Emile Zola
Nana
Emile Zola

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Zweites Kapitel

Am anderen Morgen schlief Nana noch um zehn Uhr. Sie bewohnte auf dem Boulevard Haussmann die zweite Etage eines großen neuen Gebäudes, dessen Eigentümer an ledige Damen vermietete, um seine Zimmer »trocken wohnen« zu lassen. Ein reicher Handelsherr aus Moskau, der für eine Wintersaison nach Paris gekommen war, hatte sie hier einquartiert und auf ein Halbjahr den Mietzins voraus entrichtet. Die Wohnung, die viel zu geräumig für sie war, wurde niemals vollständig ausmöbliert; ein prahlerischer Luxus, vergoldete Konsolen und Sessel fanden sich neben altem Trödelkram aus Rückkaufsgeschäften, Mahagoni-Nipptischchen und Zinkkandelabern, die Florentiner Bronzen darstellten. Dies alles gab ein Bild von dem Milieu einer Dirne, die von ihrem ersten ernstlichen Verehrer zu früh sitzengelassen und nun wieder zweifelhaften Liebhabern in die Arme gefallen war. Nanas Debüt war im großen ganzen keineswegs leicht gewesen, ihr Eintritt in die Welt völlig verunglückt; in diesem Augenblick war ihre Lage besonders schwierig, denn niemand wollte ihr mehr borgen, und jeden Augenblick konnte es geschehen, daß sie vom Hauswirt an die Luft gesetzt wurde.

Nana schlief auf dem Bauch, das Kopfkissen, in das sie ihr schlaftrunkenes Gesicht vergrub, preßte sie zwischen ihre nackten Arme. Das Schlafgemach und das Ankleidezimmer waren die beiden einzigen Räume, deren Einrichtung von einem Tapezierer des Stadtviertels besorgt worden war. Ein Lichtschimmer glitt unter einem Vorhang herein, man unterschied das Palisandermobiliar, die damastnen Vorhänge und Sitze, deren Muster große, blaue Blumen auf grauem Untergrund zeigte. Aber in der dumpfen Luft dieses verschlafen daliegenden Gemachs fuhr jetzt Nana jäh aus ihrem Schlummer auf: sie schien erstaunt zu sein, den Platz neben sich leer zu finden. Sie betrachtete das zweite Kissen, das neben dem ihrigen lag und noch die laue Höhlung eines Kopfes inmitten des Spitzenbesatzes zeigte. Sie tastete mit ihrer Hand nach dem Kopfende des Bettes und drückte auf den Knopf eines dort angebrachten elektrischen Klingelzuges.

»Ist er denn schon fortgegangen?« fragte sie die in das Gemach tretende Zofe.

»Ja, Madame, Herr Paul ist schon gegangen, es sind aber kaum zehn Minuten her ... Da Madame noch müde war, wollte er Sie nicht aufwecken. Aber er hat mich beauftragt, Ihnen zu sagen, daß er morgen wiederkommen werde.«

Zoé, die Zofe, öffnete die Jalousien. Das volle Tageslicht flutete herein ... Zoé war eine lange Brünette mit einem gelblich-blassen Teint; das mit Blatternarben bedeckte Gesicht mit dem breiten Mund, der platten Nase, den dicken, aufgeworfenen Lippen und den unaufhörlich in Bewegung befindlichen kohlschwarzen Augen umrahmte oberhalb das glatt an der Stirn herabgescheitelte Haar.

»Morgen, morgen«, wiederholte Nana, die noch immer halb verschlafen war; »ist denn das der Tag, morgen?«

»Ja, Madame, Herr Paul pflegt immer am Mittwoch zu kommen.«

»Nicht doch, mir fällt ein«, rief Nana und setzte sich im Bett auf, »das hat sich ja alles geändert! Ich wollte ihm das heute morgen sagen ... Er könnte leicht mit dem ,Mulatten' zusammengeraten, das könnte eine schöne Bescherung geben!«

»Madame hat mir nichts davon gesagt, ich konnte das also nicht wissen«, gab Zoé zur Antwort. »Wenn Madame ihre Besuchstage zu ändern beliebt, so sollte sie mir Kenntnis davon geben, damit ich mich zu verhalten weiß ... Der alte Geizkragen darf also dienstags nicht mehr kommen?«

Sie pflegten unter sich, ohne den Mund dabei zu verziehen, mit den Namen »alter Geizkragen« und »Mulatte« die beiden zahlenden Männer zu titulieren, von denen der eine ein Kaufmann aus dem Faubourg Saint-Denis mit großen Sparanlagen, der andere ein Walache, ein angeblicher Graf war, dessen Geldquelle nicht nur sehr unregelmäßig floß, sondern auch höchst zweifelhaften Ursprungs war. Daguenet hatte die Morgenstunden jener Tage mit Beschlag belegt, in deren Nächten der alte Geizkragen hier zu weilen pflegte; da der Kaufmann am frühen Morgen, spätestens gegen acht Uhr, zu Hause sein mußte, paßte der junge Mann immer in der Küche sein Fortgehen ab und nahm dann bis gegen zehn Uhr dessen warmen Platz ein. Nachher ging auch er seinen Geschäften nach. Nana und Daguenet fanden diese Einrichtung höchst bequem.

»Eine schlimme Geschichte!« meinte Nana. »Ich will ihm ein paar Zeilen schreiben; und sollte er meinen Brief nicht bekommen, so läßt du ihn morgen nicht eintreten.«

Unterdessen schritt Zoé mit leichten Tritten in dem Schlafzimmer auf und ab. Sie sprach von dem großen Erfolg des gestrigen Abends. Madame habe ein so großes Talent gezeigt, so vortrefflich gesungen! Oh, von jetzt an brauche Madame sich keine Sorgen mehr zu machen!

Nana, die sich mit dem Ellbogen auf das Kissen stützte, antwortete nur durch ein Wiegen ihres Kopfes. Ihr Hemd war herabgeglitten, die aufgelösten wirren Haare rollten über ihre nackten Schultern.

»Gewiß! Gewiß!« murmelte sie, in Träumen versinkend. »Aber wie soll man es machen, um das abzuwarten? Ich werde heute wieder alle möglichen Widerwärtigkeiten zu hören kriegen ... Sag', ist der Portier heute morgen noch nicht oben gewesen?«

Nun plauderten beide sehr ernst. Madame schuldete drei Mietbeträge, der Hausherr sprach bereits von Beschlagnahme des Mobiliars. Dann kam die lange Reihe anderer Gläubiger, die alle schon mehr als ungeduldig nach Geld drängten: ein Wagenverleiher, eine Wäscherin, ein Damenschneider, ein Kohlenhändler und noch verschiedene andere, die sich tagtäglich auf einer Bank im Vorzimmer festzusetzen pflegten; der Kohlenhändler besonders war ein gräßlicher Gesell, er schrie ohne Rücksicht auf der Treppe laut nach seinem Geld. Aber der Hauptkummer Nanas war ihr kleiner Louis, ein Kind, das sie mit sechzehn Jahren gehabt hatte und das sie bei seiner Amme in einem Dorf in der Nähe von Rambouillet gelassen hatte. Dieses Weib verlangte dreihundert Franken, wenn es den kleinen Louis wieder hergeben sollte. Seit dem letztenmal, da sie das Kind besucht hatte, verzweifelte Nana in einem Anfall von Mutterliebe schier bei dem Gedanken, ob ihr Vorhaben, die Pflegerin zu bezahlen und den Kleinen zu ihrer Tante, einer Madame Lerat, nach Batignolles zu bringen, wo sie ihn zu jeder Stunde sehen könnte, je zu verwirklichen war.

Während Nana, in Sinnen versunken, auf dem Bettrand saß, machte Zoé die Andeutung, daß Madame ihre bedrängte Lage dem alten Geizkragen hätte offenbaren sollen.

»Ach Gott, ich hab' ihm ja doch alles längst gesagt«, rief Nana; »er hat mir geantwortet, daß er in der letzten Zeit zu starke Verluste gehabt hat ... Der Lump kann sich von seinen Millionen nicht trennen. Und der Mulatte liegt jetzt auch krumm, ich glaube, er hat alles im Spiel verloren ... Und was den armen Mimi anbetrifft, so könnte er selber brauchen, daß man ihm was pumpte; die letzte Baisse hat ihn ganz ausgeplündert, er kann mir jetzt nicht einmal mehr Blumen mitbringen.«

Die letzten Worte bezogen sich auf Daguenet. Nana hatte, wenn sie sich dem Nachdenken über ihre Lage überließ, vor Zoé kein Geheimnis. Die Zofe, die an derlei Vertraulichkeiten gewöhnt war, nahm sie mit respektvoller Teilnahme entgegen. Da Madame sie würdige, von ihren Angelegenheiten mit ihr zu sprechen, dürfe sie sich wohl erlauben, ihren Gedanken über die dermalige Lage Ausdruck zu geben. Vor allen Dingen sei sie Madame in aufrichtiger Liebe zugetan, sie habe ihretwegen Madame Blanche im Stich gelassen, und Madame Blanche setze, weiß Gott, Hände und Beine in Bewegung, um sie wiederzubekommen! An Stellen fehle es ja nicht, sie habe ja Bekanntschaften genug, aber sie sei, selbst in Zeiten der größten Klemme, bei Madame gebliebert, weil sie eben fest an die Zukunft von Madame glaube. Und zum Schluß ließ sie ihre Ratschläge von Stapel. Solange man jung sei, begehe man eben noch Dummheiten. Jetzt müsse man aber die Augen offenhalten, denn die Männer dächten an nichts anderes als an Scherz und Vergnügen. Oh, da solle doch kommen, was da wolle! Madame brauche ja nur ein Wort zu sagen, um ihren Gläubigern den Mund zu stopfen und um das Geld zu bekommen, das sie benötige.

»Mit all deinen Reden aber bekomme ich keine dreihundert Franken«, versetzte Nana und vergrub die Finger in die wirr herabhängenden Locken. »Und dreihundert Franken muß ich haben, heute, auf der Stelle ... Es ist scheußlich, daß man keinen Menschen kennt, der einem dreihundert Franken gibt.«

Sie suchte unter ihrer Bekanntschaft; sie dachte einen Augenblick an Madame Lerat, die sie gerade am heutigen Morgen erwartete, um sie nach Rambouillet zu schicken. Ihre verdrießliche Stimmung, die Sehnsucht nach ihrem Kinde verdarb ihr den Triumph des gestrigen Abends. Sich sagen zu müssen, daß es unter all jenen Männern, die ihr Beifall geklatscht hatten, keinen einzigen gebe, der ihr fünfzehn Louisdor borgen würde! Und dann könne man ja Geld noch nicht einmal ohne alles weitere annehmen! Mein Gott! Wie unglücklich sie doch war! Und immer und immer wieder kamen ihre Gedanken zurück auf ihren kleinen Herzbuben, der so schöne blaue Engelsaugen hatte, der so possierlich »Mama!« stammelte, daß sie vor Freude schier hätte sterben mögen.

Im selben Augenblick aber ertönte die elektrische Glocke. Zoé kam zurück und meldete mit einer vertraulichen Gebärde:

»Eine Frau ist draußen.«

Sie hatte das Weib zwanzigmal schon gesehen, aber sie tat immer, als kenne sie sie nicht und auch nicht die Beziehungen, in denen sie zu den Pariser Damen vom Schlage Nanas stand, die fortwährend in der Geldklemme sitzen.

»Sie hat mir ihren Namen genannt ... Madame Tricon!«

»Die Tricon!« schrie Nana. »Ach, wahrhaftig, die hab' ich ja vergessen ... Laß sie eintreten!«

Zoé führte eine alte Dame von hoher Gestalt herein, die lange Locken trug und die ganze Haltung einer Frau von Adel hatte, die Besuche bei ihren Anwälten macht. Dann verschwand Zoé geräuschlos, mit jener schlangenhaften, geschmeidigen Behendigkeit, mit der sie stets aus dem Zimmer glitt, sobald ein Herr eintrat. Übrigens hätte sie ruhig bleiben können, denn die Tricon setzte sich nicht einmal; nur wenige kurze Worte wurden zwischen den Frauen gewechselt.

»Ich habe heute jemanden für Sie ... Haben Sie Lust?«

»Ja ... wieviel wirft's ab?«

»Zwanzig Louisdor ... Abgemacht?«

»Abgemacht!«

Dann sprach die Tricon sogleich vom Wetter; es sei recht hübsch trocken heute, recht angenehm zum Gehen. Sie müsse noch vier bis fünf Personen aufsuchen und könne darum nicht lange bleiben; als sie sich verabschiedete, warf sie flugs einen Blick in ein kleines Notizbuch. Sobald Nana allein war, atmete sie erleichtert auf. Ein leichtes Beben glitt über ihre Schultern, und fröstelnd kroch sie wieder in das warme Bett und räkelte sich behaglich mit der Faulheit einer verwöhnten Katze. Allmählich schlössen sich ihre Augen, sie lächelte bei dem Gedanken, daß sie morgen ihren kleinen Louis recht niedlich herausputzen wollte, während in dem Schlummer, der sie jetzt umfing, ihr fieberhaftes Träumen der vergangenen Nacht, ein langanhaltendes Rollen von Bravorufen wiederkehrte und sie in Schlaf lullte.

Um elf Uhr, als Zoé Madame Lerat ins Zimmer hereinführte, schlief Nana noch. Aber das Geräusch, das die Eintretenden machten, weckte sie auf:

»Ach, du bist's ... Du sollst heute nach Rambouillet fahren!«

»Ich komme ja deshalb her«, erwiderte die Tante. »Es geht gegen Mittag ein Zug; ich habe Zeit, ihn zu benutzen.«

»Nein, ich werde erst zu einer späteren Stunde Geld haben«, versetzte Nana, die sich jetzt im Bett aufrichtete und den Hals weit vorreckte. »Du kannst mit mir frühstücken, wir wollen dann sehen.«

Zoé trug einen Frisiermantel herein.

»Madame«, sprach sie leise, »der Friseur ist da.«

Aber Nana hatte keine Lust, in das Toilettenkabinett zu gehen. Sie rief deshalb: »Kommen Sie nur hier herein, Francis!« Ein sauber gekleideter Herr stieß die Tür auf. Er grüßte. Nana war eben aus dem Bett gekrochen und stand barfüßig da. Sie hatte es nicht sonderlich eilig und streckte die Hände vor, damit Zoé die Ösen des Mantels zuheften könne. Und Francis, der sich hier ganz behaglich zu fühlen schien, wartete ruhig, ohne sich umzudrehen. Als sich Nana gesetzt und er den ersten Strich mit dem Kamm durch ihr Haar geführt hatte, begann er zu sprechen.

»Madame hat wohl die Zeitungen noch nicht gelesen? Der ,Figaro' bringt einen ausgezeichneten Artikel.«

Er hatte die betreffende Nummer der Zeitung gekauft. Madame Lerat setzte sich die Brille auf und las, am Fenster stehend, den Artikel laut vor. Ihre Gendarmenfigur reckte sich in die Höhe, die Flügel ihrer Nase weiteten sich, wenn sie ein galantes Adjektivum aus ihrem Munde schnellte. Es war eine Rezension aus Faucherys Feder, die, nach Schluß des Theaters geschrieben, in zwei Spalten glühenden Inhalts die Künstlerin auf geistvolle Weise verhöhnte, das Weib aber in unverblümter Bewunderung verherrlichte.

»Ausgezeichnet!« meinte Francis.

Nana ärgerte sich nicht wenig, daß man sich über ihre Stimme lustig machte. Dieser Fauchery war wirklich ein toller Wicht, aber sie wollte ihm seine schlaue Manier schon austreiben! Madame Lerat erklärte, nachdem sie den Artikel nochmals gelesen hatte, daß die Männer samt und sonders den Teufel in den Waden hätten, und verzichtete, zufrieden über diese Anspielung, auf weitere Erklärungen. Francis hatte inzwischen die Frisur von Nanas Haarputz vollendet und empfahl sich mit den Worten:

»Ich werde die Abendzeitungen aufmerksam durchsehen ... Wie gewöhnlich um halb sechs Uhr heute, nicht wahr?«

»Bringen Sie mir doch eine Büchse Pomade und ein Pfund gebrannte Mandeln von Boissier mit!« rief ihm Nana durch den Salon nach, als er eben die Tür draußen schloß.

Jetzt fiel es den beiden Frauen, als sie sich allein sahen, erst ein, daß sie sich noch gar nicht begrüßt hatten, und sie drückten sich flugs ein paar derbe Küsse auf die Wangen. Der Zeitungsartikel hatte sie warm gemacht. Nana, bisher noch verschlafen, wurde wieder von dem Fieber ihres Triumphs ergriffen. Ah, Rose Mignon mochte einen reizenden Vormittag verleben! Da ihre Tante nicht hatte ins Theater kommen wollen, weil ihr aufregende Szenen, wie sie sagte, immer die Verdauung störten, schickte sich Nana an, ihr den Verlauf des Abends zu erzählen, und berauschte sich an ihren eigenen Schilderungen dermaßen, daß sie fast selber glaubte, ganz Paris sei unter dem Beifallssturm zusammengestürzt. Dann unterbrach sie sich plötzlich und fragte lachend: wer ihr das wohl vorausgesagt hätte, als sie noch in der Rue de la Goutte d'Or als kleines Ding auf dem Hintern herumgerutscht sei. Madame Lerat schüttelte den Kopf. Nein, nein, so etwas hätte man wahrlich nicht voraussehen können! Nun begann die Lerat zu sprechen, nahm eine ernste, würdige Miene an und nannte Nana ihre »liebe Tochter«. Sei sie denn nicht ihre zweite Mutter, seit die rechte mit Papa und Großmama wiedervereinigt war? Nana überkam eine lebhafte Rührung, sie war nahe daran, in Tränen aufzubrechen. Aber Madame Lerat betonte: »Hin ist hin«, und es lasse sich daran nichts ändern, das beste sei, vergangene Dinge nicht tagtäglich aufzurühren. Lange Zeit habe sie es unterlassen, ihre Nichte zu besuchen, denn man klage sie in der Familie an, daß sie sich mit der Kleinen zugrunde richte. Sie verlange durchaus keine vertraulichen Geständnisse, sie glaube schon selbst, daß sie immer ehrbar gelebt habe. Jetzt sei es ihr vollauf genügend, daß sie sie in guten Verhältnissen finde und daß sie sehen könne, mit welcher Liebe sie an ihrem kleinen Sohn hänge. Es gelte doch noch immer in dieser Welt nichts so viel wie Ehrbarkeit und Fleiß.

»Von wem hast du denn eigentlich den Kleinen?« fragte sie, sich plötzlich unterbrechend, während ihre Augen von lebhafter Neugier aufleuchteten.

Nana war überrascht und zögerte eine Sekunde mit der Antwort.

»Von einem Herrn«, meinte sie dann.

»Ah«, sagte die Tante, »man wollte wissen, du hättest ihn von einem Maurer, der dich zum Dank dafür mit Schlägen traktierte ... Na, du wirst es mir schon später einmal noch sagen, du weißt ja, daß ich verschwiegen bin! Warte nur, ich will ihn auch hüten und pflegen, als ob er ein Prinz wäre.«

Madame Lerat hatte ihr Kunstblumengeschäft aufgegeben und lebte jetzt von ihren Ersparnissen, die in einer Rente von ungefähr sechshundert, Sou für Sou gesparten Franken bestanden. Nana versprach, ein recht hübsches kleines Zimmerchen für sie zu mieten, und außerdem wolle sie ihr monatlich hundert Franken bezahlen. Bei dieser Ziffer geriet die alte Tante außer sich und rief ihrer Nichte zu, sie wolle »ihnen die Kehle umdrehen, wenn sie ihr unter die Finger« kämen; sie sprach von den Mannsleuten. Die beiden Weiber umarmten und küßten sich nochmals. Aber Nana schien mitten in ihrer Freude, als die Unterredung wieder auf den kleinen Louis geriet, von einer plötzlichen Erinnerung unangenehm berührt zu werden. »Ist das abscheulich, daß ich um drei Uhr weggehen muß!« sprach sie. »Und wieder zu einem solchen Frondienst!«

In diesem Augenblick gerade trat Zoé ein, um zu melden, daß der Tisch gedeckt sei. Man begab sich nach dem Eßzimmer, wo bereits eine ältere Dame am Tisch saß, die ihren Hut auf dem Kopf behalten hatte; sie trug ein dunkles Kleid von unbestimmter Farbe, ein Mittelding zwischen verdächtigem Braun und Grün. Nana schien über die Gegenwart der Frau nicht im geringsten erstaunt. Sie fragte sie nur, warum sie nicht ins Schlafzimmer gekommen sei.

»Ich hörte Stimmen«, gab die Alte zur Antwort, »und dachte, Sie hätten vielleicht Gesellschaft.«

Madame Maloir, die ein respektables Äußeres und feine Manieren hatte, diente Nana als »Anstandsdame«, leistete ihr Gesellschaft und begleitete sie auf ihren Ausgängen. Die Anwesenheit der Madame Lerat schien sie anfangs zu beunruhigen. Aber nachdem sie erfahren hatte, daß sie eine Tante von Nana sei, betrachtete sie sie mit einer freundlichen Miene, einem matten Lächeln. Nana machte sich unterdessen, indem sie erklärte, daß ihr der Magen herausfalle, über die Radieschen her, die sie ohne Brot verspeiste. Madame Lerat, die wieder zeremoniell wurde, mochte keine Radieschen, sie verursachten ihr Magenkatarrh. Als nachher Zoé die Koteletts hereinbrachte, schnitt Nana die Fleischstücke für ihre Gäste ab und begnügte sich damit, die Knochen zu benagen. Bisweilen betrachtete sie von der Seite den Hut ihrer alten Anstandsdame.

»Ist das der neue Hut, den ich Ihnen gegeben habe?« fragte sie endlich.

»Ja, ich habe verschiedenes an ihm geändert«, antwortete Madame Maloir mit vollem Munde.

Der Hut hatte eine höchst überspannte Fasson, über der Stirn war er weit ausgebogen und mit einer mächtigen Feder bedeckt. Madame Maloir hatte die Gewohnheit, alle ihre Hüte umzuändern; sie allein wußte, was ihr stand, und im Handumdrehen machte sie aus dem elegantesten Kopfputz eine Schlafhaube. Nana, die ihr eben erst diesen Hut gekauft hatte, um sich ihrer auf ihren gemeinschaftlichen Ausgängen nicht schämen zu müssen, wurde beinahe ärgerlich und rief: »So nehmen Sie ihn doch wenigstens ab!«

»Nein, ich danke«, gab die Alte bedächtig zur Antwort, »er hindert mich durchaus nicht, ich esse sehr gern mit dem Hut auf dem Kopf.«

Das Dessert zog sich in die Länge. Zoé trug das Gedeck nicht fort, um den Kaffee zu servieren; die Damen schoben einfach ihre Teller beiseite. Man sprach von nichts anderem als von dem herrlichen Erfolg des gestrigen Abends. Nana drehte Zigaretten; sie rauchte, schaukelte, verkehrt auf dem Stuhl sitzend, und da Zoé im Zimmer blieb und sich, mit den Händen schlenkernd, an den Büfettschrank lehnte, entschloß man sich, ihre Lebensgeschichte anzuhören. Sie war die Tochter einer Hebamme aus Bercy, die sich schlimme Dinge auf den Hals geladen hatte. Anfangs war sie bei einem Zahnarzt, dann bei einem Versicherungsagenten in Dienst gewesen, aber das habe ihr nicht gepaßt; und dann zählte sie mit einem Anflug von Stolz die Namen all der Damen her, denen sie als Zofe Dienste getan. Zoé sprach von diesen Damen wie jemand, der über ihr Glück zu gebieten vermag. Gewiß hätte eine jede von ihnen ohne sie die schönsten Geschichten an den Hals bekommen. So sei zum Beispiel eines Tages Madame Blanche mit Herrn Octave zusammengewesen, als plözlich der »alte Onkel« sich eingefunden habe; und wie hatte Zoé sich da benommen? Sie hatte getan, als sei sie beim Durchschreiten des Salons ausgeglitten, Onkelchen war zu ihr gestürzt, hatte ihr besorgt ein Glas Wasser aus der Küche geholt, und währenddessen war Herr Octave entschlüpft.

»O ja, sie ist wirklich ein gutes Geschöpf!« meinte Nana, die ihr halb mit Interesse, halb mit unterdrückter Bewunderung zuhörte.

»Ich dagegen muß sagen, daß ich recht viel Malheur gehabt habe«, fing Madame Lerat an.

Und indem sie näher zu Madame Maloir heranrückte, machte sie ihr allerhand vertrauliche Mitteilungen. Sie lutschten zum Zeitvertreib an einem Stück Zucker, das sie in Kognak tauchten. Aber Madame Maloir hörte sich wohl die Geheimnisse der anderen an, ohne indessen jemals über sich selbst etwas auszuplaudern. Man erzählte sich, daß sie ihr Leben von einer mysteriösen Pension in einem Zimmer friste, in das noch niemand Zutritt erhalten hatte.

Plötzlich geriet Nana in Zorn.

»Aber Tante, so spiel' doch nicht mit den Messern ... Du weißt, das bringt mich außer Rand und Band!«

Ohne sich dabei etwas zu denken, hatte Madame Lerat eben zwei Messer kreuzweise auf den Tisch gelegt. Übrigens verwahrte sich Nana entschieden dagegen, daß sie abergläubisch sei; sie legte zum Beispiel keinen Wert darauf, ob Salz umgeschüttet wurde, und auch der Freitag galt ihr wie jeder andere Tag der Woche; aber Messer hatten sie noch nie belogen, gegen diese blieb sie voreingenommen. Ganz gewiß würde ihr nun etwas Widerwärtiges zustoßen. Sie gähnte und sagte dann, aufs äußerste gelangweilt:

»Schon zwei Uhr ... Ich muß jetzt gehen. Nein, wie zuwider mir das ist!«

Die beiden Alten schauten erst einander, dann Zoé an. Alle drei schüttelten, ohne zu sprechen, mißbilligend den Kopf. Ganz sicher war das nicht immer amüsant ... Nana hatte sich abermals in ihren Stuhl zurückgelehnt und steckte sich eine neue Zigarette an, während die beiden anderen diskret, unter philosophischen Betrachtungen, die Lippen zusammenkniffen.

»Während wir auf Sie warten, wollen wir eine Partie ,Mariage' spielen«, meinte Madame Maloir nach einer kurzen Pause des Schweigens. »Sie spielen doch Mariage, Madame?«

Gewiß, Madame Lerat spielte Mariage und noch dazu sehr gut. Es sei völlig unnütz, Zoé zu inkommodieren, die sich bereits entfernt hatte; ein Tischeckchen genüge vollauf, und man schlug die Tischdecke über die noch mit Speiseresten gefüllten Teller zurück. Aber als Madame Maloir jetzt die Karten aus einer Schublade des Büffets hervorlangte, meinte Nana, daß sie vielleicht so freundlich wäre, ihr, bevor sie sich zum Spiel setzte, einen Brief zu schreiben. Nana selbst schrieb nicht gern Briefe, es war ihr einerseits zu langweilig, andererseits war sie in der Orthographie nicht ganz sicher, während ihre alte Freundin seelenvolle Briefe zu schreiben verstand. Sie eilte nach ihrem Schlafzimmer, einen schönen Briefbogen zu holen. Ein Tintenfaß, ein Fläschchen Tinte für drei Sou nebst einer halbverrosteten Feder lagen auf einem Schrank herum. Der Brief war für Daguenet bestimmt. Madame Maloir schrieb mit ihren hübschen, englischen Schriftzügen: »Mein holder kleiner Schatz!« und gab ihm hierauf Nachricht, daß er am nächsten Tage nicht kommen solle, weil »es nicht angeht«, aber »ob fern, ob nah, zu allen Zeiten weile ich in Gedanken bei Dir«.

»Und mit ›tausend Grüße und Küsse‹ werde ich schließen«, murmelte die Alte.

Madame Lerat hatte einen jeden Satz mit einem Nicken ihres Kopfes gebilligt. Ihre Blicke flammten, sie bewegte sich mit ungeheurer Vorliebe in Herzensaffären. Sie wollte auch von ihrem Senf etwas dem Brief anfügen und gluckste, indem sie eine schmachtende Miene aufsetzte:

»Tausend Küsse auf deine schönen Augen!«

»So ist's recht: Tausend Küsse auf deine schönen Augen!« wiederholte Nana, während ein glückseliger Ausdruck über die Gesichter der beiden Alten glitt.

Man klingelte der Zofe, die den Brief einem Dienstmann zur Besorgung übergeben sollte; sie plauderte eben mit einem Theaterdiener, der für Madame eine am Vormittag vergessene Bestellung gebracht hatte. Nana ließ den Mann hereinkommen und bat ihn, auf dem Rückweg den Brief an Daguenet zu besorgen, richtete auch noch mancherlei Fragen an ihn. Oh, Monsieur Bordenave sei überaus zufrieden, das Theater sei schon auf acht volle Tage ausverkauft; Madame könne sich gar nicht denken, wie groß die Zahl der Herren sei, die seit heute morgen sich nach ihrer Wohnung erkundigt hätten. Als der Diener fortgegangen war, meinte Nana, daß sie höchstens eine halbe Stunde ausbleiben werde. Wenn Besucher kämen, sollte Zoé sie bitten, ein Weilchen zu warten. Während sie noch sprach, läutete die elektrische Glocke. Gläubiger Numero eins: der Wagenverleiher pflanzte sich im Vorzimmer auf eine Bank. Der mochte ruhig bis zum Abend seine Daumen drehen, mit dem war's nicht eilig.

»Vorwärts, Nana! Courage!« sprach Nana, die sich träge reckte und gähnte, zu sich selbst. »Ach, wenn ich doch schon unten wäre!«

Aber sie rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Sie verfolgte das Spiel ihrer Tante, die eben hundert As angemeldet hatte. Das Kinn in die Hand gestützt, vertiefte sie sich in das Zuschauen. Aber als sie es jetzt drei Uhr schlagen hörte, fuhr sie jäh in die Höhe.

»Donnerwetter!« stieß sie aufgeregt hervor.

Madame Maloir, die ihre Points zählte, sprach ihr mit weicher Stimme Ermutigung zu.

»Meine liebe Kleine, es wäre sicher besser, Sie machten Ihren Gang ohne weiteren Verzug!«

»Gewiß, mach geschwind, dann hast du's vom Halse«, meinte Madame Lerat, indem sie die Karten mischte. »Ich kann ja um halb fünf Uhr noch fahren, wenn du bis vier Uhr mit dem Geld hier bist!«

»Das soll nicht lange dauern!« murmelte Nana leise.

In zehn Minuten hatte sie mit Zoés Hilfe ihr Kleid angezogen und ihren Hut aufgesetzt. Sie fragte nicht danach, ob sie gut angekleidet war oder nicht. Als sie hinuntergehen wollte, läutete es abermals. Diesmal war es der Kohlenhändler. Oh, der mochte nur dem Wagenverleiher Gesellschaft leisten, das würde diese Leute zerstreuen. Lediglich weil sie einen Skandal befürchtete, schritt sie durch die Küche und schlüpfte die Dienstbotentreppe hinab.

»Einer liebenden Mutter verzeiht man alles!« sprach Madame Maloir salbungsvoll, als sie mit Madame Lerat allein war.

»Ich melde achtzig in Rot«, erwiderte diese, ganz vertieft in ihr Spiel.

Beide versenkten sich in eine endlose Partie. Der Tisch war noch nicht abgedeckt. Ein trüber Dunst, halb der Geruch des Frühstücks, halb Zigarettenrauch, füllte das Zimmer. Die beiden Alten tauchten wieder Zucker in Kognak und lutschten. Zwanzig Minuten mochten sie so beim Spielchen gesessen haben, als nach einem dritten Läuten Zoé plötzlich ins Zimmer gerannt kam und sie, als wären sie ihresgleichen, ohne alle Umstände hinausschob.

»Hören Sie! Da läutet's noch einmal ... Sie können hier nicht sitzenbleiben. Wenn viele Leute kommen sollten, brauche ich alle Räume ... Vorwärts, hopp, hopp, marsch!«

Madame Maloir wollte erst die Partie zu Ende spielen, aber da Zoé Miene machte, die Karten ohne weiteres zusammenzupacken, entschloß sie sich, das Spiel fortzunehmen, während Madame Lerat die Kognakflasche, die Gläser und den Zucker hinaustrug. Beide eilten nun nach der Küche, wo sie sich am Tischende zwischen dem zum Trocknen aufgehängten Aufwaschlappen und dem mit Spülwasser gefüllten Scheuerfaß festsetzten.

»Wir hatten dreihundertundvierzig ... An Ihnen ist die Reihe.«

»Ich spiele Herz.«

Als Zoé zurückkam, fand sie die beiden Alten schon wieder ganz in das Spiel vertieft. Madame Lerat mischte die Karten von neuem und fragte nach einer kleinen Pause:

»Wer ist denn da?«

»Oh, niemand!« warf das Dienstmädchen nachlässig hin. »Ein niedliches, junges Bürschchen ... Ich habe ihn erst wegschicken wollen, aber er ist so allerliebst, noch ohne jedes Barthaar, und hat so hübsche blaue Augen und eine wahre Mädchenfigur, daß ich ihm zuletzt doch gesagt habe, er solle warten ... Er hält ein riesiges Bukett in der Hand, das er unter keinen Umständen weglegen will ... Ein grüner Junge, der ruhig noch hinter der Schulbank sitzen sollte! Schläge sollte er bekommen!«

Madame Lerat holte sich eine Karaffe Wasser, um sich einen Grog zu brauen; die Kognakzuckerstückchen hatten ihr ganzes Wesen verändert. Zoé murmelte, daß sie gleich selber ein Glas davon trinken wolle, ihr sei es gallebitter im Munde.

»Wo haben Sie denn den Jüngling untergebracht?«

»Ach, in dem Kabinett hinten, in dem kleinen Zimmer, das noch nicht möbliert ist ... Es steht ein Koffer von Madame drinnen und ein Tisch ... Dorthinein praktiziere ich stets die Gimpel.«

Sie warf sich eben ein tüchtiges Stück Zucker in ihr Glas Grog, als die elektrische Glocke sie abermals rief. Es war doch niederträchtig! Nicht einmal einen ruhigen Schluck konnte man trinken! Das versprach etwas, wenn das Gebimmel schon wieder anging! Indessen eilte sie hinaus, um zu öffnen. Als die Maloir sie bei ihrer Rückkehr fragend anschaute, meinte sie:

»Bah, nichts, nur ein Bukett!«

Alle drei erquickten sich an dem Grog, während sie einander gegenseitig zuprosteten. Plötzlich ertönten zwei neue Glockenschläge, als Zoé endlich den Tisch abräumte und die Schüsseln eine nach der andern auf den Spültisch stellte. Zweimal aber noch wiederholte sie geringschätzig:

»Nichts, nur ein Bukett!«

Während die beiden Alten dann zweimal abhoben, hörten sie lachend der Erzählung Zoé zu, was für ein Gesicht die im Vorzimmer sitzenden Gläubiger gemacht hätten, als die Blumen ankamen. Madame werde die ganze Ankleidetoilette voller Blumen finden. Schade, daß der Kram so teuer sei und daß man keine zehn Sou daraus lösen könne. Im Grunde sei es eben doch hinausgeworfenes Geld.

»Ich wäre zufrieden«, meinte die Maloir, »wenn ich jeden Tag das Geld hätte, das die Pariser Männerwelt auf Blumen für die Frauenzimmer ausgibt.«

»Hm, das glaube ich wohl«, erwiderte die Lerat, »Sie sind gar nicht so dumm! Das wäre ein hübsches Nadelgeld ... Übrigens, meine Liebe, sechzig in Damen.«

Zehn Minuten fehlten noch auf vier Uhr. Zoé war verwundert; sie konnte nicht verstehen, weshalb ihre Herrin so lange ausblieb. Wenn sie sonst am Nachmittag ausgehen mußte, war sie immer kurz und bündig und geschwind fertig. Aber Madame Maloir erklärte, daß man das nicht immer so einrichten könne, wie man gern wolle. Gewiß gebe es manchen Widerhaken im Leben, meinte die Lerat. Das beste sei, zu warten: wenn sich ihre Nichte verspäte, so sei sie eben durch irgendwelche Verrichtungen zurückgehalten, das sei doch klar.

Die Glocke läutete abermals. Als Zoé wieder in die Küche trat, war sie ganz aus dem Häuschen.

»Kinder, denkt euch, der dicke Steiner!« rief sie, die Stimme dämpfend, noch in der Tür. »Er selbst in eigener Person! Ich habe ihn in den kleinen Salon geführt.«

Nun sprach die Maloir von dem Bankier, den die Lerat nicht kannte. Sollte er am Ende gar Lust haben, Rose Mignon sitzenzulassen? Zoé schüttelte den Kopf, sie verstand sich auf solche Dinge. Aber schon mußte sie wieder zur Tür eilen.

»Na, das ist eine schöne Brühe!« meinte sie, als sie zurückkam. »Da ist der Mulatte gekommen! Ich hab' ihm sicher zehnmal gesagt, Madame sei ausgegangen, er hat sich aber im Schlafzimmer festgesetzt ... Wir erwarteten ihn erst gegen Abend.«

Ein Viertel auf fünf war es, und Nana war noch nicht da. Was konnte sie denn vorhaben! Das war doch wahrlich nicht zu fassen. Noch zwei Buketts wurden abgegeben. Zoé, der die Geschichte langweilig zur werden anfing, schaute nach, ob noch etwas Kaffee dawar. Ei ja, die Damen hätten zu guter Letzt gern noch ein Täßchen Kaffee geschlürft, das würde die Lebensgeister wieder ein bißchen aufwecken; sie schliefen, auf die Sessel gehockt, ja beinahe schon ein bei dem fortwährenden Kartennehmen und Kartengeben. Es schlug halb. Ganz entschieden war Madame etwas zugestoßen. Plötzlich vergaß sich die Maloir und meldete mit ganz lauter Stimme:

»Ich habe fünfhundert! Die große Quinta in Trumpf!«

»Halten Sie doch den Schnabel!« schrie Zoé zornig. »Was sollen denn all die Herren vorn denken?«

In das leise Gemurmel der beiden sich streitenden Weiber drang von der Dienstbotentreppe her ein Geräusch von raschen Schritten. Endlich kam Nana.

»Na, da bist du ja! Gut, daß kein Unglück geschehen ist!« sagte die Lerat, die noch immer den Ärger über die fünfhundert Points der Maloir nicht überwunden hatte, mit zusammengekniffenen Lippen. »Du kannst dir was einbilden auf die Masse Menschen, die sich deinetwegen hierherpflanzen!«

»Madame ist wirklich nicht gescheit!« setzte Zoé hinzu.

Nana, die ohnehin schon mißgestimmt war, geriet infolge dieser Vorwürfe ganz außer sich. Nach der widerwärtigen Affäre, die sie eben erst durchgemacht hatte, nun hier solch ein Empfang!

»Laßt mich in Ruhe, versteht ihr!« schrie sie.

»Pst, Madame, es sind Leute drinnen!« sagte die Zofe.

Hierauf keuchte Nana, sprach aber schon leiser:

»Ihr glaubt wohl, daß ich mich amüsiert habe? Das nahm überhaupt kein Ende! Ich hätte was drum gegeben, euch dort zu sehen! Ich habe gekocht, ich hätte am liebsten Ohrfeigen ausgeteilt ... Und keine Droschke für die Rückfahrt zu kriegen. Zum Glück ist's nicht weit. Macht aber nichts, ich bin fürchterlich gerannt.«

»Du hast doch Geld?« fragte die Tante.

»Na, welche Frage!« versetzte Nana.

Sie hatte sich auf einen Sessel gesetzt, und ohne Atem zu schöpfen, zog sie aus ihrem Leibchen ein Kuvert, darin vier Hundertfrankennoten steckten. Man sah sie durch einen weiten Spalt, den sie mißtrauisch mit dem Finger gerissen hatte, um sich der Richtigkeit des Inhalts zu versichern. Die drei Frauen um sie her schauten starr auf das Papier, das sie in ihren kleinen behandschuhten Fingern hielt. Es sei zu spät geworden, hieß es, Madame Lerat werde erst am folgenden Tag nach Rambouillet fahren können. Nana erging sich in weitläufigen Auseinandersetzungen.

»Madame, es sind Leute drinnen, die schon lange warten«, wiederholte die Zofe.

Aber Nana vertiefte sich neuerdings in das Gespräch mit Madame Lerat. Die Leute konnten ja warten. Sie wollte ja kommen, gleich, sobald sie nichts mehr zu tun hatte; und als ihre Tante die Hand nach dem Geld ausstreckte, wehrte sie ihr mit den Worten:

»Ach, nicht doch, meine Liebe! Dreihundert Franken bekommt die Amme, fünfzig Franken für dich für die Reise und sonstige Auslagen, das macht dreihundertfünfzig ... Fünfzig Franken behalte ich für mich!«

Die Hauptschwierigkeit war nun, Kleingeld zu bekommen. Es waren keine zehn Franken im Hause. An Madame Maloir, die ohne Interesse zuhörte, brauchte man sich gar nicht erst zu wenden, man wußte, daß sie nie mehr bei sich zu haben pflegte als die zehn Sou für den Omnibus. Endlich mischte sich Zoé in das Gespräch, indem sie meinte, sie wolle in ihrem Koffer nachsehen, und nach wenigen Augenblicken brachte sie die hundert Franken in Hundertsoustücken herbei. Man zählte sie auf einer Ecke des Tisches auf. Madame Lerat ging sogleich fort, nachdem sie versprochen hatte, den kleinen Louis am nächsten Tage herzubringen.

»Du sagst, es sind Leute drinnen?« fragte Nana endlich, die noch immer auf ihrem Stuhl saß und sich ausruhte.

»Ja, Madame, drei Herren.«

Zuerst nannte sie den Bankier. Nana verzog das Gesicht. Ob dieser Steiner glaubte, daß sie sich langweilen lassen wolle, weil er ihr gestern ein Bukett verehrt hatte!

«Übrigens«, erklärte sie, »hab' ich jetzt genug davon! Ich mag keinen mehr sehen. Geh, sag ihnen, daß sie auf mich nicht mehr warten sollen.«

»Madame wird sich's wohl noch überlegen und den Herrn Steiner nicht abweisen«, meinte Zoé leise mit ernster Miene, ohne sich vom Platz zu rühren, ärgerlich darüber, daß sie ihre Herrin bereit sah, noch eine zweite Torheit zu begehen.

Dann sprach sie von dem Walachen, dem allmählich wohl die Zeit in dem Schlafzimmer lang werden mußte. Jetzt weigerte sich Nana wütend, noch hartnäckiger als vorher. Niemanden, niemanden wollte sie sehen! Wer hatte ihr denn ein solches Heftpflaster von Mann auf den Hals gehetzt!

»Wirf sie samt und sonders hinaus! Ich will mit der Maloir jetzt eine Partie Bésigue spielen. Das ist mir zehnmal lieber.«

Das Erklingen der elektrischen Glocke schnitt ihr das Wort ab. Das fehlte noch. Nun noch ein solcher langweiliger Michel mehr! Sie verbot Zoé, zu öffnen. Diese aber, ohne auf ihre Herrin zu hören, war längst aus der Küche gehuscht. Als sie wiederkam, sagte sie in ihrer bestimmten Art, indem sie zwei Karten auf den Tisch legte:

»Ich habe geantwortet, daß Madame heute empfängt. Die Herren warten im Salon.«

Nana war wütend aufgesprungen. Aber die Namen des Marquis de Chouard und des Grafen Muffat de Beuville, die sie auf den Visitenkarten las, stimmten sie ruhig. Einen Augenblick blieb sie schweigend stehen.

»Was sind denn das für Käuze?« fragte sie dann. »Kennst du sie?«

»Ich kenne den alten Herrn«, versetzte Zoé, indem sie auf eine diskrete Art den Mund verzog. Und als sie den fragenden Blick ihrer Herrin noch immer auf sich gerichtet sah, setzte sie hinzu:

»Ich habe ihn schon irgendwo einmal gesehen.«

Dieses Wort schien das junge Frauenzimmer zu bestimmen; sie verließ ungern die Küche, diesen lauwarmen Winkel, in welchem man in dem Duft des auf dem halbausgebrannten Feuer warmstehenden Kaffees behaglich plaudern konnte. Hinter ihrem Rücken setzte sich die Maloir zurecht und legte nun die Karten; sie hatte den Hut noch immer nicht abgenommen, nur, um es sich ein bißchen bequemer zu machen, die Bänder gelöst und sie auf die Schultern zurückgeschlagen.

In dem Ankleidezimmer, wo Zoé ihrer Herrin eifrig in ein Hauskleid half, rächte sich Nana für die Widerwärtigkeiten, die man ihr bereitete, dadurch, daß sie die Männerwelt mit den verschiedensten Schimpfworten belegte. Die groben Ausdrücke bekümmerten die Zofe; sie wagte sogar die Bitte an ihre Herrin, daß sie sich doch beruhigen möge.

»Ach was, Quark!« gab Nana zur Antwort. »Da braucht's kein Blatt vor den Mund! Die Patrone wollen es nicht besser!« Bei diesen Worten nahm sie die stolze Haltung einer Fürstin an. Zoé hatte sie in dem Augenblick, als sie sich nach dem Saal begeben wollte, zurückgehalten und führte jetzt den Marquis de Chouard und den Grafen Muffat in das Ankleidezimmer. Das sei weit besser, meinte sie.

»Meine Herren«, empfing hier das junge Weib die beiden mit ausgesuchter Höflichkeit, »ich bedaure unendlich, daß ich Sie habe warten lassen.«

Die Herren verbeugten sich und nahmen Platz. Ein gestickter Tüllvorhang ließ ein mattes Halblicht in das Kabinett treten. Es war das eleganteste Zimmer der Wohnung mit hellen Vorhängen, einer großen Marmortoilette, einem mit buntem Holz eingelegten drehbaren Stehspiegel, einer Chaiselongue und blauatlassenen Fauteuils. Auf der Ankleidetoilette standen Buketts, Rosen, Holunder, Hyazinthen, die einen durchdringenden Duft verbreiteten, während die schale, muffige Luft, die aus Waschbecken und Eimer aufstieg, zuweilen von einem schärferen Geruch durchzogen wurde, der von ein paar Körnchen trockenen, auf dem Boden einer Schale kleingestoßenen Patschulis herrührte. Nana, die zusammengekauert dasaß und ihren lose zugeknöpften Hausrock enger um die Taille zog, sah ganz so aus, als ob sie bei der Toilette überrascht worden wäre.

»Madame«, begann der Graf Muffat, »wir bitten Sie um Entschuldigung, daß wir darauf bestanden haben, von Ihnen empfangen zu werden ... Wir kommen mit einem Ansuchen ... Der Herr Marquis und ich sind Mitglieder des Wohltätigkeitsausschusses des Arrondissements.«

Der Marquis de Chouard beeilte sich, mit einer galanten Gebärde hinzuzufügen:

»Da wir in Erfahrung gebracht haben, daß eine große Künstlerin in diesem Hause wohnt, haben wir uns erlaubt, ihr unsere Armen ganz besonders ans Herz zu legen ... Talent ist ja ohne Mitgefühl nicht denkbar.«

Nana spielte die Bescheidene. Sie antwortete mit leichtem Kopfnicken, während sie rasch dabei überlegte. Der Alte mußte es sein, der den anderen hergeführt hatte; der Ausdruck seiner Augen war zu durchtrieben. Indessen durfte man auch dem andern nicht trauen, dessen Schläfen sich eigentümlich dehnten.

»Ganz gewiß, meine Herren«, versetzte sie voll Anmut, »Sie haben recht getan, sich heraufzubemühen.«

Aber die elektrische Glocke ließ sich vernehmen. Noch ein Besuch mehr, und diese abscheuliche Zoé, die immerfort öffnete! Sie fuhr fort: »Man fühlt sich ja überglücklich, geben zu können.«

Im Grunde ihres Herzens fühlte sie sich auch wirklich geschmeichelt.

»Ach, Madame«, erwiderte der Marquis, »wenn Sie all das Elend kennen würden! Unser Bezirk zählt mehr als dreitausend Arme und ist noch einer der reichsten. Sie können sich einen solchen Jammer gar nicht vorstellen: Kinder, die kein Brot haben, kranke, jeder Hilfe beraubte, halb erfrierende Frauen ...«

»Die armen Menschen!« rief Nana gerührt aus.

Ihr Mitleid war so lebhaft, daß Tränen ihre schönen Augen füllten. Mit einer leichten Bewegung hatte sie, aus ihrer wohlüberlegten Rolle fallend, sich vorgebeugt: das offenstehende Gewand ließ ihre Brust sehen, während ihre Knie unter dem dünnen Stoff die Rundung des Beines ahnen ließen. Ein schwacher Blutstrom schoß in die erdfahlen Wangen des Marquis; der Graf Muffat, der gerade hatte sprechen wollen, senkte die Augen.

»Man möchte reich sein, wenn solche Anlässe sich bieten«, fügte Nana hinzu. »Zuletzt tut eben jeder, soviel er kann. Glauben Sie, meine Herren, wenn ich gewußt hätte ...«

Sie war eben im Zuge, in ihrer gerührten Stimmung eine arge Dummheit zu sagen. Aber sie vollendete den Satz nicht. Einen Moment lang blieb sie verlegen sitzen, sie wußte nicht mehr, wohin sie die fünfzig Franken gesteckt hatte, als sie ihr Kleid auszog. Aber sie besann sich, sie mußten in der Ecke der Frisiertoilette unter einer umgestülpten Pomadenbüchse sein. Als sie sich erhob, ertönte die elektrische Glocke wieder mit einem langhingezogenen Schrillen. Gut, wieder einer! Das schien ja gar kein Ende zu nehmen. Der Graf und der Marquis waren zu gleicher Zeit aufgestanden, und die Ohren des Marquis hatten, nach der Tür hinspitzend, leicht gezittert; ohne Zweifel kannte er diese Art des Läutens. Muffat schaute ihn an; dann wandten sie die Augen ab. Sie fühlten sich geniert und nahmen wieder ihre reservierte Haltung an; der eine, vierschrötig und bieder, strich über das stark gescheitelte Haar, der andere reckte seine mageren Schultern hoch, auf die ein Kranz spärlicher weißer Haare niederfiel.

»Meiner Treu!« rief Nana, brachte die zehn großen Silberstücke herbei und begann zu lachen. »Ich darf Sie doch damit beladen, meine Herren? Das hier ist für die Armen!«

Das kleine, liebenswürdige Grübchen im Kinn lächelte in vollendeter Anmut. Sie hatte jetzt wieder ihr gutmütiges Gesichtchen, jede Ziererei war aus ihrem Wesen geschwunden, und mit naiver Gebärde bot sie den beiden Herren den kleinen Stoß von Silberstücken, den sie in ihrer offenen Hand hielt, als wenn sie hätte sagen wollen: »Na, bitt' schön, wer will denn nun zugreifen?« Der Graf war der behendere, er nahm die fünfzig Franken, aber ein Stück blieb liegen, und er mußte es von der lauen, weichen Haut des jungen Frauenzimmers fortnehmen, was ihm ein heftiges Beben verursachte. Nana aber lachte in einem fort.

»So, das ist alles, was ich kann, meine Herren«, meinte sie, »ein andermal wird's hoffentlich mehr sein.«

Sie hatten keinen Vorwand mehr zu längerem Bleiben, verneigten sich und schritten nach der Tür. Aber in dem Augenblick, da sie gehen wollten, ertönte abermals der Klang der Glocke. Der Marquis konnte ein flüchtiges Lächeln nicht unterdrücken, während der Graf noch ernster wurde. Nana hielt sie ein paar Sekunden zurück, um Zoé zu ermöglichen, noch ein Plätzchen aufzufinden. Sie hatte es nicht gern, wenn sich die Herrschaften bei ihr begegneten. Doch diesmal mußte ja alles förmlich vollgestopft sein. Sie fühlte sich darum wirklich erleichtert, als sie den Salon leer sah; Zoé hatte sie wohl in die Wandschränke gesteckt?

»Auf Wiedersehen, meine Herren«, sagte sie, während sie auf der Schwelle des Salons stehenblieb.

Sie bezauberte sie mit ihrem Lächeln und ihrem klaren Blick.

Der Graf Muffat verneigte sich trotz seiner Weltgewandtheit nicht ohne Verwirrung; er fühlte das Bedürfnis nach frischer Luft. Er nahm ein Gefühl der Beklommenheit mit aus diesem Ankleidezimmer, einen Blumen- und Frauengeruch, der ihn erstickte. Und hinter ihm wagte der Marquis de Chouard, der sicher war, nicht gesehen zu werden, Nana mit den Augen zuzuzwinkern, während sein Angesicht mit einem Mal die Fassung verlor und die Zunge zwischen den Lippen sichtbar wurde.

Als Nana in das Kabinett zurücktrat, wo Zoé mit einem ganzen Stoß von Briefen und Visitenkarten ihrer harrte, rief sie, noch stärker lachend, der Zofe entgegen:

»Das waren die richtigen Gauner ... Nun bin ich meine fünfzig Franken doch wieder los!«

Sie hatte sich nicht im geringsten darüber geärgert; es schien ihr im Gegenteil spaßig, daß ihr die Männer Geld abgenommen hatten. Immerhin aber waren es Halunken, denn sie hatte jetzt keinen Sou mehr. Der Anblick der Karten und Briefe brachte ihr die schlechte Laune wieder. Mit ihnen mochte es noch angehen, sie kamen von Herren, die jetzt Erklärungen machten, nachdem sie ihr gestern Beifall geklatscht hatten. Aber Besucher, oh, die konnten hurtig wieder den Weg die Treppe hinab suchen!

Zoé hatte sie überall untergebracht, und sie erlaubte sich die Bemerkung, daß die Wohnung überaus praktisch sei, da von jedem Raum aus eine Tür nach dem Korridor führe. Es sei nicht wie bei Madame Blanche, wo man immer erst durch den Salon müsse. Madame Blanche habe übrigens auch immer viel Ärger gehabt.

»Geh, schick' die ganze Sippschaft einen nach dem andern weg«, meinte Nana wieder, die den einmal gefaßten Gedanken hartnäckig verfolgte. »Fang' mit dem Mulatten an!«

»Oh, der ist schon seit geraumer Zeit gegangen, Madame«, erwiderte Zoé mit einem feinen Lächeln. »Der wollte weiter nichts als Ihnen sagen, daß er heute abend verhindert sei zu kommen.«

Nun war die Freude groß. Nana klatschte in die Hände. Er kam nicht, welch ein Glück! Sie war also heute einmal frei! Und sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als ob man sie von der abscheulichsten Leibesstrafe befreit hätte. Ihr erster Gedanke gehörte Daguenet. Der arme Wicht! Daß sie ihm auch gerade erst hatte schreiben müssen, bis zum Donnerstag zu warten! Halt, die Maloir sollte ihm flugs ein zweites Briefchen schreiben! Aber Zoé sagte, daß die Alte wie gewöhnlich verschwunden sei, ohne daß man es bemerkt habe.

Dann überlegte Nana wieder, obwohl sie eben noch davon gesprochen hatte, jemanden zu ihm zu schicken. Sie war heute wirklich recht müde. Und wie gut würde ihr das tun, eine ganze Nacht einmal ruhig zu schlafen! Der Gedanke an diesen Genuß erhielt endlich das Obergewicht: einmal durfte sie sich das schon gut und gern gestatten.

»Ich werde mich zu Bett legen, wenn ich aus dem Theater komme«, sagte sie und freute sich schon im voraus, »und vor Mittag, Zoé, sollst du mich nicht wecken!«

Dann rief sie mit erhobener Stimme:

»Hopp, hopp, nun treibe mir die anderen auf die Straße!«

Zoé machte keine Anstalten.

»Den Herrn Steiner auch?« fragte sie nach einer Pause mit scharfer Betonung.

»Ganz gewiß», antwortete Nana, »den zuerst vor allen anderen!«

Das Mädchen wartete noch immer, um Madame Zeit zur Überlegung zu lassen. Setze denn Madame gar keinen Stolz darein, Rose Mignon, ihrer Rivalin, einen so reichen Herrn wegzukapern, der in allen Theatern bekannt sei!

»Mach geschwind, meine Liebe, und sag ihm, daß er mir lästig ist«, rief Nana, die sehr wohl wußte, was sie wollte; aber plötzlich besann sie sich, morgen könne sie doch am Ende Lust haben, ihn zu sehen, und lachend, mit den Augen zwinkernd, rief sie mit einer ungezogenen Geste:

«Übrigens, wenn ich ihn wirklich festhalten will, so ist es das beste Mittel, ich werfe ihn zur Treppe hinunter!«

Das schien Zoé einzuleuchten. Sie betrachtete Madame, von einer plötzlichen Bewunderung ergriffen, dann eilte sie, ohne sich noch länger zu besinnen, aus dem Zimmer, um dem Bankier die Tür zu weisen.

Nana wartete ein paar Minuten geduldig, um Zoé Zeit zu lassen »auszufegen«, wie sie sich ausdrückte. Was sollte man von einem solchen Überfall denken! Sie steckte den Kopf in den Salon; er war leer. Das Eßzimmer war gleichfalls leer. Aber als sie jetzt, beruhigt, niemanden mehr vorzufinden, ihre Durchsuchung fortsetzte, stieß sie plötzlich, als sie die Tür zu einem Kabinett öffnete, auf einen kleinen, jungen Menschen, der sich auf einen Koffer gesetzt hatte und ruhig, in sehr artiger Haltung, ein ungeheures Bukett auf den Knien, der kommenden Dinge harrte.

»Ach du lieber Gott!« rief Nana aus. »Da ist ja doch noch einer drin!«

Der kleine junge Mann war, als er sie erblickte, rot wie eine Klatschrose aufgesprungen. Er wußte nicht, was er mit seinem Bukett anfangen sollte, das er vor Aufregung von einer Hand in die andere schob. Seine Jugend, seine Verlegenheit, der drollige Anblick, den er mit seinen Blumen gewährte, brachten Nana in gute Laune, so daß sie in helles Gelächter ausbrach. Das war zu stark! Wurden denn schon die Kinder nach ihr verrückt? Kamen denn die Männer jetzt schon in kurzen Höschen zu ihr? Sie zeigte sich vertraulich, mütterlich, schlug sich auf die Schenkel und fragte aus Ulk:

»Willst wohl, daß man dir die Nase putzt, Bübchen?«

»Ach ja«, antwortete der Kleine mit leiser, bittender Stimme. Diese Antwort belustigte Nana noch mehr. Er war siebzehn Jahre alt und nannte sich Georges Hugon. Gestern war er im Varietétheater gewesen und kam nun, ihr seine Aufwartung zu machen.

»Sind denn die Blumen da für mich?«

»Ja.«

»Na, so gib sie doch her, du Pinsel.«

Aber als sie nach dem Bukett griff, packte er mit dem Ungestüm der Jugend ihre Hände. Sie mußte ihm erst einen Klaps versetzen, damit er sie freigab. Ein grüner Junge, der schon solche Gedanken hatte! Während sie ihn gehörig auszankte, war sie rot geworden und mußte lachen. Sie schickte ihn weg, erlaubte ihm aber wiederzukommen. Er taumelte vor Glück und vermochte kaum den Ausgang zu finden.

Nana trat in ihr Ankleidesimmer zurück, wo Francis sich beinahe gleichzeitig einfand, um ihre Frisur für den Abend zu vollenden. Sie kleidete sich nur abends an. Stumm und träumerisch saß sie vor dem Spiegel und neigte den Kopf unter den geschickten Händen des Coiffeurs, als Zoé in das Kabinett trat:

»Madame, es ist noch einer draußen, der sich nicht abweisen lassen will.«

»Na, so laß ihn doch stehen!« gab sie ruhig zur Antwort.

»Auf diese Weise kommen die Leute aber immer wieder!«

»Bah! Sag ihnen, sie sollen warten. Wenn sie der Hunger treibt, werden sie schon gehen.«

Plötzlich hatte sie einen Einfalt, und vergnügt folgte sie der neuen Eingebung: sie entglitt Francis' Händen, eilte zu den Türen und schob die Riegel vor; nun mochten sie sich nebeneinander aufstapeln, die Mauer zu durchbrechen würde ihnen schwerlich gelingen; Zoé konnte ja durch die kleine Tür hereinkommen, die nach der Küche führte. Unterdessen läutete die Glocke in einem fort. Alle fünf Minuten ließ sich ihr Klingen hell und deutlich vernehmen, mit der Regelmäßigkeit einer in gutem Stande befindlichen Maschine. Und Nana zählte die Schläge, um sich Zerstreuung zu verschaffen. Aber plötzlich fiel ihr etwas anderes ein.

»Wo sind denn meine gebrannten Mandeln, Francis?« sagte sie. Auch Francis hatte nicht an die Mandeln gedacht. Er zog jetzt eine Tüte aus seiner Rocktasche mit der verbindlichen Gebärde eines Weltmannes, der seiner Freundin ein Geschenk überreicht; aber auf jeder seiner Monatsrechnungen fand sich immer ein stattlicher Posten gebrannter Mandeln verzeichnet. Nana schob die Tüte zwischen ihre Knie und begann, indem sie den Kopf unter dem leichten Händedruck des Friseurs bewegte, von den Mandeln zu knabbern.

»Sapperlot!« flüsterte sie nach einer kurzen Pause des Schweigens. »Ist das eine Bande!«

Dreimal hatte plötzlich die Glocke hintereinander geschellt. Das Läuten wiederholte sich in rascher Folge; es waren sowohl bescheidene Töne, die mit dem Beben eines ersten Geständnisses gestammelt wurden, als kühne, die unter dem Druck eines unwirschen Fingers erschallten, als auch eilige, die mit jähem Schrillen die Luft durchschnitten. Ein förmliches Glockenspiel, wie sich Zoé ausdrückte, ein Glockenspiel, welches das gesamte Stadtviertel alarmieren müsse, da ja ein ganzer Schwarm Männer reihenweise auf den Elfenbeinknopf drückte. Dieser Schlingel von Bordenave hatte gewiß an zu viele Leute Nanas Adresse bekanntgegeben; das ganze Auditorium des gestrigen Abends begehrte ja Zutritt!

»Sagen Sie mal, Francis«, wandte sich jetzt Nana an den Friseur, »können Sie mir fünf Louisdor borgen?«

Er trat einen Schritt zurück, blickte prüfend auf die Frisur und erwiderte dann gelassen:

»Fünf Louisdor? Je nachdem.«

»Ah, Francis«, meinte Nana wieder, »wenn Sie eine Sicherheit wünschen ...«

Und ohne den Satz zu vollenden, deutete sie mit einer weiten Handbewegung auf die zunächst stehenden Stücke. Francis lieh die fünf Louisdor. Zoé trat, wenn sie ein paar Augenblicke Zeit hatte, in das Kabinett, um die Toilette ihrer Herrin vorzubereiten. Bald nachher mußte sie sie ankleiden, während der Friseur wartete, um an den Haarputz noch die letzte Hand zu legen. Aber die elektrische Glocke störte die Zofe in einem fort, so daß sie Nana mit halb zugeschnürter Taille und halb barfüßig sitzen lassen mußte. Sie verlor trotz ihrer reichen Erfahrungen den Kopf. Nachdem sie die Männer erst einzeln, jedes Winkelchen der Wohnung benutzend, überallhin postiert hatte, war sie nun genötigt gewesen, deren drei bis vier zusammenzuschachteln, so sehr dies auch allen Bräuchen und Wünschen ihrer Herrin widersprach. Ach was! Desto besser, wenn sie einander auffraßen, da gab's doch Platz! Und Nana, die hinter den zugeschobenen Riegeln wohlgeborgen in ihrem Kabinettchen saß, machte sich lustig über sie, deren Atem sie bis in ihren Winkel hinaus hörte; sie müßten, wie sie meinte, einen recht dicken Schädel haben, und die Zunge müßte ihnen ja schon lange aus dem Halse hängen. Ihr Erfolg vom gestrigen Abend nahm seinen Fortgang, die Männermeute war ihrer Spur gefolgt.

»Wenn sie wenigstens nichts zerbrechen«, meinte Nana.

Sie fing an, unruhig zu werden. Aber in diesem Augenblick führte Zoé Herrn Labordette in das Kabinett, und Nana stieß einen Ruf der Erleichterung aus. Er wollte mit ihr von einer Rechnung sprechen, die er für sie beim Friedensrichter beglichen hatte. Sie hörte gar nicht auf seine Worte, sondern rief ihm zu:

»Labordette, ich nehme Sie mit ... Wir speisen zusammen, und dann begleiten Sie mich nach dem Theater. Ich brauche erst um halb zehn Uhr aufzutreten.«

Der wackere Labordette, wie gelegen er gerade kam! Niemals begehrte er etwas für seine Dienste. Er war lediglich der Freund der Damen, deren kleine Angelegenheiten zu ordnen er keine Mühe scheute. So hatte er eben noch im Vorbeigehen die Gläubiger, die im Vorzimmer weilten, um eine Wartefrist gebeten; die braven Leute wollten ja übrigens gar nicht bezahlt sein: wenn sie hier gewartet hätten, so sei es ja nur geschehen, um der gnädigen Frau ihr Kompliment zu machen und ihre Dienste von neuem anzutragen: der ungeheure Erfolg, den die gnädige Frau am gestrigen Abend gehabt, habe ja ganz Paris auf die Beine gebracht.

»Kommen Sie, Labordette, wir wollen uns drücken!« wandte sich Nana, die jetzt angekleidet war, an ihren Besucher.

»Madame, ich mache ganz entschieden nicht auf ... Es stehen noch eine ganze Reihe Männer auf der Treppe!«

Das überstieg doch alle Begriffe! Sogar Francis mußte, gegen sein englisches Phlegma, das er affektierte, lachen, während er sein Frisierzeug in Ordnung brachte. Nana hatte Labordettes Arm ergriffen und drängte diesen nach der Küche. Glücklich, endlich von den Männerscharen befreit und sich selbst überlassen zu sein, eilte sie die Stufen der Dienertreppe hinab.

»Sie begleiten mich doch wieder zurück?« fragte sie ihren Führer, als sie den Hausflur betraten. »Ich werde dann wenigstens unbehelligt bleiben ... Denken Sie sich, Labordette, ich habe mir vorgenommen, heute einmal eine ganze Nacht allein zu schlafen ... Was einem doch so manchmal in den Sinn kommt, nicht wahr?«


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