdammt, immer ist es dieselbe Geschichte. Da mag man klingeln, soviel man will, immer sind sie sonstwo... Und dann brummen sie, wenn man sie nach vier Uhr zurückhält.«

Aber jetzt kam Bosc mit der größten Seelenruhe herbei.

»Nun, was denn? Was will man denn von mir? Ah, es ist meine Rolle? Das hätte man mir sagen sollen... Gut! Simonne gibt das Stichwort: ,Da kommen die Gäste', und ich trete ein... Von welcher Seite soll ich eintreten?«

»Wie denn sonst als durch die Tür!« höhnte Fauchery.

»Ja, aber wo ist denn die Tür?«

Jetzt zog Bordenave gegen Barillot los, er begann wieder zu fluchen und die Dielen mit seinem Stock zu bearbeiten.

»Verwünscht! Ich hatte doch gesagt, man solle einen Stuhl dahin setzen, um die Tür anzudeuten. Alle Tage muß man sich ärgern... Barillot! Wo ist Barillot?«

Barillot setzte schweigend den Stuhl hin, und nun begann die Probe. Simonne, in Hut und Pelzmantel, nahm die Miene eines Dienstmädchens an, das Möbel zurechtstellt. Sie unterbrach sich in dieser Beschäftigung und sagte:

»Sie müssen wissen, es friert mich, und deshalb lasse ich die Hände im Muff.«

Dann veränderte sie ihre Stimme und empfing der Rolle gemäß Bosc mit einem leichten Aufschrei:

»Ah, der Herr Graf! Sie sind der erste, Herr Graf, und Madame wird darüber sehr erfreut sein.«

Bosc trug eine abgetragene Hose und einen großen braunen Überrock von einem unförmigen Umfang. Die Hände in den Taschen und einen alten Hut auf dem Kopfe, sagte er mit dumpfer, schleppender Stimme:

»Stören Sie Ihre Herrin nicht, Isabelle; ich will sie überraschen.«

Die Probe dauerte fort. Bordenave hatte es sich in seinem Lehnstuhl bequem gemacht, runzelte die Stirn und hörte schläfrig zu. Der nervöse Fauchery hingegen änderte beständig seine Stellung und fand fast jede Minute etwas zu tadeln. Plötzlich hörte er hinter sich in dem finsteren, leeren Saale ein Zischeln.

»Ist sie da?« fragte er und neigte sich zu Bordenave.

Dieser nickte mit dem Kopfe. Nana hatte nämlich, bevor sie die ihr angetragene Rolle der Geraldine annahm, das Stück zu sehen gewünscht; denn sie zögerte, nochmals eine zweideutige Rolle zu spielen. Jetzt stand sie im Schatten einer Parterreloge verborgen, neben ihr Labordette, der sich bei Bordenave für sie verwendete. Fauchery warf einen Blick nach ihr und begann dann wieder, die Probe zu verfolgen.

Die Schauspieler bildeten eine kleine Gruppe, saßen teils auf einer Bank, teils auf eisernen Stühlen in einer Gartenecke, der ersten am Abend zur Verwendung kommenden Dekoration. Fontan und Prullière hörten Rose Mignon an, der der Direktor der Komischen Oper soeben ein großartiges Angebot gemacht haben sollte. Da rief plötzlich eine Stimme:

»Die Herzogin!... Saint-Firmin!... Schnell, die Herzogin und Saint-Firmin!«

Erst beim zweiten Rufe besann sich Prullière darauf, daß er selbst die Rolle des Saint-Firmin zu spielen habe. Rose als Herzogin Hélène erwartete ihn schon zum Auftritt. Langsam schleppte sich unterdessen der alte Bosc wieder auf sein Plätzchen. Clarisse bot ihm die Hälfte der Bank an.

»Was hat denn Bordenave so zu schimpfen?« sagte sie. »Es geht doch jetzt ganz gut... Es kann wirklich kein Stück mehr aufgeführt werden, ohne daß er sich über etwas ärgert.«

Bosc zuckte mit den Achseln; für ihn gab es keine Aufregungen mehr. Fontan aber murmelte:

»Dieses Stück kommt ihm zu dumm vor; er wittert schon das Fiasko.«

Dann wandte er sich zu Clarisse und kam auf Roses Erzählung zurück.

»Hm! Du glaubst an das Angebot der Komischen Oper? Für hundert Vorstellungen allabendlich dreihundert Franken! Warum nicht noch ein Landhaus obendrein?... Wenn man seiner Frau dreihundert Franken gäbe, so würde Mignon Bordenave sicher im Stich lassen!«

Dennoch glaubte Clarisse daran. Dieser Fontan hatte ja immer an seinen Kollegen etwas auszusetzen.

Da kam Simonne, vor Frost zitternd, herbei. Alle betrachteten, dicht in ihre Pelze gehüllt, den Sonnenstrahl, der da oben leuchtete, ohne auf der kalten Bühne Wärme zu spenden.

»Und es ist kein Feuer im Konferenzzimmer!« sagte Simonne.

»Es ist abscheulich!... Ich habe keine Lust, länger hierzubleiben, ich will meine Gesundheit nicht zugrunde richten.«

»Ruhe, zum Teufel!« rief Bordenave mit Donnerstimme.

Gerade in diesem Augenblick trat Rose in ihrer Rolle als Herzogin zur Rampe. Sie hob ihre Hände, schaute nach dem finsteren, traurigen Zuschauerraum und zog ein reizendes schiefes Gesicht.

»Mein Gott, welch sonderbare Leute!« sagte sie mit scharfer Betonung, die ihrer Wirkung sicher war.

Von ihrer Parterreloge aus hörte Nana das Stück an und blickte unverwandt auf Rose. Sie wandte sich zu Labordette und fragte ganz leise: »Du bist sicher, daß er kommen wird?« »Ganz sicher. Ohne Zweifel wird er mit Mignon kommen, um einen Vorwand zu haben... Sobald er erscheint, gehst du in Mathildes Garderobe, und dorthin werde ich ihn zu dir führen.«

Sie sprachen vom Grafen Muffat. Labordette hatte für die Zusammenkunft auf einem neutralen Terrain gesorgt. Er hatte darüber ernstlich mit Bordenave gesprochen, und dieser hatte sich beeilt, mit seinem Theater zu dienen und Nana eine Rolle anzubieten, da er sich den Grafen günstig zu stimmen wünschte und an ein Gelddarlehen dachte.

»Und was sagst du zu der Rolle der Geraldine?« meinte Labordette.

Nana antwortete nicht. Nach dem ersten Akt, in dem der Verfasser den Herzog von Beaurivage seine Gattin mit der blonden Operettensängerin Geraldine hintergehen ließ, sah man im zweiten Akt die Herzogin Hélène bei Gelegenheit eines Maskenballs zur Schauspielerin kommen, neugierig, die magische Gewalt kennenzulernen, durch die diese Damen die Ehemänner eroberten und an sich fesselten. Ein Cousin, der schöne Oskar von Saint-Firmin, führte sie ein und hoffte, sie selbst für sich zu gewinnen. Zu ihrem Erstaunen hörte sie als erste Lektion, wie Geraldine, grob wie ein Fuhrknecht, mit dem Herzog stritt, worauf Hélène ausrief: »Ah, so also muß man mit den Männern sprechen!« Geraldine trat nur in dieser Szene auf. Die Herzogin war sehr bald für ihre Neugier bestraft, denn der Baron von Tardiveau, ein alter Lebemann, hielt sie für eine Kokotte, während Beaurivage mit Geraldine Frieden schloß und sie umarmte. Da Geraldines Rolle noch nicht vergeben war, las sie der alte Cossard ab. Bei dieser Szene nahm die Probe einen schleppenden Gang, so daß Fauchery, der bis dahin an sich gehalten hatte, dessen Nerven aber jetzt aufs höchste gereizt waren, plötzlich von seinem Stuhl aufsprang und rief:

»So geht das nicht!«

Die Schauspieler hielten inne. Fontan fragte mit seiner gleichgültigen Unverfrorenheit: »Was geht hier nicht?«

»Niemand ist richtig bei der Sache! So geht's nicht, durchaus nicht!« rief Fauchery, der auf und ab schreitend und heftig gestikulierend die Szene für sich zu spielen begann. »Fontan, merken Sie sich: So müssen Sie sich vorbeugen, um Geraldine zu erfassen... Und dann, Rose, kommst du, aber schnell, hörst du, allein ja nicht zu früh, also erst wenn du ihn küssen hörst.«

Mitten im Feuer seiner Erklärung rief er dem alten Cossard zu:

»Geraldine, geben Sie den Kuß!... Laut, daß man es deutlich hört!«

Der alte Cossard wandte sich Bosc zu und schnalzte laut mit den Lippen.

»Gut, so ist der Kuß richtig«, sagte Fauchery triumphierend.

»Noch einmal... Siehst du, Rose, so habe ich Zeit gehabt, vorüberzugehen, und rufe nun aus: ,Ah, sie hat ihn geküßt!'«

Bordenave biß die Lippen zusammen; er hatte sich ganz in seinen Lehnstuhl zurückgelehnt; man sah nur seinen tief in die Augen gedrückten Hut, während der Stock einsam vor seinem dicken Bauche lag. Man hätte meinen können, er sei eingeschlafen; allein plötzlich richtete er sich auf.

»Mein Lieber, das ist albern«, erklärte er Fauchery mit ruhiger Miene.

»Wie? Albern?« rief der Autor und erbleichte. »Albern sind Sie, mein Lieber!«

Da wurde Bordenave wütend. Er wiederholte das Wort »albern«, suchte nach einem noch stärkeren Ausdruck und nannte dann das Stück dumm und blödsinnig. Man werde noch vor Ende des Aktes zu pfeifen anfangen. Und als ihn nun Fauchery, der sich übrigens sonst nicht durch derlei Grobheiten verletzt fühlte, da dies sehr oft zwischen ihnen vorkam, ein »Rindvieh« nannte, verlor Bordenave alle Fassung. Er drehte seinen Stock in den Händen und schrie wütend:

»Verdammt, halten Sie das Maul! Wir haben schon eine Viertelstunde mit diesen Dummheiten verloren... Jawohl, Dummheiten, denn es ist doch kein Funke von gesundem Menschenverstand darin... Und doch ist es so einfach! Du, Fontan, du rührst dich nicht; du, Rose, machst diese kleine Bewegung, siehst du so, nicht wahr, und dann gehst du... Nun vorwärts! Cossard, geben Sie den Kuß!«

Jetzt entstand eine greuliche Verwirrung, und die Szene ging erst recht nicht besser. Bordenave seinerseits mimte mit der Grazie eines Elefanten, während Fauchery spöttelte und mitleidig die Achseln zuckte. Dann wollte sich Fontan einmengen, sogar Bosc erlaubte sich gute Ratschläge. Rose hatte sich endlich auf den Stuhl gesetzt, der die Tür markierte; kurz, man wußte nicht mehr, woran man war. Um dem Unsinn die Krone aufzusetzen, kam Simonne, die ihr Stichwort gehört zu haben meinte, zu früh herein; darüber wurde Bordenave so wütend, daß er den Stock schwang und ihr einen heftigen Hieb versetzte. Überhaupt schlug er in den Proben die Damen oft, namentlich wenn er mit ihnen intim befreundet war. Simonne zog sich wieder zurück, und Bordenave schrie wütend hinter ihr her:

»Verflucht, nimm das dafür! Ich schließe sofort die Bude, wenn man mich noch einmal reizt!«

Fauchery hatte den Hut aufgesetzt und machte Miene, das Theater zu verlassen; allein er blieb im Hintergrunde der Bühne und kam zurück, als er sah, wie Bordenave schweißtriefend wieder seinen Platz einnahm. Er selbst setzte sich auf den anderen Lehnstuhl. Eine Zeitlang saßen sie regungslos nebeneinander, während im Saale bedrücktes Schweigen herrschte. Die Schauspieler waren sämtlich niedergeschlagen und warteten fast zwei Minuten.

»Nun, wir wollen fortfahren«, sagte endlich Bordenave ruhig.

»Ja, wir wollen fortfahren«, wiederholte Fauchery, »wir werden diese Szene morgen in Ordnung bringen.«

So nahm die Probe ihren langweiligen und niemanden interessierenden Fortgang. Während des Streitens zwischen dem Direktor und dem Verfasser amüsierten sich Fontan und die übrigen im Hintergrunde auf der Bank und den Gartenstühlen. Sie lachten leise, grunzten und ließen grobe Ausdrücke fallen. Als aber Simonne mit tränenerstickter Stimme zurückkam, wurden sie ernst und meinten, daß sie an ihrer Stelle jenes dicke Rhinozeros erwürgt hätten. Sie trocknete ihre Tränen und nickte, jetzt sei das Maß voll; sie lasse ihn laufen, zumal da ihr Steiner am Abend vorher eine günstige Offerte gemacht habe. Clarisse war erstaunt, der Bankier hatte ja keinen Sou Vermögen; aber Prullière erinnerte lachend an den Börsenstreich, den dieser verdammte Jude gemacht hatte, als er sein Verhältnis mit Rose zum Tagesgespräch hatte werden lassen, nur um seine Aktien in den Salinen gut unterzubringen. Jetzt ging er mit einem neuen Projekt um, einem Tunnel unter dem Bosporus. Simonne hörte mit Interesse zu. Was Clarisse betraf, so hatte sie seit über einer Woche keine Ruhe mehr. Hatte nicht dieser Esel Faloise, den sie ausgebootet und Gaga großmütig in die Arme gespielt hatte, wirklich einen sehr reichen Onkel beerbt! Das war aber gewöhnlich ihr Los, für andere zu arbeiten! Außerdem gab ihr dieser gemeine Bordenave eine unbedeutende Rolle von bloß fünfzig Worten, als ob sie nicht die Geraldine vorzüglich hätte spielen können! Sie sehnte sich noch immer nach dieser Rolle und hoffte, Nana werde sie ablehnen.

»Nun, und ich«, sagte Prullière pikiert, »ich habe keine zweihundert Zeilen. Ich wollte die Rolle schon abgeben... Es ist meiner unwürdig, diesen Saint-Firmin zu spielen. Und was für ein Stück, Kinder! Das muß doch glänzend durchfallen!«

Aber jetzt kam Simonne, die eben mit dem alten Souffleur gesprochen hatte, atemlos herbei und sagte:

»Wißt ihr schon das Neueste? Nana ist hier im Saale!«

»Wo denn?« fragte Clarisse hastig und stand auf, um nachzusehen.

Diese Mitteilung durchlief den Raum wie ein elektrischer Schlag. Jeder beugte sich vor, und die Probe stockte einen Augenblick. Aber Bordenave, aus seiner Unbeweglichkeit erwachend, rief:

»Was ist denn los? Führt doch den Akt zu Ende... Ruhe da unten, das ist ja unausstehlich!«

Mittlerweile verfolgte Nana von ihrer Parterreloge aus das Stück. Zweimal hatte Labordette mit ihr eine Unterhaltung anknüpfen wollen, aber ungeduldig stieß sie ihn mit dem Ellenbogen, um ihn zum Schweigen zu bringen. Der zweite Akt ging zu Ende, als im Hintergrunde des Theaters zwei dunkle Gestalten erschienen. Nana erkannte in ihnen Mignon und den Grafen Muffat.

»Ah, da sind sie!« murmelte sie und seufzte erleichtert auf.

Rose Mignon gab das letzte Stichwort; da sagte Bordenave, man müsse den zweiten Akt noch einmal spielen, ehe man zum dritten übergehe. Darauf lenkte er seine Aufmerksamkeit von der Probe ab und empfing den Grafen mit außerordentlicher Höflichkeit, während Fauchery sich stellte, als sei er gänzlich mit den Schauspielern um sich herum beschäftigt. Mignon pfiff leise vor sich hin und beobachtete seine Frau, die besonders aufgeregt erschien.

»Nun, wollen wir hinaufgehen?« fragte Labordette Nana.

»Ich führe dich in die Garderobe und hole ihn dann.«

Sogleich verließ Nana die Parterreloge. Sie stieg behutsam durch das hinterste Parkett; aber Bordenave erwischte sie doch am Ende des hinter die Bühne führenden Korridors. Um die Angelegenheit schnell zu Ende zu bringen, kam er sofort auf die Rolle der Kokotte zu sprechen.

»He, eine nette Rolle! Famos! Sie ist wie für dich geschaffen... Komm morgen zur Probe.«

Nana blieb kalt. Sie wolle erst den dritten Akt kennenlernen, meinte sie.

»Oh, der dritte Akt ist prächtig! Die Herzogin spielt die Kokotte in ihrem eigenen Hause, worüber sich Beaurivage ärgert und besser wird. Dann folgt ein drolliges Quiproquo: Tardiveau kommt hinzu und glaubt, sich bei einer Tänzerin zu befinden...«

»Und was tut Geraldine?« unterbrach ihn Nana.

»Geraldine?« versetzte Bordenave ein wenig verlegen. »Sie hat eine kurze, aber dankbare Rolle. Sie paßt für dich, sage ich dir! Willst du unterschreiben?«

Sie blickte ihn fest an. Endlich antwortete sie:

»Wir werden es sogleich sehen.«

Nun ging sie wieder zu Labordette, der sie schon auf der Treppe erwartete. Das ganze Theater hatte sie erkannt. Man tuschelte, Prullière tat entrüstet, und Clarisse war um ihre Rolle besorgt; Fontan spielte den Gleichgültigen: man müsse auf eine Frau, die man einmal geliebt habe, nichts kommen lassen. Im Grunde seines Herzens hegte er aber einen wilden Haß gegen Nana, wegen ihrer Geduld, ihrer Schönheit und des herrlichen Lebens, das er sich nur durch seinen verkehrten Geschmack verdorben hatte.

Als indessen Labordette wieder erschien und sich dem Grafen näherte, wußte Rose Mignon sofort, wieviel es geschlagen hatte. Muffat war ihr allerdings widerwärtig, aber der Gedanke, auf diese Weise im Stich gelassen zu werden, brachte sie außer sich. Sie brach das Stillschweigen, das sie bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich ihrem Manne gegenüber beobachtete, und sagte ihm:

»Siehst du, wie sie ist? Ich kratze ihr die Augen aus, wenn sie es wieder so macht wie mit Steiner!«

Mignon zuckte ruhig mit unnachahmlicher Grazie die Achseln, als wolle er sagen: »Ich sehe alles.«

»Schweig doch!« murmelte er. »Tu mir den Gefallen und schweige!«

Er wußte recht wohl, woran er sich zu halten hatte. Muffat hatte er ausgebeutet, das war ihm klar. Da er aber seine Leute kannte, dachte er nur daran, wie er sich den größten Vorteil dabei sichern könne.

»Rose, auf die Bühne!« rief Bordenave. »Der zweite Akt soll noch einmal gespielt werden!«

»Vorwärts, geh!« versetzte Mignon. »Laß mich nur machen.« Dann, wenn auch scherzhaft, machte er sich den Spaß, Fauchery zu seinem Stücke Glück zu wünschen. Großartig sei es; warum aber sei die vornehme Dame so ehrbar? Das sei nicht begreiflich. Fauchiery, weit entfernt davon, sich zu ärgern, lächelte. Aber Bordenave warf einen Blick nach Muffat und rief ungeduldig:

»Verdammt! Wir wollen anfangen. Vorwärts, Barillot... Wie? Bosc ist wieder nicht da? Er kehrt sich schließlich gar nicht mehr an meine Anordnungen!«

Da kam Bosc gemütlich herbei. Die Probe begann gerade, als Labordette den Grafen wegführte. Dieser zitterte bei dem Gedanken, Nana wiederzusehen. Nach jenem Bruch mit ihr war ihm alles öde und leer erschienen, und deshalb hatte er sich zu Rose führen lassen, um in seinen Gewohnheiten keine Störung zu empfinden. Übrigens hatte er beschlossen, nunmehr alles zu ignorieren, weder Nana aufzusuchen noch sich mit der Gräfin auf Auseinandersetzungen einzulassen. Es schien ihm, als sei er diese Entsagung seiner Würde schuldig. Aber bald regte es sich in ihm, und Nana nahm allmählich sein ganzes Wesen wieder ein; er empfand neue zärtliche, ja väterliche Gefühle, und seine Sinnlichkeit erwachte. Die schmähliche Szene entschwand aus seinem Gedächtnis: er sah Fontan nicht mehr, er hörte nicht mehr, wie ihn Nana zur Tür hinauswarf und ihm den Ehebruch seiner Frau vorhielt. Alles war verschwunden, er verspürte nur ein banges, süßes Gefühl, das ihn mit mächtiger Gewalt ergriff und seine Sinne umflorte. Naive Dinge kamen ihm in den Sinn; er klagte sich selbst an und bildete sich ein, daß sie ihn nicht verraten hätte, wenn seine Liebe zu ihr aufrichtig gewesen wäre. Seine Angst wurde unerträglich, und er fühlte sich außerordentlich unglücklich. Die alte Wunde brannte, doch war es nicht mehr jene Gier, die sich allen Verhältnissen anbequemte, sondern eine eifersüchtige Leidenschaft für jenes Weib, ein Verlangen, sie ganz zu besitzen, ihr Haar, ihren Mund, ihren Körper. Wenn er an den Klang ihrer Stimme dachte, lief ein Schauer durch seine Glieder. Diese Liebe hatte ihn so schmerzlich ergriffen, daß er, als ihm Labordette von einem Rendezvous gesprochen hatte, diesen bei den ersten Worten in einer unwiderstehlichen Regung umarmte, wiewohl er sich dann schämte, auf eine so lächerliche Weise seinen Stand in den Staub gezogen zu haben. Aber Labordette wußte die Dinge klug zu durchschauen. Taktvoll verließ er den Grafen an der Treppe und sagte nur leichthin:

»Im zweiten Stock, Korridor rechts, die Tür, die nur angelehnt ist.«

Wirklich war auf dem Korridor rechts die Tür zur Garderobe nur angelehnt. Nana erwartete ihn.

Als sie den Grafen erblickte, schloß sie das Fenster. Es war nicht warm, aber die neugierige Madame Bron brauchte nichts zu hören. Beide schauten sich ernst an. Als sie eine große Verwirrung bemerkte, wie er so steif dastand, begann sie zu lachen und sagte: »Nun, da bist du ja wieder, du Dummkopf!« Er war vor Erregung fast starr. Er nannte sie Madame und schätzte sich glücklich, sie wiederzusehen.

Um nun endlich zum Ziele zu gelangen, nahm sie einen vertraulichen Ton an:

»Tu nicht so würdevoll! Da du mich zu sehen gewünscht hast, brauchen wir einander nicht wie zwei Porzellanmännchen anzustarren... Wir haben beide unrecht gehabt. Oh, ich für mein Teil verzeihe dir!«

So kamen sie denn überein, nicht mehr von diesen Dingen zu sprechen. Er wurde unruhig, wußte aber nicht, was er sagen sollte, so voll war ihm das Herz. Erstaunt über diese Kälte schlug sie einen anderen, einen würdevollen Ton an:

»Nun also, du bist vernünftig: jetzt, da wir Frieden geschlossen haben, wollen wir einander die Hand reichen und gute Freunde bleiben.«

»Wie, nur gute Freunde?« murmelte er, von einer plötzlichen Besorgnis ergriffen.

»Ja, es ist vielleicht töricht, aber ich rechnete auf deine Achtung... Jetzt haben wir uns ausgesprochen und werden, wenn wir einander treffen, uns wenigstens nicht wie zwei Ölgötzen anstieren...«

Er machte eine Handbewegung, um sie zu unterbrechen.

»Laß mich zu Ende kommen... Kein Mensch, hörst du, kann mir eine Gemeinheit vorwerfen. Nun, darum war es mir nicht gleichgültig, daß du der erste bist, der es tun könnte. Jedem seine Ehre, mein Lieber.«

»Aber so ist es nicht gemeint!« rief er heftig. »Setze dich und höre mich an.«

Und weil er befürchtete, daß sie fortgehen werde, drängte er sie auf den einzigen Stuhl, der im Zimmer vorhanden war. Er selbst ging mit wachsender Unruhe auf und nieder.

»Ich bin gekommen«, sagte er und trat vor sie hin, »um dich wieder für mich zu gewinnen ... Ja, ich will das Verhältnis wieder anknüpfen! Du weißt das wohl, warum sprichst du mit mir, wie du es tust? ... Antworte! Bist du einverstanden?«

Sie hatte den Kopf gesenkt und kratzte mit dem Daumennagel die Schminke vom Stuhl, und da sie sah, wie sehr es ihm darum zu tun war, beeilte sie sich erst recht nicht. Endlich erhob sie ihr ernstes Gesicht, ihre schönen Augen, denen sie nicht ohne Mühe einen betrübten Ausdruck verliehen hatte.

»Oh, unmöglich, mein Kleiner! Nie werde ich mich wieder ganz mit dir aussöhnen!«

»Warum nicht?« stammelte er, während ein Zug unsäglichen Schmerzes über sein Gesicht glitt.

»Warum nicht? Ei, weil ... Kurz, es ist unmöglich. Ich will nicht.«

Noch einige Sekunden schaute er sie mit glänzenden Blicken an. Dann knickte er zusammen und warf sich zu Boden. Sie schien dadurch gelangweilt und sagte nur:

»Ach, sei doch kein Kind!«

Aber er war es schon. Zu ihren Füßen liegend, hatte er sie an der Taille gefaßt und drückte sie fest an sich, während sein Gesicht sich zwischen ihren Knien verbarg. Als er so durch den dünnen Stoff des Kleides ihre weichen Glieder fühlte, durchzuckte es sein ganzes Wesen, und mit fieberhaftem Zittern preßte er sie noch fester an sich. Der altersschwache Stuhl krachte, und in dem niedrigen Zimmer mit seiner parfümschwangeren Luft vernahm man halberstickte girrende Seufzer.

»Nun, was noch?« sagte Nana und ließ ihn gewähren. »Alles dies nützt dir nichts, da es einmal nicht möglich ist ... Mein Gott, wie jungenhaft du noch bist!«

Er wurde ruhiger; aber immer noch blieb er in seiner Stellung, ließ sie nicht los und lallte gebrochen:

»Höre wenigstens, was ich dir anbieten wollte ... Ich habe mir schon ein Haus in der Nähe des Parks Monceaux angesehen und würde alle deine Wünsche verwirklichen ... Um dich ganz allein zu besitzen, würde ich mein Vermögen opfern ... Ja, das wäre die einzige Bedingung: dich ganz allein, verstehst du! Und wenn du einwilligst, nur mir zu gehören, so würde ich dich mit dem Schönsten und Besten versehen, mit Wagen, Diamanten und Toiletten ...«

Bei jedem Anerbieten machte Nana eine verneinende theatralische Bewegung. Als er dann fortfuhr, als er davon sprach, Geldsummen für sie anzulegen, da er nicht mehr wußte, was er ihr zu Füßen legen sollte, schien sie die Geduld zu verlieren. »Nun, bist du endlich fertig damit, mich zu betören? Ich bin gutmütig und will dir wohl einen Moment des Glückes gönnen, da ich dich so sehr leiden sehe; aber jetzt ist es genug, nicht wahr? Laß mich aufstehen! Du ermüdest mich.«

Sie machte sich los, und als sie aufgestanden war, rief sie wieder: »Nein, nein, nein ... Ich will nicht!«

Da raffte er sich mühsam empor; kraftlos sank er auf den Stuhl, stützte die Ellenbogen auf die Lehne und verbarg das Gesicht in den Händen. Nana ging auf und ab, eine Zeitlang betrachtete sie die zerrissene Tapete, den fettigen Toilettentisch und das ganze schmutzige, von der Sonne erleuchtete Zimmer. Darauf blieb sie vor dem Grafen stehen und sprach mit der größten Ruhe:

»Es ist komisch, die reichen Leute bilden sich ein, sie könnten für ihr Geld alles haben ... Nun, und wenn ich nicht will? Deine Geschenke rühren mich gar nicht; und wenn du mir ganz Paris gäbest, nein und nochmals nein! ... Siehst du, hier ist es gar nicht sauber, und doch würde ich es ganz nett finden, wenn es mir gefiele, hier mit dir zu leben, während man in deinen Palästen umkommt, wenn sich das Herz dort nicht wohlfühlt ... Ach, das Geld! Mein armer Junge, Geld habe ich überall! Siehst du, darauf gebe ich nichts. Geld? Darauf speie ich!«

Sie nahm eine verächtliche Miene an, bald aber wurde sie gefühlvoll und fügte in melancholischem Tone hinzu:

»Ich weiß etwas, was besser ist als Geld ... Ach, wenn man mir das geben könnte, was ich wünsche!«

Langsam hob er den Kopf, und seine Augen leuchteten schon hoffnungsvoll.

»Oh, du kannst es mir nicht geben«, versetzte sie; »das hängt nicht von dir ab, und deshalb spreche ich nicht mit dir davon ... Komm, wir wollen uns unterhalten! Ich möchte gern die Rolle einer anständigen Dame spielen.«

»Welcher anständigen Dame?« murmelte er erstaunt.

»Nun, die der Herzogin Hélène ... Wenn sie etwa denken, ich werde die Geraldine spielen, so täuschen sie sich gewaltig! Eine ganz unbedeutende Rolle, nur eine Szene – und überhaupt! Übrigens muß ich dir sagen: ich habe solche Rollen satt. Immer und immer Kokotten, man möchte glauben, ich hätte nichts als Kokotten im Kopf. Im Grunde ist es sehr ärgerlich, denn ich sehe klar, sie scheinen mich für schlecht erzogen zu halten ... Ha, mein Kleiner, da sind sie schief gewickelt! Wenn ich vornehm sein will, so benehme ich mich wie eine Dame! Hier, schau einmal her!«

Sie ging bis ans Fenster zurück, dann kam sie, sich blähend, gemessenen Schrittes und mit gezierter Miene wieder, gleich einer dicken Henne, die vorsichtig einherstelzt, um sich die Zehen nicht zu beschmutzen.

Er verfolgte sie noch immer mit tränenfeuchten Blicken und war durch diese Theaterszene verwirrt, die so rasch auf seinen Schmerz folgte. So ging sie einige Zeit auf und ab, um sich in ihrem Spiel von allen Seiten zu zeigen, mit ihrem feinen Lächeln und Augenblinzeln, während ihre Schleppe hin und her wogte. Endlich trat sie wieder vor den Grafen und fuhr fort:

»Nicht wahr, so ist es richtig, glaube ich!«

»Oh, vollkommen«, stammelte er, noch mimer verwirrt.

»Ich sagte dir ja, daß ich für eine anständige Damenrolle geeignet bin! Ich habe zu Hause Versuche gemacht, keine einzige hat wie ich die feine Miene einer Herzogin, der die Männer gleichgültig sind; hast du es bemerkt, als ich an dir vorbeiging? So etwas liegt im Blut ... Und folglich will ich auch eine anständige, feine Dame spielen; ich sehne mich danach und bin ganz unglücklich; ich muß die Rolle haben, verstehst du wohl!«

Sie war ernst geworden, und ihre Stimme klang rauh und erregt; sie litt also wirklich unter diesem närrischen Wunsch. Muffat war noch immer über ihre Weigerung verblüfft und wartete auf Antwort, ohne sie jetzt zu verstehen. Ein tiefes Schweigen trat ein, man hörte nicht einmal das Summen einer Fliege.

»Du scheinst mich nicht zu verstehen«, hub sie jetzt an, »du sollst mir die Rolle verschaffen.«

Er war noch immer bestürzt. Endlich rief er mit einer verzweifelten Bewegung: »Aber das ist ja unmöglich! Du sagtest ja selbst, daß es nicht von mir abhänge.«

Sie zuckte die Achseln und unterbrach ihn.

»Du sollst hinuntergehen und Bordenave sagen, daß du die Rolle für mich haben willst... Sei doch nicht so naiv! Bordenave braucht Geld. Nun also! Du wirst ihm Geld leihen, dann hast du ihn zu deiner Verfügung.«

Da er sich noch immer sträubte, wurde sie ärgerlich.

»Gut, ich verstehe: du willst Rose nicht erzürnen... Von jener habe ich nicht gesprochen, als du so auf dem Boden vor mir weintest; ich hätte darüber nur zu viel zu sagen... Ja, wenn man einer Frau geschworen hat, sie ewig zu lieben, so nimmt man am nächsten Tag nicht die erste beste, die einem in den Weg kommt. Oh, darin liegt die Kränkung, verstehst du mich? ... Übrigens, mein Lieber, läßt sich nun daran nichts mehr ändern! Du hättest, bevor du hier vor meinen Knien lagst, wohl erst mit jener schmutzigen Gesellschaft brechen sollen!«

Er erholte sich wieder und konnte schließlich zu Wort kommen:

»Gut, ich kümmere mich nicht mehr um Rose und werde sie sofort im Stich lassen.«

Nana schien damit zufrieden und versetzte:

»Nun, was bekümmert dich dann? Bordenave ist der Herr... Du wirst mir entgegnen, daß außer Bordenave noch Fauchery da ist...«

Sie hatte betont langsam gesprochen und berührte jetzt den heiklen Punkt der Affäre. Muffat schwieg mit gesenkten Blicken. Er war absichtlich über die zarten Beziehungen Faucherys zur Gräfin in Unkenntnis geblieben und beruhigte sich mit der Zeit in der Hoffnung, sich in jener schrecklichen Nacht in der Rue Taibout getäuscht zu haben. Aber trotzdem empfand er gegen jenen Mann ein inneres Widerstreben und einen dumpfen Groll.

»Nun, was? Fauchery ist noch lange kein Spielverderber!« fuhr Nana fort, indem sie somit das Terrain sondierte und erfahren wollte, wie es zwischen dem Gatten und dem Liebhaber bestellt sei. »Mit Fauchery kann man fertig werden. Ich versichere dir, er ist im Grunde ein guter Kerl ... Also, es bleibt dabei, du wirst ihm sagen, daß die Rolle für mich ist.« Der Gedanke an diesen Schritt war dem Grafen zuwider.

»Nein, nein, niemals!« rief er.

Sie wartete und wollte sagen: »Fauchery hat dir nichts zu verweigern«; allein sie merkte, daß sie mit diesem Kraftmittel zu weit gehen würde. Sie lächelte nur, und dieses komische Lächeln sagte genug. Muffat, der seine Blicke auf sie gerichtet hatte, senkte sie von neuem und erbleichte verwirrt.

»Ah, du bist auch gar nicht gefällig«, murmelte sie endlich.

»Ich kann nicht!« versetzte er gequält. »Alles, was du willst, mein liebes Herz, nur das nicht. Oh, ich bitte dich!«

Jetzt hielt sie sich nicht mehr mit langen Auseinandersetzungen auf. Mit ihren kleinen Händen ergriff sie sein Haupt, beugte sich vor und drückte ihm einen feurigen Kuß auf die Lippen. Ein Schauer durchlief ihn; ganz außer sich, begann er zu zittern und schloß die Augen. Nana richtete ihn empor.

»Geh«, sagte sie kurz.

Er ging und lenkte seine Schritte nach der Tür. Aber als er das Zimmer verlassen wollte, umarmte sie ihn wieder und drückte schmeichelnd ihr Gesicht an seine Brust.

»Wo ist das Haus?« fragte sie mit dem verschämten Lächeln eines Kindes, das sich auf früher verschmähte schöne Sachen besinnt.

»Avenue de Villiers.«

»Und Wagen sind auch dabei?«

»Ja.«

»Oh, wie gut du bist, mein Schatz! Du weißt, es war vorhin nur Eifersucht ... Und diesmal, schwöre ich dir, soll es nicht wieder werden wie früher, weil du jetzt verstehst, was eine Frau braucht. Du gibst alles, nicht wahr? Dann werde ich auch niemanden weiter nötig haben ... Sieh, es ist alles für dich! Dies und dies und auch dies!«

Als sie ihm so unzählige Male die Hände und das Gesicht geküßt und ihn glücklich zur Tür hinausgeschoben hatte, atmete sie einen Augenblick auf. Mein Gott, was für ein schlechter Geruch herrschte doch in der Garderobe dieser unordentlichen Mathilde! Die Ruhe und Wärme des Zimmers wirkten ganz angenehm; aber der Geruch nach verdorbenem Lavendelwasser nebst anderen unsauberen Dingen war geradezu abscheulich. Sie öffnete das Fenster und schaute wieder hinaus, um sich die Zeit zu vertreiben.

Wankend und mit summendem Kopf stieg unterdessen Muffat die Treppe hinab. Was sollte er sagen? Wie sollte er die Sache anfangen, die ihn nichts anging? Auf der Bühne vernahm man einen lebhaften Streit.

Man war am Ende des zweiten Aktes, und Prullière wütete, weil Fauchery seine Rolle hatte kürzen wollen.

»Kürzen Sie lieber das Ganze«, rief er, »das ist besser! ... Wie, ich habe nicht einmal zweihundert Zeilen, und diese kürzt man mir noch! ... Nein, ich habe es satt, ich gebe die Rolle ab.«

Er zog ein kleines, zerknittertes Heft aus der Tasche, drehte es zwischen seinen zitternden Händen und machte Miene, es Cossard in den Schoß zu werfen. Sein bleiches Gesicht zuckte vor verletzter Eitelkeit; seine Augen glühten, und er biß die Lippen zusammen, ohne seiner inneren Aufregung Herr werden zu können. Er, Prullière, der Abgott des Publikums, sollte eine Rolle von nur zweihundert Zeilen spielen!

»Warum läßt man mich nicht lieber Briefe auf einem Präsentierteller überreichen?« fragte er mit bitterem Spott.

»Hören Sie, Prullière, seien Sie doch ruhig«, sagte Bordenave, der um ihn wegen seiner günstigen Wirkung auf die Logen besorgt war. »Fangen Sie doch nicht ihre alten Geschichten an... Man wird schon noch effektvolle Rollen für Sie finden. Nicht wahr, Fauchery? Sie werden einige Kraftstellen hinzufügen... Im dritten Akt könnte man sogar eine Szene verlängern.«

»Und übrigens«, erklärte der Komödiant, »wünsche ich das Schlußwort, wenn der Vorhang fällt... Das ist man mir schuldig.«

Fauchery schwieg, er schien einzuwilligen, und Prullière steckte die Rolle wieder in die Tasche. Bosc und Fontan hatten während dieser Auseinandersetzung eine ganz gleichgültige Miene angenommen; sollte jeder für sich selbst sorgen, das ging sie nichts an, darum interessierten sie sich nicht dafür! Alle Schauspieler umringten Fauchery, teils fragten sie ihn, teils suchten sie Lobsprüche zu ernten, während Mignon, der die Beschwerden Prullières anhörte, den Grafen Muffat immer im Auge behielt, dessen Rückkehr er beobachtet hatte.

Der Graf war während des Streites zögernd im Hintergrund der Bühne stehengeblieben. Aber Bordenave bemerkte ihn und eilte auf ihn zu.

»Ha, diese Menschen!« murmelte er. »Sie machen sich keinen Begriff, Herr Graf, welche Not ich mit diesen Leuten habe. Einer immer eitler als der andere, und dabei sind sie boshaft und neidisch. Ich glaube, sie wären entzückt, wenn mich irgendein Unglück träfe ... Aber verzeihen Sie, ich ereifere mich zu sehr.«

Er schwieg; Muffat suchte einen Übergang zu finden; allein es gelang ihm nicht, und so sagte er schließlich kurz, um die Sache schnell zum Ziele zu führen:

»Nana wünscht die Rolle der Herzogin.«

»Ha, das Frauenzimmer ist toll!«

Als er hierauf den Grafen ansah, fand er diesen so bleich und verwirrt, daß er sich sofort wieder beruhigte.

»Du lieber Himmel!« sagte er bloß. »Fauchery!« rief er dann. »Wir wollen nicht hierbleiben. Kommen Sie, meine Herren!«

Um sich vor unberufenen Ohren sicher zu wissen, führte er sie in das Requisitenkabinett hinter der Bühne. Mignon sah sie erstaunt verschwinden. Sie stiegen einige Stufen hinab und gelangten in ein viereckiges Zimmer, dessen niedrige Fenster auf den Hof gingen. Nur spärliches Licht drang durch die schmutzigen Scheiben herein.

»Treten Sie ein!« versetzte Bordenave. »Hier sind wir wenigstens ungestört.«

Der Graf war äußerst befangen und überließ es dem Direktor, den Vorschlag zu wagen. Fauchery wartete erstaunt.

»Was gibt's?« fragte er.

»Hören Sie zu«, sagte endlich Bordenave. »Uns ist ein Gedanke gekommen ... Es ist voller Ernst ... Wie denken Sie sich wohl Nana in der Rolle der Herzogin?«

Der Autor war einen Augenblick wie versteinert. Dann rief er lachend:

»Ach, reden Sie nicht! Das ist doch nur ein Scherz ... Man würde zu sehr darüber lachen.«

»Nun, das ist so schlimm nicht, wenn man lacht! Bedenken Sie doch, mein Lieber ... Der Gedanke gefällt dem Herrn Grafen sehr.«

Muffat hatte soeben einen Gegenstand von einem bestaubten Brett genommen und tat so, als wisse er nicht, was es sei. Es war ein Eierbecher mit einem Gipsfuß. Er betrachtete ihn in Gedanken und murmelte, indem er nähertrat:

»Ja, ja, es wäre, meine ich, sehr schön.«

Mit einer ungeduldigen Bewegung drehte sich Fauchery nach ihm um und sagte kurz:

»Niemals! Nana als Kokotte, sooft man will, aber als feine Dame? Nein, danke!«

»Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß Sie sich täuschen«, entgegnete Muffat schon mit mehr Kühnheit. »Eben hat sie mir eine anständige Dame vorgespielt, und ich versichere Ihnen, famos ...«

»Wo denn?« fragte Fauchery, dessen Erstaunen sich mehrte.

»Oben in einer Garderobe ... Ich versichere Ihnen, famos! Oh, ein vornehmes Wesen! Vor allem ihr Blick ... Sie wissen, so im Vorübergehen, in dieser Weise ...«

Er wollte Nana nachahmen, da er sich in seinem leidenschaftlichen Wunsch, diese Herren zu überzeugen, ganz vergaß. Fauchery blickte ihn verblüfft an; er hatte alles begriffen und war nicht mehr böse. Der Graf, auf den sein Blick voll Spott und Mitleid nicht wirkungslos war, blieb stehen; eine schwache Röte überflog sein Gesicht.

»Mein Gott! Ist es möglich?« murmelte der Autor aus Gefälligkeit. »Sie würde sich vielleicht ganz gut machen ... Leider aber ist die Rolle schon vergeben. Wir können sie Rose nicht wieder nehmen.«

»Oh, wenn es weiter nichts ist«, sagte Bordenave, »so will ich die Sache schon besorgen.«

Als der junge Mann beide gegen sich gestimmt sah und merkte, daß Bordenave ein geheimes Interesse an der Sache hatte, sträubte er sich wieder heftig dagegen.

»Nein, nein! Selbst wenn die Rolle frei wäre, nie würde ich sie Nana geben ... Ist Ihnen das klar genug? Lassen Sie mich in Ruhe... Ich habe keine Lust, mir mein Stück zu verderben.«

Ein verlegenes Schweigen trat ein, und Bordenave ging zur Seite. Der Graf blieb mit gesenktem Haupt stehen. Mühsam richtete er sich jetzt auf und sagte tiefbewegt:

»Mein Lieber, wenn ich nun das von Ihnen als einen Dienst verlangte?«

»Ich kann nicht, ich kann nicht!« wiederholte Fauchery, sich sträubend.

Muffats Ton wurde härter.

»Ich bitte Sie darum... Ich will es!«

Und er blickte ihm fest ins Auge. Vor diesem finster drohenden Blick wich der junge Mann zurück und stammelte verwirrt:

»Nun, so tun Sie es, mir soll es gleich sein... Ah, Sie mißbrauchen Ihren Einfluß... Nun, Sie werden ja sehen, Sie werden ja sehen...«

Die Verlegenheit nahm zu. Fauchery hatte sich an einen Schubkasten gelehnt und stampfte nervös mit dem Fuß; Muffat schien aufmerksam den Eierbecher zu betrachten, den er in der Hand hin und her drehte.

»Das ist ein Eierbecher«, meinte Bordenave höflich.

»Ja, wirklich, ein Eierbecher«, wiederholte der Graf, indem er aufschaute.

»Entschuldigen Sie, Sie haben sich ein wenig mit Staub beschmutzt«, fuhr der Direktor fort, während er den Gegenstand auf ein Brett stellte. »Sie begreifen, wenn man alle Tage abstauben müßte, würde man gar nicht mehr damit fertig. Nicht wahr? Ein schöner Wirrwarr! ... Aber Sie können es mir glauben, in solchem Zeug steckt eine Menge Geld. Schauen Sie!«

Er führte Muffat vor die Schubladen, erklärte ihm die einzelnen Geräte und wollte ihn für sein Lumpeninventar, wie er es lachend nannte, interessieren. Als sie wieder in Faucherys Nähe kamen, sagte er in unbefangenem Ton:

»Hören Sie, da wir nun alle übereinstimmen, so wollen wir diese Affäre ins reine bringen. Ah, hier ist gerade Mignon.«

Seit einiger Zeit nämlich strich Mignon auf dem Korridor umher. Schon bei den ersten Worten Bordenaves wurde er aufgebracht; es war nach seiner Ansicht eine Niederträchtigkeit: man beabsichtige, die Zukunft seiner Frau zu vernichten. Indessen gab Bordenave ganz ruhig seine Gründe an: die Rolle scheine ihm nicht würdig genug für Rose, er wolle sie lieber in einer Operette beschäftigen, welche nach der »Kleinen Herzogin« aufgeführt werden solle. Als sich aber der Gatte noch immer nicht beruhigte, wollte er ganz einfach den Kontrakt mit Rose aufheben, indem er als Grund die Anerbietungen erwähnte, die der Sängerin von der Komischen Oper gemacht worden seien. Darauf meinte Mignon, einen Augenblick aus der Fassung gebracht, ohne jene Offerten zu leugnen, auf Geld komme es ihm in einem solchen Fall gar nicht an; man habe seine Frau engagiert, die Herzogin Hélène zu spielen, wenn er auch dabei um sein Vermögen kommen sollte. Der Direktor kam immer wieder auf seine Gründe zurück: da die Komische Oper Rose allabendlich dreihundert Franken für hundert Vorstellungen biete, während sie bei ihm nur hundertfünfzig erhalte, so könne sie fünfzehntausend Franken gewinnen, sobald er sie gehen lasse. Was würde man denn sagen, entgegnete Mignon, wenn man sähe, daß seiner Frau die Rolle entzogen sei? Natürlich nichts anderes, als daß sie nicht entsprochen habe und man sie habe ersetzen müssen; es sei dies ein schreiendes Unrecht, eine Mißachtung der Künstlerin. Plötzlich sprang er auf einen anderen Punkt über: Rose habe, ihrem Kontrakt gemäß, bei ihrem Rücktritt von der Bühne zehntausend Franken zu fordern. Nun, so möge man ihr zehntausend Franken geben, und sie werde an die Komische Oper gehen. Bordenave stutzte, während Mignon, der den Grafen nicht aus den Augen gelassen hatte, ruhig auf einen Bescheid wartete.

»Dann wird sich alles regeln«, murmelte Fauchery erleichtert; »man kann sich ja verständigen.«

»Ah, nein, danke bestens, das wäre ein törichtes Verlangen!« rief Bordenave, von dem Instinkt eines Geschäftsmannes geleitet. »Zehntausend Franken für Roses Entlassung! Man würde mich auslachen!«

Aber der Graf beruhigte ihn durch Winke und gebot ihm, den Vorschlag anzunehmen. Noch immer aber zögerte er. Endlich versetzte er grollend, da ihn die zehntausend Franken dauerten, wiewohl sie nicht aus seiner Tasche kommen sollten:

»Na gut, ich bin damit einverstanden; auf diese Art werde ich sie wenigstens los.«

Schon eine Viertelstunde lang lauschte Fontan im Hofe. Als er verstanden hatte, worum es sich handelte, machte er sich den Spaß, Rose zu benachrichtigen. Diese eilte in das Magazin, und alle schwiegen bei ihrem Erscheinen. Sie betrachtete die vier Männer. Muffat senkte den Kopf, und Fauchery antwortete durch ein verzweifeltes Achselzucken auf ihren fragenden Blick. Was Mignon anbetraf, so unterhandelte er mit Bordenave über die Bedingungen des Vertrages.

»Was gibt es hier?« fragte sie kurz.

»Nichts«, sagte ihr Gatte. »Bordenave gibt zehntausend Franken, um deine Rolle weiter zu vergeben.«

Sie erbleichte und ballte zitternd die Hände. Einen Augenblick lang sah sie ihn wütend an, ein Beben durchlief ihren Körper; sie, die gewöhnlich in Geschäftsangelegenheiten ihm die Unterzeichnung der Verträge mit den Direktoren und ihren Liebhabern überließ, konnte nur ausrufen: »Ah, sieh, du bist ja feig!«

Dann eilte sie fort. Mignon lief ihr bestürzt nach. Was, wurde sie toll? Er erklärte ihr leise, daß zehntausend Franken einerseits und fünfzehntausend Franken andererseits insgesamt fünfundzwanzigtausend Franken ausmachten. Ein herrliches Geschäft! Auf geniale Weise gebe sie Muffat so den Laufpaß; es sei ein Kraftstreich, ihm so die letzte Feder herausgerupft zu haben. Aber Rose konnte vor Wut nicht antworten. Darüber wurde Mignon ärgerlich und ließ sie stehen. Er sagte zu Bordenave, der eben mit Fauchery und Muffat wieder auf die Bühne kam:

»Wir werden morgen früh unterzeichnen. Halten Sie das Geld bereit!«

Eben kam Nana, durch Labordette in Kenntnis gesetzt, mit triumphierender Miene herab. Sie spielte die vornehme Dame, um diesen Dummköpfen zu zeigen, daß, wenn sie wolle, keine andere Kollegin vornehmere Manieren haben könne. Aber beinahe hätte sie sich dabei kompromittiert. Als Rose sie nämlich bemerkte, stürzte sie auf sie los und stammelte wuterfüllt:

»Ich werde dich wiedertreffen... Das muß zwischen uns aufhören, verstehst du!«

Nana vergaß sich bei dieser plötzlichen Attacke und war gerade im Begriff, die Hände in die Hüften zu stemmen, um ihr alle erdenklichen Grobheiten ins Gesicht zu werfen. Allein sie faßte sich noch und zwang ihre Stimme zu einem flötenden Säuseln.

»He, was?« sagte sie. »Sie sind wohl toll, meine Liebe!«

So setzte sie ihr graziöses Benehmen fort, während Rose mit Mignon wegging. Clarisse war entzückt, da sie eben von Bordenave die Rolle der Geraldine erhalten hatte. Fauchery war sehr düster gestimmt und stampfte unruhig auf den Boden, ohne sich zum Verlassen des Theaters entschließen zu können; sein Stück war futsch, er mußte es zu verbessern suchen. Aber Nana zog ihn dicht an sich heran und fragte ihn, ob er sie denn wirklich so schrecklich finde? Sie werde ihm sein Stück doch nicht aufessen; darüber mußte er lachen, und sie gab ihm zu verstehen, es sei töricht, mit ihr zu schmollen, zumal in ihrer einflußreichen Stellung bei Muffat. Wenn ihr das Gedächtnis ausgehe, so werde sie sich des Souffleurs bedienen; übrigens täusche er sich über ihr Talent, er werde schon sehen, welchen Applaus sie erziele. Darauf kam man überein, daß der Autor die Rolle der Herzogin ein wenig umarbeiten solle, um Prullière etwas mehr zukommen zu lassen. Prullière war entzückt. In dieser allgemeinen Befriedigung, die Nana um sich her verbreitete, blieb Fontan allein kalt und suchte seinem Bocksgesicht einen völlig gleichgültigen Ausdruck zu geben. Indessen kam Nana ruhig herbei und reichte ihm die Hand mit den Worten:

»Geht es dir gut?«

»Oh ja, nicht schlecht. Und dir?«

»Sehr gut, ich danke.«

Das war alles. Es schien, als ob sich beide am Abend vorher vor der Tür des Theaters erst verlassen hätten.

Mittlerweile warteten die Schauspieler immer noch; aber Bordenave sagte, man wolle den dritten Akt nicht proben. Als der alte Bosc wegging, brummte er noch, man halte sie nur unnötig auf und verderbe ihnen so die ganzen Nachmittage. Alles ging jetzt. Unten auf der Straße mußten sie die Augen zukneifen, so sehr blendete sie das helle Tageslicht. Sie sahen wie Leute aus, die drei Stunden im Keller zugebracht hatten. Der Graf stieg mit schlaffen Gliedern und wüstem Kopf in Gesellschaft Nanas in einen Wagen, während Labordette Fauchery fortführte und ihn tröstete.

Einen Monat später erfolgte die erste Aufführung der »Kleinen Herzogin«. Sie war für Nana katastrophal. Mit ihren sogenannten vornehmen Manieren gab sie sich so tölpelhaft, daß das Publikum sie auslachte. Man zischte nicht einmal, so sehr amüsierte man sich. In einer Proszeniumsloge nahm Rose Mignon jedes Auftreten ihrer Rivalin mit einem schrillen Gelächter auf und entzündete damit den ganzen Saal. Dies war Roses erste Rache. Als am Abend darauf Nana sich mit Muffat allein befand, sagte sie ihm wütend:

»Ha, welche Intrige! Alles das ist nur Eifersucht... Ach, wenn sie wüßten, wie wenig mich das kümmert! Brauche ich sie denn jetzt noch? Sieh, für hundert Louisdor bringe ich alle, die mich ausgelacht haben, her und lasse sie vor mir den Boden küssen... Warte, ich werde deinem Paris noch zeigen, daß ich eine vornehme Dame bin!«


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