Emile Zola
Arbeit
Emile Zola

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V

Und wieder gingen Jahre hin. Und der Tod, der rastlose Arbeiter am ewigen Leben, tat sein notwendiges Werk und nahm einen nach dem andern die Menschen hinweg, die ihre Lebensaufgabe erfüllt hatten. Erst schied Bourron, und nach ihm seine Frau Babette, bis zu ihrem letzten Atemzuge voll froher Laune. Dann kam die Reihe an Dada, dann an Blauchen mit den strahlenden, unergründlich tiefen, himmelblauen Augen. Lange starb, nachdem er zuletzt noch ein kleines Figürchen, eine reizende Mädchengestalt mit nackten Füßen, die Barfuß glich, vollendet hatte. Nanet und Nise hauchten, noch nicht alt geworden, ihren Atem in einem Kusse aus. Und endlich sank auch Bonnaire dahin, aufrecht vom Tode gefällt wie ein Held, mitten im Brausen der Arbeit, als er eines Tages sich in die Werkstätten begeben hatte, um einen neuen Riesenhammer an der Arbeit zu sehen, der mit jedem Schlage ein Stück schmiedete.

Und von ihrer ganzen Generation, von all denen, die an der Gründung und Schaffung des glorreichen Beauclair mitgewirkt hatten, blieben nur noch Lucas und Jordan übrig, von allen geliebt, von der zärtlichen Sorgfalt Josines, Soeurettes und Suzannes umgeben. Die drei Frauen, außerordentlich frisch und rüstig für ihr Alter, fanden ihre einzige Freude, ihren einzigen Stolz darin, die Helferinnen und Pflegerinnen der beiden Greise zu sein. Seitdem Lucas nur noch schwer gehen konnte und fast vollständig an seinen Sessel gebannt war, wohnte Suzanne in seinem Hause und teilte sich mit Josine in das schöne Vorrecht, ihn liebevoll zu betreuen. Über achtzig Jahre alt, hatte er sich die ungetrübte Heiterkeit der Seele, die vollen Kräfte seines Geistes bewahrt, war noch immer ganz jung, wie er lachend sagte, wären nur die verwünschten Beine nicht gewesen, die schwer wie Blei wurden. Ebenso wich Soeurette ihrem Bruder Jordan nicht von der Seite, der nach wie vor in seinem Laboratorium arbeitete, das er nun gar nicht mehr verließ und in dem er auch schlief. Er war um zehn Jahre älter als Lucas, aber der Neunzigjährige arbeitete noch immer in der langsamen, beharrlichen und methodischen Weise, mit dem unbeugsamen Willen und der sinnvollen Verwendung seiner Kräfte, denen der zeitlebens kranke und scheinbar stets dem Verlöschen nahe Mann es dankte, daß er noch immer tätig sein konnte, während die kräftigsten Arbeiter seiner Generation schon seit langem unter der Erde ruhten.

Er sagte oft mit seiner schwachen Stimme:

»Die, die sterben, die wollen es, man stirbt nicht, solange man noch etwas zu tun hat. Ich bin sehr krank, aber ich werde dennoch sehr alt werden, ich werde erst sterben, wenn mein Werk vollendet ist. Ihr werdet sehen, ich werde es im voraus wissen, und ich werde es euch ankündigen, indem ich euch sage: Gute Nacht, liebe Freunde, mein Tagewerk ist vollbracht, ich gehe schlafen.«

Jordan arbeitete also noch immer, weil er sein Werk für noch nicht vollendet hielt. Er war stets in warme Decken gewickelt, er trank nur laue Flüssigkeiten, um sich nicht zu erkälten, er lag auf einem Ruhebett ausgestreckt in den langen Erholungspausen zwischen den wenigen Stunden, die er seinen Forschungen widmen konnte. Aber zwei oder drei Stunden täglich genügten ihm, um eine gewaltige Leistung zu vollbringen; mit soviel Methode, mit so weiser, unmittelbar zum Ziele strebender Verwendung seiner Mittel füllte er seine Zeit aus. Und mit unvergleichlicher Aufmerksamkeit und Selbstverleugnung stand ihm Soeurette zur Seite wie sein zweites Ich, war zugleich Krankenwärterin, Sekretär und Laboratoriumsgehilfe und ließ niemand sonst in die Nähe ihres Bruders. Wenn manchmal seine Hände so schwach waren, daß sie ihm den Dienst versagten, führte sie seine Gedanken aus.

Nach der Überzeugung Jordans konnte er sein Werk erst an dem Tage vollendet nennen, an dem er der neuen Stadt die wohltätige Elektrizität in ungemessenen Mengen würde geben können, zur beliebigen Benutzung für jedermann, wie das Wasser, dessen unerschöpfliche Flut der Fluß hinabträgt, wie die Luft, die jede Brust frei einatmet. Seit sechzig Jahren hatte er viel zur Erreichung dieses Zieles getan. Seit langem aber verfolgte ihn eine Schreckensvorstellung: die mögliche, ja unausweichliche Erschöpfung des Kohlenvorrats der Erde. In kurzer Zeit, vielleicht ehe ein Jahrhundert um war, konnte die Kohle anfangen zu mangeln, und das wäre dann der Tod der jetzigen Welt; die Industrie würde zum Stillstand kommen, die Fortbewegungsmittel würden nutzlos und hilflos werden, die ganze Menschheit würde in Todesstarre verfallen, gleich einem großen Körper, dessen Blutumlauf aufgehört hat. Bei jeder Tonne dieser kostbaren, unersetzlichen Kohle, die er verbrennen sah, sagte er sich mit angstvoller Beklemmung, daß wieder eine Tonne weniger vorhanden sei. Und er dachte mit schwerer Sorge an die künftigen Generationen und schwor sich, nicht eher zu sterben, als bis er ihnen den Kraftstrom, den Strom unerschöpflichen Lebens zum Geschenke gemacht hatte, der der Träger ihrer Kultur und ihres Glückes sein sollte. So hatte er sich wieder an die Arbeit gemacht und arbeitete seit bereits mehr als zehn Jahren an dieser Aufgabe.

Immer hatte Jordan, mit seinem blutarmen, frierenden Körper, die Sonne geliebt, sich sehnsüchtig zu ihr hingezogen gefühlt. Er verfolgte ihren Lauf über die Himmelswölbung; jeden Abend, wenn er sie untergehen sah, durchbebten ihn furchtsame Schauer vor der Kühle der Nacht, und des Morgens erhob er sich oft zu früher Stunde, um die Freude zu genießen, sie wieder aufgehen zu sehen. Wenn sie ins Meer versunken wäre, wenn sie nie wieder erschiene, welche endlose, eisige, tödliche Nacht für die unglückliche Menschheit! So hatte sich bei ihm ein förmlicher Kultus der Sonne herausgebildet, der mächtigen Mutter unserer Welt, der Schöpferin und Bewegerin, die die Wesen aus dem Urschlamm hervorgerufen, sie gewärmt, entwickelt und vermehrt, sie mit den Früchten der Erde genährt hat, seit einer unberechenbaren Reihe von Jahrtausenden. Sie war die ewige Quelle des Lebens, weil sie die Quelle des Lichts, der Wärme und der Bewegung war. Auf ihrem Strahlenthrone herrschte sie als gewaltige, gute und gerechte Königin, als göttliche Urkraft, ohne die nichts Lebendes sein kann, deren Verschwinden den Untergang aller Dinge herbeiführen würde. Warum also sollte die Sonne nicht sein Werk fortsetzen und vollenden? Sie hatte Tausende von Jahren hindurch in der tropischen Vegetation die wohltätige Wärme aufgehäuft, die wir nun der Kohle wieder entnehmen. Tausende von Jahren hindurch hatte sich die Kohle im Schoße der Erde gesetzt, hatte ihren ungeheuren Wärmeschatz für uns bewahrt und behütet, um ihn uns dann als ein unschätzbares Geschenk zu überantworten, das der Menschheit zu neuem glänzenden Fortschritt verhalf. An die hilfreiche Sonne also mußten sich die Menschen wieder wenden, sie war sicherlich bereit, ihrer Schöpfung, den Menschen und der Welt, immer mehr Leben, immer mehr Wahrheit und Gerechtigkeit und alles erdenkbare Glück zuteil werden zu lassen. Wenn sie jeden Abend verschwand, wenn sie im Winter mit ihren Strahlen kargte, so mußte man von ihr begehren, daß sie uns einen Teil ihres Feuers hier lasse, damit wir ruhig ihre Rückkehr am Morgen abwarten und, ohne zu leiden, die kalte Zeit des Jahres überdauern können. Es handelte sich darum, sich unmittelbar an die Sonne zu wenden, die Sonnenwärme einzufangen und sie vermittels eigener Apparate in Elektrizität zu verwandeln, von der ungeheure Vorräte in undurchlässigen Behältern aufgespeichert werden müßten. In diesen hätte man dann eine unerschöpfliche Quelle unermeßlicher Kraft, die man nach Belieben verbrauchen könnte. Während der glühend heißen Sommertage würde man die Sonnenstrahlen einernten und sie in ungeheurem Überflusse in Speichern aufhäufen. Wenn dann die Nächte lang würden, wenn der düstere, kalte Winter käme, wäre genug Licht, Wärme und Bewegungskraft vorhanden, um die Freude und das Behagen der Menschen zu sichern. Endlich wäre diese der Allmutter Sonne abgewonnene, dem Menschen dienstbar gemachte elektrische Kraft seine willige und stets bereite Sklavin, die seine Mühe verringern und es vollends bewirken würde, daß die Arbeit zur genußvollen und gesunden Lebenstätigkeit werde, daß sie die gerechte Verteilung der Güter herbeiführe, daß sie das Gesetz und der Kultus des Lebens sei.

Was Jordan als höchstes Ziel vorschwebte, hatte schon viele Köpfe beschäftigt, und diesem oder jenem Forscher war es gelungen, einen Apparat zu bauen, der die Sonnenwärme auffing und sie in Elektrizität verwandelte, aber in so unendlich kleinen Mengen, daß diese Apparate nicht mehr waren als Laboratoriumsversuche. Die Umwandlung mußte im großen geschehen, die Elektrizität mußte in ungeheuren Behältern gesammelt werden, um den Bedürfnissen eines ganzen Volkes genügen zu können. Und Jahre hindurch ließ Jordan im ehemaligen Park der Crêcherie seltsame, turmartige Bauten aufführen, deren Bestimmung niemand erraten konnte. Er selbst verweigerte jede Auskunft, er vertraute niemandem das Geheimnis seiner Forschungen an. An schönen Tagen, wenn er sich kräftig genug fühlte, kam er mit kleinen Greisenschritten zu seinen neuen Bauten, schloß sich darin mit seinen Leuten ein, arbeitete, kämpfte beharrlich trotz aller Mißerfolge und besiegte schließlich das königliche Gestirn. Es gelang ihm, das Problem zu lösen, die gute, gewaltige Sonne ließ sich ein wenig von ihrer unermeßlichen Flammenglut wegnehmen, womit sie seit so vielen Tausenden von Jahren die Erde erwärmt, ohne sich abzukühlen. Nachdem die letzten, entscheidenden Versuche gelungen waren, wurde ein großes Werk erbaut und in Tätigkeit gesetzt, und es versorgte nun Beauclair mit Elektrizität zur freien Verfügung der Bewohner, wie die Quellen der Monts Bleuses sie mit Wasser versorgten. Aber es war noch immer ein ungemein störender Fehler vorhanden: die riesigen Behälter verloren sehr viel Elektrizität. Das galt es noch zu überwinden, die Behälter vollständig undurchlässig zu machen, in ihnen für den Winter so viel Sonnenwärme sicher einzuschließen, daß es möglich wurde, in den langen Dezembernächten eine andere Sonne über der Stadt zu entzünden.

Wieder machte sich Jordan an die Arbeit. Er suchte, er kämpfte weiter, entschlossen, weiter zu leben, solange sein Werk nicht vollendet war. Seine Kräfte schwanden immer mehr, er konnte nicht mehr gehen, er mußte vom Hause aus seine Weisungen, die die so lange und mühselig gesuchte Verbesserung herbeiführen sollten, an das Elektrizitätswerk gelangen lassen. In sein Laboratorium eingeschlossen, arbeitete er an der Vollendung seiner Aufgabe, und dort wollte er auch sterben, an dem Tage, wo sie vollendet war. Und der Tag kam, er hatte das Mittel gefunden, um jeden Verlust zu vermeiden, um die Behälter undurchlässig zu machen, so daß man die Elektrizität auf lange Zeit hinaus in ihnen aufsammeln konnte. Nun hielt ihn nichts mehr auf dieser Welt zurück, und er schickte sich an, von seinem Werke Abschied zu nehmen, seine Lieben zu umarmen und zum Urquell des ewigen Lebens zurückzukehren.

Es war damals Oktober, und die Sonne vergoldete noch mit warmen, weichen Strahlen die letzten Blätter der Bäume. Jordan verlangte von Soeurette, daß sie ihn ein letztes Mal in das Elektrizitätswerk tragen lasse, in dem er die neuen Behälter gerade hatte fertigstellen lassen. Er wollte mit eigenen Augen die glorreiche Vollendung seines Werkes sehen, die Behälter, in denen so viel Sonnen wärme aufgespeichert und festgehalten wurde, daß Beauclair damit bis zum nächsten Frühjahr reichlich versorgt war. Und eines Nachmittags wurde er denn in seinem Sessel in das Werk getragen und verbrachte dort zwei Stunden, um alles zu besichtigen und sich von dem richtigen Arbeiten der Apparate zu überzeugen. Das Werk war am Fuße der Bergwand der Monts Bleuses errichtet, in dem ehemaligen Park der Crêcherie, der gegen Süden lag und aus dem die warme Sonne von jeher ein blühendes Paradies gemacht hatte. Hohe Türme überragten die weitläufigen Gebäude, riesige Dächer aus Stahl und Glas verbanden sie miteinander. Sonst war von außen nichts zu sehen, die Leitungskabel waren alle unterirdisch geführt. Als Jordan mit seinem Rundgang zu Ende war, ließ er noch einmal im großen Mittelhof halten und warf von hier aus einen langen, letzten Blick ringsum auf diese neue Welt, diese neue Quelle ewigen Lebens, seine Schöpfung, der er sein ganzes Leben mit leidenschaftlicher Hingabe gewidmet hatte. Dann wandte er sich an Soeurette, die nicht von der Seite des Sessels gewichen war, in dem er von zwei Männern getragen wurde.

»So wäre das vollbracht«, sagte er lächelnd, »und es ist gut geworden. Jetzt kann ich Abschied nehmen. Komm, Schwester, gehen wir nach Hause.«

Er war glücklich, sein Werk vollendet und lebensfähig gesehen zu haben, seine Seele war erfüllt von der Heiterkeit des Arbeiters, der seine Arbeit getan hat und endlich ausruhen darf. Da das Wetter schön war, gab seine Schwester den beiden Männern den Auftrag, einen kleinen Umweg zu machen. Und bald befanden sie sich vor dem Hause, das Lucas bewohnte und das er nun nicht mehr verließ, seitdem seine Beine ihm ganz den Dienst versagten. Seit einigen Monaten hatten sich die Freunde nicht mehr sehen können und hatten nur brieflich und durch ihre Pflegerinnen, ihre guten Engel, miteinander verkehrt, die fortwährend von dem einen zum anderen eilten. Da erfaßte noch ein Wunsch das Herz des Sterbenden, dem bereits der erquickende Schlummer sich nahte.

»Liebe Soeurette, laß hier unter diesem Baume halten, geh hinauf zu Lucas und sage ihm, daß ich an seiner Tür warte und ihn bitte herunterzukommen.«

Überrascht und von Sorge erfüllt wegen der damit verbundenen Aufregung, zögerte Soeurette.

»Aber, lieber Martial, Lucas geht ebensowenig aus wie du, wie soll er da herunterkommen?«

Wieder erhellten sich Jordans Augen unter einem schwachen Lächeln.

»Er wird sich eben heruntertragen lassen, Schwesterchen. Da ich in meinem Tragsessel zu ihm gekommen bin, so kann er auch zu mir kommen.«

Und in weichem Tone setzte er hinzu:

»Es ist so schön hier, wir werden ein letztes Mal miteinander sprechen und voneinander Abschied nehmen. Wie könnten wir uns für immer verlassen, ohne uns noch einmal umarmt zu haben?«

Soeurette konnte nicht länger ablehnen und ging zu Lucas hinauf. Ruhig wartete Jordan in der linden Wärme der langsam sinkenden Sonne. Bald kehrte seine Schwester zurück und kündigte ihm das Kommen des Freundes an. Und alle Anwesenden ergriff eine tiefe Bewegung, als Lucas erschien, ebenfalls in seinem Sessel von zwei Männern getragen. Langsam bewegte er sich vorwärts, begleitet von Josine und Soeurette. Dann setzten ihn die Träger neben Jordan nieder, die Sessel berührten einander, und die Freunde konnten einander die Hände drücken.

»Ach, mein lieber Jordan, wie danke ich Ihnen, daß Sie hierhergekommen sind, damit wir uns noch einmal sehen und Abschied voneinander nehmen!«

»Sonst wären Sie zu mir gekommen, mein lieber Lucas. Da ich eben vorbeikam und Sie zu Hause waren, so war es doch nur natürlich, daß wir uns hier im Grünen ein letztes Mal treffen, unter einem dieser geliebten Bäume, unter denen wir so oft geruht haben.«

Sie saßen unter einer herrlichen Linde, die bereits der Hälfte ihrer Blätter beraubt war. Aber die Sonne vergoldete sie mit wundervollem Glänze, und ein warmer Strahlenregen rieselte durch ihre Äste herab. Der Abend war köstlich mild, und über dem Lande lag ein weiter, stiller Friede hingebreitet.

»Seit langen Jahren«, fuhr Jordan fort, »ist unser beider Leben miteinander verflochten, geht unser beider Tagewerk in einer Doppellinie dahin, mein lieber Freund. Wir sind jeder durch den anderen das geworden, was wir geworden sind. Und ich hätte einen Selbstvorwurf mit mir ins Grab genommen, wenn ich mich nicht noch einmal bei Ihnen entschuldigt hätte, daß ich anfangs so wenig Vertrauen zu Ihrem Werke hatte, als Sie zu mir kamen und meine Mithilfe verlangten, um die Zukunftsstadt der Gerechtigkeit zu erbauen. Ich erwartete mit Sicherheit einen Mißerfolg.« Lucas lachte leise.

»Ja, ja, lieber Freund, Sie sagten stets, daß die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Kämpfe Ihnen bedeutungslos schienen. Freilich erregen sich die Menschen um so vieler Nichtigkeiten willen! Aber sollte man deswegen nicht in die Geschehnisse eingreifen, die Entwicklung sich von selber vollziehen lassen, es nicht der Mühe für wert finden, die Stunde der Erlösung zu beschleunigen? Alle nötigen Zugeständnisse, alle widrigen Geschäfte, die die Lenker der Menschen besorgen müssen, finden ihre Entschuldigung darin, daß sie oft dazu helfen, die Menschheit um einen doppelt großen Schritt vorwärtszubringen.«

»Sie hatten vollkommen recht, lieber Freund«, fiel Jordan rasch ein, »und Sie haben es mir in herrlicher Weise bewiesen. Ihr Wirken hier hat einen gewaltigen Fortschritt gezeitigt, hat eine ganze neue Welt geschaffen. Sie haben dem menschlichen Elend, dem menschlichen Leiden vielleicht hundert Jahre abgewonnen, und die neue Stadt, das verjüngte Beauclair, in dem mehr Gerechtigkeit und mehr Glück herrscht, zeugt unwiderleglich für die sittliche Größe Ihrer Sendung, für die wohltätige Kraft Ihres Schaffens. Ich stehe mit voller Überzeugung, mit ganzem Herzen an Ihrer Seite, und ich kann nicht von Ihnen scheiden, ohne Ihnen nochmals auszusprechen, wie auch ich mich Ihnen verbunden fühle und mit welchem Anteil ich allem gefolgt bin, was Sie Großes und Edles vollendet haben. Oft sind Sie mein Vorbild gewesen.«

Da widersprach Lucas.

»Lieber Freund, sprechen wir nicht von Vorbild! Sie haben immer so vor mir gestanden, und als das größte und bewundernswürdigste Vorbild! Erinnern Sie sich, wie ich zuweilen schwach wurde, manchmal ganz zusammenbrach, und immer fand ich Sie voll unerschütterlicher Kraft und Zuversicht in Ihr Werk, auch an den Tagen, da alles mühevoll Eroberte in nichts zu zerfallen schien. Ihre unüberwindliche Stärke lag darin, daß Sie keinen anderen Glauben kannten als den an die Arbeit, daß Sie in ihr die erste Bedingung körperlichen und geistigen Gleichgewichts, den einzigen Zweck alles Lebens und alles Tuns sahen. So ist denn Ihr Werk Ihr Herz und Ihr Hirn geworden, das Blut, das in Ihren Adern rollte, der Gedanke, der Ihren Geist beherrschte. Nur dies gab es für Sie auf der Welt, jede Stunde Ihres Lebens war einzig und allein dem Aufbau dieses Werkes gewidmet. Welch unvergängliches Denkmal, welche unschätzbare, beglückende Gabe hinterlassen Sie den Menschen! Mein eigenes Lebenswerk als Städteerbauer und Führer des Volks hätte nie vollendet werden können, wäre nichts ohne Sie.«

Es folgte ein Schweigen. Ein Zug Vögel strich am Himmel hin, und durch die halb entlaubten Äste rieselte der Sonnenregen schwächer und linder herab, je mehr das Gestirn sich zum Untergang neigte. Soeurette zog in mütterlicher Fürsorge Jordans Decke höher über seine Knie hinauf, während Josine und Suzanne sich zu Lucas neigten, um zu sehen, ob er nicht erschöpft sei. Und Lucas fuhr fort:

»Die Wissenschaft führt die größten Revolutionen herbei, das haben Sie mir von Anfang an gesagt, und jeder neue Tag unseres langen Lebens hat mir bewiesen, wie sehr Sie recht hatten. Könnte das brüderliche und glückliche Beauclair heute schon Tatsache sein, wenn Sie es nicht so überreich mit der elektrischen Kraft beschenkt hätten, die für jede Arbeit, für das ganze Leben der Gemeinschaft unentbehrlich geworden ist? Nur die Wissenschaft, die Wahrheit wird den Menschen immer mehr befreien, ihn zum Herrn über sein Schicksal machen, ihm die Herrschaft über die Welt in die Hand geben, indem sie die natürlichen Kräfte seinem leisesten Winke dienstbar macht. Während ich meinen Bau errichtete, haben Sie, lieber Freund, mir den Atem geschaffen, womit ich den Steinen und dem Mörtel Leben einhauchen konnte.«

»Es ist wahr«, sagte Jordan mit seiner schwachen, ruhigen Stimme, »die Wissenschaft wird den Menschen befreien, denn die Wahrheit ist im Grunde die mächtigste, die einzige Schafferin der Brüderlichkeit und der Gerechtigkeit. Ich bin zufrieden. Ich habe unserem Elektrizitätswerke einen letzten Besuch gemacht und habe gesehen, daß es fortan meinen Absichten entsprechend arbeiten wird für die Wohlfahrt und die Behaglichkeit aller.«

Er gab dann noch ausführliche Erläuterungen und Anordnungen in bezug auf die Behandlung seiner neuen Apparate und die Verwendung der unerschöpflichen Kraftmengen. Er diktierte seinen Freunden gleichsam seinen letzten Willen, indem er bestimmte, wie das, was er in lebenslanger wissenschaftlicher Arbeit geschaffen, zum allgemeinen Frieden, zum allgemeinen Genuß verwendet werden sollte. Die Elektrizität kostete nichts mehr und war in solchem Überfluß vorhanden, daß sie den Bewohnern der Stadt zum beliebigen Gebrauche zu Gebote stand wie das Wasser der nie versiegenden Quellen, wie die freie Luft des Windes. Nur so förderte sie, bereicherte sie das Leben.

Allen Öffentlichen Gebäuden, allen, selbst den bescheidensten Privathäusern, wurde Licht, Wärme und Bewegungskraft ungemessen zugeleitet. Man brauchte nur diesen oder jenen Knopf zu drehen, und das Haus wurde erleuchtet, wurde geheizt, das Essen wurde gekocht, die verschiedenen Arbeits- oder häuslichen Hilfsmaschinen setzten sich in Gang. Jeden Tag wurden neue kleine, wohlerdachte Apparate gebaut, die den Frauen die häuslichen Verrichtungen besorgten, die Handarbeit durch Maschinenkraft ersetzten. Von der Hausfrau bis zum Fabrikarbeiter war das menschliche Lasttier endlich von der uralten körperlichen Mühsal, von unnötiger, schwerer Anstrengung befreit. Und diese körperliche Befreiung führte zugleich eine wunderbare geistige Befreiung herbei, das moralische und intellektuelle Niveau der Menschen hob sich, seitdem die schwere Last der qualvollen, schlechtverteilten Arbeit von ihnen genommen war, die mit fühlloser Grausamkeit die ungeheure Menge der Enterbten in Unwissenheit gehalten und sie in Niedrigkeit und Verbrechen hineingestoßen hatte.

»Ich scheide zufrieden«, wiederholte Jordan heiter. »Ich habe meine Aufgabe vollendet, und mein Werk ist weit genug fortgeschritten, damit ich ruhig einschlafen kann. Ehe viel Zeit vergeht, wird das lenkbare Luftschiff erfunden sein, und der Mensch wird sich den Luftraum dienstbar machen, so wie er sich das Meer dienstbar gemacht hat. Ehe viel Zeit vergeht, wird man von einem Ende der Welt zum anderen ohne Leitungsdraht telegraphieren können. Das menschliche Wort, die menschliche Gebärde werden mit Blitzesschnelligkeit um die Erde kreisen. So wird sich die Befreiung der Menschen durch die Wissenschaft vollziehen, durch die unwiderstehliche umwälzende Kraft, die ihnen immer mehr Wahrheit und Frieden bringen wird. Schon lange haben sie die Ländergrenzen fast verwischt mit ihren eisernen Bahnen, die sich immerzu verlängern, über die Flüsse setzen, Berge durchbohren und die Nationen mit den immer enger werdenden Maschen ihres Riesennetzes immer fester und brüderlicher umschließen. Wie wird es erst sein, wenn man freundschaftlich von Hauptstadt zu Hauptstadt sprechen wird, wenn dieselben Interessen in derselben Minute in allen Kontinenten dieselben Gedanken wecken werden, wenn die Luftfahrzeuge durch den freien, unendlichen Raum segeln werden? Die Luft, die wir alle atmen, die Weite, die allen gehört, wird das Gebiet ungehemmter Eintracht werden, auf dem sich die Menschheit der Zukunft versöhnen wird. Daher, lieber Freund, haben Sie mich auch stets so getrost gesehen, so sicher, daß einmal die Erlösung kommen muß. Mochten auch die Menschen sich in blindem törichten Hasse zerfleischen, mochten die Religionen auch noch so beharrlich Lügen aufhäufen, um sich ihre Herrschaft zu sichern, die Wissenschaft schritt darum nicht minder jeden Tag um ein Stück vorwärts und schuf mehr Licht, mehr Brüderlichkeit und mehr Glück. Und durch sich selbst, kraft der ihr innewohnenden unwiderstehlichen Macht der Wahrheit, wird sie die Vergangenheit voll Finsternis und Haß hinwegdrängen und vertreiben, wird die Geister befreien und die Herzen einander nähern.«

Er war erschöpft vom langen Sprechen, seine Stimme war kaum noch vernehmbar. Trotzdem setzte er noch scherzhaft hinzu:

»Sie sehen, lieber Freund, ich bin ein ebenso großer Revolutionär wie Sie.«

»Ich weiß es, lieber Freund«, erwiderte Lucas bewegt. »Sie waren mein Meister in allen Dingen, und ich kann Ihnen nie genug danken für all das, was von Ihnen an Tatkraft, an unerschütterlicher Zuversicht in die Arbeit und in das Werk auf mich übergegangen ist.«

Die Sonne sank zum Horizont, ein leichter Abendwind rauschte in der Krone der mächtigen Linde, durch deren Blätter der goldene Lichtregen nun in blässeren Tönen herunterrieselte. Die Nacht nahte, eine köstliche Ruhe breitete sich langsam über die Natur. Die drei Frauen, die stumm und ehrfurchtsvoll diesem letzten Gespräch der beiden Freunde zuhörten, wurden ängstlich wegen des schädlichen Einflusses der Nachtluft auf die ihrer Obhut anvertrauten Greise. Sie mahnten sanft, ohne ein Wort, mit mütterlichen Gebärden. Wieder zog Soeurette ihrem Bruder die Decke höher. Und als Josine und Suzanne auch über Lucas' Knie eine Decke breiteten, sagte dieser:

»Mir ist nicht kalt, der Abend ist so schön!«

Soeurette hatte sich umgedreht, um der verschwindenden Sonne nachzusehen, und Jordan folgte ihrem Blick.

»Ja, die Nacht naht«, sagte er. »Die Sonne mag nun untergehen, sie läßt uns in unseren Speichern einen Teil ihrer Güte und ihrer Kraft. Und diesmal bedeutet ihr Untergehen, daß mein Tag zu Ende ist. Ich will schlafen gehen. Leben Sie wohl, lieber Freund!«

»Leben Sie wohl, lieber Freund!« sagte Lucas. »Auch ich gehe bald schlafen.«

So nahmen sie Abschied mit ergreifender Innigkeit, in einfacher, erhabener Größe. Sie wußten beide, daß sie sich nicht wiedersehen würden, sie gaben einander den letzten Blick, sie sagten einander die letzten Worte. Nach sechzigjährigem gemeinschaftlichen Leben und gemeinschaftlichen Arbeiten schieden sie voneinander, um nur noch in dem Strom der Generationen vereinigt zu bleiben, in den Menschen des nächsten Tages, deren Wohlfahrt sie beschleunigt hatten..

»Leben Sie wohl, lieber Freund!« sagte Jordan wieder. »Seien Sie ohne Trauer, der Tod ist gut und notwendig. Wir leben in den anderen weiter, wir sind unsterblich. Wir haben uns ganz ihnen gewidmet, wir haben nur für sie gearbeitet, und wir werden mit ihnen immer neu geboren und genießen so unseren Teil von unserem Werke. Leben Sie wohl, lieber Freund!«

Und Lucas erwiderte:

»Leben Sie wohl, lieber Freund! Alles, was von uns bleibt, wird bezeugen, wie wir geliebt und wie wir gehofft haben. Ein jeder wird geboren, um sein Werk zu tun, das Leben hat keinen anderen Zweck, die Natur setzt ein neues Wesen in die Welt, sooft sie eines neuen Arbeiters bedarf. Und wenn sein Tagewerk vollbracht ist, kann der Arbeiter schlafen gehen, die Erde nimmt ihn wieder auf zu anderer Verwendung. Leben Sie wohl, lieber Freund!«

Er neigte sich vor, um ihn zu küssen. Aber er konnte es nicht, und die drei liebenden Frauen mußten ihnen bei dieser letzten Umarmung helfen und sie stützen. Sie lachten beide voll kindlicher Heiterkeit, ihre Seelen waren ruhig, kein Bedauern, kein Selbstvorwurf kam ihnen an in dieser Stunde des Abschieds, denn sie hatten ihre volle Menschenpflicht, ihre volle Arbeit geleistet. Noch weniger empfanden sie Furcht, der Zustand nach dem Tode hatte keinen Schrecken für sie, sie sahen freudig der tiefen Ruhe entgegen, in der die guten Arbeiter schlafen. Und sie umarmten sich lang und innig, legten ihre letzte Kraft in diesen Abschiedskuß.

»Leben Sie wohl, mein guter Jordan!«

»Leben Sie wohl, mein guter Lucas!«

Dann sprachen sie nicht mehr. Ein tiefes, heiliges Schweigen herrschte. Die Sonne verschwand von der mächtigen, reinen Himmelswölbung und tauchte unter die ferne Linie des Horizonts. Ein Vogel verstummte in den Zweigen der großen Linde, in denen die Schatten sich verdichteten, während über den Park mit seinen Bäumen, seinen Alleen und Rasenplätzen die köstliche Ruhe des Abends herabsank.

Da hoben auf ein Zeichen Soeurettes die beiden Männer den Sessel Jordans auf und trugen ihn langsamen, leichten Schrittes hinweg. Lucas verlangte mit stummer Gebärde, daß man ihn noch eine kleine Weile unter dem Baume lasse. Er sah seinem Freunde nach, wie er sich langsam durch die gerade Allee entfernte. Die Allee war lang, und der Tragsessel mit der Gestalt des Freundes wurde allmählich immer kleiner. Einmal drehte sich Jordan um, und sie tauschten einen letzten Blick, ein letztes, kaum noch sichtbares Lächeln. Dann war's vorbei, der Tragsessel entschwand seinem Blicke, während der Park sich mit dem Mantel der Nacht bedeckte und einschlief.

In sein Laboratorium zurückgekehrt, begab sich Jordan zu Bette. Sein schwächlicher Körper war im hohen Alter zur Größe eines Kindes zusammengeschrumpft. Und wie er es gesagt hatte, so ließ er sich nun, da sein Werk getan, sein Tag vollendet war, endlich vom Tode wegführen. Am nächsten Tage starb er friedlich und lächelnd in den Armen Soeurettes.

Lucas sollte noch fünf Jahre leben, in dem Sessel sitzend, den er fast nie verließ, und der am Fenster seines Zimmers stand, von dem aus er seine Stadt sich täglich vergrößern und verschönern sah. Eine Woche nach dem Tode Jordans stellte sich Soeurette seinen Pflegerinnen Josine und Suzanne an die Seite, und sie waren nun drei, um ihn mit ihrer Liebe und zärtlichen Sorgfalt zu umgeben.

Während der langen Stunden, die Lucas angesichts seiner blühenden Stadt in glücklichem Sinnen verbrachte, tauchte oft die Vergangenheit vor seinem Geiste auf. Er sah zurück auf den Punkt, von dem er ausgegangen war, auf die nun schon so fernliegende Lektüre des kleinen Buches, in dem die Lehre Fouriers zusammengefaßt war. Er erinnerte sich der schlaflosen Nacht, da er in dem Buche zu lesen angefangen hatte, um den Schlaf zu finden. Und da waren die genialen Gedanken Fouriers: die menschlichen Leidenschaften wieder in ihre Würde einzusetzen, sie frei walten zu lassen und als treibende Kräfte des Lebens zu verwenden; die Arbeit aus ihren Sklavenfesseln zu befreien, zu erhöhen, zu veredeln, genußreich zu gestalten und sie zum Grundgesetz des sozialen Lebens zu machen; durch die Vereinigung von Kapital, Arbeit und Geist allmählich und in friedlicher Weise die volle Herrschaft der Freiheit und Gerechtigkeit anzubahnen – diese genialen Gedanken Fouriers waren in seinen fieberhaft suchenden Geist gefallen, hatten ihn blitzartig erleuchtet, ihn mit Begeisterung erfüllt und ihn am nächsten Tage zur Tat getrieben. Fourier dankte er es, daß er den Plan zu dem Unternehmen der Crêcherie gefaßt und ihn zur Ausführung gebracht hatte. Das erste Gemeindehaus mit seiner Schule, die ersten hellen und reinlichen Werkstätten mit ihrer Arbeitseinteilung, die erste Arbeiterstadt mit ihren weißen Häuschen, waren erwachsen aus der Fourierschen Idee, die gleich gutem Samen in winterlicher Erde gelegen hatte, immer bereit zu keimen und zu blühen.

An seinem Fenster hatte Lucas immerzu das herrliche Schauspiel der Stadt der Wohlfahrt vor Augen, deren bunte Dächer sich weithin erstreckten. Dank dem unaufhörlichen neuen Werden schienen die Kinder, die Kinder der Kinder andere Herzen und andere Hirne zu haben, und die brüderliche Liebe wurde ihnen leicht in einer Gemeinschaft, darin das Glück jedes einzelnen tatsächlich nur im Glück aller bestand. Mit dem Handel war auch der Diebstahl verschwunden. Mit dem Gelde waren alle Verbrecherischen Triebe erstorben. Es gab keine Erbschaften mehr, es wurden keine Nichtstuer mehr geboren, die Menschen erwürgten einander nicht mehr um eines reichen Nachlasses willen. Warum sollten die Menschen einander hassen, einander beneiden, sich des Besitzes anderer durch List oder Gewalt bemächtigen wollen, da das öffentliche Gut allen gemeinsam gehörte, da jeder ebenso reich wie sein Nachbar geboren wurde, lebte und starb? Das Verbrechen verlor allen Sinn und Verstand, der ganze grausame Apparat der Unterdrückung und Bestrafung, der nur aufgerichtet worden war, um den Raub einiger Reichen gegen die Empörung der ungeheuren Menge der Elenden zu sichern, fiel leer und nutzlos in sich zusammen, mit allen seinen Gendarmen, Polizisten, Gerichtshöfen und Gefängnissen. Man mußte inmitten dieses Volkes leben, das die Scheußlichkeit des Krieges nicht kannte, das nur dem Gesetz der Arbeit Untertan war, das durch eine auf Vernunft und wohlverstandenes eigenes Interesse begründete Gemeinschaft miteinander verbunden war – um zu begreifen, wie sehr der vermeintliche Traum vom allgemeinen Glück möglich war bei einem Volke, das, hellen Geistes, von den ungeheuerlichen religiösen Lügen befreit, die Wahrheit kannte und die Gerechtigkeit wollte. Seitdem die Leidenschaften, anstatt bekämpft und erstickt zu werden, im Gegenteil als die treibenden Kräfte des Lebens gefördert und gepflegt wurden, hatten sie ihre giftigen Eigenschaften verloren und waren zu sozialen Tugenden, zur Blüte der persönlichen Energie geworden. Das erstrebenswerte Glück lag in der Entwicklung, in der Stärkung aller Sinne, und nicht minder des Sinnes der Liebe, denn der ganze Mensch sollte genießen und befriedigt werden, ohne Heuchelei, im hellen Licht des Tages. Der langwährende schwere Kampf der Menschheit führte endlich zur ungehemmten Entfaltung der Persönlichkeit, zu einer Gesellschaftsordnung, die jedem volle Befriedigung seiner Wünsche gewährte, in der der Mensch ein ganzer Mensch war und sein ganzes Leben auslebte. So war denn die glückliche Stadt zur Wahrheit geworden auf Grund der Religion des Lebens, der endlich von den Dogmen befreiten Menschheit, die in sich selbst ihren Daseinszweck, ihr Endziel, ihren Stolz und ihre Seligkeit fand.

Aber vor allem hatte Lucas den Triumph der erlösenden, schaffenden und ordnenden Arbeit erleben dürfen. Vom ersten Tage ab war sein Ziel das Verschwinden, der Tod des ungerechten Lohnsklaventums gewesen, der Quelle des Elends und der Leiden, der verrotteten Unterlage des alten sozialen Baues, der in allen Fugen krachte. Und an dessen Stelle wollte er das andere setzen, die Neuordnung der Arbeit, die die gerechte Verteilung der Güter .zur Folge haben sollte. Aber welchen langen Weg hatte er zurücklegen müssen, ehe der hochfliegende Wunsch zur Wirklichkeit wurde, ehe diese von ihm gegründete glückliche Stadt erstand!

Wie innig freute sich Lucas, wenn der Morgenwind ihm das Lachen und Singen zutrug, deren frohe Töne ohne Unterlaß seiner Stadt entstiegen! Wie angenehm war jetzt die Arbeit, wie leicht und köstlich! Sie dauerte bloß einige Stunden täglich und bestand nur noch in der Überwachung der mächtigen, wunderbar gebauten Maschinen, die Hände und Füße hatten wie einst die Arbeitssklaven. Sie versetzten Berge, und sie formten die kleinsten Gegenstände mit unendlicher Sorgfalt. Sie bewegten sich dahin und dorthin, dem kleinsten Wink gehorchend, gleich vernunftbegabten Wesen, die aber weder Ermüdung noch Schmerzen kannten. Dank ihnen hatte der Mensch die Natur besiegt, sie zu seinem Paradies gemacht. Und mit welchen Reichtümern überhäuften sie ihn, mit immer wachsendem Überfluß von Blumen und Bodenfrüchten, mit immer größerem Luxus an Gebrauchs- und Kunstgegenständen, so daß jeder Arbeiter über alle Güter der Welt verfügte und wie ein Fürst von seiner leichten, wenige Stunden währenden Arbeit lebte – er, den einst der Hunger gewürgt hatte, nachdem er in zehnstündiger entsetzlicher Mühsal an seine Galeere geschmiedet gewesen war! Und welch wunderbaren Aufschwung hatte diese verringerte, leicht gewordene Arbeit den Wissenschaften, den Künsten verliehen, indem sie das Gebiet der geistigen Tätigkeit jedem einzelnen öffnete! In den Laboratorien, die jedermann für Experimente offenstanden, verging fast keine Woche, ohne daß eine wertvolle Entdeckung gemacht worden wäre. Das geistige Niveau des ganzen Volkes hob sich mächtig, seitdem jeder einzelne zur Erkennung und Feststellung der Wahrheit angeleitet wurde.

Mit heiterer Seele, ohne Sorge für die Zukunft, sah Lucas seine Stadt weiterwachsen, wie ein schönes, kraftvolles, ewig junges Wesen. Von der Schlucht von Brias, zwischen den Hängen der Monts Bleuses hatte sie ihren Ausgang genommen und erstreckte sich nun immer weiter in die Ebene der Roumagne hinein. An schönen Tagen schimmerten ihre weißen Häuser durch die Bäume, ohne daß der geringste Rauch die Reinheit der Luft trübte: es gab keine Schornsteine mehr, die Elektrizität hatte überall das Heizen mit Kohle oder Holz überflüssig gemacht. Der weite blaue Himmel wölbte sich glatt und in makellosem seidigen Glänze über der Stadt, die immer neu und in glänzender Frische dalag, von Winden durchweht; die kein Rußstäubchen mit sich führten. Und überall, in den Häusern, den öffentlichen Gebäuden, auf den Straßen und Plätzen rauschte das Wasser, das kristallklare Quellwasser, dessen Frische und Reinheit die Menschen gesund und fröhlich machte. Die Bevölkerung vermehrte sich immerzu, neue Häuser wurden gebaut, neue Gärten entstanden. Ein glückliches, freies, brüderliches Volk übt eine mächtige Anziehung aus, so daß alle nachbarlichen Völker widerstandslos zu ihm hingetragen werden. Die kleinen Städte der Umgebung, Saint-Cron, Formeries, Magnolles, hatten dem Beispiel Beauclairs folgen müssen, hatten sich allmählich zusammengeschlossen und waren schließlich eine Erweiterung der Mutterstadt geworden. Der Erfolg der auf einem kleinen Gebiete durchgeführten Neuerung reichte aus, um Schritt für Schritt den Bezirk, die Provinz, das ganze Land zu gewinnen. Die verwirklichte allgemeine Wohlfahrt hat unwiderstehliche Kraft, nichts kann ihren Fortschritt aufhalten, wenn die Menschen sie erst erkannt haben und den Weg zu ihr offen sehen. Alle menschlichen Kämpfe sind nur ein Kampf ums Glück, die Sehnsucht danach bildet den Untergrund jeder Religion, jeder Staatsform. Der Egoismus ist die Bemühung des einzelnen, so viel Glück wie möglich an sich zu ziehen. Warum sollte nun nicht der Egoismus des einzelnen ihn dazu treiben, alle seine Mitmenschen als Brüder zu behandeln, sobald er überzeugt ist, daß das Glück eines jeden im Glück aller beruht ? Wenn die Interessen früher so wütend gegeneinander kämpften, so war es nur, weil die alte Gesellschaftsordnung sie verschiedenartig gestaltete, sie einander gegenüberstellte und den Krieg zur Notwendigkeit, zum Lebensprinzip der einzelnen Menschengruppen machte. Aber sobald der entgegengesetzte Zustand verwirklicht ist, sobald die neugeordnete Arbeit die Güter gerecht verteilt und die befreiten, wohltätig wirkenden Leidenschaften die Menschen zur Gemeinsamkeit und Eintracht führen, so ist sofort der Frieden hergestellt, und das Glück aller erblüht aus der allgemeinen brüderlichen Liebe. Warum sollten die Menschen kämpfen, wenn ihre Interessen nicht mehr gegeneinander stehen? Wenn die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte die ungeheure Summe von Kraft, Blut und Tränen, die schwere Mühsal zahlloser Generationen, die sie aufgewendet hat, um sich selbst zu zerfleischen, darauf gerichtet hätte, die Welt zu erobern, sich die Naturkräfte zu unterwerfen, so wäre sie seit langem die unbestrittene Königin aller Wesen und Dinge. An dem Tage, da sie ihres tollen Wahnwitzes innewurde, da der Mensch aufhörte, ein reißender Wolf für den Menschen zu sein, da alle sich im gemeinsamen Wirken für das gemeinsame Glück vereinigten, da sie auf die Bezwingung der Elemente die Körperanstrengung und die Geisteskräfte verwendeten, die sie früher damit vergeudet hatten, sich von Mensch zu Mensch, von Klasse zu Klasse, von Nation zu Nation zu verderben –, an dem Tage hatte die Menschheit den Weg zum Reich des Glückes angetreten. Es ist nicht wahr, daß ein Volk, dessen Bedürfnisse ganz befriedigt wären, das nicht mehr den Kampf ums Dasein zu führen brauchte, allmählich die Lebenskraft verlieren und in Schlafsucht und Stumpfsinn versinken würde. Die Sehnsucht, das Ideal wird immer grenzenlos bleiben, es wird immer noch Unbekanntes zu erobern geben. Aus jedem erfüllten Wunsche wird immer eine neue Begierde entstehen, und das Streben, ihr zu genügen, wird die Menschen immer wieder befeuern und sie zu Helden der Wissenschaft und Kunst machen. Gleich dem Ideal ist die Begierde grenzenlos, und wenn die Menschen so lange gegeneinander gekämpft haben, um einander das Glück zu entreißen, so werden sie dann alle gemeinschaftlich kämpfen, um es immerfort zu vermehren, um es zu einem großen, von Genuß und Jubel überquellenden Fest zu machen, an dem die gesteigerten Leidenschaften von Milliarden von Menschen sich sättigen können. Es wird dann nur noch Helden auf der Welt geben, und jedes Kind wird bei seiner Geburt die ganze Erde, den grenzenlosen Himmel, die segensreiche, lebenspendende Sonne als Patengeschenk, empfangen.

Und der glückliche Lucas wiederholte immer wieder, daß nur die Liebe alle diese Wunder gewirkt hatte. Die Liebe hatte den Samen ausgestreut, der heute in unerschöpflichen Ernten von Güte und Brüderlichkeit aufging. Vom ersten Tage an hatte er das Bedürfnis empfunden, die Stadt durch das Weib und für das Weib zu gründen, wenn es fruchtbar, begehrenswert und schön bleiben sollte. Dadurch, daß er Josine auf den Platz einer schönen, geachteten und geliebten Frau gestellt hatte, war der erste Schritt zur Verbrüderung, zum sozialen Frieden, zum freien und gerechten, auf Gemeinsamkeit beruhenden Leben aller getan. Dann hatte die neue Methode der Erziehung und des Unterrichts beide zu vollkommenem gegenseitigen Verständnis und zu inniger Eintracht geführt, so daß sie fortan nur dem einen Ziele lebten, viel zu lieben, um viel geliebt zu werden. Glück schaffen war die weiseste Form, selbst glücklich zu sein. Und die Liebe blühte frisch und natürlich zwischen den jungen Paaren empor, die Wahl der Herzen, die Vereinigung der Liebenden war vollkommen frei, keinerlei Gesetz oder Zwang beherrschte die Ehe, die einzig und allein auf gegenseitigem Einverständnis beruhte. Der junge Mann und das Mädchen kannten einander von der Schule an, hatten in denselben Werkstätten gearbeitet, und wenn sie sich einander gaben, so war dies nur die Blüte einer langen Freundschaft. Sie gaben sich einander fürs Leben, die langen, treuen Ehen bildeten die große Überzahl, die Gatten alterten miteinander, nachdem sie miteinander aufgewachsen waren, im köstlichen Austausch ihrer Wesen, in gleichen Rechten, im gleichen Lebensgenüsse. Es war ihnen jedoch volle Freiheit gegeben, sich zu trennen, wenn sie sich nicht mehr vertrugen, und die Kinder blieben dem einen oder anderen, je nach Vereinbarung, oder der Gemeinschaft, wenn sie sich nicht einigen konnten. Der erbitterte Zweikampf zwischen Mann und Weib, alle Fragen, die lange Zeit die beiden Geschlechter als wütende, unversöhnliche Feinde einander gegenübergestellt hatten, waren auf die einfachste Weise beseitigt, durch die vollkommene Befreiung der Frau in allen Dingen, durch ihre Stellung als ebenbürtige Gefährtin des Mannes, als gleichberechtigte und gleich unentbehrliche Hälfte eines Ganzen. Sie konnte ehelos bleiben, wenn sie wollte, konnte wie ein Mann leben, in allen Stücken und in jeder Beziehung die Rolle eines Mannes ausfüllen. Aber warum hätte sich eine Frau selbst verstümmeln, die Begierde verleugnen, sich abseits vom Leben stellen sollen? Es gibt nur ein vernunftgemäßes Tun, nur eine Schönheit, und das ist, das Leben ganz zu leben, so vollständig, wie es möglich ist. Sehr bald hatte sich daher auch der natürliche Zustand von selbst entwickelt, auch hier war Friede eingetreten zwischen den versöhnten Geschlechtern, die beide ihr Glück im gemeinsamen Glück der Ehe fanden, die endlich die Freuden einer Verbindung genossen, an der niedrige Berechnung und Herkommen keinen Teil hatten. Wenn zwei Liebende in blühender Jugend sich in einer lauen Nacht den Verlobungskuß gaben, so waren sie vollkommen gewiß, daß nur die Liebe sie vereinigte. Keins von ihnen konnte sich dem anderen um Geld verkaufen, und ihre Familien hatten sicherlich nicht über ihre Verkuppelung verhandelt wie über einen Viehkauf.

So entfaltete sich die Liebe in voller Freiheit, die gesunde, geläuterte Begierde wurde zum köstlichen Duft, zur Flamme, zum Feuerherd des Daseins. Und die Liebe verbreitete sich, erweiterte sich, wurde allgemein und allgegenwärtig, entstand in dem jungen Paare, ging auf die Mutter, den Vater, die Kinder, die Verwandten, die Nachbarn, die Mitbürger, auf alle Menschen der Menschheit über, in immer mehr sich verbreiternden Wellen, in einem unendlichen Meer, das die ganze Welt überflutete. Die Liebe war gleich der reinen Luft, daran jede Brust sich erquickte, ein einziger Hauch brüderlicher Liebe wehte über alle Wesen hin, sie allein hatte die lange ersehnte Einigkeit, die göttliche Harmonie verwirklicht. Endlich im Gleichgewicht schwebend gleich den Gestirnen, bewegt durch die Gesetze der Gerechtigkeit, der Gemeinsamkeit und der Liebe, glitt die Menschheit, fortan unzerstörbar glücklich, durch die endlose Ewigkeit hin. Dies war die unermeßliche Ernte der Liebe und Güte, die Lucas jeden Morgen überall aufsprießen sah, aus allen Furchen, die er so reich besät hatte, aus seiner ganzen Stadt, in der er in den Schulen, in den Werkstätten, in jedem Hause und in jedes Herz den guten Samen seit vielen Jahren mit vollen Händen ausgestreut hatte.

»Seht nur, seht nur!« rief er manchmal heiter lächelnd, wenn Josine, Soeurette und Suzanne am Morgen seinen am offenen Fenster stehenden Sessel umgaben, »seht nur, die Bäume haben sich wieder mit Blüten bedeckt, und wieder scheinen Küsse von Dach zu Dach zu fliegen wie die Singvögel. Seht, dort rechts und dort links flattert die Liebe in der aufgehenden Sonne.«

»Freilich«, sagte Josine. »Da über diesem Hause mit den blauen, weißbesternten Dachziegeln schwebt ein starkes Flimmern der Sonnenstrahlen, das die im Innern herrschende große Fröhlichkeit verrät. Da muß ein Liebespaar seine Hochzeitsnacht gefeiert haben.«

»Und seht dort drüben«, sagte Soeurette, »wie in dem Hause, dessen Fassade aus mit Rosen bemalten Fayencen gebildet ist, die Fenster leuchten, als wären es aufgehende Gestirne. Da drinnen ist sicherlich ein Kind geboren worden.«

»Und überall, über allen Häusern, über der ganzen Stadt«, sagte Suzanne, »strömen die Sonnenstrahlen hernieder und schießen wieder empor wie goldene Halme auf einem großen Liebesfelde von überreicher Fruchtbarkeit. Ist es nicht der allgemeine Friede, die allgemeine Eintracht, die hier jeden Tag wächst und geerntet wird?«

Lucas hörte ihnen beglückt zu. Welch herrlichen Lohn, welch köstliches Geschenk hatte ihm die Liebe gegeben, indem sie ihn im hohen Alter mit diesen drei Frauen umgab, deren Gegenwart seine letzten Tage mit Duft und hellem Glanz verschönte! Nirgends war die Saat der Liebe so herrlich aufgegangen wie in seinem Hause, neben ihm, um ihn erwuchs ihre reichste, wundervollste Ernte. Drei Frauen liebten ihn, umgaben ihn mit zärtlicher Sorgfalt, mit einem Kultus der Hingebung und Vergötterung. Sie waren unendlich gut, unendlich liebevoll, aus ihren stets heiteren Augen strahlte ihm milde Lebensfreude entgegen, ihre weichen, sanften Hände pflegten ihn und stützten ihn bis an die Schwelle des Grabes. Sie waren schon sehr alt, ganz weißhaarig, ganz zart und vergeistigt, reinen, hellen, hohen Flammen vergleichbar, die in ewig junger Leidenschaft für den großen Greis brannten. Er lebte noch immer, und sie lebten für ihn, blieben gesund und kräftig trotz ihrer Jahre, bildeten seine Glieder, seine Organe, die sein Wille, sein Geist in Tätigkeit setzte, gingen hin und her, während er in seinem Sessel blieb, waren ihm unablässig zur Seite als Wärterinnen und Wirtschafterinnen, als Gefährtinnen, die sein langes Leben verlängerten und erweiterten, über die menschlichen Grenzen hinaus.

Josine, achtundsiebzig Jahre alt, blieb die Geliebte, die Eva, die einst von der Sünde und dem Leiden errettet worden. Sehr zart, wie eine verblaßte, getrocknete Blume, die noch ihren Duft behalten hat, besaß sie noch immer ihre schlanke Geschmeidigkeit und Anmut. Unter den Sonnenstrahlen schimmerte auf ihren weißen Haaren der Goldglanz der Jugend wieder auf. Und Lucas liebte sie noch immer wie an dem fernen Tage, da er ihr hilfreiche Hand geboten, da er in ihr das leidende Volk, das gequälte Weib heiß bemitleidet hatte, da er sie als die Bejammernswerteste, die Gepeinigteste erwählt hatte, um mit ihr alle Enterbten der Welt zu retten, die in Schmach und Entbehrung ihr Leben vertrauerten. Noch heute küßte er verehrungsvoll ihre verstümmelte Hand, die Verletzung, die ihr die ungerechte Arbeit zugefügt hatte. Um seine Sendung der Erlösung und Errettung ganz zu erfüllen, konnte er nicht unfruchtbar bleiben, er fühlte, daß er einer Frau bedurfte, um stark und vollständig zu sein, um seinen Brüdern eine bessere Zukunft erkämpfen zu können. Nur aus dem Liebespaare, aus der Fruchtbarkeit des Weibes konnte das neue Volk entspringen. Mit den Kindern, die sie ihm gebar, hatte sein Werk sich fortgepflanzt, sich verewigt. Und auch sie liebte ihn, wie sie ihn am ersten Tage geliebt hatte, mit demütiger Anbetung, mit überströmender Dankbarkeit, die das Alter nicht geschwächt hatte.

Soeurette, gleich Lucas fünfundachtzig Jahre alt, war die tätigste der drei Frauen und von früh bis abend auf den Beinen. Seit langem schien sie nicht mehr zu altern, sie war fast noch kleiner und zarter geworden, aber vom Alter eigenartig verschönt. Einst schmächtig, unschön und reizlos, war sie nun eine allerliebste kleine Alte, eine weiße Maus, mit funkelnden Augen. Als sie vor vielen Jahren die entsetzliche Herzenskrise durchgemacht hatte, als sie den Schmerz erfahren mußte, daß sie liebte, ohne wiedergeliebt zu werden, da hatte ihr der Bruder wohl vorausgesagt, daß sie: verzichten, daß sie dem Glücke der anderen das Opfer ihres Herzens bringen würde. Und sie hatte von Tag zu Tag stärker verzichtet, und die Entsagung war ihr zur Quelle einer reinen Freude, einer göttlichen Heiterkeit geworden. Sie liebte Lucas nach wie vor, sie liebte ihn in jedem seiner Kinder und Enkel, bei deren Pflege und Erziehung sie Josinen helfend zur Seite stand. Sie liebte ihn unveränderlich und mit einer immer tieferen, von allem Egoismus freien Leidenschaft, mit einer keuschen, schwesterlichen, mütterlichen Liebe. Die zarte Sorgfalt, die unvergleichliche Pflege, die sie ihrem Bruder hatte zuteil werden lassen, die widmete sie jetzt dem Freunde. Sie wachte unablässig über ihn, um jede Stunde seines Lebens genußreich zu machen, und fand ihr höchstes Glück in dieser schrankenlosen Hingabe eines ganzen Lebens, in dieser anbetenden Freundschaft, die so süß war wie die Liebe.

Suzanne, achtundachtzig Jahre alt, war die Älteste, die Ernste, die Ehrwürdige. Ihre zarte Gestalt war ungebeugt, auf ihrem feinen Gesichte lag noch immer die Schönheit, die auch in der Jugend sein einziger Reiz gewesen war, die Schönheit der Herzensgüte und der nachsichtsvollen Klugheit, und in ihren Augen lebte noch die alte Hilfsbereitschaft, das Mitgefühl mit den Leiden und Freuden anderer. Aber ihre Füße waren schwach geworden, und sie verbrachte nun den größten Teil des Tages neben Lucas, um ihm Gesellschaft zu leisten, während Josine und Soeurette geräuschlos schafften und hin und her gingen. Auch sie hatte ihn unendlich geliebt in den traurigen Tagen ihrer Ehe, hatte in ihrem Herzen, ihr selbst unbewußt, die Leidenschaft für ihn bewahrt als Trost und Stütze in ihrem Unglück. Ohne es zu wissen, hatte sie mit allen Fasern ihres Wesens zu ihm hingestrebt, hatte um seine Gestalt ihren Traum von einem edeln Manne und Helden gewoben, dem sie als helfende Gefährtin, als liebende Gattin zur Seite hätte stehen mögen. Und an dem Tage, da ihr die Sprache ihres Herzens verständlich geworden war, hatte sie ihren Helden in den Armen einer anderen Geliebten gefunden, und nur als Freundin konnte sie fortan einen Platz neben ihm, an seinem Herde finden. Diesen Platz der Freundin nahm sie nun seit vielen, vielen Jahren ein, wirkte mit ihm und für ihn mit unendlicher Sanftmut, in vollkommener Heiterkeit der Seele, hatte endlich den Frieden gefunden in der innigen Geistes- und Gefühlsgemeinschaft, die sie mit dem Manne verband, der ihr Bruder geworden war. Und zweifellos war diese Freundschaft nur so köstlich dank der Liebe, der sie entstammte und deren ewige Glut sie bewahrte.

So verbrachte Lucas den Abend seines Lebens, sehr alt, sehr groß, sehr schön, umgeben von der Liebe dieser drei alten, schönen, großen Frauen. Er war gesund und stark geblieben, die Last seiner fünfundachtzig Jahre hatte seine hohe Gestalt nicht gebeugt. Nur die Beine versagten ihm den Dienst, wie um ihn jetzt, da seine Stadt vollendet war, als glücklichen Zuschauer an das Fenster zu bannen. Über seiner hohen Stirn war die unverminderte Fülle seiner Haare erbleicht und umgab seinen Kopf mit der üppigen weißen Mähne eines greisen Löwen. Und seine letzten Tage waren durchleuchtet und durchduftet von der hingebungsvollen Zärtlichkeit, mit dem ihn Josine, Soeurette und Suzanne umgaben. Er hatte sie alle drei geliebt, er liebte sie alle drei mit der umfassenden Liebe, aus der sich so viel Zeugungskraft, so viel Brüderlichkeit, so viel Güte ergossen, die einem Strome glich, in dem das Leben mit allen seinen Leidenschaften rollte, einem gewaltigen Flusse, aus dem alle Herzen trinken konnten. Das geliebte Weib und die Freundinnen, er umfing sie alle drei mit derselben menschlichen Umarmung, um immer mehr Leben, immer mehr Glück zu schaffen.

Aber es kam die Zeit, da Lucas sich dem Ende seiner Tage näherte. Gleich Jordan sollte er sterben, da sein Werk vollbracht war. Eine Schläfrigkeit senkte sich auf ihn herab, der langsame Schatten wohlverdienter Ruhe, der er mit heiterer Seele entgegenging. Fröhlich sah er den Tod herankommen, er wußte, daß er notwendig, daß er süß sei, er bedurfte keiner lügenhaften Versprechung eines Himmelreichs, um ihn festen Herzens zu empfangen.

Josine, Soeurette und Suzanne sahen wohl mit Bangen, daß er allmählich einschlummerte, aber sie wollten trotzdem nicht traurig sein. Jeden Morgen öffneten sie weit die Fenster, damit die wohltätige Sonne ungehemmt hereindringen könne, jeden Morgen schmückten sie das Zimmer mit Blumen. Vor allem aber, da sie wußten, wie Lucas die Kinder liebte, umgaben sie ihn täglich und stündlich mit einer Schar fröhlicher Knaben und Mädchen, deren blonde und braune Köpfchen ebenfalls Blumen glichen, die im Erblühen begriffen waren, die die Kraft und Schönheit der künftigen Jahre in sich bargen. Und Lucas blickte mit zärtlichem Lächeln auf die kleine Welt und folgte heiteren Herzens ihren kindlichen Spielen, beglückt, daß er inmitten so reiner Freude, inmitten so blühender Hoffnung von hinnen gehen sollte.

An dem Tage nun, da der gerechte, der gute Tod um die Abenddämmerung kommen sollte, versammelten die drei Frauen, die seine Annäherung in dem lichten Schimmer der Augen des großen Greises sahen, seine Urenkelkinder um ihn, die ganz Kleinen, deren Gesichtchen den letzten Augenblick am meisten mit Jugendblüte und Zukunftshoffnung verschönen würden. Und die Kleinen brachten andere Kleine mit und auch Größere, die Nachkommen der Arbeiter, deren gemeinsame Anstrengung damals die Crêcherie begründet hatte. Es bot einen wundervollen Anblick, dieses von Sonnenlicht, Blumen und Kindern erfüllte Zimmer, und mitten unter den Kindern der greise Held, der weißmähnige Löwe, der sich für jedes einzelne von ihnen interessierte, jedes erkannte und mit Namen nannte.

Ein großer Junge von achtzehn Jahren, Francois, Sohn von Hippolyte Mitaine und Laure Fauchard, stand da und sah ihn an, bemüht, die Tränen zurückzudrängen, die in seinen Augen standen. Lucas rief ihn zu sich.

»Komm her und gib mir die Hand, mein Junge. Du darfst nicht traurig sein, du siehst, wie fröhlich wir alle sind. Du bist wieder größer geworden, aus dir wird einmal ein prächtiger Bursche werden. Sei brav, mein Sohn, und werde ein wackerer Mann!«

Die anderen waren auch herangekommen, und er hätte zwanzig Arme haben mögen, um sie alle nehmen und an sein Herz drücken zu können. Ihnen vertraute er die Zukunft an, ihnen vermachte er sein Werk, als den frischen Kräften, die es immerfort erneuern und erweitern sollten. Immer hatte er seine Zuversicht auf die Kinder, auf die künftigen Generationen, gesetzt, daß sie das Werk des allgemeinen Glücks vollenden würden. Und diesen geliebten Kindern, die seinem Blut entstammten, die ihn so fröhlich und zärtlich umdrängten, welches Vermächtnis an Gerechtigkeit, Wahrheit und Güte hinterließ er ihnen, mit welcher Begeisterung gab er ihnen die Verwirklichung seines Ideals einer vollkommen freien und glücklichen Menschheit anheim!

»Geht, geht, meine geliebten Kinder! Seid brav, seid gerecht und gut. Erinnert euch daran, daß ihr mich heute alle geküßt habt, denkt meiner immer in Liebe, und liebet euch immer untereinander! Ihr werdet eines Tages wissend werden, werdet tun, was wir getan haben, und eure Kinder werden tun, was ihr getan habt, viel arbeiten, viel lieben, viel leben. Einstweilen aber geht und spielt, geliebte Kinder, seid froh, lustig und gesund!«

Josine, Soeurette und Suzanne wollten nun die lärmende Schar verabschieden, da sie sahen, daß Lucas allmählich schwächer wurde. Aber er wollte es nicht haben, er wollte die Kinder in seiner Nähe behalten, um mitten in ihrer lauten, lachenden Lustigkeit sanft zu entschlummmern. Sie einigten sich schließlich dahin, daß die Kinder unten im Garten vor seinem Fenster spielen sollten. Da konnte er sie sehen, konnte sie hören und sein Herz an ihnen erfreuen bis zum letzten Augenblick.

Die Sonne sank am Himmel, eine mächtige Sommersonne, unter deren Strahlen die ganze Stadt erglänzte. Das Zimmer war erfüllt von leuchtendem Gold wie von einem Glorienschein, und Lucas saß von dieser Pracht umflutet in seinem Sessel und blickte lange schweigend auf den weiten Horizont. Ein tiefer Friede breitete sich aus, Josine und Soeurette hatten ihre Arme zu beiden Seiten auf die Lehne des Sessels gestützt, während Suzanne ebenfalls träumerisch hinausblickte. Da begann Lucas mit langsamer, gleichsam allmählich sich entfernender Stimme zu sprechen.

»Ja, da liegt sie, unsere liebe Stadt, unser verjüngtes Beauclair, und ihre Dächer und hellen Fenster glänzen in der Abendsonne. Und die benachbarten Städte Brias, Magnolles, Formeries, Saint-Cron haben dem mächtigen Zug unseres Beispiels nicht widerstehen können, auch sie haben sich verjüngt und sind glückliche und freie Gemeinwesen geworden. Aber jenseits dieses weiten Horizonts, dort hinter den Wällen der Monts Bleuses und dort über die Fläche der Roumagne hinaus, wie steht es in der weiten Welt, wo halten die Länder und Völker in ihrem schweren Kampfe, auf dem langen, qualvollen Wege zum Reich des Glücks?«

Wieder schwieg er, in Gedanken verloren. Er wußte wohl, daß die Entwicklung sich überall mit steigender Gewalt und Schnelligkeit vollzog. Von den Städten hatte sich die Bewegung den Provinzen mitgeteilt, dann dem ganzen Lande, dann den benachbarten Ländern. Es gab keine Grenzen, keine unübersteiglichen Berge, keine trennenden Ozeane mehr, die Befreiung flog mit mächtigen Schwingen von Erdteil zu Erdteil, fegte die Regierungen und Religionen hinweg und vereinigte alle Nationen. Aber diese Neugestaltung der Menschheit vollzog sich nicht überall in derselben Art. Während Beauclair sich ohne allzu schwere Kämpfe verwandelte und in langsamem Vorschreiten alle Freiheiten eroberte, brachen anderswo heftige Revolutionen aus, begleitet von Feuersbrünsten und blutigen Metzeleien. Nicht zwei benachbarte Staaten hatten denselben Weg eingeschlagen, auf den verschiedensten Straßen strebten die Völker dem Reiche des Glückes zu, in dem sie, endlich in Brüderlichkeit vereint, nur noch eine einzige menschliche Gemeinschaft bilden sollten.

Träumerisch, mit schwächer werdender Stimme sagte Lucas wieder:

»Ach, ich wüßte gern, ehe ich von meinem Werke scheide, wie weit bis heute die große Umwandlung reicht. Ich würde besser schlafen, ich würde mehr Gewißheit, mehr Hoffnung mit mir nehmen.«

Wieder trat Schweigen ein. Die drei Frauen sahen gleich ihm in die weite Ferne hinaus, in tiefes Sinnen verloren.

Dann begann Josine:

»Ein Reisender, der aus fernen Ländern kam, hat mir folgendes erzählt. In einer großen Republik waren die Kommunisten zur Herrschaft gelangt. Jahrelang hatten sie heftige politische Kämpfe geführt, um sich des Parlaments und der Regierung zu bemächtigen, aber sie konnten ihr Ziel nicht auf gesetzlichem Wege erreichen, sie mußten zu dem Gewaltmittel des Staatsstreiches greifen, als sie sich kräftig genug fühlten und sicher waren, das Volk auf ihrer Seite zu haben. Sofort gingen sie daran, ihr Programm mit Hilfe von Gesetzen und Verordnungen durchzuführen. Es wurde die vollkommene Enteignung ausgesprochen, alle Besitztümer der einzelnen wurden Gemeingut, alle Arbeitsmittel standen zur freien Verfügung der Arbeitenden. Es gab keine Grundbesitzer, keine Kapitalisten, keine Fabrikherren mehr, der Staat umfaßte und beherrschte alles, war der einzige Grundbesitzer, Kapitalist und Fabrikherr, ordnete und verteilte das soziale Leben. Aber dieser gewaltige Umschlag, diese plötzliche und radikale Veränderung vollzog sich natürlich nicht ohne schreckliche Kämpfe. Die herrschenden Klassen ließen sich ihre Güter, wenn sie auch geraubt waren, nicht so ohne weiteres entreißen, und auf allen Seiten erhob sich furchtbarer Widerstand. Manche Hausbesitzer ließen sich lieber auf der Schwelle ihres Hauses töten, als daß sie sich hätten daraus verdrängen lassen. Andere zerstörten ihr Eigentum, ersäuften die Bergwerke, rissen die Eisenbahnschienen auf, sprengten die Fabriken in die Luft, während die Kapitalisten ihre Papiere verbrannten und ihr Gold ins Meer warfen. Manche Häuser mußten förmlich belagert, manche Städte erstürmt werden. Jahrelang wütete der schreckliche Bürgerkrieg, das Straßenpflaster wurde von Blut gerötet, und die Flüsse führten Leichen mit sich. Dann hatte der Staat große Schwierigkeiten, um die neue Ordnung der Dinge ohne Stockung durchzuführen. Die Arbeitsstunde war die Werteinheit geworden, und Gutscheine ermöglichten den Austausch der Werte. Vorerst wurde eine Kommission eingesetzt, die über die Herstellung wachte und die Erzeugnisse nach Maßstab der Leistung eines jeden verteilte. Dann wurden noch weitere Kontrollstellen notwendig, und allmählich entwickelte sich eine sehr komplizierte Organisation, die die neue Gesellschaftsordnung ungemein belastete und ihren Gang erschwerte. Immer mehr wurden die Menschen in die Kaserne der Gleichmäßigkeit wie Soldaten eingereiht, immer enger in geradlinige Zellen gezwängt ... Und dennoch vollzog sich die Entwicklung, es war trotzdem ein Schritt zur Brüderlichkeit geschehen, die Arbeit wurde wieder in ihren Ehrenplatz eingesetzt, die Güter in immer gerechterer Weise verteilt. Der Weg führte unausweichlich zur Vernichtung des Lohnsklaventums und des Kapitals, zum Verschwinden des Handels und des Geldes. Und heute ist, wie mir berichtet wurde, dieser von so vielen Katastrophen heimgesuchte, in soviel Blut gebadete Staat endlich des Friedens teilhaftig geworden, und seine freien, arbeitenden Bürger leben in brüderlicher Gemeinsamkeit.«

Josine schwieg und sah wieder hinaus in die Weite des Himmels. Und Lucas sagte leise:

»Ja, ja, das ist einer der blutigen Wege, einer von denen, die ich nicht einschlagen mochte. Aber was verschlägt es heute, da er doch zu derselben Einigkeit, zu derselben Harmonie geführt hat!«

Dann sprach Soeurette, die Blicke hinausgerichtet auf die weite Welt jenseits der mächtigen Wände der Monts Bleuses:

»Auch ich habe viele schreckliche Begebenheiten von Augenzeugen erzählen hören. In einem mächtigen Nachbarreiche haben die Anarchisten den alten gesellschaftlichen Bau mit Pulver und Dynamit in die Luft gesprengt. Das Volk hatte so viel gelitten, daß es sich mit ihnen verband, das befreiende Werk der Zerstörung vollendete und die verrottete alte Welt bis auf das letzte Stäubchen wegtilgte. Viele, viele Nächte hindurch flammten die Städte wie die Fackeln, und die Luft war erfüllt von dem Geheul der ehemaligen Tyrannen, die erschlagen wurden und die nicht sterben wollten. Die blutige Sintflut war hereingebrochen, die von den anarchistischen Propheten so lange als notwendig und unvermeidlich verkündigt worden war. Dann begann die neue Zeit. Die Losung war nicht: ›Jedem nach seinen Werken‹, sondern ›Jedem nach seinen Bedürfnissen‹. Der Mensch hat ein unvertilgbares Recht an das Leben, an Wohnung, Kleidung und tägliches Brot. Alle Güter waren zusammengelegt und an alle verteilt worden, und man begann erst dann den einzelnen einzuschränken, als nicht mehr soviel für alle da war. Wenn die ganze Menschheit arbeitete, wenn die Natur in zweckvoller und wissenschaftlicher Weise ausgenützt wurde, mußte eine unberechenbare Menge von Gütern entstehen, ein ungeheurer Reichtum, der alle Bedürfnisse einer verzehnfachten Bevölkerung im Überfluß befriedigen konnte. Wenn einmal die räuberische und schmarotzerhafte Gesellschaft verschwunden war, samt dem Gelde, der Quelle alles Verbrechens, samt den grausamen Vergeltungs- und Unterdrückungsgesetzen, der Quelle aller Ungerechtigkeit, dann kam das Reich des Friedens und der vollkommenen Freiheit, in dem das Glück eines jeden im Glück aller beruhte ... Und es gab keinerlei Macht mehr, keinerlei Gesetze, keinerlei Regierung. Die Anarchisten hatten zum Eisen und Feuer gegriffen, zur blutigen Ausrottung alles Bestehenden, weil sie der Überzeugung waren, daß sie die alten Überlieferungen nur dann gründlich zerstören, die Machthaberei jeder Art nur dann mit ihren letzten Keimen zerdrücken konnten, wenn sie das jahrhundertealte Geschwür erbarmungslos mit dem glühenden Eisen behandelten. Mit einem einzigen Streiche mußten alle lebenden Bande mit der verderblichen Vergangenheit durchhauen werden, wenn sie nicht wieder verwachsen sollten. Jedes politische Mittel war wirkungslos und unheilvoll zugleich, weil Politik notwendigerweise aus Zugeständnissen, aus Schachern und Feilschen besteht, wobei die Enterbten immer zu kurz kommen. Auf den Ruinen der alten zerstörten, vernichteten Welt hatte somit die Anarchie versucht, ihr hohes, reines Prinzip zu verwirklichen, das auf der weitesten, idealsten Auffassung einer gerechten, friedlichen Menschheit beruhte. Der Mensch sollte frei sein in der freien Gesellschaft, jede Persönlichkeit sollte, aller Fesseln ledig, das volle Maß seiner Sinneskräfte und Fähigkeiten betätigen, sollte alle Grenzen seines Lebens ausfüllen können, sollte glücklich sein im Besitze seines Anteils an allen Gütern der Erde. Allmählich gelangte so die Anarchie dazu, mit der kommunistischen Entwicklung zu verschmelzen, denn sie war in Wirklichkeit nur eine politische Verneinung, sie unterschied sich von den anderen sozialistischen Parteien nur durch ihre Absicht, alles niederzureißen, um alles neu aufzubauen. Sie nahm den Grundsatz der Genossenschaft an, der freien Gruppen, zwischen denen der unaufhörliche, tausendfältige, immer sich erneuernde Wechselverkehr kreist wie das Blut des sozialen Körpers. Und das mächtige Reich, in dem sie unter Gemetzel und Feuersbrünsten ihre Herrschaft aufgerichtet hatte, hat sich den anderen befreiten Völkern zu der großen, allumfassenden Vereinigung angeschlossen.«

Soeurette schwieg und stand unbeweglich und träumerisch, den Arm auf die Rückenlehne des Sessels gestützt. Und Lucas sagte langsam, mit schwerer werdender Zunge:

»Ja, am letzten Tage, an der Schwelle des gelobten Landes, mußten die Anarchisten gleich den Kommunisten mit den Schülern Fouriers zusammentreffen. Wohl waren die Wege verschieden, doch das Ziel blieb dasselbe.«

Nach kurzem Sinnen fuhr er fort:

»Wieviel Blut, wieviel Tränen, welch grauenhafte Kriege, um den brüderlichen Frieden zu erringen, den alle gleichermaßen erstrebten! So viel Jahrhunderte brudermörderischen Würgens unter den Menschen, trotzdem es sich nur darum handelte, festzustellen, ob es besser sei, rechts oder links zu gehen, um schneller zum vollkommenen Glücke zu gelangen!«

Suzanne, die bis jetzt schweigend dagesessen hatte, ergriff nun das Wort, während ein Schauer tiefen Mitleids ihre Gestalt durchbebte:

»Ach, der letzte Krieg, die letzte Schlacht! Sie waren so entsetzlich, daß die Menschen danach für immer ihre Schwerter und Kanonen zerbrochen haben. Es war am Anfang der sozialen Krisen, aus denen die Welt neu hervorgegangen ist, und ich habe die Schilderung des Grauenhaften von Leuten, die beinahe den Verstand verloren, als sie Zeugen waren des ungeheuren letzten Zusammenstoßes der Nationen. In den gewaltigen Krämpfen, die die Welt schüttelten, als die Gesellschaftsordnung der Zukunft geboren wurde, warf sich eine Hälfte Europas auf die andere, die anderen Erdteile folgten, Kriegsflotten trafen sich auf allen Meeren und kämpften um die Oberherrschaft zu Wasser und zu Lande. Nicht eine Nation konnte abseits bleiben, eine wurde durch die andere hineingezogen, zwei ungeheure Armeen marschierten auf, beide glühend von ererbtem Haß, jede grimmig entschlossen, die andere zu vernichten, als ob auf dem weiten, öden Felde von je zwei Menschen einer zuviel gewesen wäre. Und die beiden ungeheuren Armeen der feindlichen Brüder trafen sich im Zentrum Europas auf einer weiten Ebene, auf der Millionen Menschen sich erwürgen konnten. Auf Meilen und Meilen entwickelten sich die Truppen, unabsehbar folgten andere als Verstärkung nach, zwei so gewaltige Menschenströme wälzten sich gegeneinander, daß die Schlacht einen ganzen Monat dauerte. Immer neue Menschenleiber boten sich jeden Tag den Kugeln und Granaten. Man nahm sich keine Zeit, die Toten fortzuschaffen, sie häuften sich zu hohen Wällen auf, hinter denen immer wieder andere Regimenter aufmarschierten, um sich töten zu lassen. Die Nacht unterbrach den Kampf nicht, das Morden wurde im Finstern fortgesetzt. Sooft die Sonne aufging, schien sie auf vergrößerte Seen von Menschenblut, auf eine grauenhafte Schlachtbank, darauf die Leiber sich zu immer höheren Haufen schichteten. Gewaltige Kriegsmaschinen hüben und drüben verrichteten ihr furchtbares Werk, ganze Armeen wurden mit einem einzigen Donnerschlage zerschmettert. Die Kämpfenden brauchten einander nicht nahe zu kommen, sich nicht einmal zu sehen, die Kanonen trugen auf viele Kilometer Entfernung und warfen Geschosse, die über gewaltige Entfernungen hinsausten. Auch aus den Lüften wurden Bomben geschleudert und Feuerbrände in die Städte geworfen. Die Wissenschaft hatte Sprengmittel, Zerstörungswerkzeuge erfunden, die Tod und Verderben auf ungeheure Entfernungen sandten, die ein ganzes Volk verschlingen konnten wie in einem Erdbeben. Und welch mörderisches Gemetzel am letzten Tage dieser Riesenschlacht! Noch nie hatte ein solches Menschenopfer zum Himmel emporgedampft. Mehrere Millionen Menschen lagen da auf dem unermeßlichen Schlachtfelde, auf den Wiesen, auf den Äckern und in den Flüssen. Man konnte stunden- und stundenlang gehen, und sah immer dichtere Haufen erschlagener Soldaten liegen, aus deren verglasten Augen und offenem, blutbedeckten Munde der menschliche Wahnwitz gen Himmel starrte ... Das war die letzte Schlacht. Schaudern und Entsetzen machten allen das Leben in den Adern gefrieren am Morgen nach diesem grauenhaften Blutrausch, und die Menschen sahen, daß der Krieg fortan unmöglich war, angesichts der Allmacht der Wissenschaft, die dazu bestimmt war, das Leben zu fördern und nicht den Tod.«

Suzanne verfiel wieder in Schweigen, und ihre klaren Augen schienen in den Frieden der Zukunft hineinzuschauen. Und mit einer Stimme, so schwach wie ein Hauch, sagte Lucas noch:

»Ja, der Krieg ist tot, die letzte Etappe ist zurückgelegt, am Ziele des langen, beschwerlichen, mühseligen Weges sinken die Menschen einander in die Arme und geben sich den Bruderkuß. Mein Tagewerk ist vollbracht, nun kann ich schlafen.«

Er sprach nicht mehr. Trostvoll und erhaben war diese letzte Minute. Josine, Soeurette und Suzanne regten sich nicht. Das Zimmer war erfüllt von Blumenduft und Sonnenlicht. Unten spielte die fröhliche Schar der Kinder, und durchs Fenster drangen die Schreie der Kleinen, das Lachen der Großen herein, der Frohsinn der Jugend, die die Zukunft in sich barg. Und draußen spannte sich der unermeßliche blaue Himmel, an dem die sinkende Sonne freundlich strahlte, die Allmutter, die Befruchtende, deren segensreiche Kraft die Menschen nun eingefangen und aufgespeichert hatten. Und unter ihren goldenen Strahlen erglänzten die blanken Dächer des glorreichen Beauclair, des von emsiger Tätigkeit summenden Bienenkorbes, in dem die verjüngte, neugeordnete Arbeit nur Glückliche schaffte durch die gerechte Verteilung der Güter dieser Welt. Und jenseits der Wälle der Monts Bleuses, jenseits der weiten Ebene der Roumagne bildete sich die Vereinigung aller Völker zu einem einzigen Volke, zu einer brüderlichen Menschheit, die endlich ihre Bestimmung zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit und zum Frieden erfüllt hat.

Mit einem letzten Blick umfaßte Lucas die Stadt, den Horizont, die ganze Erde, auf der die Umgestaltung, die er begonnen hatte, sich fortsetzte und vollendete. Das Werk war geschaffen, die Stadt war erstanden. Und Lucas gab seinen Geist auf und kehrte zurück in den ewigen Strom der Liebe und des Lebens.


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